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DIE SUCHE NACH SCHULD UND SCHULDIGEN IST UNIVERSELL

Schuldzuweisungen hatten schon immer Konjunktur. Im zwischenmenschlichen Bereich, zur Begründung von Strafurteilen, aber auch zur Rechtfertigung von Kriegen oder terroristischen Anschlägen.

Flüchtlingsströme, brennende Asylunterkünfte und marodierende junge Frauen und Männer, die in Europa aufgewachsen sind und von Salafisten radikalisiert wurden, machen die Frage nach individueller Schuld, nach den eigentlichen Ursachen drängender denn je. Psychologen und Hirnforscher halten überraschende Antworten bereit. Es sind Antworten, die insbesondere Politiker und Juristen nachdenklich stimmen müssen, und Erkenntnisgewinne, die nur schwer zu vermitteln sind, weil sie tradierten Verhaltensund Gefühlsmustern zuwiderlaufen.

Was Adam uns eingebrockt hat, als er in den verbotenen Apfel biss, den Eva ihm gereicht hatte, glauben aufgeklärte Christen nicht unbedingt. Aber selbst der deutsche Papst Benedikt XVI., vormals Kardinal Joseph Ratzinger, formulierte es 2004 im »Katechismus der katholischen Kirche« noch so: »Die Erbsünde wird durch Fortpflanzung übertragen« (Art. 396–412). Die Erbsünde, die uns – ohne eigenes Zutun – kollektiv schuldig gemacht hat, soll angeblich auch ursächlich dafür sein, dass die Menschen zum Bösen neigen.

Nun verhält es sich zwar so, dass ein jeder von uns glaubt, Menschen zu kennen, die »zum Bösen neigen«. Eine solche Eigenschaft aber kategorisch zu unterstellen, erscheint zunächst abwegig – zumindest im Fall von Mutter Teresa, bei Nelson Mandela oder beim Dalai Lama. Zahlreiche Vertreter einschlägiger Wissenschaften, vor allem Soziologen, Psychologen und Hirnforscher, halten das ohnehin für ein Hirngespinst.

Doch selbst wenn man die christliche These von der jedermann angeborenen Schuld (die uns bereits mit der Zeugung zu Sündern macht) verwirft, so hat die im Alten Testament verbriefte Notwendigkeit, für diese Schuld zu büßen, um Erlösung zu finden, gleichwohl einen prägenden Einfluss entwickelt – bis heute. Die Suche nach dem oder den Schuldigen treibt uns um, sowohl bei zwischenstaatlichen als auch bei zwischenmenschlichen Konflikten.

Da dieses Phänomen aber nicht nur in jenen Ländern beheimatet ist, deren Lebensgewohnheiten und Umgangsformen von monotheistischen Religionen wie dem Islam, dem Christentum und dem Judentum geprägt wurden, wäre es wohl intellektuell unredlich, das menschliche Streben nach Rache, Vergeltung und Sühne allein ursächlich auf eine christliche These zu reduzieren. Stattdessen hat die Suche nach dem oder den Schuldigen sehr viel mit einem Sinn und Gefühl für Gerechtigkeit zu tun. Und das ist, so die spezialisierten Wissenschaftler, auf jeden Fall angeboren beziehungsweise wird wie eine Art Software bei der Geburt mitgeliefert, verbunden mit einem (moralischen) Gewissen. So lautet beispielsweise das Ergebnis einer Studie des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie. Demnach besitzen bereits dreijährige Kinder einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und verfügen über die Fähigkeit, andere zu verstehen und mit ihnen mitzufühlen. Auch Experten des einschlägigen Forschungszweigs (Theory of Mind) bestätigen diese These.

Dann, so ließe sich mutmaßen, kann ja an und für sich nichts mehr schiefgehen. Was gerecht ist, lässt sich gewöhnlich objektiv ermitteln, möchte man meinen. Schließlich gibt es hierfür Mindestnormen, gesellschaftliche, religiöse und staatliche Regelungen, die entweder oktroyiert oder vereinbart wurden, jedenfalls qua allgemeinem Konsens oder auch wegen staatlicher Entscheidungshoheit oder kirchlicher Deutungshoheit zu befolgen sind. Wir verlangen instinktiv und intuitiv nach einer wie auch immer gearteten Wiedergutmachung, wenn hiergegen verstoßen wurde. Dann erfolgt meistens eine Bestrafung, und zwar in allen Kulturkreisen. Das ist im Grunde genommen bedauernswert, denn die Fehlerquelle bei Schuldzuweisungen beginnt bereits bei der höchstpersönlichen Aufnahme und Verarbeitung von Informationen, unabhängig davon, ob sie verbal, bildlich oder schriftlich daherkommen. Denn unsere Wahrnehmung ist höchst subjektiv, recht unzuverlässig, obwohl wir das Gegenteil glauben. Vieles von dem, was wir wahrnehmen, wird unbewusst wahrgenommen und abgespeichert.

Außerdem unterstellt das Bedürfnis nach Buße, Vergeltung oder irgendeiner Wiedergutmachung dem vermeintlichen Missetäter ein schuldhaftes, ein vorwerfbares Verhalten, für das er sich (bei mehreren Wahlmöglichkeiten) freiwillig entschieden hat. Das ist wiederum ein Trugschluss – jedenfalls häufig.

Diese Welt, so möchte ich, zugegeben pathetisch, behaupten, wäre eine bessere, wenn es den in jeder Hinsicht unvollkommenen menschlichen Primaten gelänge, die Gewissheit von eigener Perfektion und die Überzeugung von einer autonomen, willensgesteuerten Wahlfreiheit zu reduzieren oder sogar ganz über Bord zu werfen. Ein solcher Gedanke ist wohl gewöhnungsbedürftig.

Der Wunsch, die Überzeugung von unserer »Beinahe-Unfehlbarkeit« abzulegen, ist illusorisch. Sowohl unser genetisches Programm als auch die im Unterbewusstsein verankerten Gefühle und Befehle lassen ihn nicht zu. Wir können – und ich hoffe, die geneigten Leser ebenfalls – zwar lernen zu verstehen, was ursächlich für unser Denken und unser Verhalten ist. Aber wir waren, sind und bleiben unfähig, die Denk- und Verhaltensmuster gänzlich zu überwinden, mit denen sich die Menschheit seit der Erlangung eines Bewusstseins eine Orientierungsmöglichkeit verschafft hat. Die Frage lautet: Haben wir überhaupt so etwas wie einen »freien Willen«, eine Entscheidungsfreiheit?

Ob wir für das, was wir tun, verantwortlich beziehungsweise gegebenenfalls schuldig sind, berührt auch den Streit zwischen Philosophen und Hirnforschern über die Frage, was gemeinhin als Deutungshoheit bezeichnet wird. Diese Frage ist für jeden von uns relevant. Als Anwalt mit nahezu vier Jahrzehnten beruflicher Erfahrung war ich Zeitzeuge von tragischen Lebensläufen, die aufgrund von Schicksalsschlägen determiniert und unausweichlich vorgezeichnet erschienen. Wer denkt in diesem Zusammenhang nicht unwillkürlich an jene Flüchtlinge, die ihre Heimat in Syrien oder Irak aus Angst vor Bomben, Folter und Mord verlassen haben? Aber ich habe auch Menschen kennengelernt, deren Lebenslinie sie eher zufallsbedingt zu ungeahnten, jedenfalls in nicht geplante, Höhen geführt hat. Vor allen Dingen aber habe ich die Fehleranfälligkeit des menschlichen Erkenntnisapparats erlebt, in privaten Angelegenheiten und im gerichtlichen Zeugenstand. Verstörend ist es da, immer wieder zu erfahren, dass die eigene Fehlerquote ignoriert und stattdessen regelmäßig die Schuld bei anderen gesucht wird.

In der Jurisprudenz gilt es (noch) als verpönt, Ergebnisse der Hirnforschung bei der Frage nach der individuellen Schuld zu berücksichtigen. Das Strafrecht beispielsweise definiert die Schuldunfähigkeit und die verminderte Schuldfähigkeit mit den – nicht nur für den Laien –kryptischen Worten »Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln« (§20 Strafgesetzbuch). Sofern die Fähigkeit des Täters, das begangene Unrecht einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, »nur« vermindert ist, kann eine Strafe gemindert werden (§21 Strafgesetzbuch).

Darüber, was beispielsweise unter einer »krankhaften seelischen Störung« zu verstehen ist oder unter welchen Umständen die Fähigkeit, das Unrecht einzusehen, als »vermindert« gelten kann, haben sich Juristen und Sachverständige die Finger wundgeschrieben. Es wurden jedoch bislang die jüngsten Ergebnisse und Erkenntnisse der Hirnforschung soweit ersichtlich bei den Antworten auf diese Fragen bei den Strafrichtern vernachlässigt, überwiegend sogar gänzlich ignoriert. Auch wissenschaftlich fundierte Meinungen von Verhaltensforschern über die dominierende Rolle des Unterbewusstseins fanden bislang bei den Strafrichtern wenig Beachtung. Ferner hat es den Anschein, dass die Botschaften sowohl der Hirnforschung als auch die der Verhaltensforschung bei der Zivilgesellschaft noch gar nicht angekommen sind. Andernfalls wären die zwischenmenschlichen Umgangsformen zuweilen wesentlich zivilisierter, behaupte ich vorab. Denn eine bessere Kenntnis von der Fehleranfälligkeit unseres Gehirns zwingt zu größerer Demut und Toleranz.

Im Fokus der Ausführungen stehen wissenschaftliche Erkenntnisse der Hirnforschung, der Verhaltensforschung und der Humangenetik. Forschungsergebnisse, von denen einige getrost das Prädikat »neue wissenschaftliche Wahrheit« verdienen, die gleichwohl – oder vielleicht sogar deshalb – noch nicht überall die Anerkennung gefunden haben, die sie verdienen. Möglicherweise verhält es sich so, wie der Physiker und Nobelpreisträger Max Planck es formulierte:

»Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner allmählich aussterben und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.«

(Max Planck: Wissenschaftliche Selbstbiographie. Leipzig 1948, S. 22)

Dieses Buch könnte auch für jene Zeitgenossen interessant sein, die sich ständig mit Schuldgefühlen plagen. Denn meine Recherche resultiert in der Erkenntnis, dass vieles zu »entschuldigen« ist, auch eigenes Versagen, das wir oft mit Selbstvorwürfen geißeln.

Schuld oder Schicksal?

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