Читать книгу Die Pferdelords 03 - Die Barbaren des Dünenlandes - Michael Schenk - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеDie alten Lieder wussten zu berichten, dass die Menschen des Sandes einst in
festen Städten lebten. In Städten mit Häusern und Mauern aus Stein. Aber es
waren sehr alte Lieder, und kaum ein Angehöriger des Sandvolkes konnte
sich vorstellen, dass es tatsächlich jemals so gewesen sein sollte. Seit Urzeiten
schon waren ihre Heimstätten beweglich, um dem wechselnden Wüstenwind
trotzen und dem Sturm weichen zu können. Die Städte des Volkes hatten
keine Häuser und keine Mauern und auch keine Namen. Sie waren
Heimstätten und wurden nach den Clans benannt, die sie bewohnten. Die
Heimstatt des Nagerclans war typisch für die Zeltstädte des Nomadenvolkes.
Das Erste, was man von einer Heimstatt erblickte, waren die
Aussichtsplattformen, die sich auf einem geschälten Pfahl erhoben. Es waren
hohe und starke Pfähle, die man aus Bäumen gefertigt hatte und von denen
ein jeder mit Blut bezahlt worden war, denn im Land des Sandvolkes gab es
keine Bäume und schon gar keine Wälder. Man musste das kostbare Holz aus
den Ländern anderer Völker holen. Aber das Sandvolk hatte nicht viel, mit
dem sich handeln ließ, und so nahm es sich mit Gewalt, was es brauchte.
Manchmal gelang dies ohne Blutvergießen, manchmal brachte man
gegnerische Schädel für diese Kämpfe, manchmal musste man eigene
zurücklassen. Der Preis dafür – die hohen Pfähle – wurde sorgsam gepflegt
und mit den Zeichen der Krieger versehen, die um sie gekämpft hatten.
Die Plattformen dienten dazu, die Annäherung eines Gegners zu erkennen,
doch der Hauptfeind des Sandvolkes bewegte sich nicht auf der Erde, sondern
darunter.
Sandwürmer sahen nicht besonders gut, und das brauchten sie auch nicht,
da sie im Wüstensand tief unter der Oberfläche lebten und nur nach oben
kamen, wenn sie etwas Fressbares entdeckt hatten. Sie nahmen Vibrationen
im Boden noch über große Entfernungen wahr, wobei sie besonders auf
gleichförmige Erschütterungen reagierten, wie Lebewesen sie bei der
Fortbewegung erzeugten. Ein Angehöriger des Sandvolkes lernte daher früh,
seine Füße in veränderlichem Rhythmus aufzusetzen.
Aber auch die Sandwürmer riefen Vibrationen hervor, wenn sie sich unter
der Oberfläche hindurchwühlten, und genau das machte man sich bei den
Plattformen zunutze. Denn auf ihnen erhoben sich Stangen mit dünnen
Metallplatten, die zu schwingen und zu klirren begannen, sobald sich ein
Sandwurm näherte. Und da die Plattformen mit Bedacht immer viele Längen
vor der Heimstatt errichtet wurden, hatten deren Bewohner im Falle eines
Alarms genug Zeit, um sich auf den Wurm vorzubereiten.
Es gab nicht viel, was ein Angehöriger des Sandvolkes gegen einen
Sandwurm aufzubieten hatte. Da war zum einen die Schnelligkeit seiner Füße
und zum anderen das Gift des Sandstechers, das allerdings eine bestimmte
Stelle im gewaltigen Maul des Wurms erreichen musste. Es war nicht leicht,
einen vergifteten Pfeilstachel in diese Stelle hineinzutreiben, und so versuchte
das Sandvolk lieber, dem Wurm rechtzeitig zu weichen oder seine
Aufmerksamkeit erst gar nicht zu erregen.
Ein Sandwurm verfügte neben seinem Vibrationssinn über die Fähigkeit,
eine Wärmequelle an der Oberfläche auszumachen, und so entfachte kein
Angehöriger des Sandvolkes ein Feuer direkt am Boden. Aus diesem Grund
erhoben sich auch die Wohnstätten der Clans auf Pfählen über dem
Wüstenboden. Das dazu benötigte Holz war jedoch einfacher zu erhalten,
denn die verwendeten Pfähle durften kürzer sein, und für die
Bodenplattformen der Häuser genügten sogar sorgsam gebundene
Knüppelhölzer. Die Feuer wurden stets klein gehalten, doch konnte man nicht
ganz auf sie verzichten, denn man musste kochen und brauchte in den eisigen
Wüstennächten auch eine Wärmequelle. Als Brennstoff wurden die reichlich
vorhandenen und schnell nachwachsenden Stachelpflanzen genutzt.
Aus deren Fasern wurden auch die halbkugelförmigen Zelte gefertigt, die
auf den Pfahlplattformen standen und als Behausung für die Menschen
dienten. Die Fasern wurden von den Frauen zugeschnitten, sorgfältig weich
gekaut und danach zu dicken Strängen geflochten, wodurch die Zelte
überraschend dicht waren und gut vor Wind und Sand schützten, sofern man
den Eingang sorgsam mit einem Fell oder einer Lederhaut bedeckte. Das bei
einem Regensturm herabstürzende Wasser ließ die getrockneten
Pflanzenfasern ungeheuer schnell aufquellen, sodass sie das Zeltdach
zuverlässig abdichteten.
In der Mitte jedes Hauszeltes erhob sich eine Steinplatte, auf der gekocht
und geheizt wurde und über der sich ein Loch im Zeltdach befand, durch das
Rauch und Gerüche abziehen konnten. Manchmal löschte ein besonders
starker Regen das Feuer, doch man störte sich nicht daran, denn in der Wüste
war Regenwasser kostbarer als Glut.
Der Regen brachte viel mehr Wasser als das Fleisch der Stachelpflanzen.
Wenn er fiel, sammelten die Menschen des Sandvolkes das Nass in
gebrannten Gefäßen und traten oft unbekleidet aus ihren Pfahlzelten heraus,
um die seltene Erfrischung zu genießen. Doch mitunter schwoll der Regen
zum Regensturm an, und das Wasser wurde zur Gefahr. Denn die riesigen
Tropfen schlugen mit großer Wucht vom Himmel herunter, sodass der
trockene Boden sie nicht schnell genug aufnehmen konnte. Pfützen bildeten
sich, wuchsen zusammen und bedrohten das Leben der Menschen, wenn sie
nicht rechtzeitig die hohen Pfahlzelte erreichten.
Die Pfahlbauten waren in konzentrischen Kreisen angeordnet. Die äußeren
Ringe waren den Zelten der Krieger vorbehalten, gefolgt von denen der
Nicht-Krieger. Die Eingänge wiesen ins Kreisäußere, sodass ein Angreifer
notfalls vom Zelt aus bekämpft werden konnte. Der innere Zeltring war den
Frauen und Kindern vorbehalten, die so am besten geschützt waren. Auch die
gebundenen Männer und Frauen mussten diese Trennung einhalten, denn
Tradition und Notwendigkeit verlangten es so. Wenn sie den hitzigen Drang
verspürten, einander zu bedecken, geschah dies in einem der dicht an dicht
stehenden Frauenzelte. Nicht selten gaben die zuhörenden Frauen später ihre
Kommentare ab, worüber nicht jeder der Krieger glücklich war.
In der Mitte der Heimstatt schließlich stand das Schädelhaus. Es wurde
von einem Geflecht aus Pfählen gestützt, denn es war ein großes Haus, in dem
der Kriegerrat zusammentrat und in dem die Trophäen seiner Streifzüge
aufbewahrt wurden. Die Eingänge wiesen in die vier Himmelsrichtungen, und
die Wände dazwischen waren mit den genommenen Schädeln bedeckt. Viele
Krieger traten in dem Rat zusammen, und es gab viele genommene Schädel,
daher hob sich die Kuppel des Schädelhauses weit über die anderen Pfahlzelte
empor.
Musste die Heimstatt verlegt werden, so wurden Pfahlzelte und Inventar
auf Schleppen aus Stachelpflanzenfasern verstaut, die von den Frauen
gezogen wurden, während die Kinder um sie herumtollten und die Krieger sie
beschützten.
Obgleich die Gebäude der Heimstatt aus Holz und Stachelpflanzen
bestanden, waren sie keineswegs schmucklos. Die Frauen nutzten die farbigen
Mineralien, die sie in Sand oder Gestein fanden, zerdrückten sie und mischten
sie mit Wasser zu einem Brei, mit dem sie das Holz oder die Pflanzenfasern
färbten. So zeigten sich die Gebäude der Heimstätten in verschiedenen Rot-,
Braun- und Grüntönen, die sich auch in der Kleidung der Menschen
wiederfanden. Eine gelbe Färbung hingegen war selten und blieb den
Clanführern sowie den schädelreichsten Kriegern vorbehalten.
Je näher man dem Zentrum der Heimstatt kam, desto intensiver wurde der
Lärm, den schwatzende Frauen und spielende Kinder verursachten. Natürlich
trugen auch die Krieger hierzu bei, aber sie bezeichneten ihr Schwatzen
würdevoll als Erfahrungsaustausch. Dazwischen mischten sich das Grunzen
der Sandschnüffler und die zahlreichen Geräusche der täglichen
Verrichtungen.
Die Frauen waren es, die unter dem Schutz einzelner Krieger in die
Stachelpflanzenfelder gingen, mit ihren dicken Lederhandschuhen und
Langmessern die Stacheln brachen und die Pflanzen fällten, um sie in die
Heimstatt zu bringen. Die Krieger beteiligten sich an der Arbeit, indem sie
aufmerksam in die Umgebung spähten, gelegentlich etwas Pflanzenfleisch
naschten und die Stacheln danach begutachteten, welche von ihnen sich als
Stachelpfeile eignen würden.
Die Kinder kümmerten sich indes um die Sandschnüffler. Sie hörten dem
Grunzen und Quieken der haarlosen Geschöpfe zu, die mit ihren Schnauzen
schnüffelten und den Sand nach Insekten durchwühlten. Gelegentlich schwoll
das Quieken zu einem Brüllen an, wenn eines der Kinder an dem seltsam
geringelten Schwanz eines der Sandschnüffler zerrte. Die Tiere waren klein
und lebhaft und dienten als Fleischlieferanten des Sandvolkes, wenn man
einmal von gelegentlich erlegten Fleckbeißern absah. Zudem waren sie
genügsam und vermehrten sich rasch.
Das galt zwar auch für die Fleckbeißer, allerdings war es nicht leicht, einen
von ihnen zu erlegen. Obwohl nur halb so groß wie ein ausgewachsener
Krieger, war der Fleckbeißer ein wehrhaftes und schnelles Tier. Seine
Vorderläufe waren deutlich höher als seine Hinterläufe, wodurch der Räuber
den Eindruck vermittelte, als würde er sich nicht zwischen Sitzen und Stehen
entscheiden können. Doch das täuschte, denn er war ungeheuer schnell, und
der lang gestreckte Schädel mit den großen Fangzähnen machte ihn zu einem
gefährlichen Gegner. Zudem jagte der Fleckbeißer im Rudel, und ein Krieger
konnte sicher sein, dass er, sobald er einen Fleckbeißer sah, gleich einem
weiteren Dutzend der Biester begegnen würde. Ein einzelner Jäger hatte nur
dann eine Chance, wenn er auf ein altes Tier stieß, das von seinem Rudel
ausgestoßen worden war. Dann entschied allein die Schnelligkeit, wer am
Ende wessen Fleisch genoss. Dasjenige der Fleckbeißer war zäh und sehnig,
stellte aber dennoch eine willkommene Abwechslung zu dem der
Sandschnüffler dar, denn es hatte einen ganz eigenen, wenngleich sehr
scharfen Geschmack.
Heglen-Tur war ein Jäger, aber noch kein Krieger, weshalb es ihm bislang
verwehrt war, sich Heglen-Turik zu nennen. Er hatte noch keinen Schädel
vom Feind genommen, was den jungen Mann betrübte. Ein genommener
Schädel brachte Ehre und das Recht, eine Frau zu besteigen, und so sehnte
Heglen-Tur den Tag herbei, an dem er Ruhm ernten und das Besteigungsrecht
erhalten würde.
Heglen-Tur war nun fünfzehn Sommersonnen alt, und seine Bewährung
als Krieger stand kurz bevor. Der Rat der Clankrieger würde heute darüber
befinden, wann Heglen-Tur die erfahrenen Krieger auf einem Streifzug
begleiten durfte, damit er seinen ersten Schädel nehmen konnte. Einer jener
Streifzüge, die nach Norden, Nordosten oder Osten führten, wo jeweils eigene
Gefahren lauerten, die aber zugleich die Möglichkeit zur Schädelnahme und
damit auch zur Erlangung großen Ruhmes boten. Zwar wurden die Streifzüge
unternommen, um das kostbare Holz zu erlangen, doch Heglen-Tur empfand
das Nehmen eines Schädels als weitaus verlockender. Allerdings würde sich
niemand freiwillig seinen Schädel lösen lassen.
Im Norden befanden sich die ausgedehnten Waldgebiete des elfischen
Volkes, und Heglen-Tur hoffte insgeheim, dass ihn sein erster Streifzug nicht
zu ihnen führen würde, denn die Elfen waren ausgezeichnete Kämpfer und
tödlich gute Bogenschützen. Erfolg versprechender war der Zug nach
Nordosten, über einen der schmalen Gebirgspfade hinweg in das Land der
Zwerge, die dort in ihren unterirdischen Städten lebten. Auch die Zwerge
konnten kämpfen, aber sie bevorzugten Äxte als Waffen und waren nicht
besonders flinke Läufer, was sie zu einem angenehmen Ziel für die viel weiter
tragenden Pfeilrohre des Sandvolkes machte.
Es war nicht so, dass das Sandvolk einem guten Kampf aus dem Weg
gegangen wäre. Aber es brauchte viele Sonnenjahre, einen Krieger
heranzuziehen, und nur wenige Augenblicke, ihn zu töten. In der Wüste
wurde nichts verschwendet, schon gar nicht das Leben eines Sandmenschen.
Im Osten führte der Weg in die Westmark des Pferdevolkes. Jenes
Reitervolkes, welches vom Sandvolk einst aus dessen angestammter Heimat
vertrieben worden war, allerdings in einem langen und blutigen Kampf, der
viele Leben gekostet, aber auch viele Schädel eingebracht hatte. Noch immer
konnte man im Dünenland die Überreste alter Siedlungen finden, die im
steten Wechsel vom Sand bedeckt und durch den Wind wieder freigelegt
wurden.
Das Pferdevolk hatte einst zäh und tapfer gekämpft und die letzte große
Schlacht an der Grenze zum Dünenland gefochten, wo die Wache des zuvor
getöteten Königs die Flucht der anderen Menschenwesen gedeckt hatte. Es
war ein guter Kampf gewesen, der noch immer in den Liedern besungen
wurde, und das Sandvolk ehrte die besondere Tapferkeit der königlichen
Wache, indem es deren Schädel bewahrte und die Toten weiter an der Grenze
wachen ließ. Jeder junge Krieger hatte die Pflicht, den Toten des Pferdevolkes
die Ehre zu erweisen und ihre Überbleibsel zu pflegen, soweit die Wüste dies
zuließ.
Man ehrte die eigenen und fremden Toten, indem man ihre Leiber an jenen
Orten beließ, wo ihr Blut ein letztes Mal den Sand der Wüste bedeckt hatte.
Nur die Schädel der im ehrenhaften Kampf gefallenen Gegner löste man als
Trophäe vom Rumpf. Die Waffen und Rüstungen hingegen beließ man ihnen,
so kostbar das Metall auch war, denn es wäre nicht statthaft gewesen, es von
den Toten zu rauben. So verrotteten die Überbleibsel jenes Kampfes im
Wüstensand, wurden von ihm bedeckt und wieder freigelegt. Einmal im Jahr,
wenn die Nacht am längsten währte, tranken die Krieger im Schädelhaus
gegorenen Pflanzensaft auf die Ehre der eigenen und der genommenen
Schädel. Und mancher dieser Tapferen hatte am folgenden Tag das Gefühl,
auch sein eigener Schädel sei bei diesem Ritual gelöst worden.
Die Lieder besangen die Kraft der Pferdelords, die einst bezwungen
worden waren, und die Kraft der Krieger, welche dies erreicht hatten. Um die
Toten des Pferdevolkes zu ehren, die den letzten Kampf gefochten hatten,
erinnerte man sich ihrer auf eine besondere Weise. Ihre Leiber hatte man
nicht einfach liegen lassen, sondern in mühevoller Arbeit aufgerichtet. Nun
konnten sie nach Osten blicken, dorthin, wohin ihr Volk zurückgewichen war,
dessen Überleben sie mit ihrem eigenen Tod gesichert hatten.
Das Sandvolk nannte sie die »Tote Wache«, und es hatte Opfer gekostet,
ihr Andenken zu bewahren. Bis die Körper verfallen waren, hatten das
verrottende Fleisch und der Gestank ganze Rudel von Fleckbeißern angelockt.
Das Sandvolk hatte eigene Leben opfern müssen, um die Toten zu
verteidigen. Doch nun gab es nichts mehr, was Fleckbeißer hätte anlocken
können, und so war die Ehrenwache mittlerweile weniger gefährlich.
Heglen-Tur trug die typische Tracht der Männer des Sandvolkes. Knochen
und die Fasern der Stachelpflanze bildeten die Grundstoffe seiner Kleidung.
Ein Blick auf sein ärmelloses Hemd aus gut durchgekauten Pflanzenfasern
bestärkte Heglen-Tur in dem Wunsch, bald ein Weib zu besteigen. Denn
musste er als Jungmann den Rohstoff noch selbst bearbeiten, würde das Weib
dem gebundenen Krieger die unangenehme Aufgabe des Kauens abnehmen
und sie vermutlich weitaus sorgfältiger durchführen. Dieses Hemd jedenfalls
war nicht richtig weich und anschmiegsam, ja, es kratzte sogar. Aber Heglen-
Tur ertrug es mit stoischer Miene. Er wollte sich vor den Frauen und
Mädchen des Clans keine Blöße geben. Das Hemd reichte bis über das Gesäß
und ließ die Beine frei. Durch den Speichel waren die Fasern beim Kauen
ausgeblichen, und so hatte das Hemd die Farbe des Sandes, was eine gute
Tarnung bot.
Zu dem kragenlosen Oberteil trug Heglen-Tur einen selbst gefertigten
Brustpanzer aus Knochen. Meist benutzte man die leicht erhältlichen Gebeine
der Sandwühler, aus denen sich ein passabler Panzer fertigen ließ. Sie wurden
mittels geflochtener Pflanzenfasern miteinander verbunden und bildeten einen
annehmbaren Schutz gegen die Klinge eines Schwertes oder einer Axt,
vorausgesetzt, der Hieb wurde nicht allzu kräftig geführt. Lanze und Pfeil
hingegen würden ihn durchschlagen, damit musste man sich abfinden, bis
man ein passendes Metallteil fand, das den Panzer verstärken konnte. Metall
wurde jedoch stets unter dem Knochenpanzer getragen, denn es schimmerte
verräterisch und konnte seinen Träger schon auf große Entfernung entlarven.
Es gab einige Stellen in der Wüste, an denen sich das kostbare Erz finden
ließ. Diese Orte waren allen Clans bekannt, aber nicht immer waren sie
zugänglich, denn es konnte vorkommen, dass die Wüste sie bedeckte. Das
Gesetz der Clans schrieb vor, das genommene Erz gerecht zu teilen, und wer
etwas fand und mitnahm, bewahrte den Anteil der anderen Heimstätten daran
auf, bis der Rat der Clans sich traf. Während die Turikos über die Belange der
Clans entschieden, tauschten die Turik das kostbare Metall. Es gab keinen
Streit zwischen ihnen, denn kein Clan übervorteilte den anderen. Sie hatten
gelernt, im Notfall zusammenzustehen, und so auch das Pferdevolk
bezwungen.
In jeder Heimstatt gab es das Zelt des Schmelzers. Es war besonders stabil
gebaut und hatte auf seiner Plattform eine besonders große Steinplatte. Auf
ihr formte man aus Sand den Schmelzkegel und brannte ihn. Dann wurde der
Kegel beheizt und das Erz von oben hineingegeben. Der Schmelzer und seine
Gehilfen achteten viele Sonnen lang auf die richtige Temperatur. Wenn die
rechte Zeit gekommen war, zerbrach man den Kegel. Dann hatten sich
Schlacke und Metall geschieden, und aus dem Metall wurden Wurmwarner,
Messer oder die eisernen Brustplatten der Harnische geschmiedet.
Weitaus wichtiger als der Schutz der Brust war dem Sandvolk der Schutz
von Bein und Fuß. An den Beinen hatte Heglen-Tur die knielangen
Überzieher aus den unvermeidlichen Pflanzenfasern angelegt, die vor den
Stacheln der Pflanzen schützten. Ihre dicken Sohlen bestanden aus der
mehrfach gefalteten und vernähten Haut der Sandwühler.
Heglen-Tur trug keinen Helm. Niemand vom Sandvolk tat das. Es war
unschicklich, den Schädel zu bedecken, denn es galt als Zeichen mangelnden
Mutes. Man bot dem Feind den Schädel dar, mochte er ruhig versuchen, ihn
zu nehmen. Allein die Stärke des Kriegers sollte darüber entscheiden, wer am
Ende wessen Trophäe nehmen würde.
Der Fünfzehnjährige blickte schweigend zwischen den Hütten des zweiten
Kreises der Heimstatt hindurch zum Zentrum hinüber. Einige der Frauen
beobachteten ihn, denn sie spürten die Ungeduld, die er verbergen wollte. Ein
Sandwühler suchte Schutz vor zwei vergnügt kreischenden Kindern und
rannte quiekend zu ihm hinüber. Doch Heglen-Tur ignorierte die kleinen
Wesen, die um seine Beine herumtollten, und versuchte sich den Anschein
von Gelassenheit zu geben, was ihm jedoch immer schwerer fiel. Als er schon
kurz davor stand, mit dem Fuß nach dem störenden Sandwühler zu treten,
rannte der Insektenfresser endlich davon, dicht gefolgt von den kreischenden
Kindern.
Heglen-Tur spürte ein intensives Jucken zwischen den Beinen, wo einer
der plagenden Sandflöhe Unterschlupf vor der Tageshitze gesucht hatte. Auch
das Jucken ignorierte er mannhaft, bis sich offensichtlich ein zweiter Sandfloh
hinzugesellte und der Reiz übermächtig wurde. Möglichst unauffällig hob
Heglen-Tur sein Hemd an und kratzte sich ausgiebig zwischen den Beinen,
wobei er auch einen der Flöhe fand und ihn zerquetschte. Errötend bemerkte
er eine ältere Frau, die auf sein entblößtes Geschlecht sah und einen
anerkennenden Pfiff ausstieß, der sofort die Aufmerksamkeit weiterer Weiber
auf ihn lenkte, sodass sich Heglen-Tur beeilte, seine Männlichkeit wieder zu
bedecken.
Er tat, als bemerkte er die Blicke und Kommentare der Weiber nicht, und
sah erneut zum Schädelhaus im Zentrum der Heimstatt hinüber. Ihm blieb
nichts anderes übrig, als zu warten, denn kein Jungmann näherte sich
unaufgefordert dem Sitz des Kriegerrates.
Missmutig wechselte er das Pfeilrohr in die andere Hand. Es maß eine
halbe Länge, bestand aus kostbarem Holz und war außen mit Fasern der
Stachelpflanze umwickelt. Ein Atemstoß reichte aus, um einen Stachelpfeil
durch das Rohr zum Feind zu tragen. Und wenn der Atem kräftig war und der
Stachel gut und gerade, konnte dieser noch über hundert Längen hinweg sein
Ziel finden. Heglen-Tur war stolz auf sein Pfeilrohr, denn er hatte es selbst
gefertigt, und es war gut, wie auch seine Stachelpfeile scharf und gerade
waren. Neben dem Pfeilrohr trug er noch die schwere Schädelkeule, ein mit
Pflanzenfasern an einen langen Oberschenkelknochen gebundener Stein, mit
dem man den Schädel eines Feindes zertrümmern konnte. Aber kein guter
Clankrieger würde das tun, wenn es sich vermeiden ließ. Die Keule musste
vielmehr den Nacken des Gegners treffen, um die Halswirbel zu
zertrümmern, damit die kostbare Schädeltrophäe unbeschädigt blieb.
Einzig das gezackte Messer, das in Heglen-Turs aus Pflanzenfasern
geflochtenem Gürtel steckte, war aus gutem Metall. Mit ihm ließen sich Tiere
ausnehmen, Stachelpflanzen roden und Hälse abschneiden. Sein Messer hatte
noch keinen Hals durchtrennt, aber bald, hoffentlich bald, würde auch dies
geschehen.
Seine empfindlichen Ohren nahmen ein leises Klingen wahr. Instinktiv
wandte er sich um und blickte zwischen dem Außenring der Pfahlzelte
hindurch zur nächsten Wachplattform. Aber der Wächter verhielt sich ruhig.
Hätte er das Wühlen eines Sandwurms bemerkt oder einer der anderen
Wächter Alarm gegeben, so würde er sich anders verhalten haben. Heglen-
Tur entspannte sich wieder und blickte erneut voller Ungeduld zum
Schädelhaus des Kriegerrates.
Endlich war dort Bewegung zu erkennen.
In dem Heglen-Tur zugewandten Eingang erschien die Gestalt von Bimar-
Turik, und als der alte Krieger Heglen-Tur erblickte, hob er einen Arm und
winkte ihn heran. Heglen-Tur hatte sich vorgenommen, mit würdevollen
Schritten hinüberzugehen, aber seine Aufregung war zu groß, und so verfiel
er in den typischen arhythmischen Trab des Sandvolkes, der einen Krieger
rasch durch die Wüste zu tragen vermochte. Dabei bemühte er sich,
wenigstens den richtigen Schrittwechsel vorzunehmen, damit der alte Krieger
keinen Grund zur Kritik fand.
Bald war es so weit, bald würde Heglen-Tur sich endlich Heglen-Turik
nennen dürfen.
Der Fünfzehnjährige erreichte einen der aufragenden Pfosten, auf denen
das Schädelhaus ruhte, schwang sich behände hinauf und blieb in
ehrerbietiger Haltung vor dem Krieger Bimar-Turik stehen. Bimar-Turik bot
keinen schönen Anblick. Sein Gesicht wies zahllose Narben auf, denn als
Kind war er in eine Stachelpflanze gestürzt, deren Dornen ihn übel
zugerichtet hatten. Er hatte viel Spott ertragen müssen, nachdem die Wunden
verheilt und hässliche Narben zurückgeblieben waren. Dieser Spott hatte
wohl dazu beigetragen, dass der Clankrieger als ebenso humorlos wie mutig
galt. Keiner hatte mehr Schädel genommen als Bimar-Turik, wenn man von
Heldar-Turiko einmal absah, dessen Namensendung auf seinen Status als
Clanchef hinwies.
»Der Turiko will dich sehen«, knurrte Bimar-Turik und musterte Heglen
ironisch. »Warte einen Moment, bis du nicht mehr so schwer atmest. Hat dich
der Anblick der Weiber so erregt oder der kurze Lauf so angestrengt?«
Heglen-Tur errötete ein wenig. »Mein Atem ist leicht wie ein Sandkorn im
Wind.«
Der ältere Krieger ließ seinen Blick von Kopf bis Fuß über den Jungmann
gleiten. »Fehlt es dir an Respekt, oder bist du nur zu dumm, um nicht zu
wissen, wann du zu schweigen hast?« Sein Blick wurde kalt. »Noch hast du
keinen Schädel genommen und nicht das Recht, deine Stimme einem
erfahrenen Krieger gegenüber zu erheben. Und wenn du so laut schnaufst,
wirst du nie nahe genug an einen Feind herankommen, um seinen Schädel zu
erhalten.«
Heglen-Tur schwieg, denn er spürte, dass der alte Krieger ihn auf die
Probe stellen wollte. Bimar-Turik zupfte an Heglen-Turs Knochenpanzer und
Gurt und klopfte an den Beinschutz. »Wenigstens siehst du halbwegs so aus
wie ein Clankrieger der Wüstennager«, brummte er. »Also lass uns
hineingehen und schnaufe nicht so, damit der Turiko wenigstens glauben
kann, er hätte einen künftigen Krieger vor sich.«
Der narbige Kämpfer schob den innerlich kochenden Heglen-Tur durch
den Eingang in das Schädelhaus. Von der sonnenüberfluteten Hitze des Tages
traten sie in den dämmerigen Schatten der riesigen Halbkugel, und Heglen-
Turs Augen mussten sich erst auf das seltsame Zwielicht einstellen. Zum
ersten Mal betrat er das Haus des Kriegerrates, und der Anblick der vielen
Schädel raubte ihm den Atem. So sorgsam waren sie entlang der Wände in
die Höhe gestapelt, dass sie die Anwesenden überwölbten, ohne
herabzustürzen.
Davor saßen die erfahrensten Krieger des Clans und blickten den
Eintretenden ausdruckslos entgegen. Aber Heglen-Tur achtete nicht auf die
Kämpfer. Sein Blick galt einzig der imposanten Gestalt in der Mitte des
Schädelhauses: Heldar-Turiko, dem Oberhaupt des Nagerclans, der eine
lebende Legende des Sandvolkes war.
Als einziger Krieger trug der Turiko einen Helm auf seinem Kopf. Er war
hoch, mit einem golden schimmernden Kamm und einer fein gearbeiteten
Figur am Stirnschutz. Einst hatte er einem Elfen gehört, der jedoch schon
lange keine Verwendung mehr für einen Kopfschutz hatte. Heldar-Turiko
hatte Helm und Schädel in einem bemerkenswerten Kampf erfochten.
Niemand würde es wagen, den Mut des Turiko anzuzweifeln, und so konnte
er den Kopfschutz als Zeichen seiner Würde tragen.
Doch nicht nur der Mut Heldar-Turikos war bemerkenswert. Auch sein
Haar war es. Die Menschen des Sandvolkes hatten für gewöhnlich schwarze
Haare, doch die des Turiko schimmerten in der Farbe der Sonne, so wie es bei
vielen Menschen des Pferdevolkes vorkam. Damals, als das Reitervolk
besiegt worden war, hatte man einige ihrer Weiber genommen, denn die
eigenen Verluste waren hoch gewesen, und man brauchte neue Krieger.
Einige der aus diesen Verbindungen hervorgegangenen Kinder waren ebenso
blond gewesen wie der Turiko, doch im Laufe von Generationen waren die
Sonnenhaare immer seltener geworden. Es hieß, der Turiko sei der einzige
Mann des Sandvolkes, der noch das Sonnenhaar besaß.
»Tritt vor, Heglen-Tur«, sagte der Clanchef. Seine Stimme war leise, und
doch schien sie das Schädelhaus auf seltsame Weise zu erfüllen.
Bimar-Turik stieß den Jungmann auffordernd an. »Geh schon und zeige
deinen Respekt!«
Heglen-Tur trat rasch vor, näherte sich dem Clanchef und sank dann auf
die Knie. Respektvoll neigte er sich vor und bot dem Turiko den
ungeschützten Nacken dar. »Meine Trophäe gehört dem Turiko im Zeichen
des Nagers«, sagte er heiser und bemühte sich, seiner Stimme einen festen
Klang zu geben.
Heldar-Turiko nahm seine Schädelkeule und legte sie symbolisch in den
Nacken des Fünfzehnjährigen. »Dein Schädel sei dir erhalten, damit du dem
Clan Ehre machst und viele Schädel in sein Haus bringst.«
Die Keule hob sich wieder aus Heglen-Turs Nacken, und er richtete sich
langsam auf, ohne jedoch den Blick vom Boden zu nehmen.
Heldar-Turiko sah nacheinander die Männer an, die um ihn herumsaßen.
»Ein Jungmann will zum Krieger werden und seinen ersten Schädel lösen. Es
ist wohl an der Zeit, ihm diese Ehre zuteil werden zu lassen. Doch zuvor
brauchen wir den Beweis, dass er ihrer würdig ist.«
Der Clanchef richtete den Blick auf Heglen-Tur. »Willst du Ehre erlangen,
musst du auch Ehre erweisen, Heglen-Tur. Bist du bereit dazu?«
»Meine Trophäe gehört dem Turiko im Zeichen des Nagers«, wiederholte
Heglen-Tur ehrerbietig.
Der Clanchef schmunzelte leicht. »Ich frage nicht nach deinem Schädel,
sondern nach dem, was du darin hast.«
Einige der Krieger lachten auf, und Heglen errötete. Der Turiko bemerkte
die Verlegenheit des Jungmannes und nickte verständnisvoll. »Bevor du den
Schädel eines Lebenden als Trophäe nimmst, musst du denen Ehre erweisen,
deren Schädel wir einst lösten.«
Heglen-Tur begriff. Der Clanchef meinte damit die »Tote Wache«.
»So kämpften Ross und Mann des Pferdevolkes, bis der letzte Schädel
gelöst war«, zitierte der Turiko mit leiser Stimme. »Und sie gereichten dem
Volk der Pferde zur Ehre und auch dem Volk des Sandes. So wird es
besungen.«
»So wird es besungen«, echoten die Anwesenden.
Heldar-Turiko richtete Heglen-Tur an den Schultern auf. »Einen Zehntag
lang wirst du der Wache des Pferdevolkes die Ehre erweisen. Einen Zehntag
lang wirst du nichts essen und nur den Saft der Stachelpflanze zu dir nehmen.
Einen Zehntag lang wirst du deine Kraft der Ehre der Toten widmen. Dann,
Heglen-Tur, wirst du zu den Nagern zurückkehren. Und danach wirst du die
Krieger des Clans auf deinem ersten Streifzug begleiten. Nun geh, Heglen-
Tur, und erfülle die Pflicht der Ehre. Mögen dir künftig reichlich Schädel
beschieden sein. So sei es besungen.«
»So sei es besungen«, murmelten die Versammelten.
Heglen-Tur erhob sich unsicher. Es hatte geklungen, als sei er nun
entlassen, und dies bestätigte sich, als der narbige Bimar-Turik ihn am Arm
packte und aus dem Schädelhaus hinauszog.
»Einen Zehntag lang, Heglen-Tur«, brummte der alte Krieger. »Und
trödele nicht bei den Weibern herum. Du wirst sie früh genug besteigen
können.« Das Gesicht des Kriegers verzog sich auf grässliche Weise und
Heglen-Tur begriff, dass der Turik lächelte. »Glaube mir, Heglen-Tur, du
wirst bald merken, dass dies mehr Arbeit bedeutet, als zu leisten dir möglich
erscheint. Doch nun geh. Halte dich nicht bei den Zelten auf. Was du
brauchst, trägst du am Leibe. Hier, nimm dieses Bündel. Auch das wirst du
benötigen. Geh nun und erfülle die Pflicht der Ehre.«
Heglen-Tur nickte und nahm von dem alten Krieger ein fest geschlossenes
Bündel entgegen, dann wandte er sich um und sprang mit einem Satz von der
Plattform des Schädelhauses auf den Sand hinunter.
»Bist du verrückt?«, schrie Bimar-Turik wütend auf. »Willst du einen
Sandwurm herbeirufen?«
Heglen-Tur errötete erneut und bot schuldbewusst seinen Nacken dar. Der
alte Krieger nahm die Entschuldigung mit einem verächtlichen Schnauben an
und wandte sich wieder der Hütte zu. Der Fünfzehnjährige hingegen ärgerte
sich über seine Unachtsamkeit und bemühte sich um so mehr, wieder den
typischen Trab des Sandvolkes aufzunehmen, als er vom Schädelhaus aus
zwischen den Kreisen der Pfahlzelte hindurchlief, um die Heimstatt zu
verlassen.
Er bemerkte die neugierigen Blicke, die man ihm zuwarf, denn natürlich
wusste jedes Mitglied des Clans, dass der Jungmann dabei war, ein Krieger zu
werden. So bemühte er sich um eine stolze Haltung, um den gleichgültigen
Blick des erfahrenen Kriegers, den nichts erschüttern konnte, und um den
ungleichmäßigen Schritt des Sandvolkes.
Der schnelle Trab führte ihn aus der Heimstatt und dem Ring der Pfähle
mit den Wachplattformen hinaus in die endlos erscheinende Weite der Wüste.
Jeder Angehörige des Sandvolkes war mit der Wüste vertraut, und doch
gab es niemanden, der sich wirklich in ihr auskannte. Die Wüste war in
ständiger Bewegung, so wie auch der Wind in ständiger Bewegung war. Mal
blies er stärker, mal schwächer, mal aus der einen, dann aus der anderen
Richtung. Der Wind verfing sich in den hohen Sanddünen, ließ sie wandern,
verschüttete Bekanntes und deckte Unbekanntes auf. Das Land war in
Bewegung, so wie auch seine Bewohner in Bewegung waren.
Es war erst Mittag, und die Sonne stand hoch am Himmel, während der
Jungmann über den Sand trabte. Der rasche gleitende Schritt des Trabs hatte
zwei große Vorteile. Er brachte den Boden nicht allzu sehr zum Schwingen
und lockte daher keine Sandwürmer an, und zudem berührten die Füße dabei
den heißen Sand nur flüchtig, was bei der Tageshitze ebenfalls von Vorteil
war. Frauen und Kinder hatten dickere Sohlen an ihrem Schuhwerk, aber für
einen Jäger kam das nicht in Betracht. Denn die relativ dünnen Sohlen seiner
Fußbekleidung erlaubten es ihm, seinerseits Schwingungen im Boden zu
erspüren. Das Leben in der Wüste schärfte Sinne, die andere Völker längst
verloren hatten.
Heglen-Turs Blicke schweiften rastlos über die staubigen Weiten, wobei
sie einige Stachelpflanzen registrierten, die kaum aus einer Sandverwehung
aufragten, und hier und da Bewegungen und Spuren im Sand wahrnahmen,
die nicht von Wind und Erosion hervorgerufen worden waren. Nach einer
Weile verspürte er Hunger und Durst, aber er verdrängte die Empfindungen
und konzentrierte sich auf seinen Lauf. Erst als der Durst übermächtig zu
werden schien, hielt er kurz an, zog den wassergefüllten Darm eines
Sandwühlers von seinem Rücken, öffnete ihn und trank einen Schluck daraus.
Sorgfältig verschnürte er den Wasserschlauch wieder, wobei er darauf
achtete, zuvor die Luft herauszudrücken, die das Wasser verräterisch würde
schwappen und glucksen lassen, dann hängte er ihn wieder über den Rücken
und verfiel erneut in seinen schnellen Trab.
Die Menschen des Sandvolkes waren ausdauernd, und es fiel Heglen-Tur
nicht schwer, den Lauf über viele Zehnteltage beizubehalten. Natürlich wurde
er nach einer Weile etwas langsamer, aber er wusste, dass seine Kräfte
reichten; er schonte sich nur etwas, um genug Reserven für einen Kampf zu
haben. Aber kein Fleckbeißer begegnete ihm, lediglich ein wild lebender
Sandwühler, den er aber ignorierte, obwohl sein Magen Protest dagegen
erhob.
Kurz vor Sonnenuntergang bemerkte er eine spiralförmige Bewegung im
Sand. Seine Erfahrung ließ ihn in Schritt verfallen und schließlich stehen
bleiben. Noch immer bewegte sich vor ihm der Boden in winzigen
kreisförmigen Bahnen. Bald würde die Sonne untergehen, und wenn der Sand
seine Tageshitze abgestrahlt hatte, würde es in der Wüste schnell sehr kalt
werden. Dies war die Zeit, zu der bestimmte Wüstenbewohner den kühlen
Schutz des Sandes verließen und an seine Oberfläche kamen.
Heglen-Tur wusste, dass die Bewegung von einem Sandstecher
hervorgerufen wurde. Eigentlich war es für das Tier noch zu früh, an die
Oberfläche zu kommen. Vielleicht hatte es die Erschütterungen von Heglen-
Turs Schritten gespürt und hoffte auf nahe Beute. Sandstecher töteten auch
Tiere, die ungleich größer als sie selber waren. Die Natur hatte sie dazu mit
einem sehr starken und schnell wirkenden Gift ausgestattet.
Die Räuber hatten sechs Beine und eine durchscheinenden Haut, durch die
man die inneren Organe erkennen konnte. Ihr Hinterleib war nach oben
gekrümmt und wies an seinem Ende einen gebogenen tödlichen Giftstachel
auf, der in Richtung des Kopfes wies. Das Sandvolk kannte die Gefährlichkeit
dieser Tiere, dennoch gab es vor allem unter den Kindern gelegentlich
Todesopfer zu beklagen.
Doch die giftigen Wesen stellten auch einen wichtigen Rohstofflieferanten
für das Sandvolk dar. Daher nestelte der Jungmann ein kleines Behältnis von
seinem Gürtel und öffnete den Verschluss, um dann abzuwarten. Heglen-Tur
verharrte reglos, und sein Körper beschattete die Stelle im Sand, wodurch sich
dort der Boden abkühlte, bis der Sandstecher schließlich seine Deckung
verließ. Es reichte Heglen-Tur, den Ansatz des Stachels zu erkennen; mehr
brauchte er nicht, um zu reagieren. Blitzschnell stieß seine Hand vor, und
zwei Finger packten das Tier rechts und links des Stachels, noch bevor es
zustechen konnte. Heglen-Tur hatte es perfekt zu fassen bekommen und zog
es nun aus dem Sand heraus, dann nahm er den kleinen Behälter und drückte
den Stachel des Sandstechers gegen die Öffnung. Das Tier zappelte mit den
Beinen und krümmte seinen Leib, während der Stachel zu zucken begann.
Milchige Tropfen sammelten sich an dessen Spitze und sickerten zäh in den
kleinen Behälter.
Heglen-Tur drückte seine Finger behutsam rhythmisch zusammen und
regte so den Sandstecher an, auch den letzten Tropfen Gift in den Behälter
abzusondern. Dann setzte er das tödliche Tier auf den Sand zurück. Während
es sich hastig wieder eingrub, verschloss der Jungmann den Behälter und
schüttelte ihn sorgfältig. In der kleinen Röhre befand sich neben dem giftigen
Sekret weiterer Sandstecher noch ein Extrakt aus dem Saft der Stachelpflanze,
der dafür sorgte, dass das Gift nicht aushärtete, sondern zäh blieb. Durch das
Schütteln wurde beides miteinander vermischt.
Heglen-Tur betrachtete seine bisherige Ausbeute und nickte zufrieden.
Bei einem Angriff konnte er die Stachelpfeile seines Pfeilrohres in die
Flüssigkeit tauchen. Es reichte aus, die Spitze zu benetzen, und jeder Gegner,
der von dem Stachel auch nur geritzt wurde, war des Todes. Aber das Volk
setzte diese Pfeile nur gegen Fleckbeißer und Sandwürmer ein, denn es wäre
unehrenhaft gewesen, einen zweibeinigen Gegner damit niederzustrecken.
Einen Schädel zu nehmen, war nur ehrenvoll, wenn sein Träger auch darum
kämpfen konnte.
Bevor es ganz dunkel wurde, suchte sich der Jungmann einen passenden
Schlafplatz. Er prüfte die Windrichtung und wählte die dem Wind
zugewandte Seite einer Düne aus, um nicht im Schlaf vom Sand bedeckt zu
werden. Der Wind würde ihm, zumindest aus der Richtung, aus der er blies,
auch den Geruch eines Fleckbeißers zutragen, und seine geschärften Sinne
würden Heglen-Tur rechtzeitig wecken. Er zog sein Messer aus der Scheide,
steckte diese in den Boden und legte das Messer selbst flach darüber. Auch
die Vibrationen eines weit entfernten Sandwurms würden dazu führen, dass
die Klinge herunterfiel und ihn zuverlässiger weckte als die Empfindsamkeit
seines Körpers.
Schließlich trank er noch etwas Wasser, nahm den Behälter mit dem
kostbaren Nass in die Armbeuge und rollte sich zum Schlaf zusammen, um so
der Kälte der Nacht zu trotzen. Denn es würde kalt werden, sehr kalt.
Schützte man das Wasser nicht mit der Wärme des eigenen Körpers, so
konnte es gefrieren und ein gebranntes Gefäß sogar zum Platzen bringen.
Wenngleich Heglen-Turs Wasserschlauch dehnbar war, schützte er ihn aus
Gewohnheit.
Die Nacht verging ungestört. Nur einmal durchbrach ein fernes Bellen die
Stille und ließ Heglen-Tur aus dem Schlaf schrecken. Aber der Fleckbeißer
war weit entfernt, und so war der Jungmann wieder eingeschlafen. Früh am
Morgen erhob er sich, steckte das Messer wieder ein und nahm zwei Schlucke
aus dem Wasserschlauch, bevor er sich wieder auf den Weg machte.
Am frühen Nachmittag erreichte er die Tote Wache, und obwohl er sie
schon oft gesehen hatte, fühlte er erneut einen erregenden Schauder, als er die
Reihen der toten Reiter vor sich sah. Heglen-Tur verfiel in langsamen Schritt
und näherte sich ihnen andächtig. Aus der Ferne schienen die gefallenen
Krieger noch immer auf geisterhafte Weise von Leben erfüllt, und Heglen-
Tur konnte sich gut vorstellen, wie kraftvoll die Männer des Pferdevolkes
einst auf ihren Pferden gewesen sein mussten und welch guten Kampf sie
geliefert hatten. Aber je näher er ihnen kam, desto deutlicher waren die
Spuren des Verfalls zu erkennen.
Der Fünfzehnjährige rückte das Bündel zurecht, das Bimar-Turik ihm in
der Heimstatt überreicht hatte. Es bestand aus sorgfältig aufgewickelten
Pflanzenfasern, die Heglen-Tur helfen würden, der Toten Wache Ehre zu
erweisen. Knochen und Rüstungsteile von vielen der Skelette hatten sich
gelöst, sodass er sie neu würde binden müssen.
»So kämpften Ross und Mann der Pferdemenschen, bis der letzte Schädel
gelöst war«, murmelte er andächtig. »Und sie gereichten dem Volk der Pferde
zur Ehre und auch dem Volk des Sandes. So wird es besungen.«
Heglen-Tur nahm sich die Zeit, zwischen den Reihen der Toten
entlangzulaufen, und staunte wieder einmal, wie groß die Männer auf ihren
Pferden gewesen waren. Schließlich öffnete er das Bündel und begann
systematisch, die schlimmsten Schäden zu beheben.
Ein Zehntag klang nach einer langen Zeit, aber Heglen-Tur wusste, dass
sie rasch vergehen würde, denn es gab viel zu tun. Obwohl das Sandvolk die
stützenden Pfähle fest aufgestellt und die einzelnen Teile gut miteinander
verbunden hatte, forderte der Wind seinen Tribut. Aber die Mächte des
Schicksals hielten ihre schützenden Hände über die Toten. Kein starker Sturm
hatte sie je getroffen und ihre Gebeine über die Wüste verstreut. Doch wenn
dies einmal geschehen sollte, so berichteten es die Legenden des Sandvolkes,
würden die Toten der Pferdemenschen sich erheben und erneut den Kampf
aufnehmen. Ein Gedanke, der jeden aufrechten Krieger mit Schrecken
erfüllte, denn wie sollte man einen Toten bezwingen, dessen Schädel bereits
genommen war? Aber es war wohl nur eine Legende, die entstanden war,
damit die Turiks gewissenhaft darauf achteten, dass den Toten Ehre erwiesen
wurde. Heglen würde dies tun, so wie die Tradition es verlangte.
Mit geübtem Blick und kundigen Händen widmete er sich seiner Aufgabe,
bis er unvermittelt aufschreckte. Er spürte eine schwache Erschütterung des
Bodens, und sofort schärften sich seine Sinne.
Behutsam ging er in die Knie und legte das Ohr auf den Sand. Die
Erschütterung war nun deutlicher wahrzunehmen, ein rhythmisches Pochen.
Es klang fast wie das Graben eines Sandwurms, und doch war es anders.
Irritiert versuchte Heglen-Tur das leise Schwingen zu deuten. Doch dann
wurde ihm bewusst, dass die Schwingungen nicht aus dem Boden zu ihm
drangen, sondern auch durch die Luft an seine Ohren getragen wurden.
Das war kein Sandwurm.
Heglen-Tur richtete sich auf, sah sich überrascht um und erkannte hinter
einer Düne im Osten eine aufsteigende Staubfahne, die sich rasch näherte.
Automatisch ergriff er die Reste seines Bündels und rannte zu der Düne
hinüber, die er überquert hatte, um die Tote Wache zu erreichen. Er lief im
schnellen Trab und schob sich dann auf dem Bauch hinter den Kamm.
Während er seine Augen gegen das grelle Sonnenlicht abschirmte, versuchte
er zu erkennen, was die ungewöhnliche Staubfahne verursachte.
Das Vibrieren und leise Poltern wurde mehr und mehr zu einem harten
Dröhnen, das sich rasend schnell zu nähern schien. Heglen-Tur stieß
unbewusst einen heiseren Schrei aus, als unvermittelt die Toten zum Leben
erwachten.
Männer auf Pferden überzogen die Kuppe der gegenüberliegenden Düne.
Männer mit grünen Umhängen und grünen Rundschilden, mit wehenden
gelben Rosshaarschweifen an den Helmen und mit langen Lanzen in den
Händen.
Sie verharrten reglos auf der Düne und starrten auf die Tote Wache hinab.
Heglen-Tur krallte die Hände in den Sand, wandte den Kopf zur Seite und
blickte dann erneut zu der Erscheinung hinüber. Aber seine Sinne täuschten
ihn nicht.
Die Pferdemenschen kehrten in ihre alte Heimat zurück.
Es waren nicht so viele Reiter, wie die Tote Wache einst umfasste, aber
diese hier mit ihren grimmigen Gesichtern und den großen Pferden machten
auf den Jungmann einen furchterregenden Eindruck. Fieberhaft überschlug
Heglen-Tur die Anzahl der Feinde und kam auf etwa hundert Reiter und
Pferde. Aber wer konnte wissen, ob dies nicht nur eine Vorhut war?
Heglen-Tur wurde plötzlich bewusst, welche Gefahr seinem Clan und allen
anderen drohte. Er sah, wie die Männer ihre Pferde antrieben. Nein, diese
Reiter kehrten nicht um, sie kamen in die Wüste hinein, vielleicht, um Rache
für eine verlorene Schlacht zu nehmen.
Heglen-Tur warf einen letzten kurzen Blick auf den Beritt der Pferdelords,
dann rutschte er die Düne hinunter und lief in schnellem Trab der Heimstatt
entgegen. Es galt, eine Botschaft zu überbringen. Die Toten lebten wieder.
Die Pferdelords kehrten zurück.