Читать книгу Die Pferdelords 07 - Das vergangene Reich von Jalanne - Michael Schenk - Страница 9

Kapitel 7

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Zwischen dem Südgebirge von Hesparat und dem östlichen Gebirgsmassiv

des Uma’Roll gelegen, machte der Große Wall seinem Namen alle Ehre.

Warum man dieses eigentlich schmale, lang gestreckte Gebirge so genannt

hatte, wusste niemand mehr zu sagen. Mit den beiden anderen Gebirgen

zusammen bildete es jedoch eine unüberwindbare Grenze zwischen Alnoa

und Jalanne und war nur am Pass von Dergoret sowie an der Pforte von Alnoa

passierbar. Ein wahres Ärgernis, als der Handel zwischen beiden Reichen

noch florierte.


Damals war Maratran nicht mehr als eine Signalstation gewesen. Ein hoch

gelegener Turm am Südende des Walls, auf dessen Spitze das Signalfeuer

vorbereitet war. Dieses war Teil einer Kette von Signalfeuern, die alle sieben

Königreiche miteinander verband und bei Gefahr entzündet wurde, um

einander beistehen zu können. Nun war das Reich Jalanne vergangen, und aus

dem Signalturm von Maratran war die Festung Maratran geworden.


Die Hänge des umliegenden Gebirges waren steil und schroff, und wo die

natürlichen Gegebenheiten ein Ersteigen nicht verhinderten, da hatten die

Konstrukteure und Arbeiter Alnoas nachgeholfen. Während vieler Winter

hatte man heißes Wasser in Spalten und Löcher gegossen und gewartet, bis es

gefror. Der Druck des sich ausdehnenden Eises hatte das Gestein gesprengt,

und die Steigungen wurden unbezwingbar.


Mühsam hatte man vor dem Bau der Festung einen breiten Pfad in den

Hang geschlagen. Dann waren Stein und Geröll bewegt und Erde

herbeigeschafft worden, bis neben dem Signalturm ein beachtliches Plateau

entstanden war. Der zu kleine Brunnen war sorgsam ausgeschachtet und

verkleidet worden. Dann hatte man mit dem Bau der eigentlichen Anlage

begonnen. Alles Material, vom Felsquader bis zum Getreidekorn, musste

hinauftransportiert werden. Es dauerte viele, sehr viele Jahre und forderte das

Leben manchen Arbeiters. Doch dann erhob sich Maratran in neuer Größe

und neuem Glanz über dem Großen Wall.


Bewusst hatte man für den Bau der Festungsmauern den weißen Stein

gewählt, aus dem auch die Bollwerke der Hauptstadt Alneris bestanden.

Einem Leuchtfeuer gleich, mahnte er jeden Feind, dass hier die Garde des

Königreiches stand.


Die Mauern waren extrem dick, obwohl sie kaum von einem Katapult

erreicht werden konnten. Man hatte Ställe und Unterkünfte darin integriert,

und auch die Vorratslager und Waffenkammern befanden sich dort. Inmitten

der Anlage erhob sich der Signalturm. Er war weit größer als sein Vorgänger

und hatte kaum noch Ähnlichkeit mit ihm. An der Basis erinnerte er an eine

plumpe Tonne, über der er sich wie eine sich nach oben stark verjüngende

Nadel erhob. An der Spitze befanden sich das Signalfeuer und eine

Beobachtungsplattform, die eine weite Aussicht über das umliegende Land

bot. Obwohl man den Turm über die innen liegende Treppe ersteigen konnte,

hatte es der frühere Kommandant Maratrans, ein verdienstvoller, doch am

Ende seiner Laufbahn gebrechlicher Adliger, erreicht, dass einer jener

Aufzüge installiert wurde, für die der Königsturm in Alneris berühmt war.

Über eine Vorrichtung aus Winden, Rollen und Seilen konnte man eine

hölzerne Plattform durch das Innere des Turms nach oben bewegen und

wieder herabsenken.


Der neue Kommandant von Maratran hielt nur wenig von solchen

Errungenschaften, doch an diesem Tag gebot es die Höflichkeit, den Aufzug

zu benutzen. Die Hochgeborene Livianya, die neben der stehenden Besatzung

der Festung auch das hier stationierte Regiment der siebenten Gardekavallerie

befehligte, hatte Besuch aus der Königsstadt Alneris erhalten.


Der Hochgeborene Welbur ta Andarat hatte die Statur eines Kriegers, doch

er kämpfte lieber mit Worten als mit der Klinge. Er war Mitglied des

Kronrates und sicherlich kein Freund der Hochgeborenen Livianya. Nach

seiner Meinung gehörte eine Frau nicht in die Reihen der Kämpfer, schon gar

nicht in einer verantwortlichen Position. Frauen hatten die Aufgabe, einem

Mann Freude zu bereiten und die Bettstatt mit ihm zu teilen. Vorzugsweise

die des Adligen ta Andarat.


Livianya kannte die Geschichten, die sich um den Weiberhelden rankten,

und auch die Reden, die er gegen sie, die Kriegerin, führte. Sie hätte ihn am

liebsten von der Plattform des Turms geworfen, wobei sie sich der

Unterstützung durch die meisten ihrer Gardisten hätte sicher sein können.

Aber sie musste den Mann mit Höflichkeit behandeln. Er war es, der im

Kronrat darüber entschied, welche Mittel und Truppen welcher Festung

zugedacht wurden. Es hieß, er habe diese Position durch harte Arbeit

zwischen den Schenkeln der Frau des Kronkanzlers erreicht. Livianya war

bereit, diesem Gerücht zu glauben, als sie die abschätzenden Blicke des

Adligen bemerkte. Sie hätte lieber ihre Rüstung getragen, anstelle des

formellen Gewandes. Sie nahm sich vor, versehentlich auszurutschen und ihn

dort zu treten, wo es richtig schmerzte, wenn er sie noch länger auf solche

begehrliche Weise begutachtete.


Unten an der Winde drehten zwei Gardisten an der Kurbel und ließen die

Plattform dadurch langsam aufsteigen. Sie bemühten sich um gleichmäßige

Bewegungen, aber es ließ sich beim besten Willen nicht vermeiden, dass die

hölzerne Konstruktion gelegentlich wackelte.


Welbur ta Andarat räusperte sich nervös, als dies erneut geschah. »Diese

Plattform ist doch stabil, Hochgeborene?«


»Das ist sie, Hochgeborener.« Livianya erlaubte sich ein schmelzendes

Lächeln. »Für den Fall, dass doch einmal etwas entzweigehen sollte, hat man

unter der Plattform einige mit Luft gefüllte Hornviehmägen befestigt. Sie

sollten die Wirkung eines Sturzes dämpfen.«


Ta Andarat wurde eine Spur blasser und lachte dann nervös. »Nun, wir

sind ja gleich oben. Ich hoffe doch, die Mühsal lohnt sich.«


»Das wird sie, Hochgeborener ta Andarat«, versicherte sie. Hatte er

Mühsal gesagt? Die einzigen Schweißtropfen wurden von den beiden

Männern an der Kurbel vergossen. Und jetzt zückte ta Andarat auch noch ein

feines Tuch und betupfte sich geziert den Mund und die Stirn. Livianya

senkte angewidert den Blick, um sich nicht zu verraten. Sie war froh, fern der

Königsstadt und ihren verweichlichten Adligen zu sein. Männern, die kaum

eine Ahnung vom Kampf hatten, aber über die Belange der Kämpfer

entschieden. Glücklicherweise gab es noch Ausnahmen, wie den König selbst

und den Hochgeborenen Daik ta Enderos, den Oberkommandierenden der

Gardereiter.


Tageslicht erschien über ihnen, und der Aufzug erreichte die Plattform des

Turms. Die zwei wachhabenden Gardisten salutierten respektvoll und

sicherten die hölzerne Konstruktion mit zwei Kanthölzern. Ta Andarat schien

erleichtert, als er wieder fest gefügte Steine unter den Füßen hatte. Livianya

folgte ihm.


»Die Disziplin an der Grenze wird ein wenig schleifen gelassen, nicht

wahr?«, meinte ta Andarat mit einem Seitenblick auf die Männer.


»Das Augenmerk meiner Gardisten gilt nicht der Politur ihrer Rüstung,

sondern dem Feind«, erwiderte die Kommandantin. Sie konnte sich einen

Seitenhieb nicht verkneifen, obwohl sie wusste, dass sie damit ta Andarats

Widerwillen noch steigern würde. »Die Männer an den Grenzen sind noch

den Kampf gewohnt und nicht die hübschen Paraden in Alneris.«


Ihre Gardisten grinsten erfreut, während ta Andarats Lächeln ein wenig

gefror. Aber das war es ihr wert gewesen. Diese Männer waren es, die mit ihr

hinausritten und ihr Leben riskierten, nicht dieser eitle Kratzfuß.


»Nun, wo ist dieses Wunderding, von dem Ihr mir erzählt habt,

Hochgeborene Livianya ta Barat?« Seine Förmlichkeit verriet, dass er

tatsächlich eingeschnappt war.


»Jene Konstruktion direkt vor Euch, Hochgeborener.« Kurzsichtig war er

offensichtlich auch.


Sie gingen zu dem tonnenförmigen Objekt hinüber, das auf einem Dreibein

montiert war. Es hatte die doppelte Stärke und Länge eines Armes und blitzte

in der Sonne, da seine Hülle aus Gold gefertigt war.


»Ihr behauptet also, damit könne man den Feind erblicken?«


»Wenn einer da ist, ja, und zwar aus großer Entfernung.«


»Ah, wahrhaftig? Aber wie geschieht das?« Ta Andarat beäugte den

Gegenstand von allen Seiten. »Nun, ich kann Klarstein an beiden Enden

erkennen. Was soll das bewirken? Ebenso gut kann ich durch ein einfaches

Fenster sehen.«


»Es ist kein gewöhnlicher Klarstein.« Livianya schwenkte den Gegenstand

ein wenig herum. »Sondern geschliffener Kristall von den Zwergen.«


»Von den Zwergen? Ihr sagtet vorher nichts von Zwergen. Was hat das

Königreich mit diesen kleinen Wesen zu schaffen?«


»Sie liefern den besonders geschliffenen Kristall, der hierfür benötigt wird.

Eigentlich geht dieses Gerät auf einen Händler aus der Hochmark zurück.«


»Hochmark?« Ta Andarat betupfte sich Lippen und Stirn. »Da leben doch

diese barbarischen Pferdemenschen, nicht wahr?«


Livianya wünschte sich, ta Enderos oder der König wären hier. Sie hätten

eine angemessene Antwort gegeben, denn sie hatten die Befreiung der

alnoischen Stadt Gendaneris gut in Erinnerung. »Ein Händler des

Pferdevolkes, ich glaube, er heißt Hedlerim, hat Kristallsteine erfunden, die in

Metall gefasst und auf besondere Weise geschliffen sind. Mit ihnen lassen

sich Gegenstände vergrößern.«


»Ah, Hedlerims Vergrößerungssteine«, sinnierte ta Andarat. »Ja, ich kenne

sie. Ich dachte immer, einer der unseren hätte sie erfunden. Verstehe. Man hat

also die Vergrößerungssteine in diese Konstruktion gefasst?« Der Adlige

strich sich über das Kinn. »An welchem Ende muss ich hineinsehen?«


Sie zeigte ihm das Okular und wie man die Brennweite des

Vergrößerungsrohres verändern konnte. Nach kurzer Zeit kam ta Andarat mit

dem Gerät zurecht. »Ich bin überrascht«, gestand er ein. »Zwar kann ich

keinen Feind erblicken, aber die Umgebung wird nahe an das Auge

herangeführt. Ein seltsames, aber hilfreiches Ding.«


»Man kann den Feind nun sehr viel früher entdecken«, stimmte Livianya

zu. »Vorausgesetzt, natürlich, das Wetter spielt mit.«


»Natürlich, natürlich. Wie seid Ihr an das Gerät gekommen?«


»Es war ein Geschenk der Elfen an den Hochgeborenen Lord ta Enderos,

Hochgeborener.«


»Elfen?« Die Stimme klang ein wenig spitz. »Was haben die nun wieder

… Ah, ich verstehe. Der Kampf gegen die Schwärme der See, nicht wahr?

Verstehe, verstehe. Und der Hochgeborene Lord ta Enderos überreichte es

Euch? Nun, er war Euch ja immer auf besondere Weise gewogen.«


Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, um auszurutschen und den

arroganten Kerl ordentlich zu treten, doch Livianya beherrschte sich. »Der

Oberkommandeur der Garde fand, dass dieses Vergrößerungsrohr in einer

Festung nützlicher sei, als in seinem Garten.«


»Nun, äh, das mag sein.« Ta Andarat trat von dem Gerät zurück und lehnte

sich an die gemauerte Einfassung der Plattform. »Ihr spracht von einer

wachsenden Bedrohung an der Grenze, Hochgeborene? Ich kann jedoch

keinen Feind erblicken. Wisst Ihr etwas von den Orks der Finsternis, das noch

nicht nach Alneris gedrungen ist?«


»Keine Orks, obwohl diese Bedrohung stets über uns schwebt. Im

vergangenen Reich Jalanne formiert sich eine andere Gefahr.«


Natürlich wusste ta Andarat längst von den gepanzerten Bestien. Livianya

hatte mehrere Berichte an ihren Vorgesetzten ta Enderos geschickt. Da die

Irghil das Reich jedoch noch nicht direkt bedrohten, konnte dieser ihr keine

Verstärkungen schicken. In einem solchen Fall entschied der Kronrat, und

dieser hatte als Bevollmächtigten ta Andarat gesandt.


Geduldig berichtete Livianya dem Mann von ihren Befürchtungen. Am

Gesichtsausdruck des Adligen war sein wachsender Widerwille abzulesen.

Schließlich unterbrach er ihre Ausführungen. »Schön, schön, sie mögen

gefährlich sein, diese Schalentiere. Aber sie bedrohen nicht das Königreich,

nicht wahr? Bleibt dem vergangenen Reich Jalanne fern, dann sind auch Eure

Reiter sicher.«


»Und die Lemarier?«


Er betupfte abermals sein Gesicht. »Sie sind uns willkommen. Wenn sie

denn kommen wollen.«


»Es wurde ihnen bereits angeboten, Hochgeborener.«


»Nun, so scheinen mir diese Bestien doch ausschließlich das Problem der

Lemarier zu sein. Es besteht keine Veranlassung, dass sich die tapferen

Männer der Garde ihretwegen in Gefahr begeben. Oder deren schöner

Kommandant«, fügte er hinzu.


»Eines Tages könnten diese Bestien unsere Grenze direkt bedrohen«, gab

Livianya zu bedenken. »Jetzt sind sie vielleicht noch zu schwach dazu.«


Er wedelte mit dem Tuch. »Wenn dies wirklich einmal der Fall sein sollte,

so wird Euch der Kronrat die erforderlichen Truppen bewilligen. Aber dieser

Tag scheint mir doch noch sehr weit entfernt zu sein.« Er seufzte. »Bedenkt,

Hochgeborene, der Unterhalt der Garde kostet eine Menge goldener

Schüsselchen. Ich bin dem Kronrat und Ihrer Majestät gegenüber

verantwortlich, sie nicht zu verschwenden.«


Einer der Gardisten schnaubte verächtlich, und als ta Andarat den Mann

ansah, erwiderte dieser trotzig seinen Blick. Ta Andarat räusperte sich und

sah erneut in das Land von Jalanne hinunter. »Wie ich es bereits erwähnte,

wenn sich eine wirkliche Bedrohung ergibt, so werden König und Kronrat

Euch sofort zur Seite stehen.« Abermals bemühte er sein feines Tuch. »Doch

nun sollten wir uns zurückziehen. Es ist ein wenig zugig hier, und ich

verspüre ein Kratzen in der Kehle.«


Er ging zum Aufzug und blickte dann noch einmal zu dem

Vergrößerungsrohr zurück. »Ein beachtenswertes Gerät. Vielleicht sollte ich

es mit mir nehmen. Um es, äh, herumzuzeigen. Es könnte auch den anderen

Festungen nützlich sein.«


Livianya sah ihn abweisend an. »Nun, das müsst Ihr den Hochgeborenen

Lord ta Enderos fragen. Er hat es geschenkt bekommen.«


»Ja, sicher. Nun, es ist auch nicht von besonderem Belang.«


Die Plattform glitt wieder nach unten. An der Basis des Turms setzte sie

inmitten des Podestes auf, das einen bequemen Zutritt ermöglichte.


»Wir haben ein bescheidenes Mahl und ein Quartier für Euch vorbereitet,

Hochgeborener«, sagte Livianya mit gezwungener Freundlichkeit. Das Mahl

war in der Tat bescheiden, ebenso wie das Quartier. Nicht besonders schlecht,

aber auch nicht das Beste, was Maratran zu bieten hatte. Er erhielt die gleiche

Behandlung wie ihre Männer. Sie sah keinen Grund, ta Andarat mehr

zuzubilligen, als er verdiente. Mochten andere ihm das Gesäß ausputzen, um

seine Gunst zu gewinnen, sie würde das nicht tun.


»Ich bedauere zutiefst, Hochgeborene, doch in Alneris erwarten mich

dringende Amtsgeschäfte.«


Wohl eher die Schenkel eines Weibes, dachte Livianya verächtlich und

war erleichtert, den ungeliebten Gast so schnell wieder los zu sein.


Zusammen mit einer Ehrenwache begleitete sie den Adligen zum Tor. Als

er und seine Eskorte ihren Blicken entschwanden, trat Hauptmann Bernot ta

Geos zu seiner Kommandantin. Als er ihren grimmigen Gesichtsausdruck sah,

nickte er lächelnd. »Ich ahnte, dass wir von ihm nichts zu erwarten haben.«


»Nein, nicht von einem wie dem. Aber ich musste es wenigstens

versuchen«, gestand sie ein. »Kommt mit, Bernot, wir haben einiges zu

besprechen.«


Einst hätte sich die Hochgeborene Livianya nicht träumen lassen, jemals

eine Rüstung zu tragen und gemeinsam mit der Garde zu kämpfen. Ihr

Gemahl ta Barat war stellvertretender Kommandeur eines Regiments gewesen

und hatte in der Festung von Dergoret gedient, die den Großen Wall im

Norden versperrte. Vor vielen Jahren hatten die Legionen der Orks versucht,

über den Pass von Dergoret in das Reich Alnoa vorzustoßen. Sie waren

äußerst geschickt vorgegangen und hatten die Garde aus der Festung gelockt.

Dann waren sie über sie hergefallen und hatten die Männer abgeschlachtet.

Nur eine Handvoll entkam und zog sich nach Dergoret zurück. Darunter

Livianyas schwer verwundeter Gemahl. Man hatte das Signalfeuer entzündet

und gehofft, die Truppen des Königs würden rechtzeitig kommen, um die

Besatzung der Festung zu retten. Ununterbrochen rannten die Orks an, und

die Moral der Gardisten sank. Livianyas Gemahl gelang es, trotz seiner

Wunden, den Kämpfern ein Vorbild zu sein. Doch es überforderte seine

Kräfte. In der Nacht vor dem letzten Ansturm der Legionen starb er in

Livianyas Armen. Wäre sein Tod bekannt geworden, hätte der Mut die letzten

Verteidiger verlassen. Als der Morgen dämmerte, trat Livianya in der

Rüstung ihres toten Gemahls in die Reihe der Männer. Sie hielten stand. Trotz

allen Elends und ihrer Verzweiflung. Sie hielten stand, bis die Truppen des

Königs kamen.


Als offensichtlich wurde, wer in der Rüstung ta Barats gekämpft und

Orkblut in Strömen vergossen hatte, gewährte der König ihr einen Wunsch.

So trat sie der Garde bei, gegen den Widerstand vieler Adliger und Gardisten,

die den Traditionen verhaftet waren. Sie diente als Führer eines Halbberitts,

stieg zum Hauptmann und Berittführer auf und gewann in Kämpfen den

Respekt ihrer Soldaten. Sie wurde zu einer Heldin, und das einfache Volk

liebte seine Helden. Als der alte Kommandant von Maratran starb und sie sich

um den Posten bewarb, genoss sie die Unterstützung des Volkes und der

Garde. So erhielt sie das Kommando über Maratran und handelte sich

zugleich die Gegnerschaft jener ein, die es ihr neideten oder ihr die Rüstung

nicht zuerkannten. Livianya war dies gleich. Sie vermisste die Hohe

Gesellschaft in Alneris nicht und empfand Verachtung für jene, die ihre

Soldaten leiden ließen, um den eigenen Wohlstand zu mehren.


Sie hatte sich nie wieder an einen Mann gebunden, obwohl es manche

Angebote gegeben hatte. Von einer gezackten Narbe am Schulterblatt

abgesehen, war ihr Körper von makelloser Schönheit, und trotz aller Härte

besaß sie jene Weiblichkeit, die die fürsorglichen Gefühle eines Mannes

weckte. Im Grunde war die Hochgeborene nicht abgeneigt, sich erneut zu

binden. Doch es hätte ein Kämpfer sein müssen, und sie kannte die Sorge, die

man empfand, wenn ein Geliebter dem Feind entgegenritt. Sie scheute davor

zurück, diese Sorge erneut zu erleben oder gar der Grund dafür zu sein. Aber

niemand konnte die Zukunft weissagen.


Ihre Empfindungen gegenüber Hauptmann ta Geos waren eher

freundschaftlicher Art. Jedenfalls sagte sie sich dies immer wieder, denn es

hatte einige Nächte gegeben, in denen sie diesem Grundsatz untreu geworden

war. Nächte, in denen die Einsamkeit zu groß wurde, um nicht die Nähe eines

anderen Menschen zu suchen. Ta Geos mochte im Gefecht nicht sonderlich

fantasievoll sein, dennoch hatte er seine Qualitäten. Er war ein Meister im

Kampf, ein ausgezeichneter Berittführer und auf der Bettstatt ein exquisiter

Liebhaber. Vor allem aber, und dies schätzte Livianya besonders, nutzte er

diese sehr persönlichen Begegnungen niemals, um einen Vorteil daraus zu

ziehen. Manchmal erwog die Hochgeborene tatsächlich, sich mit ihm zu

verbinden. Er war ebenfalls adlig, wie die Bezeichnung »ta« verriet, und

somit eine standesgemäße Partie. Es mochte durchaus sein, dass sie ta Geos

sogar liebte. Die Garde hingegen liebte sie in jedem Fall. Sie konnte sich

nicht vorstellen, jemals die Rüstung abzulegen und nicht mehr mit ihren

Männern hinauszureiten. Doch wenn sie sich vermählte, musste sie dem

entsagen. Für Livianya war das unvorstellbar.


Als sie und Bernot ta Geos nun über den Vorplatz vor dem Turm schritten,

war die Anlage von der üblichen Betriebsamkeit erfüllt.


Die Pferde wurden gefüttert und getränkt, und einige der Tiere standen an

der Schmiede, da sie neu beschlagen werden mussten. Zwei von ihnen

wurden am Zügel über den Platz geführt und dabei kritisch von einigen

Gardisten und dem Heiler Maratrans beäugt, da sie ein wenig lahmten.


»Wir haben zwanzig neue Pferde aus Nerianaris bekommen«, erläuterte

Bernot. »Einige davon sind nur halb zugeritten. Der Hauptmann des Beritts

hat es bei der Abnahme nicht bemerkt.« Er registrierte Livianyas Blick und

lächelte. »Ich habe bereits mit ihm gesprochen. Das nächste Mal wird er mehr

Sorgfalt walten lassen.«


Aus der Waffenschmiede drang rhythmisches Hämmern. Die Laute

klangen etwas dumpfer als gewöhnlich. Offensichtlich versah der

Waffenmeister die Tellerlanzen nun ebenfalls mit der Quetschspitze. »Wir

werden mehr Weichmetall benötigen«, meinte Bernot. »Auch wenn ta

Andarat sich dagegen ausgesprochen hat, gehe ich davon aus, dass Ihr

weiterhin Jalanne bestreifen wollt.«


»Das werde ich.« Livianya blieb stehen und sah ihn forschend an. »Er hat

es nicht direkt verboten, und das kann er auch nicht. Er ist zu schlau, um das

zu tun. Ihr seid dagegen, Hauptmann?«


Er lächelte. »Ich teile Eure Meinung, Hochgeborene.«


In Anwesenheit anderer bemühten sie sich immer, die Form zu wahren,

auch wenn der eine oder andere Gardist ahnen mochte, dass zwischen ihnen

mehr war als reine Disziplin. Außerdem erleichterte es die Distanz Livianya

und Bernot, ihre Meinungen ohne Rücksicht auf persönliche Befindlichkeiten

auszutauschen. Bernot mochte ein zu gradliniger Denker sein, aber er war ein

ausgezeichneter Praktiker, wenn es um das Töten des Feindes ging. Die

Hochgeborene schätzte sein Urteil ebenso wie seine Fertigkeiten.


»Oberkommandeur ta Enderos teilt meine Befürchtungen«, sinnierte

Livianya. »Ich weiß es. Er hat den Instinkt eines guten Gardisten.«


»Im Frieden kann er nicht allein entscheiden.«


»Frieden.« Sie spuckte das Wort förmlich aus. »Ein Frieden, in dem meine

Gardisten sterben oder verstümmelt werden.«


»Weil Ihr die Grenze überschreitet und die Männer nach Jalanne führt.«


»Würdet Ihr das nicht tun, Bernot?«


Er schwieg einen Moment. »Ohne Eure Unterstützung? Nein, ich glaube

nicht.«


Sie schätzte diese Offenheit an ihm. Er war kein Speichellecker. »Warum

nicht?«


Er sah sie ernst an. »Ihr seid Kommandant von Maratran. Ihr habt die

Liebe des Volkes und den Respekt der Garde. Und Ihr habt das Ohr des

Oberkommandierenden und des Königs.« Erneut lächelte er. »Darüber kann

sich auch ta Andarat nicht einfach hinwegsetzen. Ich hingegen,

Hochgeborene, bin nur ein einfacher Hauptmann und Berittführer.«


»Auch Ihr seid adlig, und Ihr seid mein Stellvertreter, vergesst das nicht.«


»Niemals«, versicherte er.


Das Pochen aus der Waffenschmiede verstummte, und ein schlanker

Mann, dem der Schweiß in dichten Bahnen über den Oberkörper floss, trat

hervor. Er hielt eine der abgeänderten Tellerlanzen in den Händen und

begutachtete sein Werk. Zufrieden nickend, reichte er die Waffe einem

Gehilfen, der ihm gefolgt war. Dann erblickte er Livianya und ta Geos und

eilte auf sie zu. »Auf ein Wort, Hochgeborene Herrschaften, auf ein Wort.«


Für einen Schmied hatte er eine beinahe zerbrechliche Statur, und doch

war er einer der besten Waffenmeister des Königreiches. Daik ta Enderos

hatte den Mann in Alneris ausfindig gemacht. Dort war er für seine Kunst

berühmt, wundervoll verzierte Waffen herzustellen, die von den Adligen des

Reiches gerne bei Paraden und Bällen getragen wurden. Ta Enderos’

spöttische Frage, ob er sich nicht auch für echte Waffen interessiere, hatte bei

dem Schmied zunächst Empörung und dann Interesse geweckt. Als er dem

Oberbefehlshaber der Gardekavallerie zur Demonstration ein Schwert

fertigte, dessen Qualität fast an die der elfischen Klingen herankam, hatte ta

Enderos versucht, den Waffenschmied zum Dienst in der Garde zu überreden.

Doch der Mann hatte rundweg abgelehnt und stattdessen angeboten, als

einfacher Handwerker nach Maratran zu gehen. Für ihn erwies sich dieser

Weg als weitaus vorteilhafter. Er bekam mehr goldene Schüsselchen für seine

Arbeit und konnte zudem seine Familie mitnehmen. Den einfachen Gardisten

war diese Möglichkeit verständlicherweise versperrt. Kein Befehlshaber einer

Festung oder Garnison schätzte es, neben der Kampftruppe auch noch einen

Tross an Weibern und Kindern versorgen und beschützen zu müssen.


»Nun, was gibt es, Waffenmeister?«, fragte ta Geos an Livianyas Stelle.

Dies entsprach dem strengen Reglement der Garde. Ein einfacher Soldat

durfte seinen Kommandanten jederzeit ansprechen. Händler, Handwerker und

andere Zivilpersonen mussten jedoch mit dessen Stellvertreter

vorliebnehmen.


»Es geht um die neuen Dampfkanonen, Hochgeborene Herrschaften.« Der

Mann wies zu den nach Jalanne weisenden Mauern. »Wie Ihr wisst,

Hauptmann, wurden zwei weitere dieser Waffen angeschafft. Die

Brennsteinkessel und Dampfzuleitungen sind jedoch nur für die bisherigen

Geschütze ausreichend. Oh, ich kann das natürlich ändern, Hochgeborene

Herrschaften. Doch dazu muss ich eine neue Zuleitung durch die Decke des

Pferdestalls legen. Ihr wisst ja, wir nutzen die Dampfleitungen, um im Winter

die Unterkünfte und Ställe zu heizen.«


Auf dem Plateau wurde es im Winter bitterkalt. Es reichte den Gardisten,

wenn sie schon auf Wache oder im Dienst froren. Da sollten wenigstens die

Unterkünfte behaglich warm sein. Vor einigen Jahren hatte Maratran fünf der

neuartigen Dampfkanonen erhalten. Sie hatten sich bei der Flotte und der

Verteidigung von Alneris bewährt. Nun wurden auch die Grenzfestungen

nach und nach mit ihnen ausgerüstet. Im Falle Maratrans hielt die Hohe Dame

diese Kanonen jedoch für überflüssig. Die Festung lag so hoch, dass sie kaum

vom Feind beschossen werden konnte, während schon ihre kleinsten

Katapulte weit in das Vorfeld hineintrugen. Dennoch hatte sie der Lieferung

zugestimmt. Denn der Betrieb, der die Waffen fertigte, gehörte einem

einflussreichen Mitglied des Kronrates, und sie wollte sich durch eine

Ablehnung nicht die Gewogenheit der Ratsmitglieder verscherzen. Nicht

allein wegen ihrer Person, sondern weil der König und der

Oberkommandierende ta Enderos sich dort für sie einsetzten.


»Fragt ihn, wo das Problem liegt«, sprach sie den Hauptmann an, blickte

dabei aber in die Augen des Schmiedes. Manchmal konnte das Reglement ein

wenig umständlich sein.


»Sagt der Hochgeborenen, der Stallmeister befürchtet, durch die Arbeiten

werde die Stabilität der Stalldecke geschwächt, da sie durchbrochen werden

muss.«


Ta Geos antwortete direkt und mit den Worten, die Livianya gewählt hätte.

»Es sind Kriegspferde. Ihre Sicherheit geht vor unserer Bequemlichkeit. Doch

der Winter ist nicht mehr allzu fern. Besprecht mit dem Stallmeister, was er

für nötig hält. Er ist für den Stall, die Pferde und deren Sicherheit

verantwortlich. Somit gilt sein Wort.«


Der Waffenschmied seufzte entsagungsvoll. »Er wird ein paar zusätzliche

Säulen einziehen wollen. Das kostet Zeit und Schüsselchen.«


»Auf Zeit und Schüsselchen können wir nicht gegen den Feind reiten«,

meinte ta Geos knapp.


Der Mann seufzte erneut und nickte ergeben. Als er außer Hörweite war,

stieß Livianya einen leisen, wenig damenhaften Fluch aus. »Seit der König

die Schüsselchen als Währung eingeführt hat, scheinen sie zunehmend das

Reich zu regieren. Wenn die Garde früher etwas benötigte, dann bekam sie es

auch. Heute wird zunächst danach gefragt, wie viel es kosten mag.«


Der Hauptmann konnte ihre Bitterkeit verstehen. »Wenn eine Bedrohung

vor den Toren des Reiches auftaucht, wird niemand mehr danach fragen.«


»Womit wir beim Thema wären, mein guter Bernot.« Livianya deutete

zum Turm, wo sich die Unterkünfte der Offiziere und der überlebenswichtige

Brunnen befanden. »Suchen wir meine Räume auf.«


Die Ehrenwache salutierte und öffnete die eisenbeschlagene Tür, in die das

Wappen des Reiches Alnoa eingearbeitet war. Sie führte auf einen Gang, der

den Schacht des Aufzugs kreisförmig umgab. Die von dem Gang abgehenden

Räume hatten dementsprechend leicht keilförmige Grundrisse. Livianya

beschränkte sich auf die Nutzung dreier Räume. Der vordere war am größten

und diente ihr als Amtsraum. An dessen breiter Stirnseite, der Außenmauer

des Turms zugewandt, befand sich die Tür, die zu ihren Privaträumen führte,

dem Schlafgemach und dem einzigen Luxus, den sie sich erlaubte, einem

kleinen Baderaum.


Die Tür zu ihrem Schlafgemach war offen. Ein Gardist und der Seilmacher

der Festung standen an Livianyas Bett, das sie zuvor auseinandergenommen

hatten. Es bestand aus einem sorgfältig bearbeiteten und mit Schnitzereien

verzierten Holzrahmen und einem langen dünnen Seil. Im Holzrahmen

befanden sich Bohrungen, durch die das Seil gitterförmig hindurchgefädelt

wurde. Auf diesem federnden Gitter ruhte das Polster des Bettes. So gut das

Seil auch war, es hatte schon viele Jahre seinen Dienst getan und war

schließlich gerissen. Livianya hatte einige Tage auf dem blanken Boden

genächtigt. Es machte ihr nicht viel aus. Immerhin brauchte sie ihn nicht, wie

auf einem Streifenritt, nach spitzen Steinen oder gefährlichem Getier

abzusuchen.


Der Seilmacher bemerkte die Eintretenden. Da er ebenfalls kein Mann der

Garde war, wandte er sich an Hauptmann ta Geos. »Sagt der Hochgeborenen,

sie wird ihre Bettstatt heute Nacht wieder benutzen können. Es ist ein gutes

neues Seil. Ich habe es sorgsam aus den besten Fasern gedreht. Vier Tage

lang habe ich es mit Gewichten behängt. Es wird lange halten und der

Hochgeborenen erholsame Nächte bescheren.«


Bei der Bespannung eines Bettes war es sinnvoll, das Seil zuvor mit einem

schweren Gewicht zu belasten. Denn ein neues Seil dehnte sich noch, und

man verhinderte auf diese Weise, dass der Schläfer in seiner ersten Nacht

langsam nach unten sackte.


Ta Geos sah fragend zu Livianya, und diese nickte. Dann lächelte er die

beiden Männer freundlich an. »Seht es uns nach, ihr guten Herren, doch die

Hochgeborene und ich haben wichtige Angelegenheiten zu erörtern.«


Der Seilmacher schien einen Moment irritiert zu sein, doch der Gardist gab

ihm mit einer kleinen Geste zu verstehen, dass das Einziehen des Seils noch

warten musste. Als sich die Tür hinter den beiden Männern schloss, deutete

Livianya auf einen der geschwungenen Stühle, die vor ihrem Schreibtisch

standen. Sie selbst schritt zu der Karte, die an einer der Längsseiten des

Raumes hing.


Der Amtsraum war, wie auch ihr Schlafquartier, bescheiden eingerichtet,

verriet aber dennoch die ordnende Hand einer Frau, die es schätzte, das

Praktische mit dem Schönen zu verbinden. Wenige Möbel standen hier,

verziert, doch nicht mit Schmuck überladen, wie es die Adligen vorzogen.

Dazu ein hohes Regal mit Schriftrollen und Büchern. Eines davon wies auf

seinem Rücken elfische Zeichen auf. Es stammte noch von Livianyas

verstorbenem Mann. Sie selbst hatte nie gelernt, die elfische Schrift zu

deuten, obwohl sie es sich schon oft vorgenommen hatte. Aber es gab

wichtigere Dinge zu erledigen. Im Regal standen zudem einige feinsinnige

Schriften aus der Künstlerschicht von Alneris. Dazu die Standardwerke der

alnoischen Garde. Handbücher zum Festungsbau, zur Ausbildung und zur

Taktik. Das meiste davon war nach Livianyas fester Überzeugung dummes

Zeug und diente nur dazu, den Namen des Schreibers zu verbreiten. Jeder

Gardist von Verstand wusste, dass man im Winter besser warme Kleidung

trug, und brauchte dafür kein Buch zu konsultieren. Die meisten Gardisten

beherrschten die schriftliche Sprache, doch statt der militärischen Handbücher

studierten sie lieber jene frivolen Schriften, die in der Unter- und Oberschicht

von Alneris gleichermaßen beliebt waren.


»Ich hatte mir von Daik ta Enderos Unterstützung erhofft«, begann

Livianya und setzte sich neben Bernot. »Aber als die Sache an den Kronrat

ging, da ahnte ich, dass es Schwierigkeiten geben würde. Als dann ta Andarat

erschien, war mir klar, dass wir auf uns allein gestellt bleiben. Wir werden so

lange keine Verstärkung erhalten, bis die Irghil Maratran direkt bedrohen.«


»Ich denke nicht, dass sie das wagen würden. Maratran liegt sehr hoch, ist

kaum zugänglich und schwer befestigt. Mit ihren Scheren werden die Bestien

die Mauern nicht zu Fall bringen können.«


Livianya seufzte. »Ihr müsst lernen, weiter zu sehen, Bernot. Habt Mut zu

freien Gedanken. Ihr dürft nicht nur den Feind in der ersten Schlachtlinie

betrachten.«


Er runzelte verwirrt die Stirn. »Ich verstehe nicht …«


»Ach, Bernot, beschränkt Euch nicht zu sehr auf Jalanne.« Die

Hochgeborene erhob sich und ging zur Karte hinüber. »Hier, unser

Königreich Alnoa. Und hier das vergangene Reich von Jalanne. Dazwischen

der Große Wall und Maratran. Und jenseits von Jalanne, Bernot?«


Er brauchte nicht auf die Karte zu sehen, um die Antwort zu geben. »Die

Wüste von Cemen’Irghil. Auch dort leben nur Bestien. Sandbarbaren und die

Orks des Schwarzen Lords.« Seine Stimme stockte. »Bei den Finsteren

Abgründen, du glaubst doch nicht …?«


Der Schock ließ ihn unwillkürlich ins vertrauliche Du übergehen. Livianya

ignorierte es. Seine Aufregung war verständlich. »Immerhin ist es eine

Möglichkeit, nicht wahr? Die Scherenbestien könnten sich mit den Orks

verbündet haben.«


»Aber … welchen Sinn sollte das haben? Ich meine, warum greifen sie

dann nicht gemeinsam an? Ein Überraschungsangriff, wie damals, als Euer …

Wie damals, vor Dergoret.«


Dergoret. Der Tod ihres Gemahls. Für einen Moment flammte die

Erinnerung schmerzhaft in ihr auf. »Dergoret und Maratran sind stärker

befestigt als je zuvor. Sie sind nicht mehr im Handstreich zu nehmen. Die

Signalfeuer würden entzündet, und in wenigen Tageswenden wäre

Verstärkung hier. Ein Zehntag, und die Armee des Königs steht bereit.

Dennoch liegt Ihr nicht ganz falsch, Bernot.« Livianya tippte gegen die Karte.

»Die Garde bestreift Jalanne nicht. Wir reiten nur hinunter, wenn die

Lemarier uns zu Hilfe rufen. Sie sind das Einzige, was noch zwischen Alnoa

und seinen Feinden steht.«


Bernot ließ ein Schnauben hören. »Sie sind wohl kaum ein Hindernis.«


»Sie haben Augen, und sie haben unsere Signalspiegel.«


»Die sie nicht benutzen.«


»Die sie aber benutzen könnten. In jedem Fall muss der Feind damit

rechen, dass sie uns warnen.«


»Ihr glaubt, das ist der Grund, warum die Irghil die Lemarier töten wollen?

Und dass sich die Scherenbestien mit dem Schwarzen Lord und seinen

Legionen verbündet haben?«


»Es wäre möglich, Bernot. Es wäre möglich. Denkt an die Worte ta

Andarats.« Livianya lächelte kalt. »Würden die Orks gegen die Lemarier

vorgehen, dann würde der Kronrat in Alneris Gefahr wittern. Maratran würde

augenblicklich verstärkt werden. Doch so sind es nur ein paar Scherenbestien.

Keine Bedrohung für das Reich. Ta Andarat hat es deutlich genug zum

Ausdruck gebracht. Wir sollen schön in Maratran bleiben und die Lemarier

ihrem Schicksal überlassen. Sie können ja zu uns kommen, wenn sie wirklich

in Gefahr sind.«


Ihre Stimme war kühl und beherrscht. Bernot ta Geos spürte Hitzewellen

durch seinen Körper jagen. »Ihr meint, so lange die Lemarier leben, werden

die Orks nicht in Erscheinung treten?«


»Die Drecksarbeit, hilflose Männer, Frauen und Kinder abzuschlachten,

überlassen die Orks diesmal den anderen Bestien.«


»Das ist ein furchtbarer Verdacht. Ein heimtückischer Plan, wenn es denn

stimmt.« Bernot erhob sich und trat neben die Hochgeborene.


»Aber das wissen wir nicht. Dennoch müssen wir bereit sein, entschlossen

zu handeln. Ob mit oder ohne Unterstützung. Wir wissen einfach zu wenig.

Vielleicht sind da draußen nur wenige Hundert Irghil, vielleicht gibt es

Tausende von ihnen. Aber ich weiß, dass wir nicht allein mit ihnen fertig

werden, wenn sie sich mit den Legionen vereinen. Wir müssen vorher

zuschlagen.«


Er atmete tief durch. »Ihr wollt das Regiment hinausführen?«


»Noch ist es nicht so weit, Bernot. Aber der Tag mag sehr bald kommen.«



Die Pferdelords 07 - Das vergangene Reich von Jalanne

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