Читать книгу Schuld oder Schicksal? - Michael Scheele - Страница 9
ОглавлениеNICHT JEDES GEHIRN FUNKTIONIERT LEBENSLÄNGLICH FEHLERFREI
Der Suizid als Resultat einer tiefgreifenden Depression oder die Straftat eines hirngeschädigten oder traumatisierten Menschen sind selten das Resultat einer bewussten, »freiwilligen« Entscheidung. In zahlreichen Fällen verbieten sich Schuldzuweisungen. Oft sind es schicksalhafte Ereignisse, die zum Verlust einer Kontrollmöglichkeit geführt haben.
EIN SUIZID IST KEIN MORD
Nanni war erst 25 Jahre alt, als sie sich erhängte. Eigentlich waren wir uns immer recht ähnlich, meine Zwillingsschwester Marianne und ich. »Nanni«, so nannte ich sie, teilte sogar meine Leidenschaft für Fußball. Mal stand ich im Tor, mal sie. Als Kind war sie psychisch robuster, schützte mich im Kindergarten vor hänselnden Knirpsen, die mich damals gelegentlich wegen meines – seit der Geburt – halb geschlossenen Augenlids verspotteten. Als ich im Sommer 1960 von einer zweiwöchigen Fahrradtour nach Hause zurückkehrte, war Nanni eine andere, verschlossen, unsicher, gehemmt. Ihre ansteckende Fröhlichkeit war verflogen. Da waren wir zwölf Jahre alt. Erst vier Jahre später, als sie erstmals versuchte, sich mit einer Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen, sollte ich erfahren, was sie so verändert hatte. Nanni war damals brutal vergewaltigt worden. Und da sie aufgrund eines zutiefst katholischen Elternhauses nicht aufgeklärt war, geriet die Vergewaltigung zu einem Martyrium. Ein Martyrium, das bei ihr unauslöschliche, traumatische Spuren hinterließ. Auch der Versuch einige Jahre später, mit ihrer lesbischen Freundin dieses Leben zu verlassen, scheiterte. Nanni schaffte es damals zu überleben, obwohl sie doch nicht wollte. Im Februar 1974 musste ich dann ihren leblosen Körper auf dem Nordfriedhof in München identifizieren. Sie hatte sich erhängt.
Es gibt Menschen, die so etwas »Freitod« nennen. Andere finden es passend, eine solche Verzweiflungstat als »Selbstmord« zu bezeichnen. Aber wie viel »Freiheit« kennt die Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu bereiten? Oder wird die Selbsttötung von Gefühlen diktiert, die keiner bewussten autonomen Kontrolle zugänglich sind? Haben Hirnforscher und Psychologen recht mit ihrer Aussage, dass furchteinflößende, insbesondere solche traumatischen Erlebnisse quasi unauslöschlich abgespeichert sind und immer wieder wie ein Blitzlicht aufflammen? Hätte ein geschulter Psychotherapeut Nanni vielleicht nachhaltig helfen können?
Es gibt Erlebnisse, die in der Psyche eines Menschen verankert bleiben und daher die Kontrollmöglichkeit des eigenen Handelns gegen null tendieren lassen. Es handelt sich dabei vor allem um Traumata, die epigenetische Spuren hinterlassen, also beispielsweise Depressionen auslösen, die auch für nachfolgende Generationen »spürbar« bleiben. Angesichts der zunehmenden Bedeutung dieses relativ jungen Forschungszweigs (Epigenetik) werde ich dieser Thematik später ein eigenes Kapitel widmen. Dieses Fachgebiet erklärt, welche Faktoren die Aktivität eines Gens beeinflussen und somit letztendlich auch Einfluss auf unser Verhalten haben.
Meine eigene traumatische Erfahrung legt die Vermutung nahe, dass Hirnforscher und Psychologen recht haben, und nicht nur Experten dieser Fachrichtungen.
Als ich sechs Jahre alt war, beschlossen meine Eltern, mein halb geschlossenes Augenlid operativ behandeln zu lassen, sodass mir der Spott der anderen Kinder erspart bleiben würde. Leider verschwieg man mir, was auf mich zukommen sollte. Auf dem Behandlungsstuhl des Augenarztes fixierte dieser mich mit so brachialer Gewalt, dass seine Assistentin keine Mühe hatte, mich mit Chloroform zu betäuben. Als ich nach der Operation erwachte, war ich an Händen und Füßen gefesselt, beide Augen waren verbunden. Meine Schreie wurden erst sehr viel später gehört. Ich war, wie gesagt, sechs Jahre alt. Nach 14 Tagen durfte ich wieder sehen, zunächst nur mit einem Auge.
Meine erste Panikattacke erlebte ich im Alter von neun Jahren in völliger Dunkelheit, in einem Zelt, in dem ich mit sechs anderen Kameraden übernachtete. Das Zelt musste nach dieser Panikattacke wieder zusammengenäht werden, weil ich es bei dem Versuch, in der Dunkelheit den Ausgang zu finden, teilweise zerrissen hatte.
Jahre später verlief es beim Interieur eines Wohnwagens nicht besser. Es war nahezu schrottreif, als ich schließlich die Tür fand und ins Freie stürmen konnte.
Das waren im eigentlichen Wortsinn »besinnungslose« Verwüstungen, die ich angerichtet hatte. Nicht eine einzige Millisekunde war ich fähig gewesen, mir mein Verhalten bewusst zu machen oder es in kontrollierte Bahnen zu lenken. Damals.
Mit einer über Jahre antrainierten Selbstbeherrschung lernte ich, eine Zeitspanne von rund einer Minute in völliger Dunkelheit konzentriert und kontrolliert zu überbrücken. Eine längere Zeit ist nicht möglich. Eine Computertomografie-Apparatur hat für mich aber auch heute noch den Charme eines Metallsargs.
Die Zerstörung fremden Eigentums ist strafbar. Die Frage ist, wo die Verantwortlichkeit für ein solches Handeln beginnt und wo sie endet. Oder, um es mit den Worten von Juristen auszudrücken: Wo beginnt und wo endet die »Schuldfähigkeit«? Stimmt es, dass unser Gehirn das alles entscheidende Kontrollzentrum ist, das Informationen aufnimmt, speichert und verarbeitet? Das uns eine Bewertung von Handlungsalternativen ermöglicht – und eine anschließende bewusste, autonome, »freiwillige« Entscheidung? Handelt es sich um das Zentrum eines »freien Willens«?
Eher nicht, lautet meine Antwort. Das Gehirn ist zwar ein Teil unseres Körpers, in dem Zellen verortet sind, die Gedanken überhaupt ermöglichen, aber über die meisten unserer Handlungen und Empfindungen haben wir keinerlei bewusste Kontrolle. Nicht wenige Hirnforscher schließen sogar gänzlich aus, dass irgendeine Verhaltensweise das Ergebnis einer bewussten, freien Entscheidung ist. Das mag wohl jedem einleuchten, wenn es um ein (scheinbar) abnormes Verhalten traumatisierter Menschen geht, wenn, wie in meinem Fall, ein klaustrophober junger Mann unvorstellbare Kräfte entfaltet, um Licht zu finden.
Und inwiefern kann ein Mensch die Selbsttötung steuern? Geht diesem nicht ein Plan voraus, wann und wie die Tat umgesetzt werden soll? Anders als bei einer Panikattacke, die keine Kontrollzeit zulässt, eine impulsive und zwanghafte Handlung zu überdenken, hat der »Selbstmörder« Zeit, seinen Plan zu ändern, zu revidieren.
Wir sind geneigt, auch ohne eine Aufklärung durch Psychologen demjenigen eine gewisse Unzurechnungsfähigkeit zu attestieren, der sich in einer Depression aus Verzweiflung selbst hinrichtet. Wir akzeptieren den Freispruch von jeglicher Schuld, jeglicher Eigenverantwortung und müssen oft genug konstatieren, dass widrige Umstände und das Verhalten anderer die Ursachen für die scheinbar zwangsläufige, unausweichliche Selbsttötung waren – wie im Fall meiner Zwillingsschwester.
Und was ist mit jenen Zeitgenossen, die mit ihrem Verhalten nicht nur sich selbst, sondern auch anderen geschadet haben? Sind wir bereit, objektive Maßstäbe anzulegen, wenn es darum geht, ihre Schuld und Verantwortlichkeit zu begutachten, insbesondere dann, wenn wir selbst oder Angehörige Opfer eines solchen Verhaltens wurden?
Im März 2015 tötete der Copilot auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf nicht nur sich selbst, sondern auch 149 andere Menschen, indem er das Flugzeug gezielt abstürzen ließ. Hatte er nicht die Möglichkeit, sich während des achtminütigen Sinkflugs, also lange genug vor dem Crash, anders zu besinnen, den Plan zu revidieren und sein Leben wie das der Passagiere und der Crew zu verschonen? Der Gedanke, er könne nicht schuldig sein, nicht schuldig im sprachgebräuchlichen, auch im strafrechtlichen Sinne erscheint unerträglich, ja zynisch. Nein, das, was die (naturalistische) Hirnforschung »an reiner Lehre« zu dieser Wahnsinnstat glaubt analysieren zu dürfen, ist nicht ohne Weiteres vermittelbar. Stellvertretend für viele undifferenzierte Meinungen sei an die für Besonnenheit und Augenmaß bekannte Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung genannt, die den Copiloten »schuldig« sprach:
»Nein, Selbstmord verdient kein affirmatives, irgendwie billigendes Mitgefühl: Jedenfalls, solange nicht, wie er auch eine Tat gegen andere ist […] Ein Selbstmord erklärt nicht nur das eigene Leben für wertlos, es unterwirft auch das Leben der anderen dieser Entscheidung […]. Was auch immer als Grund dafür genannt wird, dass die Opfer sterben mussten: Er wird unannehmbar bleiben. Vielleicht war es leichter, mit so etwas fertig zu werden, als man noch an das Böse glauben konnte, den Teufel, eine eigenständige Macht, die vermag, von Menschen Besitz zu ergreifen […].«
(FAZ Online: Volker Zastrow (29.03.2016): http://bit.ly/faz-Germanwings)
Richtig ist, dass von niemandem ein Mitgefühl für den Copiloten erwartet werden kann. Aber es wäre wohl intellektuell redlicher gewesen, differenzierter auf diese bis dahin unvorstellbare Tat einzugehen. Wer das Verhalten des Copiloten uneingeschränkt als bewusste, autonome, freie Willensentscheidung einstuft, stellt nicht nur ihm, sondern auch der Menschheit an sich ein Zeugnis aus, das uns zu »Monstern« mit angeborenen Eigenschaften macht. Oder darf man den leidgeprüften Eltern den Vorwurf machen, dass sie ihren Sohn zu einem »Monster« erzogen haben? Wie heute bekannt ist, stand der Copilot unter massivem Einfluss von Psychopharmaka, die eine Kontrollmöglichkeit des Handelns ohnehin extrem reduziert haben dürfte.
Als Zwillingsbruder einer »Selbstmörderin« möchte ich klarstellen, dass meine Fassungslosigkeit ob dieses Wahnsinns mindestens so groß ist wie die des zitierten FAS-Autors. Aber wir schulden es uns selbst, bei der Erklärung einer solchen Tat zunächst die unmenschlichen grausamen Folgen auszublenden, um das unfassbare Unglück, das ein »Selbstmörder« angerichtet hat, mit jenen Erkenntnissen unter die Lupe zu nehmen, die uns beispielsweise die Hirnforschung, aber auch die Verhaltensforschung ermöglicht beziehungsweise vermittelt hat. Alles andere ist populistisch und dient der Befriedigung einer Sehnsucht nach Sühne. Meinungen der Hirnforscher und Psychologen zu diesem Fall, so viel sei jetzt schon verraten, gehen teilweise weit auseinander. Die einen, die eine Entscheidungsfreiheit kategorisch als Illusion einstufen, verneinen einen Schuldvorwurf, rechnen das Verhalten des Copiloten jenem »Zombiesystem« zu, das uns »unterbewusst« durchs Leben steuert. Andere, die für eine partielle Bewusstseinskontrolle plädieren, sprechen sich für eine (eingeschränkte) Verantwortlichkeit, also für ein vorwerfbar schuldhaftes Verhalten aus. Beide Meinungen räsonieren mit Forschungsergebnissen, die – und das ist das Bemerkenswerte – jeweils nicht naturwissenschaftlich widerlegt werden können. Ein deutsches Strafgericht würde zwar – Stand heute – mehrere Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit einholen, die Thesen der Hirnforschung aber ignorieren, jedenfalls soweit diese Thesen eine mögliche Entscheidungsfreiheit gänzlich negieren.
Warum also steuert ein Copilot sich selbst und 149 Menschen in den Tod? Und wie unterscheidet sich ein solcher Suizid von dem Selbstmordattentäter, der sich und andere mit einer Bombe tödlieh zerreißt? Kann es sein, dass beide »nicht schuldig« sind, dass sie von einem unsichtbaren »Zombiesystem« willenlos gesteuert, dirigiert werden? Letztere ist eine provokante Frage, zugegeben. Aber es gibt nicht wenige, durchaus anerkannte Neurobiologen, die diese Frage uneingeschränkt mit Ja beantworten. Das sind die sogenannten Deterministen unter den Hirnforschern, die ich im Kapitel über die Hirnforschung noch mit ihren jeweiligen Thesen vorstellen werde. Auch einige Psychologen halten sich bedeckt, wenn es um die vorbehaltlose Verurteilung des Copiloten geht.
Nach allem, was bekannt wurde, litt der Copilot wie gesagt unter Depressionen. Der Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Leipzig, Professor Ulrich Hegerl, sagte in einem »Spiegel«-Interview: »Eine Depression ist auch eine organische Erkrankung wie Diabetes oder Parkinson […] es handelt sich dabei nicht um eine vorübergehende Befindlichkeitsstörung als Reaktion auf Stress oder bittere Lebensumstände. Es sind vielmehr Hirnfunktionen gestört […]. Der wichtigste Grund für die Erkrankung ist eine Veranlagung, die genetisch bedingt ist oder durch frühe traumatische Erfahrungen erworben sein kann. Äußere Umstände spielen oft als Auslöser eine Rolle« (Der Spiegel: 04.04.2015, siehe auch unter: Spiegel Online: http://bit.ly/spiegel-depression).
Wie gesagt sind sich Experten bei der Antwort auf die Schuldfrage uneinig. Ich bin gespannt, wie die Leser die scheinbar rhetorische Frage – schuldig? – nach der Lektüre des vorliegenden Buchs beurteilen. Ein Ergebnis steht heute schon fest: Wie »Der Spiegel« berichtete, hat sich die Einstellung der Bevölkerung gegenüber psychisch Kranken nach dem Absturz im Vergleich zu vorher verschlechtert. Sie gelten für viele Zeitgenossen als unberechenbar, unzuverlässig und gefährlich. Dabei handelt es sich um eine Meinungsänderung, die alle psychisch Erkrankten betrifft (Spiegel Online: Jana Hauschild (28.10.2015): http://bit.ly/spiegel-Germanwings).
Wer da glaubt, das alles ginge ihn nichts an, dem möchte ich mit einem Fallbeispiel verdeutlichen, wie rasch die Frage der »Zurechnungsfähigkeit« beziehungsweise Schuld jeden Tag für jeden von uns bedeutsam werden kann: Der 18-jährige Schüler Manuel, auf dem rechten Auge seit Geburt erblindet, wurde Opfer der »Reaktion« eines 23-jährigen Mannes. Beide spielten auf einer Art Bolzplatz. Der Ältere warf ein Geschoss in Manuels Richtung, vermutlich weil er sich (fälschlicherweise) provoziert fühlte. Das Wurfgeschoss traf Manuel am gesunden Auge. Er erblindete zunächst vollständig. Wie es weitergeht, bleibt abzuwarten. Die Eltern baten uns, Strafanzeige zu erstatten und Zivilklage einzureichen. Das Problem besteht darin, dass der 23-Jährige, der derzeit arbeitslos ist, den lebenslangen Folgeschaden Manuels nie wird aus eigener Tasche ersetzen können. Und was übernimmt die Haftpflichtversicherung? Der 23-Jährige berief sich auf seine »Schuldunfähigkeit«, da er drogenabhängig war (oder es noch ist), außerdem leide er an Depressionen. Dem einen Gutachter genügten die Ergebnisse der Anamnese, um eine gänzliche Unzurechnungsfähigkeit zu attestieren. Der andere kam zu dem Ergebnis, dass der junge Mann für die verheerenden Folgen »bedingt« verantwortlich sei. Jeder kann sich unschwer vorstellen, welchem Gutachter die Haftpflichtversicherung gerne Vertrauen schenken möchte, denn im Fall der gänzlichen »Schuldlosigkeit« muss die Versicherung nicht zahlen.
Für unseren Mandanten konnten wir diesen Prozess im März 2016 erfreulicherweise gewinnen. Mit dem Argument der Schuldunfähigkeit konnte der Gegner das Gericht nicht überzeugen. Es geht bei der Frage nach der Schuldfähigkeit also nicht nur um strafrechtliche Konsequenzen. Sie kann für jeden von uns jeden Tag relevant werden.
EIN VERLETZTES GEHIRN VERLIERT DIE KONTROLLE UND MACHT DEN TÄTER SCHULDUNFÄHIG
In einem amerikanischen Bundesstaat wurde der 74-jährige Cecil Clayton am 17. März 2015 mit einer Giftspritze hingerichtet. Er hatte einen IQ von 71, das entspricht dem eines Kindes. 43 Jahre zuvor war er noch normal begabt gewesen. Aufgrund eines Unfalls verlor er jedoch einen Teil des Gehirns, exakt 20 Prozent seines Stirnlappens. Clayton erschoss 1996 im Streit einen Polizisten. Nach fast 20 Jahren in der Todeszelle fand sein trostloses Leben im Land der fundamentalen Abtreibungsgegner nun ein gewaltsames und qualvolles Ende. Die Experten hatten ihm nach dem Unfall schwere soziale Defekte bescheinigt. »Er ist inkompetent, kann nicht auf sich alleine aufpassen und muss ständig unter Beobachtung stehen […]. Er ist schizophren und schwer paranoid« (Bild.de: 18.03.2015: http://bit.ly/bild-Clayton). Der Kommentar von Richard Dieter, Direktor des Zentrums für Todesstrafen, lautete: »Unzurechnungsfähigkeit allein ist kein zwingender Grund, eine Hinrichtung auszusetzen« (ebenda). Wirklich? Wie viel von dem, was 1996 geschah, entsprach seinem freien Willen? Kann ein Mensch, dessen Kontrollzentrum schwer beschädigt wurde, überhaupt frei entscheiden? Auch jene Zeitgenossen, die noch nicht mit den jüngsten Erkenntnissen der Hirnforscher vertraut sind, dürften leise Zweifel befallen. Wie würden deutsche Strafrichter entscheiden? Richtig: Freispruch statt Hinrichtung, siehe § 20, Strafgesetzbuch. Allerdings wäre Clayton wohl zum Schutz der Allgemeinheit nicht nur vorübergehend weggesperrt worden, sondern dauerhaft.
Zweifel an einer stets möglichen, bewussten Kontrolle unseres Handelns sind nicht nur angebracht, wenn das Gehirn durch einen Unfall beschädigt wurde.
Die Makellosigkeit, die Fehlerfreiheit unseres Gehirns ist schlicht eine Illusion. Bei jedem von uns. Das geflügelte Wort »Nobody is perfect« ist zwar banal, aber inhaltlich durchaus zutreffend. Das sollte einleuchtend sein, auch ohne die Resultate der Hirnforschung zu kennen.
Das »Kontrollzentrum«, unser Gehirn, verdient diese Bezeichnung eigentlich nicht. Jedenfalls sofern sie suggeriert, dass wir mit diesem Organ alles bewusst kontrollieren können. Zur Erklärung: Das Gehirn wiegt rund 1,5 Kilogramm. Es besteht aus mehreren Hundert Milliarden Zellen, die Neuronen und Glia heißen. Jede dieser Zellen kann es an Komplexität mit einer ganzen Großstadt aufnehmen. Sie enthält das gesamte menschliche Genom. Jede Zelle sendet elektrische Impulse an andere Zellen, oft Hunderte pro Sekunde. Wenn diese Aberbilliarden von Impulsen in dem Gehirn Photonen wären, dann würde jeder in gleißendem Licht erstrahlen. Ein gewöhnliches Neuron hat etwa 10.000 Verbindungen zu benachbarten Neuronen. Angesichts der (vermuteten) 86 Milliarden Neuronen bedeutet dies, dass es in unserem Gehirn so viele Verbindungen gibt wie Planeten im Weltall, einschließlich aller Asteroiden. Und in diesem »Weltall« von Neuronen werden Gedanken produziert. Aber was genau sind Gedanken, wie kommen sie zustande?
Naturwissenschaftler aller einschlägigen Fachbereiche sind sich einig: Gedanken haben eine physische, eine biochemische Grundlage. Man ist geneigt zu sagen, sie sind das Produkt einer physikalisch-chemischen Verschaltung von Neuronen. Und der Zustand, die Verfassung, die Qualität dieses physischen Materials ist ausschlaggebend für Gedanken, zu denen wir fähig sind. Im Fall des hirngeschädigten Clayton, dem aufgrund eines Unfalls 20 Prozent des Stirnlappens fehlten, dürfte ohne weitere Erklärung einleuchten, dass ihm ein normales (im Sinne eines normgerechten) Denken oder Verhalten nicht möglich war, zumal es sich bei ihm um eine Handlung im Affekt gehandelt hat.
Fazit: Nicht alles, was – objektiv gesehen – als ungerecht, unfair, als Verstoß gegen einen gesellschaftlichen Konsens oder gar als kriminell zu qualifizieren ist, verdient den Vorwurf eines bewusst gesteuerten, falschen Verhaltens. Die Antwort auf die Frage, ob solche Handlungen (oder ihr Unterlassen) abzulehnen und zu verurteilen ist, muss nicht immer, ja darf in einigen Fällen sogar nicht, einen persönlichen Schuldvorwurf implizieren. Auch unsere Rechtsordnung verweigert wie gesagt einen Schuldvorwurf dann, wenn die Unzurechnungsfähigkeit im Einzelfall zu bejahen ist. Das hört sich nach einer Selbstverständlichkeit an. Aber wie fortschrittlich eine solche Rechtsprechung tatsächlich ist, wird deutlich, wenn man nur ein paar Jahrhunderte zurückblickt. Damals, vom 14. bis zum 17. Jahrhundert, gab es sogar Gerichtsverfahren gegen (verwilderte) Schweine, die Kinder angegriffen haben sollen. Kein Witz, bei einer gerichtlichen Verurteilung wurden die Schweine gehenkt, verbrannt, ertränkt, erwürgt oder lebendig begraben.
So gesehen ist es kein kleiner Fortschritt, wenn es in der Rechtsprechung heute nicht nur auf Ursache und Wirkung ankommt, sondern auch auf ein individuell vorwerfbares, zu verantwortendes, von einem »freien Willen« gesteuertes Verhalten.
TRAUMATISCHE ERLEBNISSE SCHRÄNKEN DIE KONTROLLE EIN
Körperliche Behinderung, Gefängnishaft in der DDR und ein mangelhaftes emotionales Auffangnetz waren Ursachen für einen Raubüberfall, der eigentlich keiner war. Den mitleiderregenden Kriminalfall hatte ich 1983 zu verteidigen. Damals habe ich als Pflichtverteidiger zahlreiche Delinquenten vertreten, von denen sich zeitweilig ein gutes Dutzend im Münchner Gefängnis »Stadelheim« in Untersuchungshaft befand. Gerd war 17 oder 18 Jahre alt, gehbehindert, von der BRD einst »freigekauft«, nachdem sein Fluchtversuch an der DDR-Grenze gescheitert und er dort inhaftiert worden war. Er war froh, dank »Lösegeld« dort angekommen zu sein, wo er das Paradies vermutete. Und die Sozialleistungen ermöglichten ihm ein erträgliches Auskommen. Dennoch fühlte er sich in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit einsam. Sein einziger Kontakt war die junge Verkäuferin in einem Tabakladen, die er regelmäßig aufsuchte. Eines Tages hielt er ihr eine Pistole vors Gesicht, keine mit Kugel, nach meiner Erinnerung eine Spielzeug- oder Gaspistole. Fakt war: Er wollte eigentlich nicht schießen, er wollte an und für sich nur Aufmerksamkeit. Die bekam er auch, allerdings von der Polizei, später von dem Staatsanwalt und vor Gericht.
Mir gelang es, ihm eine Unterbringung und eine Therapie zu besorgen. Ein langjähriger Gefängnisaufenthalt blieb ihm erspart. Der Strafrichter, aber auch der Gutachter hatten das Dilemma des Jugendlichen richtig diagnostiziert. Seine Lebensumstände und tief im Unterbewusstsein schlummernde traumatischen Erfahrungen hatten seine Straftat ausgelöst. Das Gericht befand: eingeschränkte Schuldfähigkeit. Der Strafrichter erkannte zu Recht, dass Gerd aufgrund seiner Biografie nur »beschränkt« fähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen.
Der Fall war abgeschlossen. Eigentlich. Doch rund zwei Jahre später erreichte mich ein Anruf der Polizei an meinem Urlaubsort. »Gerd hat in einer Bank in der Münchner Innenstadt Geiseln genommen. Er fordert die Freilassung einer Gefangenen – im Austausch gegen die Geiseln. Er will mit niemandem verhandeln, aber mit Ihnen will er sprechen«, so der hilflose Kriminalbeamte. Erfreulicherweise konnte ich Gerd dann am Telefon davon überzeugen, die Geiseln ohne irgendwelche Bedingungen freizulassen. Danach erlebte er den Kälteschock des Rechtsstaats. Fünf Jahre Haft, das richterliche Verständnis hatte ein Ende gefunden. Die bis dahin erfreulichen Therapieergebnisse zählten nicht mehr. Weitere Einzelheiten sind mir nicht bekannt, da ich ihn in diesem Fall nicht mehr verteidigt habe. Nur so viel habe ich in Erinnerung: Die Frau, die er freipressen wollte, kannte er gar nicht. Sie saß in Untersuchungshaft in der Frauenanstalt in Aichach. Sie war ebenfalls aus der DDR geflohen. Gerd hatte sich an sein eigenes Schicksal erinnert, als er an irgendeinem Biertresen davon erfuhr. Sein »Helfersyndrom« führte ihn von dort direkt zur Bank. Er wollte kein Geld, nur die Freiheit für eine vermeintliche Leidensgenossin.
Nach unserem Strafrecht musste er schuldig gesprochen werden. Selbst wenn man zusammen mit einigen Hirnforschern die »Entscheidungsfreiheit« des Individuums für eine Illusion hält, so verlangte diese Tat nach einer Maßnahme, die Abschreckung zu bewirken vermochte. Beides, Abschreckung, aber auch Therapie mit dem Ziel einer Resozialisierung, muss dem Prinzip eines humanen, gerechten Strafrechts folgen, um größtmöglichen Respekt für unverzichtbare Regeln eines Zusammenlebens zu bewirken. Diese Aussage möchte ich ausführlich in einem späteren Kapitel über wünschenswerte Änderungen im Strafrecht begründen.
DER WERT PSYCHIATRISCHER GUTACHTEN IST UMSTRITTEN
In dem geschilderten Fall von Gerd hielt sich die Bestrafung mit fünf Jahren Gefängnis innerhalb des Strafrahmens, der üblicherweise von Strafgerichten – unter Berücksichtigung mildernder Umstände – verhängt wird. Allerdings legen sowohl Richter als auch Gutachter regelmäßig die Messlatte für das, was in die Kategorie »verminderte Schuldfähigkeit« oder »gänzliche Schuldunfähigkeit« fällt, sehr hoch. Es genügt jedoch nicht, so jedenfalls zahlreiche Hirnforscher und Verhaltenspsychologen, lediglich hirnorganische Beschädigungen, schwere traumatisch bedingte Störungen oder seelische Abartigkeiten und dergleichen unter die Kategorie der Schuldunfähigkeit zu subsummieren und mit der »Gnade« eines milden Urteils oder gar eines Freispruchs zu belegen. Im Übrigen, wie wenig zuverlässig psychiatrische Gutachten sein können, hat der über die Grenzen unserer Republik bekannt gewordene und diskutierte Fall Gustl Mollath gezeigt, der zu sieben Jahren Zwangsunterbringung verurteilt worden war. Mollath wurden »Wahnvorstellungen« unterstellt, als er bezüglich des Verhaltens einer Bank von einem »komplexen System von Schwarzgeldverschiebungen« berichtet hatte. Ein Gerichtsgutachter diagnostizierte, dass Mollath psychisch schwer krank und weiterhin gefährlich sei. Ein anderer Psychiater sprach von einer »groben Falschbegutachtung« und sah weder Anzeichen einer psychischen Erkrankung noch einer Gemeingefährlichkeit. Das half Mollath bekanntlich zunächst nicht, der in eine psychiatrische Klinik eingesperrt wurde. Solche Anstalten werden gelegentlich auch als »Dunkelkammer des Rechts« bezeichnet. Erst in einem Wiederaufnahmeverfahren wurde er rehabilitiert. Der renommierte Gerichtsgutachter Norbert Nedopil, Gutachter in dem Wiederaufnahmeverfahren gegen Mollath, schätzt die Fehlerquote bei der Prognose über die Gefährlichkeit von Straftätern auf immerhin 60 Prozent.
Aus vielen unterschiedlichen Gründen ist ein Schuldspruch aber auch im privaten Bereich regelmäßig äußerst fragwürdig. Das Verhalten von Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunden oder Lebenspartnern verdient oft eine zurückhaltende, mildere Bewertung. Denn vermeintliche Kränkungen beispielsweise erweisen sich bei näherer Betrachtung häufig als instinktive, absichtslose Reaktion, der keine autonome, bewusste Entscheidung zugrunde lag. Abweichungen von einem normgerechten Verhalten im zwischenmenschlichen Bereich können zahlreiche Ursachen haben, nicht nur jene, die unser Strafrecht definiert.
Das wirft zunächst die Frage auf: Was ist ausschlaggebend dafür, wie wir denken und für die Qualität des physischen »Materials«, das die Produktion von Gedanken ermöglicht?