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Kapitel 4
ОглавлениеDer Baum war alt. Niemand hätte zu sagen vermocht, wie alt er war. Sein
Stamm war auch von vierzig Männern nicht zu umfassen, und doch wirkte er
schlank, denn er ragte hoch auf. Seine breit ausladenden Äste und Zweige
filterten ein seltsames Spiel von Licht und Schatten auf den darunterliegenden
Boden. Es gab viele solcher Bäume in diesem ausgedehnten Wald, und hier,
im Zentrum des Waldes, waren sie besonders hoch und standen weit
voneinander entfernt.
Zwischen den Zweigen einiger Bäume waren ungewöhnliche Strukturen zu
erkennen, die sich jedoch harmonisch in das Astwerk fügten, ganz als seien
sie auf natürlichem Wege gewachsen und Bestandteil des sie tragenden
Baumes. Die Strukturen waren groß und dennoch zierlich, man konnte Wände
und Treppen ausmachen, die sich in den einzelnen Baumkronen und sogar
zwischen ihnen erstreckten. Kleine Balkone sprangen zwischen den Zweigen
hervor und bildeten Plattformen, die einen unvergleichlichen Ausblick boten.
Die Balkone, Treppen und Wege wurden von Geländern eingefasst, deren
Streben und Stützen sorgsam gedreht und verziert waren und deren Handläufe
derart fein gearbeitet und zudem im Verlauf unendlicher Jahre abgegriffen
waren, dass sie wie poliertes Steinholz wirkten. Die hölzernen Stege
bestanden aus verschiedensten Hölzern, die zu abwechslungsreichen Mustern
kombiniert waren. Zahlreiche Fenster waren aus der Nähe zu erkennen, mit
doppelten Flügeln und fein gefertigten Rahmen. Nur selten war Metall zu
sehen, und warme Farben beherrschten das Bild.
Das Volk der Elfen lebte im Einklang mit der Natur; es nutzte ihre
Schönheit, ohne sie zu schädigen, und die Natur schien sich dafür bei den
Elfen mit ihrer üppigen Vielfalt revanchieren zu wollen. Zu den Grüntönen
der Nadeln und Blätter gesellten sich lange Ranken und Lianen, die
verschlungene Muster zu bilden schienen, und das Grün setzte sich in dem
Moos und Gras auf dem Boden fort. Pilze und Blumen boten eine prachtvolle
Farbenvielfalt, angereichert durch summende Insekten und andere Tiere des
Waldes.
Die Tiere schienen ebenso wenig Scheu vor dem elfischen Volk zu
empfinden, wie die sie umgebende Natur, in der sie alle lebten. Es war, als
wüssten die Tiere, dass die Elfen ihnen nur deshalb Leid zufügten, damit sie
selbst überleben konnten. Fleisch gehörte zum Lebensunterhalt des elfischen
Volkes, doch machte es nur einen geringen Bestandteil aus, denn die
Pflanzenwelt und die nahe Küste boten genug Nahrung.
Die Elfen lebten in großen Gemeinschaften, die sie als Häuser
bezeichneten. Neben den Häusern des Waldes gab es die der See, die sich an
der Küste befanden. Jedes der Häuser beherbergte viele Angehörige des
Volkes und hatte ein eigenes Symbol.
Die Lilie war das Symbol des Hauses Elodarions, eines der ältesten
Elfenhäuser. Es war älter als die Bäume, die es beherbergten, und älter als die
Geschlechter der Menschen.
Der Elfenmann, der langsam über das Gras zwischen den Bäumen schritt,
war groß und schlank und äußerlich in den besten Jahren. Seine Gesichtszüge
waren glatt, und nur die Augen gaben einen Eindruck von der Weisheit, die er
in vielen Jahrtausenden erlangt hatte. Das Haar des Mannes war weißblond
und lang, wie es für Elfen typisch war, und die Haare fielen weit über den
Rücken, obwohl sie im Nacken von einer schimmernden Spange
zusammengehalten wurden. Die Spange hatte die Form einer Lilie, und auch
der schmale Stirnreif des Mannes wies dieses Zeichen auf. Der Elf war
barfüßig; er hatte seine Schuhe abgelegt, um das Gras an seinen Zehen spüren
zu können. Das seidig schimmernde, geschmeidige Gewand, das er trug,
schien seinen Körper zu umfließen, und seine Schultern waren von dem
typischen zartblauen Umhang der Elfen bedeckt.
Elodarion plagten sorgenvolle Gedanken, obwohl er sich eigentlich
glücklich schätzen konnte. Vor fünfhundert Jahren hatte seine Frau Eolyn
zwei Kindern das Leben geschenkt, eine ungewöhnliche Gnade für das
geburtenarme Volk, unter dessen Obhut die beiden Geschwister Lotaras und
Leoryn herangewachsen waren. Vor Jahren waren die beiden erstmals in
Kontakt mit menschlichen Wesen gekommen, und Elodarion hatte befürchtet,
dass ihr Wesen dadurch Schaden nehmen könnte, denn die Menschen
verweilten so schrecklich kurz auf der Erde, dass ihnen die Abgeklärtheit des
elfischen Volkes fehlte. Zudem waren die Geschwister dem Volk der
Pferdelords begegnet, dem für Elodarions Empfinden die ohnehin
raubeinigeren Menschenwesen angehörten. Als sei dies nicht genug gewesen,
waren seine zarten Kinder auch noch mitten in den Kampf zwischen dem
Menschenvolk und den Horden der Orks geraten.
Elodarion hatte sie ursprünglich als besondere Geste der Achtung an den
Hof des Königs der Menschenwesen schicken wollen. Der König hätte die
Bedeutung dieser Geste zu schätzen gewusst. Doch stattdessen hatten die
beiden Jugendlichen gegen Orks und Graue Zauberer kämpfen müssen, und
so waren ihnen statt sinnlicher Schönheit Blut und Tod begegnet. Aber sie
hatten sich gut bewährt und keinen dauerhaften Schaden genommen. Wenn
man von einer gewissen Zuneigung absah, die sie seitdem gegenüber dem
Volk der Pferdelords empfanden.
Elodarion wollte seinen Fuß gerade wieder auf das frische Gras senken, als
er einen dicken Käfer unter seine Sohle huschen sah. Er hielt inne und setzte
das Insekt behutsam auf eine freie Fläche.
Der Kontakt zu den Menschen war gefährlich, auch wenn man den
Menschenwesen im Kampf gegen die Legionen des Schwarzen Lords hatte
beistehen müssen. Aber wer wirkliche Zuneigung zu den Menschen fasste,
der musste auf leidvolle Weise erfahren, wie vergänglich menschliches Leben
war. Elodarion hätte seinen Kindern diese Erfahrung lieber erspart, aber das
Schicksal hatte es anders bestimmt.
Der Wald war erfüllt vom Summen der Insekten und den Rufen der Tiere,
aber von den fast eintausend Elfen, welche das Haus Elodarions umfasste,
war kaum ein Laut zu hören. Einige der Männer hielten als Späher Wache an
den Grenzen, andere waren auf der Jagd. Die meisten der elfischen Wesen
gingen jedoch schweigend ihren täglichen Verrichtungen nach: der
Zubereitung der Mahlzeiten und der Wäsche ihrer Kleidung, der
Ausbesserung ihres Heims und dem Studium der Natur. Die Meditation war
ein fester Bestandteil des elfischen Lebens und bereitete sie auf die Zeit der
Schröpfung vor, in der die unsterblichen Elfenwesen die Last der
angesammelten Erinnerungen von sich nahmen, indem sie diese zu Papier
brachten und dann vergaßen. Doch trotz ihrer stillen Art waren sie kein
ungeselliges Volk. Jeder besondere Anlass wurde gerne aufgegriffen, um sich
zusammenzufinden und neue Kompositionen oder Gedichte vorzutragen, zu
tanzen und zu lachen.
Elodarion vernahm einen tremolierenden Pfiff aus den Tiefen des Waldes.
Es war ein harmonischer Dreiklang, der aus drei Kehlen zu ertönen schien
und typisch für die Elfen war. Kein anderes Wesen vermochte diesen Klang
nachzuahmen, dessen Einzeltöne jeder Elf verschieden modulieren konnte.
Jedes der elfischen Häuser hatte einen eigenen Dreiklang, und Elodarion
erkannte sofort, das dieser Pfiff von seinem Sohn Lotaras stammte.
Wenig später sah er Lotaras zwischen den Bäumen hervortreten. Der junge
Elf hatte ein erlegtes Geweihtier über die Schultern gelegt. Er war ein guter
Bogenschütze, einer der besten des elfischen Volkes, das sich ohnehin auf
diese Fertigkeit verstand. Lotaras erkannte seinen Vater und winkte ihm mit
einer Hand zu. Er trat mit einer Leichtigkeit heran, die nicht verriet, welches
Gewicht auf seinen Schultern lastete.
»Es ging rasch, und er hat nicht gelitten«, sagte Lotaras lächelnd. »Ich
habe bereits seine unsterbliche Seele um Vergebung gebeten, so wird er heute
Abend unseren Tisch bereichern können.«
Elodarion seufzte leise. »Du solltest auch deine Mutter um Vergebung
bitten.« Als Lotaras fragend die Stirn runzelte, wies sein Vater auf das erlegte
Wild. »Das Blut tropft auf dein Gewand.«
»Oh.« Verlegen zog Lotaras den blauen Umhang enger um sich.
Elfische Umhänge waren etwas Besonderes. In begrenztem Umfang
konnten sie sich dem Hintergrund farblich angleichen und den Träger so an
seine Umgebung anpassen, dass dieser nur schwer zu erkennen war. Zudem
waren ihre Fasern blutabweisend, und so perlte nun das Blut des von Lotaras
erlegten Geweihtieres von den Fasern seines Umhangs ab und tropfte auf den
Boden. Der Umhang würde zwar sauber bleiben, nicht jedoch Lotaras
Gehgewand, auf dem sich bereits erste dunkle Flecken zeigten.
Automatisch, aber erfolglos wischte der junge Elf über die Flecken und
verteilte das Blut nur noch mehr. Elodarion lachte leise auf. »Lass uns lieber
das Tier nach Hause bringen, damit deine Mutter sich dem Gewand widmen
kann. Zum Ausgleich wirst du dann deine Beute zubereiten.«
Lotaras nickte und schritt neben seinem Vater auf das Haus der Eltern zu.
»Ich hoffe, Leoryn findet die richtigen Kräuter und kommt rechtzeitig zurück.
Sobald sie auf Kräuter, Wurzeln und Pilze stößt, ist sie kaum zu halten.«
»Das hat deine Schwester von ihrer Mutter«, seufzte Elodarion.
»Heilerinnen sind nun einmal so.«
Sie standen ein Stück vom Stamm des Baumes entfernt unter einem der
starken Äste. Elodarion stieß einen leisen Pfiff aus, und zwischen den Ranken
sank eine zierliche Plattform herab. Elodarion sah seine Frau Eolyn über sich
und lächelte. »Tritt hinter mich, mein Sohn«, sagte er leise. »Sie braucht nicht
sofort zu sehen, welche Arbeit du ihr bringst.«
»Der Braten wird ihr schmecken«, murmelte Lotaras. »Sie mag
Geweihtier. Vor allem mit dem Kraut des Myrrgenstrauches. Ich hoffe,
Leoryn bringt es mit.«
»Blut mag sie dagegen gar nicht. Wenigstens nicht auf den Gewändern.«
Sie betraten die Plattform, die sich durch einen verborgenen Mechanismus
sofort wieder in Bewegung setzte und sanft emporstieg. Nur Augenblicke
später standen die beiden elfischen Männer vor Eolyn. Wie alle elfischen
Frauen war sie von makelloser Schönheit. Ihr Name bedeutete Tau, der den
Morgen streichelt, und wenn sie und ihre Tochter nebeneinanderstanden, war
schwer zu entscheiden, wer von ihnen älter war. Eolyn trug ein luftiges, halb
transparentes Gewand und als einziges Schmuckstück einen Stirnreif, der dem
ihres Mannes zum Verwechseln ähnlich sah. Ein leicht skeptischer Zug legte
sich auf ihr Gesicht, als sie Lotaras ansah.
Ihr Sohn räusperte sich verlegen und schob sich rasch an ihr vorbei,
während er den Umhang über die blutigen Flecken zog. »Ich muss noch das
Geweihtier ausnehmen.«
»Und du wirst es auch zubereiten müssen«, sagte Eolyn freundlich. »Damit
ich mich unterdessen deinem Gewand widmen kann.«
Lotaras dachte anerkennend, dass elfischen Augen nicht viel entging,
schon gar nicht denen seiner Mutter. Er nickte schweigend und ging über den
Steg hinweg ins Haus. Eolyn lächelte sanft, doch dann wurde ihr Gesicht
wieder ernst. Sie legte ihre Hand auf Elodarions Arm. »Hast du mit ihnen
gesprochen?«
Elodarion seufzte leise. Wie oft hatte er das an diesem Tag schon getan? Es
war kein angenehmer Tag für ihn, denn wieder standen Entscheidungen an,
die unerwartete Konsequenzen mit sich führen könnten. »Ja, ich habe mit den
Ältesten gesprochen.«
»Und?« Auch nach all den unendlichen Jahren konnte Eolyns Gesicht noch
immer mädchenhafte Neugier zeigen. »Habt ihr es beschlossen? Werden sie
gehen?«
»Ja. Aber lass uns beim Essen darüber sprechen.« Elodarion zog sie kurz
in seine Arme und streichelte sanft über ihr langes Haar. »Die letzten Jahre
waren ereignisreich, und die Dinge entwickelten sich nicht zum Besten. Der
Frieden ist trügerisch.«
Eolyn schritt mit ihm den leicht schwingenden Steg zu den Räumen des
Hauses entlang, wobei ein sanfter Wind ihr Gewand leicht flattern ließ. Ein
bunter Falter verfing sich in einer der sich aufwerfenden Falten, und die Elfin
bot dem ängstlichen Wesen ihre Hand, um es dann unbeschadet weiterfliegen
zu lassen. »Wenige Menschenjahre ist es nun her, dass die Schlacht vor der
weißen Stadt des Menschenkönigs stattfand und die orkischen Legionen des
Schwarzen Lords vernichtet wurden. Die Türme des Bösen wurden zerstört«,
Eolyn sah ihren Gemahl mit sanften Augen an, »aber das Böse selbst wurde
dabei nicht vernichtet. Solange es Licht gibt, wird es auch Schatten geben.
Beides ist untrennbar miteinander verbunden.« Sie lächelte unmerklich.
»Doch es sollte mehr Licht als Schatten geben.«
Elodarion trat neben sie an das zierlich wirkende Geländer des Steges
heran. »Der Schwarze Lord und seine Orks werden wieder stärker. Wir alle
spüren es. Erst vor zwei Jahren haben sie das Volk der Zwergenwesen
beinahe ausgelöscht. Das Haus der Farne unterhält Handelsbeziehungen mit
der grünen Kristallstadt Nal’t’rund, und so erfuhren wir, was sich dort
ereignete. Die Zwerge konnten nur bestehen, weil Menschenwesen ihnen
beistanden.«
Eolyn nickte. »Die Pferdelords.«
Elodarion seufzte erneut. Der heutige Tag schien für ihn der Tag der
Seufzer zu sein. »Ja, die Pferdelords. Seitdem gibt vor allem Lotaras keine
Ruhe mehr, da er seine Freunde mit den grünen Umhängen wiedersehen will.
Nun, so wird er jetzt die Möglichkeit dazu erhalten.«
»Also habt ihr es beschlossen.«
»Wir haben es beschlossen, ja.« Elodarion blickte nachdenklich nach
Osten. Dorthin, wo sich das Land des Schwarzen Lords und seiner Orks
befand. »Es gibt keinen anderen Weg. Wir können ein Haus unseres Volkes
nicht zurücklassen, ohne Gewissheit über sein Schicksal zu haben. Zumal es
sich um das älteste der Häuser handelt.«
»Von dem Elodarions abgesehen«, wandte Eolyn leise ein.
Erneut ertönte ein tremolierender Dreiklang, und die beiden Elfen wussten,
dass er der Kehle ihrer Tochter entstammte. Elodarion legte seine Hand sanft
über die Eolyns. »Lass uns hineingehen und beim Mahl darüber sprechen.«
Die Räume des Hauses waren in verschiedenen Ebenen übereinander
angelegt. Das Haus selbst lag im unteren Bereich des Baumes, wo der Stamm
stark war und der Wind den Baum nicht bewegte. Oben in seiner Krone
befand sich lediglich eine kleine Plattform, die der Beobachtung des Landes
und der Sterne diente und schon bei schwachem Wind leicht ausschwang.
Das Haus verfügte über mehrere Räume, denn jedes elfische Wesen
schätzte die Möglichkeit, sich zurückziehen zu können. Jeder hatte seinen
privaten Raum, dazu kamen noch der Gemeinschaftsraum, in dem auch das
Essen bereitet wurde, und die Bibliothek, in der sich ein Elf auf die
Schröpfung vorbereitete oder sich den Künsten widmete.
Lotaras hatte das Geweihtier bereits von seinem Fell befreit und
ausgenommen. Nun war er dabei, das Fleisch mit klarem Wasser zu waschen
und es je nach Verwendbarkeit zu zerteilen. Einiges davon schnitt er in lange
Streifen, die er danach mit dem Salz abrieb, welches die See-Elfen gewannen,
um sie anschließend in eine scharfe Flüssigkeit zu tunken, die er zuvor aus
Wasser und Kräutern gefertigt hatte. Die Tinktur war wohlschmeckend und
verhinderte zugleich, dass sich Insekten dem Fleisch näherten. Lotaras zog
feine Fäden durch die Enden der Fleischstreifen und hängte sie zum Trocknen
auf. Sobald sie ihre Feuchtigkeit verloren, würden sie zusammenschrumpfen
und zudem äußerst nahrhaft sein, sodass sie gemeinsam mit dem elfischen
Brot den Grundbestandteil der Reiseverpflegung bildeten, die typisch für die
elfischen Häuser war.
Vier große Fleischstücke bereitete Lotaras für das Essen vor. Die Portionen
für die anderen würde er auf dem heißen Stein der Kochstelle gut
durchbraten, er selbst bevorzugte es, wenn das Fleisch noch ein wenig blutig
war. Er blickte auf, als seine Schwester Leoryn eintrat. »Hast du
Myrrgenkraut gefunden?«
Leoryn lachte ungezwungen. »Welche Frage. Der Strauch, an dem man es
findet, wächst hier doch überall, und ich weiß, wie sehr Mutter den
Geschmack des Krautes liebt. Du hast übrigens dein Gewand beschmutzt.«
»Mutter wies mich schon darauf hin.« Lotaras nahm etwas Kraut, das auf
dem Stamm eines bestimmten Strauches wuchs. Strauch und Kraut waren
eine Symbiose eingegangen: Der Strauch ernährte das Kraut, und dieses
sonderte einen Duft ab, der Insekten fernhielt. Er sah auf die Sammeltasche
seiner Schwester. »Süßholz?«
»Ich weiß doch, wie sehr du es magst.« Leoryn holte die Wurzeln hervor,
und als Lotaras nach einer von ihnen griff, zog sie das Süßholz rasch zurück.
»Nein, nicht jetzt, Lotaras. Du weißt, dass es unser Nachtisch werden soll.«
»Ich wollte nur prüfen, ob es etwas taugt.«
Leoryn biss spöttisch in eine der Fasern. »Es ist gut. Du kannst mir
glauben.«
Lotaras blähte empört die Wangen. »Du bist schrecklich grausam,
Schwester.«
Sie lächelte ihn schelmisch an. »Noch grausamer wäre es, dich kosten zu
lassen. Denn dann würdest du es nicht mehr bis zum Essen aushalten. Die
Wurzeln sind wirklich schrecklich süß.«
Sie mussten beide lachen, und während Lotaras das Fleisch zubereitete,
dessen würziger Duft den Wohnraum zu erfüllen begann, zerstieß Leoryn die
weichen Wurzeln und vermischte sie mit Pflanzensaft zu einem Brei. Ihre
Eltern waren in der Bibliothek, wo sie leise miteinander sprachen, und die
Geschwister spürten, dass es Neuigkeiten gab.
Wenig später saßen die vier Elfen um den gedeckten Tisch herum, und
noch während sie Braten, Gemüse und den Salaten zusprachen, schielte
Lotaras begierig zum Süßwurzelbrei hinüber. Zu trinken gab es gegorenen
Beerensaft, dessen Alkoholgehalt einen Angehörigen des Menschenvolkes in
kürzester Zeit sturzbetrunken gemacht hätte. Doch die Elfen konnten das
sanfte Prickeln des Alkohols genießen, ohne dass er selbst bei
hochprozentigen Getränken ihre Sinne oder Reflexe trübte.
»Ihr wisst, dass unser elfisches Volk sich auf die große Reise über das
Meer vorbereitet«, begann Elodarion unvermittelt und tauchte seine
Fingerspitzen zum Säubern in eine Wasserschale. »Es weicht der großen
Vermehrung und Ausdehnung der Menschenwesen in den hiesigen Gefilden.«
»Und den Gefahren durch den Schwarzen Lord«, murmelte Lotaras, was
ihm einen mahnenden Blick der Mutter einbrachte.
»Einst waren wir viele und stemmten uns gegen die Gefahr der dunklen
Mächte«, sagte Elodarion leise. »Doch nun sind wir nur noch wenige, und der
Kampf gegen das Dunkle muss von den Menschenwesen weitergeführt
werden. Wir stehen ihnen bei, so gut wir es vermögen, Lotaras, aber wir
müssen auch an den Fortbestand unserer elfischen Häuser denken. Als wir
zum ersten Mal zusammen mit den Menschenwesen gegen die Horden der
Orks des Schwarzen Lords antraten, waren unsere Häuser noch zahlreich, und
wir brachten Zehntausende von Kämpfern in die Schlacht. Heute jedoch kann
man die Zahl unserer Häuser an den Fingern zweier Hände abzählen.«
»Also fliehen wir und überlassen die Menschenwesen ihrem Schicksal.«
Eolyn wollte Lotaras zurückhalten, aber Elodarion nickte. »So könnte man
es sehen. Aber wir tun es nicht aus Gleichgültigkeit den Menschenwesen
gegenüber. Unsere Kraft lässt nach, meine Kinder, während die der
Menschenwesen größer wird. Ja, sie werden zahlreicher und stärker und
treten so in die Spuren unserer Häuser. Oh, das einzelne elfische Wesen ist
noch immer stark, aber unsere Zahl verringert sich. Der lange Kampf über so
viele Jahrtausende hat viele Leben gekostet, und uns wird nur selten die
Gnade der Geburt zuteil.« Elodarion sah seine Kinder liebevoll an. »Ihr wisst
selbst, welch seltenes Glück ihr für das Haus Elodarions seid.«
Eolyn, die den wiederholten Blick des Sohnes zu der Schüssel mit
Süßwurzelbrei bemerkt hatte, nickte lächelnd. Lotaras grinste breit und zog
die Schüssel zu sich heran. Er liebte Süßspeisen, das hatte sich in den
fünfhundert Jahren seines jungen Lebens nicht geändert, und Eolyn lächelte
verständnisvoll, als er den Brei verteilte und sich dabei den üblichen
Extralöffel auf den Teller gab. Lotaras verschlang den ersten Löffel und sah
dann seinen Vater zwinkernd an. »Also hast du mit ihnen gesprochen.«
Elodarion lachte bitter auf. »Ja, das habe ich.«
Leoryn stieß einen begeisterten Schrei aus. »Dann werden wir sie
wiedersehen!«
»Das werdet ihr«, versicherte Elodarion und spürte wehmütig die
Begeisterung seiner Kinder. Sie waren noch so jung, dass sie noch gar nicht
sahen, welche seelische Last das Wiedersehen mit sich bringen würde. »Ihr
werdet eure Freunde wiedersehen.«
»Die Pferdelords«, sagte Lotaras mit breitem Lachen. »Garodem und
Larwyn.«
»Und den kleinen Dorkemunt«, stimmte Leoryn zu. »Und Nedeam. Und
Meowyn, die Heilerin.«
Elodarion räusperte sich und sah seine Kinder streng an. »Es wird keine
Vergnügungsreise werden, meine Kinder. Euer Aufbruch hat einen ernsten
Hintergrund und dient einem anderen Zweck. Daran müsst ihr denken, wenn
ihr die menschlichen Wesen wiederseht.« Er klopfte nachdenklich mit den
Fingern auf die polierte Platte aus Steinholz. »Ihr kennt die Legenden des
ersten Hauses der Elfen.«
»Das Haus des Urbaums«, nickte Lotaras. »Das verschollene Haus.«
»Es war immer das mächtigste und größte Haus des elfischen Volkes.«
Elodarion blickte nachdenklich aus dem Fenster. »Weit im Osten liegt es, bei
den versteinerten Wäldern. Schon lange haben wir keine Nachricht mehr von
ihm erhalten, und unsere Versuche, Kontakt aufzunehmen, sind gescheitert.
All unsere Boten sind verschollen, außerdem eine ganze Truppe unseres
Hauses.« Elodarion sah seine Kinder ernst an. »Aber jetzt, nach so langer
Zeit, gibt es Hinweise auf das Haus des Urbaums und darauf, was mit ihm
geschehen ist.«
Elodarion lehnte sich in die fein geschnitzte Lehne seines Stuhls zurück.
»Natürlich ist es nur ein unbewiesenes Gerücht, aber wir müssen jeder Spur
nachgehen. Dies ist immerhin die erste seit dreitausend Sonnenjahren. Ihr
werdet nach Enderonas an den Hof des Königs der Pferdelords reisen. Dort
lebt ein Mann, der Hinweise über das Haus des Urbaums haben soll. Ihr
werdet ihn befragen, und zwar möglichst behutsam, denn niemand soll von
unseren Plänen erfahren. Deshalb gilt euer Besuch offiziell dem Wiedersehen
mit euren Freunden aus der Hochmark.«
Leoryn sah ihren Vater fragend an. »Es ist ein weiter Weg von der
Hochmark Garodems in die Königsstadt Reyodems. Wenn unser Besuch
offiziell nur unseren Freunden aus der Hochmark gelten soll, wie können wir
dann die Weiterreise in die Stadt Enderonas begründen?«
»Überhaupt nicht«, sagte Elodarion lakonisch. »Denn ihr werdet zunächst
nicht über Land, sondern mit dem Schiff in das Reich der weißen Bäume,
nach Alnoa, reisen. Von dort aus werdet ihr direkt nach Enderonas gehen,
nach den Hinweisen zum Haus des Urbaums forschen und dann zu euren
Freunden in die Hochmark weiterziehen. Die umständliche Route werdet ihr
mit den Gefahren begründen, die auf dem Landweg drohen, denn der führt
durch die Gebiete der Barbaren.«
»Mit dem Schiff?« Lotaras empfand Unbehagen.
Sein Vater lachte leise auf. »Nach den fünfhundert Jahren deines jungen
Lebens ist es wohl an der Zeit, dass du deine Füße auch einmal auf ein Schiff
unseres Volkes setzt.«
Leoryn stieß ihren Bruder vergnügt an. »Du solltest dich freuen. Wir
werden zum ersten Mal mit einem Schiff reisen und danach unsere Freunde
aus dem Volk der Pferdelords wiedersehen.«
Lotaras nickte lächelnd. Ja, es würde guttun, den menschlichen Wesen
erneut zu begegnen. Und wie er die Pferdelords einschätzte, würde auch
sicherlich ein beachtenswertes Abenteuer mit dem Wiedersehen verbunden
sein.