Читать книгу Die Pferdelords 03 - Die Barbaren des Dünenlandes - Michael Schenk - Страница 8

Kapitel 6

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Eigentlich war es eine richtige Stadt, aber man hatte ihr nie einen eigenen

Namen gegeben, sondern nutzte die Bezeichnung des Ortes, an dem sie sich

erhob. Die Weißen Sände waren ein fester Begriff für das elfische Volk und

erstreckten sich am westlichsten Punkt ihres Landes, unmittelbar am Meer. Es

war eine große Bucht, die von einem Strand in der Form eines Halbmondes

eingefasst war. Die zum Meer weisenden Enden dieses Halbmondes

berührten einander fast, sodass nur ein schmaler Wasserweg das offene Meer

mit der geschützten Bucht verband. Der Strand bestand aus feinstem weißen

Sand, aus dem die elfischen Sandbrenner besten Klarstein für die zahlreichen

Fensteröffnungen in den Behausungen des Elfenvolkes fertigten. Doch

obwohl ihn die Sandbrenner schon seit so vielen Jahrtausenden nutzten, spülte

das Meer immer wieder genügend davon an, und daher wurde der Sand nicht

weniger.


Angrenzend an den Strand erhoben sich schroffe Klippen steil in den

Himmel und umgaben die Bucht wie eine schützende Mauer. Zur Landseite

hin fielen die Klippen scharfkantig und steil wieder ab, und kein Angreifer

konnte hoffen, sie zu erklimmen. Nur die zahlreichen Seevögel nutzten sie,

um hier zu nisten und ihren Kot zu hinterlassen. Das elfische Haus, das hier

lebte, hatte sich längst an den Schmutz und das Geschrei der gefiederten

Segler gewöhnt. An der Innenseite der Klippenwand befanden sich die Häuser

des Elfenvolkes. Zierlich und grazil aus feinen Hölzern erbaut, wirkten sie

äußerst zerbrechlich. Schmale Treppen verbanden die Häuser untereinander

und mit dem Boden, wobei die gedrehten Hölzer ihrer Geländer kaum den

Eindruck machten, als könnten sie einem Halt verschaffen. Häuser und

Treppen variierten in Größe und Form, sie wirkten willkürlich verteilt und

doch auf elfische Weise organisch, als seien die Gebäude aus den Klippen

hervorgewachsen, um deren Schroffheit Leben und Harmonie zu verleihen.

Kein Rauch kräuselte sich über den Kochstellen der Häuser, denn die Elfen

verstanden sich darauf, ihn zu vermeiden. Einige der Häuser waren den

Formen der Meerestiere nachempfunden und zeugten von der Verbundenheit

des Elfenhauses mit dem Meer. Das größte Gebäude wies die Form einer

Muschel auf und diente den hier lebenden Elfen als Versammlungsraum. Die

geschwungene Fassade war mit einem Gemisch aus dem Dung der Vögel und

dem weißen Sand des Strandes gestrichen, aber der einst unangenehme

Geruch war längst verflogen.


Unten am Strand gab es nur in einem begrenzten Bereich Gebäude, denn

die Elfen wollten die Schönheit der Weißen Sände nicht unnötig

beeinträchtigen. Hier schoben sich lange Stege in das Wasser der Bucht

hinaus, an denen die Schiffe des Elfenvolkes lagen. Und hier standen auch die

geschwungenen Hallen, in denen Waren gelagert und die Teile der Schiffe

gefertigt wurden, bevor man sie am Strand zusammenfügte.


Das Volk der Elfen befuhr schon lange die See, weit länger, als die

Menschenwesen dies taten, und sie kannten die Schönheiten und Gefahren

des Meeres. Einst hatte die Neugier sie über das Wasser getrieben, um neue

Ufer und deren Schönheiten zu entdecken und zu erforschen, aber nach vielen

Jahrtausenden war die Neugier schließlich der Erfahrung gewichen, und es

gab nicht mehr viel Neues zu entdecken. Deshalb war nun der Handel mit

anderen Völkern zum Antrieb ihrer Seefahrt geworden, doch auch dieser war

fast zum Erliegen gekommen. Nur die Handelsrouten über Land wurden

gelegentlich noch genutzt, während Schiffe inzwischen selten entlang der

Küste in die Hafenstadt des Reiches der weißen Bäume segelten.


Der Weg über das Meer war immer gefährlicher geworden, denn in den

Zeiten, in denen der friedliche Handel florierte, waren plötzlich die

Schwarzen Korsaren aufgetaucht, die es als einfacher empfanden, Waren zu

rauben, anstatt sie zu produzieren oder mit ihnen zu handeln. So gehörten die

schwarzen Korsarenschiffe bald zu den alltäglichen Gefahren des Meeres,

und der Handel war schließlich der Übermacht dieser tödlichen Bedrohung

erlegen. Die wenigen Schiffe der Menschenwesen befuhren nur noch die

Küstenregionen, um rasch an deren Ufern Schutz finden zu können, lediglich

die elfischen Schiffe wagten sich auf das weite Meer hinaus.


Die Weißen Sände waren Hafenstadt und Werft des elfischen Volkes, und

noch immer wurden hier Schiffe gebaut. Über Äonen hinweg waren es nur

wenige gewesen, aber jetzt wuchs ihre Zahl rasch, sodass ein großer Teil der

Bucht mit ihren Rümpfen angefüllt war. Denn das Volk bereitete sich auf die

große Reise in die ferne neue Heimat vor.


Für Lotaras und Leoryn, die Geschwister aus dem Hause Elodarions, war

der Anblick der Weißen Sände nicht neu, und doch stand dieser Besuch unter

einem anderen Zeichen. Er galt nicht einfach der Pflege der Beziehungen zu

dem hiesigen Haus, sondern der Fahrt mit einem von dessen Schiffen. In den

fünfhundert Jahren ihres jungen elfischen Lebens hatten sie noch keine Fahrt

mit einem der Schiffe unternommen, und obwohl das Wesen der Elfen von

Natur aus dem Neuen gegenüber aufgeschlossen war, empfand Lotaras

instinktiv Scheu vor der unendlich wirkenden Weite des Meeres.


Die Geschwister waren mehrere Tage gereist und hatten dabei den Weg zu

Fuß zurückgelegt. Obwohl Elfen hervorragende Reiter waren und gerade die

beiden Geschwister nach ihren früheren Erlebnissen mit den Pferdelords

gelernt hatten, einen guten Ritt zu schätzen, war es bei den Häusern des

Waldes nicht üblich, zu reiten. Zudem reisten sie nur äußerst selten, wenn sie

das Gebiet ihres eigenen Hauses verlassen mussten. Im Reich der weißen

Bäume würden die Geschwister ein paar gute Pferde erwerben, mit denen sie

dann zu ihren Freunden mit den grünen Umhängen reiten würden.


Sie standen ein Stück oberhalb des Strandes auf einer der kleinen

Plattformen, die einen wundervollen Ausblick über die Bucht und das Meer

boten. Wundervoll vom Standpunkt eines Elfen aus betrachtet, der diesen

Anblick gewöhnt war, doch Lotaras fühlte sich dabei überhaupt nicht wohl.


»Es wackelt.«


Leoryn riss sich vom Anblick der zahlreichen Schiffe los und sah ihn

verwirrt an. »Was wackelt?«


»Das Wasser.« Lotaras wies mit einer unbestimmten Geste über die

glitzernde Wasserfläche, die in verschiedenen Farbtönen von Grün bis Blau

schimmerte.


Seine Schwester lächelte sanft. »Es ist nicht viel anders als die Fahrt mit

dem kleinen Boot auf dem Waldsee. Erinnerst du dich?«


Welcher Elf vermochte schon zu vergessen, von der Schröpfung einmal

abgesehen? Doch Lotaras hatte noch keine Schröpfung hinter sich und

erinnerte sich daher noch sehr gut an die Fahrt mit dem kleinen Boot. Viel zu

gut, für seinen Geschmack. »Auch das hat gewackelt.«


Leoryn lachte leise auf. Die ungewohnte Wortkargheit ihres Bruders

verriet ihr seine Unsicherheit. »Es wackelte, weil du so herumgezappelt hast.

Du wolltest sehen, wie ich ins Wasser falle.« Sie lachte perlend. »Doch dann

ist das ganze Boot umgekippt, und wir sind beide nass geworden.«


Lotaras musste in ihr unbeschwertes Lachen einstimmen, doch dann wurde

er wieder sehr ernst. »Es hat dennoch gewackelt.«


Der stete Wind, der vom Meer aus übers Land strich, ließ ihre

weißblonden Haare wehen und brachte den salzigen Geruch des Wassers mit

sich. Leoryn legte ihre Hand kurz über die des Bruders und wies mit der

anderen in die Bucht hinab. »Diese Boote dort sind viel größer.«


»Auch sie werden wackeln.«


»Aber sie werden nicht umkippen«, versicherte Leoryn und zog ihn mit

sich. »Nun komm schon, Lotaras, was soll das Haus des Seevogels von dem

der Lilie halten, wenn die Kinder Elodarions Furcht vor dem Wasser haben?«


Lotaras schob seinen Bogen und den Pfeilköcher gerade, nahm die

Provianttasche vom Boden auf und folgte ihr missmutig. »Ich habe keine

Furcht vor dem Meer. Ich mag nur nicht, wenn es wackelt.«


Der Weg, dem sie folgten, führte sie an der Steilwand der Klippe entlang

zur Mitte der Bucht. Er war aus Hölzern gebaut, zwischen denen hier und da

der nackte Fels der Klippe hervortrat, der an diesen Stellen von den

unzähligen Füßen, die den Weg zuvor genommen hatten, glatt geschliffen

war. Die Streben des schmalen Geländers hatten die Form aufrecht stehender

Fische, die farbenfroh schillerten.


Nachdem die beiden jungen Elfen den Grund erreicht hatten, schritten sie

über den weißen Sand auf eine Gruppe von Männern zu. Ein schlanker Elf

trat aus der Gruppe hervor und winkte freundlich. Auf den ersten Blick

ähnelte seine Kleidung jener der Geschwister, aber als Lotaras und Leoryn

näher kamen, erkannten sie feine Unterschiede. Der Mann trug den hoch

aufragenden Helm des elfischen Volkes mit dem Symbol seines Hauses,

einem Seevogel, der seine Schwingen weit ausbreitete. Die Seiten des Helmes

waren jedoch fein ziseliert und zeigten die Struktur von Schuppen. Über

seinem Gewand trug der Mann einen Panzer aus metallen blitzenden

Schuppen, was typisch für die seefahrenden Häuser war, während die des

Waldes feste Harnische bevorzugten. Sein Gewand war kürzer als das von

Lotaras, wenn auch aus dem gleichen weichen Stoff und mit den gleichen

elfischen Symbolen und Stickereien verziert. Er trug einen breiten roten

Schwertgurt, an dem das lange, leicht gekrümmte Schwert der Elfen befestigt

war. Nur sein blauer Umhang schien mit dem von Lotaras und Leoryn

identisch, wenn man einmal von der Spange absah, die ihn zusammenhielt.

Bei den Angehörigen des Hauses Elodarions hatte die Spange die Form einer

Lilie, bei diesem Mann waren es, wie schon zuvor auf seinem Helm, die

Schwingen eines Seevogels.


»Ich bin Herolas aus dem Hause des Seevogels und Kapitän der

›Sturmschwinge‹«, sagte er freundlich und neigte grüßend den Kopf.


»Lotaras und Leoryn aus dem Hause Elodarions«, erwiderte Lotaras.

Sturmschwinge – der Name hatte etwas Unheilvolles an sich. Er blickte seine

Schwester ahnungsvoll an. »Es wird wackeln.«


Herolas betrachtete die Geschwister verständnislos. »Was wird wackeln?«


»Er meint dein Boot, Bruder Herolas«, sagte Leoryn freundlich.


»Es ist ein Schiff und kein Boot«, erwiderte Herolas. »Ein Pfeilschiff, um

genau zu sein, denn es schnellt wie ein Pfeil über die Wogen des Meeres

hinweg, durchteilt die Stürme und …«


»Ich will es nicht erwerben«, unterbrach ihn Lotaras unhöflich. In seiner

Vorstellung beschworen die bildhaften Worte schreckliche Szenarien herauf.

»Wir wollen es nur nutzen.«


Herolas runzelte die Stirn. »Ich verstehe. Mein Bruder aus dem Hause

Elodarions ist wohl noch nie zur See gefahren?« Er lächelte gutmütig. »Seid

ohne Sorge, Bruder Lotaras, es mag dir ein wenig schwankend erscheinen,

aber es wird euch beide sicher ans Ziel bringen. Aber nun folgt mir. Ich zeige

euch die ›Sturmschwinge‹.«


»Ich sagte dir doch, dass es wackeln wird«, brummte Lotaras seiner erneut

auflachenden Schwester zu.


Sie schritten an einer Gruppe elfischer Männer vorbei, die nur leicht

bekleidet waren und gerade den Rumpf eines neuen Schiffes fertigten.

Herolas bemerkte die neugierigen Blicke der beiden Waldbewohner und

deutete zu den Arbeitern hinüber.


»So baut man ein Schiff. Ganz gleich, ob es eines der schnellen

Pfeilschiffe, der plumpen, aber fast dreimal so großen Transporter oder der

starken Kampfschiffe wird, die den Feuertod über große Entfernung bringen,

immer legt man zuerst den Fuß des Schiffes. Er muss fest und biegsam

zugleich sein, denn er verschafft dem Schiff Halt, wie es der Fuß eines

Mannes auf dem Boden zu Land tut. Die geschwungenen Rippen bieten

später den Planken Halt, die den Rumpf außen bedecken. Sie werden von

unten beginnend am Skelett des Schiffes befestigt und überlappen einander

ein wenig.« Skelett. Ein Begriff, der in Lotaras erneut ein unbehagliches

Gefühl hervorrief. »Die Bretter müssen sorgfältig geglättet werden, damit das

Schiff gut gleitet. Wir versehen sie zu diesem Zweck mit einem feinen

Goldüberzug. Das Zeug lässt sich leicht verarbeiten und sieht ganz hübsch

aus. Zudem verhindert es, dass sich zu viele Muscheln und Algen am Rumpf

absetzen. Seht ihr die Stellen, wo sich die Bretter überlappen? Dort gießen

wir eine Mischung aus Metall und Wachs in die Fugen. Das macht sie dicht.

Das Schiff soll ja nicht voll Wasser laufen, nicht wahr?«


Herolas kam nun langsam in Fahrt, Schiffe waren ganz offensichtlich seine

Welt. »Der Bug ist ein wenig stumpf geformt, also wird es eines der großen

Transportschiffe. Ich schätze sie nicht besonders, denn sie sind schwerfällig

und langsam.«


Leoryn zeigte sich weitaus interessierter als ihr Bruder. »Und die

aufragende Stange dort, befestigt ihr daran eure Banner?«


Herolas lachte belustigt. »Sie wird später die Segel tragen.« Er räusperte

sich. »Aber nun lasst uns weitergehen, ich zeige euch jetzt die

›Sturmschwinge‹, dann seht ihr mal ein richtiges Schiff.«


Die bisherigen Schilderungen des Kapitäns hatten Lotaras keineswegs

beruhigt, und so folgte er seiner wissbegierigen Schwester und dem elfischen

Kapitän nur zögernd zu einem der Stege, an denen die in Dienst genommenen

Schiffe festgemacht waren. Die meisten von ihnen wirkten neu und würden

wohl dem Transport des Volkes in die künftige Heimat dienen, anderen sah

man jedoch das Alter an, denn so sorgsam ihre Rümpfe und Aufbauten auch

instand gehalten wurden, ließen sich die Spuren, welche Wind, Wellen und

Wetter an ihnen hinterlassen hatten, nicht ganz verdecken.


Herolas führte sie zu einem Schiff, das sich selbst in den ruhigen Wassern

der Bucht noch leicht auf den Wellen wiegte. Lotaras spürte ein

merkwürdiges Gefühl in seinem Bauch, während er Leoryn und dem Kapitän

folgte. »Das ist die ›Sturmschwinge‹«, sagte Herolas stolz und wies auf sein

Schiff. »Ein Pfeilschiff, wie ich schon sagte. Ihr werdet staunen, wie schnell

es über das Wasser gleitet und die Wogen zerteilt.«


»Du erwähntest es schon«, brummte Lotaras lakonisch.


Das Pfeilschiff war kaum zehn Längen lang und zweieinhalb Längen breit,

und sein Rumpf erhob sich nur eine Länge über das Wasser. Sein Bug war

steil nach oben hochgezogen und verlief in eine Spitze, die weit nach vorne

zeigte. Dort befand sich das geschnitzte Symbol des elfischen Kapitäns, dem

das Schiff anvertraut war. Am flachen Heck befand sich in einer

gabelförmigen Halterung ein langes Ruder, das der Steuerung diente.


Insgesamt wirkte das Schiff grazil und fast verspielt, wie es der Eigenart

der Elfen entsprach, doch auf Lotaras machte es einen schrecklich unstabilen

Eindruck, denn über dem zierlichen Rumpf erhob sich ein ebenso zierlicher

Mast von fünfzehn Längen Höhe. Es schien, als müsse der Mast das kleine

Pfeilschiff sofort zum Umkippen bringen, was jedoch nicht geschah. Er ragte

fast frei auf und wurde den Worten des Kapitäns zufolge nur von einem

Sockel tief im Bauch des Schiffes sowie von den vier starken Tauen gehalten,

die ihn nach allen Seiten mit dem Schiffsrumpf verbanden. Der Mast befand

sich im hinteren Drittel des Schiffes und ließ dessen Bug durch sein Gewicht

merkwürdig steil aus dem Wasser ragen, wodurch das Pfeilschiff insgesamt

seltsam schief wirkte. Das würde sich jedoch ändern, sobald das Segel sich

entfaltete und der Winddruck das Schiff nach vorne presste. Das Segel war

unten an einem Längsbalken befestigt, der vom Mast aus nach hinten lief und

über das hintere Heck des Schiffes hinausragte. Es hatte eine dreieckige Form

und würde im aufgezogenen Zustand dicht unter der Mastspitze enden. Es

war aus bestem elfischem Tuch gefertigt und hielt auch starken Winden

mühelos stand. Der Mast selbst wies rechts und links Kerben auf, in die man

seinen Fuß setzen konnte, um ihn zu ersteigen. An seiner Spitze befand sich

eine zierliche Plattform für den Ausguck des Schiffes, der den Kapitän vor

möglichen Gefahren warnen sollte.


»Eine richtige Schönheit, nicht wahr?«, sagte Herolas nahezu andächtig.


»Eine wacklige Schönheit«, murmelte Lotaras.


Leoryn sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Es ist nun genug, mein Bruder.

Die ›Sturmschwinge‹ wird uns sicher ans Ziel bringen, nicht wahr, Kapitän

Herolas?«


»Das wird sie ganz gewiss«, sagte eine unbekannte Stimme hinter ihnen,

und als die Geschwister herumfuhren, sahen sie vor ihren Augen einen

weiteren Elfen förmlich aus dem Boden des Pfeilschiffes herauswachsen. Erst

sah man nur den Kopf, danach erschien sein Oberkörper, und nun erkannten

die Geschwister, dass der Mann aus einer winzigen Luke herausstieg, die in

den Bauch des Rumpfes führte. Er trug lediglich ein stark gekürztes Beinkleid

und war ansonsten vollkommen nackt. Auch seine Füße waren entblößt, und

als Leoryn sie näher betrachtete, erkannten ihre kundigen Heileraugen die

dicken Schwielen an den Sohlen.


»Was ist mit deinen Füßen, Bruder des Wassers?«, fragte sie überrascht.


»Meine Füße?« Der Mann hob irritiert ein Bein und betrachtete seinen

Fuß. »Was soll mit ihnen sein?«


Leoryn deutete auf seine Sohlen. »Du hast merkwürdige Verdickungen

darunter.«


»Verdickungen?« Der Mann sah sie zunächst entgeistert an und grinste

dann breit. »Ah, nun verstehe ich, was du meinst, Schwester des Waldes.« Er

lachte auf. »Auch ihr würdet solche Schwielen bekommen, wenn ihr so viele

Jahre lang auf dem Tauwerk des Schiffes balanciert, um die Segel

auszurichten.«


»Warum trägst du dann keine Schuhe?«


Der Mann sah sie nachdenklich an. »Das wäre unpraktisch, Schwester des

Waldes. Man muss ein Schiff spüren können. Seine Bewegungen im Wasser.

Wie es sich auf- und abwiegt, sich zur Seite legt und wieder aufrichtet, wenn

es auf den Segeldruck und auf das Ruder reagiert.« Der Mann blickte an der

jungen Elfin vorbei zu Lotaras. »Was ist mit dir, Bruder des Waldes? Ist dir

nicht wohl?«


Lotaras war ein wenig bleich geworden. Jetzt schüttelte er nur noch

ächzend den Kopf, musterte die »Sturmschwinge« und glaubte fest daran,

dass dieses Schiff seinen Untergang bedeutete.


»Mein Steuermann Gendrion«, stellte Kapitän Herolas den Mann vor. »Es

gibt wohl kaum eine Welle des Meeres, die er nicht selbst befahren hat und

persönlich kennt. Doch nun kommt an Bord, wir wollen die Reise beginnen.«


Das Pfeilschiff lag dicht am Steg, doch wenn man es mit einem kurzen

Sprung erreichen wollte, musste man den Moment abpassen, in dem es sich

dem Steg leicht zuneigte. Lotaras sah einige der größeren Schiffe an ihren

Liegeplätzen. Bei allen außer bei der »Sturmschwinge« führten stabile Bretter

an Bord, weshalb Lotaras sofort den Steuermann Gendrion im Verdacht hatte,

die Planken vorsätzlich beiseitegelegt zu haben, um zu sehen, wie die

Waldbewohner ohne sie an Bord gelangen würden. Aber sein Stolz ließ es

nicht zu, eine Schwäche zu zeigen, und außerdem waren sein elfisches Auge

und seine Reflexe in Ordnung. Mit einem eleganten Schwung erreichte er das

Deck der »Sturmschwinge«, hörte ein leises Brummen des Steuermanns und

sah, wie dieser die Hand ausstreckte, um Leoryn zu helfen, doch die Elfin

lächelte ironisch und folgte ihrem Bruder mit weiblicher Anmut.


»Besatzung an Deck, wir stechen in See«, rief Gendrion mit lauter Stimme,

und über die kleine Treppe, die ins Schiffsinnere führte, kamen drei Männer

herauf, die erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Steuermann hatten. Auch sie

waren annähernd nackt, und ihre Füße waren ebenso schwielig wie ihre

kräftigen Hände. Obwohl ihre Bewegungen auch die Anmut des elfischen

Volkes zeigten, wirkten sie in ihrer ganzen Art kraftvoller.


»Geht vor den Mast«, brummte Gendrion und schob Lotaras vor sich her,

während er dessen Schwester mit einer sanften Bewegung ermunterte, ihnen

zu folgen. »Wir müssen den Anker einholen und das Segel setzen.« Er sah

Leoryn freundlich an. »Der Mastbaum wird ein wenig herumschwingen und

das Schiff sich neigen. Doch beunruhigt euch nicht, es kann nichts

geschehen.«


Einer der Männer hastete zum Bug der »Sturmschwinge« und begann an

einer Kette zu ziehen. Als der klobige Metallblock des Ankers aus dem

Wasser auftauchte, eilte ein zweiter hinzu und half, ihn sorgsam auf das Deck

zu legen und mit einer Leine zu befestigen. Einer der Elfen blieb am Bug

stehen, während der andere zum Mast eilte, wo kurz darauf das Segel langsam

und unter dem leisen Quietschen der Befestigungsringe aufzusteigen begann.

Das zartblaue Segel der »Sturmschwinge« schien zu wachsen und füllte sich

mehr und mehr mit der steten Meeresbrise, bis der Winddruck das kleine

Schiff zur Seite presste. Als es sich zu neigen begann, konnte Lotaras nur

mühsam ein Krächzen unterdrücken, während er intuitiv die Bewegung mit

den Beinen ausglich. Möglichst unauffällig verschaffte er sich zusätzlichen

Halt am seitlichen Handlauf des Schiffes.


Leoryn hingegen entfernte sich mit schnellen Schritten von ihm, eilte zum

Bug hinüber und blickte mit freudigem Gesichtsausdruck zum Segel empor.

»Es zeigt einen Seevogel«, rief sie begeistert. »Eine wundervolle Arbeit.«


Kapitän Herolas stand neben dem Ruder seines Schiffes, doch seine

Kommandogewalt schien sich darauf zu beschränken, die Arme hinter den

Rücken gelegt zu halten und seinem Steuermann Gendrion gewichtig

zuzunicken. Vielleicht lag es daran, dass Gendrion die festeren Stimmbänder

besaß, jedenfalls war seine Stimmkraft gewaltig.


»Hoch mit dem Segel«, brüllte er zum Mast hinauf. »Gebt mir

Ruderdruck!«


Die »Sturmschwinge« legte sich noch weiter über und begann sich

unmerklich vorwärtszubewegen. Der hoch aus dem Wasser ragende Bug

senkte sich langsam, und das Schiff schwang überraschend schnell herum, bis

Lotaras die Öffnung der Zufahrt vor sich auftauchen sah.


»Gut so«, brüllte Gendrion. »Legt es fest!«


»Er ist ein wenig laut«, brummte Lotaras und löste sich zögernd vom

Handlauf, als die »Sturmschwinge« unerwartet ruhig auf die Hafenausfahrt

zuglitt.


»Alles eine Sache der Gewöhnung«, meinte Kapitän Herolas. »Lass nur

ein wenig Sturm aufkommen, dann wirst du dankbar für seine laute Stimme

sein.«


»Sturm?« Leoryn kam vom Bug herüber und trat neben den Kapitän. »Du

meinst, wir werden einen Sturm erleben?«


»Aber nein, es wird eine ruhige Überfahrt werden.« Der Kapitän lächelte.

»Ein wenig Wellengang, nicht mehr.«


»Und ob wir einen Sturm bekommen«, brummte einer der See-Elfen neben

Lotaras. »Gendrion hat es vorhergesagt, und wenn der so etwas prophezeit,

dann bekommen wir einen Sturm. Einen richtigen. Einen mit masthohen

Wellen, der uns den Atem aus dem Mund reißen wird.« Lotaras sah den Mann

mit großen Augen an, und der dritte See-Elf lächelte ironisch. »Es wird eine

schnelle Fahrt werden, Bruder des Waldes.«


Die »Sturmschwinge« passierte die Hafenzufahrt, und die See wurde

merklich unruhiger. Starke Wellen hoben und senkten das Pfeilschiff, und

Lotaras registrierte mit Erstaunen, dass die Bewegung nicht einmal

unangenehm war. Ein wenig kam es ihm vor, als säße er auf einem trabenden

Pferd. Man musste die Bewegungen nur etwas ausgleichen.


»Wann werden wir den Hafen von Alneris erreichen?«, rief er zu Herolas

hinüber.


Der Kapitän sog prüfend Luft ein. »Wenn der Wind hält, schon morgen

Mittag.« Er blickte seinen Steuermann an, der das Ruder hielt. »Und er wird

halten.«


»Es wird sogar schneller gehen«, brummte Gendrion. »Wir bekommen

einen Sturm.«


Herolas sah den alten See-Elfen zweifelnd an. »Bist du dir sicher, Bruder

Gendrion? Ich rieche nichts.«


Gendrion musterte den Himmel, dann den Wellengang und sog schließlich

ebenfalls Luft ein. »Ein schwerer Sturm. In einem Zehnteltag ist er da.«


Herolas kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Ein schwerer Sturm, sagst

du?«


Gendrion nickte gewichtig. »Ein sehr schwerer Sturm.«


Einer der anderen See-Elfen trat neben Lotaras und prüfte die metallenen

Ringe, mit denen das Segel am Mast befestigt war. Er tippte an das Metall,

lauschte dem Klang und nickte zufrieden. Lotaras räusperte sich. »Seid ihr

sicher, dass es einen schweren Sturm gibt?«


»Einen sehr schweren Sturm«, bestätigte der Mann am Mast. »Gendrion

hat es gesagt, und so wird es sein.« Er sah Lotaras verschwörerisch an. »Du

musst wissen, Bruder des Waldes, unser Kapitän fährt kaum tausend Jahre zur

See. Er hat noch nicht die Erfahrung und das Gespür Gendrions. Das kann

man bei seinem Alter auch nicht von ihm erwarten.«


Lotaras fand, es sei jetzt nicht der rechte Zeitpunkt, auf sein eigenes

jugendliches Alter hinzuweisen. Daher nickte er nur gewichtig und schob

dabei seinen geliebten Bogen auf der Schulter gerade.


Der spitze Bug der »Sturmschwinge« schien das Wasser förmlich zu

durchschneiden. Bis über die Wasserlinie schimmerte der Rumpf im hellen

Gold des Überzuges, der das Holz schützen sollte. Die darüberliegenden

Planken hingegen waren weiß gestrichen und mit den Symbolen des elfischen

Hauses des Seevogels bemalt. An einigen Stellen war die Farbe zerkratzt oder

ausgeblichen. Hätte Lotaras sich ein wenig vorgebeugt, so hätte er zwei große

Meeressäuger erkennen können, die das Schiff in einem spielerischen

Wechsel von Schwimmen und Springen begleiteten. Das Rauschen des

vorbeigleitenden Wassers und das leise Knarren des Schiffes würde sie nun

die gesamte Reise über begleiten.


Kapitän Herolas deutete zu der schmalen Treppe, die in den Rumpf des

Pfeilschiffes hinabführte. »Dort unten ist eine Kammer. Sie ist vielleicht nicht

sonderlich komfortabel, aber sie erfüllt ihren Zweck.« Er sah Leoryn und

ihren Bruder freundlich an. »Wenn ihr wollt, könnt ihr euch dort stärken und

ein wenig ausruhen.«


»Ich bleibe lieber an Deck«, sagte Leoryn unbeschwert. »Ich habe das

Meer noch nie auf diese Weise erlebt und möchte den Anblick genießen.«


Herolas lächelte erfreut, und sein Steuermann stieß ein zufriedenes

Brummen aus, doch Lotaras, der das genaue Gegenteil empfand, versprach

sich Abhilfe für seinen Magen, wenn er das unruhige Wasser nicht mehr vor

Augen hatte. Also nickte er dem Kapitän zu und stieg die kleine Treppe

hinunter, an deren Ende er auf schmerzhafte Weise feststellen musste, dass

man unter Deck nicht aufrecht stehen konnte, und so betrachtete er nun den

Innenausbau des Pfeilschiffes in gebückter Haltung.


Das Erste, was ihm auffiel, war der glatte Boden, der mit Hölzern

ausgelegt war, zwischen denen es golden hervorschimmerte. Lotaras konnte

hier unten keine Lampe entdecken und begnügte sich daher mit dem Licht,

das durch die offene Luke hereinfiel und umherwanderte, wenn sich das Segel

bewegte oder das Schiff sich neigte, was allerdings für Lotaras’ Magen nicht

viel erfreulicher war als der Anblick der Wellen. In der Mitte des niedrigen

Raumes standen ein Tisch und zwei Bänke, die alle fest mit dem Boden

verbunden waren, sowie mehrere Kisten, die wohl die persönliche Habe der

Besatzung enthielten. Entlang der Seiten standen mehrere schmale,

übereinander errichtete Schlafstätten, die an den Seiten mit hohen, fein

gearbeiteten Handläufen versehen waren, welche Lotaras verwundert

betrachtete.


Ein Schatten legte sich über die Luke, und Kapitän Herolas blickte herein.

»Wegen des Seegangs«, merkte er beiläufig an. »Es kann unruhig werden,

wenn wir schlafen, und keiner möchte dann aus seiner Bettstatt fallen. Sie

mögen nicht bequem aussehen, aber glaube mir, Bruder des Waldes, wenn

man müde ist, so liegt man hier wie im Schoß seiner Mutter.«


Lotaras stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Habt ihr Gold hier

drunter?«


»Jede Menge.« Herolas lachte. »Der Mast ragt hoch auf, und so brauchen

wir ein starkes Gegengewicht, damit unsere feine ›Sturmschwinge‹ nicht

kippt. Der Rumpf ist über seinem Fuß teilweise mit massivem Gold

ausgegossen. Es ist schwer, wird nicht vom Wasser angegriffen und hält das

Schiff aufrecht.«


Der Kapitän machte mit der einen Hand eine unbestimmte Geste und hielt

sich mit der anderen am Handlauf der Treppe fest, als das Schiff ein wenig

überholte und sich stärker neigte. »Wenn du Durst oder Hunger hast, findest

du alles in den Kisten. Sie sind wasserdicht, damit nichts verderben kann,

falls wir Wasser aufnehmen.«


»Wasser aufnehmen?«


»Du brauchst nicht zu erblassen, Bruder des Waldes. Wenn wir besseren

Wind bekommen und die Fahrt schneller wird, kann ein wenig Wasser

hereinspritzen.«


Lotaras begann sich zu fragen, ob der Aufenthalt auf dem Schiffsdeck

nicht sicherer war. »Und wenn zu viel Wasser hereinspritzt?« Er wies auf das

glänzende Gold unter seinen Füßen. »Das Metall ist schwer.«


Herolas wies zu einer der Streben des Rumpfes. »Dort befindet sich eine

Pumpe, mit der man das Wasser herausbefördern kann. Das hält einen richtig

warm.«


Lotaras hielt sich wankend an einer Strebe fest und fluchte, als er sich

erneut den Kopf stieß. Sein Helm wurde nach vorne gedrückt und schob sich

über seine Augen. Er hörte das freundliche Lachen des Kapitäns und ärgerte

sich über dessen gutmütigen Spott. »Nach einer Weile bekommst du richtige

Seefüße, Bruder des Waldes. Man gewöhnt sich an die Bewegungen des

Schiffes. Oh, man beginnt sie sogar zu lieben.«


»Aha.« Lotaras konnte sich das kaum vorstellen. Er liebte diese

Bewegungen jedenfalls nicht und sein Magen hasste sie sogar. Er hatte lieber

die Kontrolle über seine Beine und nicht gerne das Gefühl, der Willkür eines

schaukelnden Schiffes ausgesetzt zu sein.


Die See wurde spürbar unruhiger. Kapitän Herolas nickte Lotaras zu und

trat wieder neben seinen Steuermann. »Steuere weiter auf das Meer hinaus«,

sagte er zu Gendrion. »Falls wirklich ein Sturm kommt, will ich nicht von

ihm an die Küste gedrückt werden.«


»Sei gewiss, der Sturm kommt«, brummte Gendrion.


Das Schiff begann nun auch seitlich zu schwingen. Eine unregelmäßige

Folge von Auf- und Abbewegungen und seitlichen Neigungen, die seinem

Magen immer weniger behagte, ließ Lotaras erneut nach Halt suchen, als er

wieder auf Deck trat. Er versuchte, seinen Blick auf einen Teil des Schiffes zu

fixieren, denn immer, wenn er auf das wallende Meer sah, schien sein Magen

das Bestreben zu haben, den Bewegungen des Wassers zu folgen.


»Ist es nicht eintönig, so lange Jahre über das Meer zu fahren?«, fragte er

den See-Elfen neben sich. »Hier gibt es doch nichts außer Wind und Wellen,

Wellen und Wind.«


»Meinst du?« Der See-Elf lachte. »Beuge dich ein wenig über den

Handlauf und schaue ins Wasser hinab, Bruder des Waldes. Dann siehst du,

wie sehr das Meer lebt.«


Lotaras verzichtete darauf, denn er bemerkte gerade, wie sehr sein Magen

zu leben begann.


Der elfische Seemann wies um sich. »Nirgends sonst wirst du solche

Schönheit finden. Sonne und Wolken, ja, selbst ein Sturm verzaubern das

Wasser. Immer neue Formen und Reflexe entstehen. Die Wellen bäumen sich

auf und fließen ineinander.«


In Lotaras Magen begann sich Ähnliches abzuspielen, aber der See-Elf

fuhr ungerührt fort. »In der Nähe des Landes findet man Unmengen von

Seevögeln, die auf der Jagd nach Fischen sind, und im Wasser wimmelt es

von Leben. Zahllose Fische in den schönsten Farben und Formen. Pflanzen

wachsen auf dem Meeresgrund in atemberaubender Vielfalt.« Der See-Elf

lächelte verträumt. »Ihr Elfen des Waldes bekommt ja nur die kleinen Fische

zu Gesicht. Aber es gibt auch Wasserbewohner, die weitaus größer sind als

unser Schiff, ja, sogar noch größer als die Transporter. Einige besitzen Zähne,

andere haben lange Tentakel an ihren Köpfen. Nicht immer geht es unter

Wasser friedlich zu, Bruder des Waldes. Auch dort gibt es Jäger und Gejagte.

Doch die Schönheit und Vielfalt unter Wasser kann sich sehr wohl mit der des

Landes messen. Ja, auf dem Meer findet man alles, was es zum Leben

braucht, Bruder des Waldes.«


»Korsaren«, sagte eines der anderen Besatzungsmitglieder.


Lotaras Gesprächspartner nickte. »Ja, gelegentlich auch Korsaren.«


»Das meine ich nicht«, sagte der andere und blickte zum Ruder zurück, wo

Leoryn bei Herolas und Gendrion stand. »Korsaren steuerbord voraus«, rief

er.


Lotaras Übelkeit verschwand mit einem Schlag. Er blickte in die Richtung,

in die der See-Elf gewiesen hatte, und erkannte rechts vor ihnen am Horizont

die Silhouette eines Schiffes. Hinter ihm ertönte Kapitän Herolas Stimme.

»Rodas, hinauf auf den Mast, ich will wissen, welchen Kurs er nimmt.«


»Welchen wird er wohl nehmen!«, brummte Lotaras’ Gesprächspartner.

»Natürlich nimmt er Kurs auf uns. Sie finden nicht mehr oft Beute, diese

Bastarde.«


Rodas wetzte indes den Mast hinauf. Seine schwieligen und verhornten

Füße schienen die ins Holz eingearbeiteten Steigkerben kaum zu berühren.

Oben angelangt, ergriff er den Rand der kleinen Aussichtsplattform und

schwang sich hinauf. Lotaras folgte ihm mit den Blicken und erbleichte, als er

sah, wie sehr der Mast zu schwanken begann. Die kleine Plattform dort oben

schien weit überzuholen und befand sich oft genug direkt über dem Meer.

Nein, eine Seefahrt war nicht nach seinem Geschmack, da bevorzugte er

schon eine fröhliche Metzelei mit ein paar orkischen Rundohren oder

Spitzohren. Hauptsache, er hatte guten und festen Boden unter seinen Füßen.


»Zweimaster«, rief Rodas zum Deck hinunter.


»Eines der kleinen Jagdschiffe der Schwarzen Korsaren«, erläuterte

Kapitän Herolas, den die Begegnung mit dem Feind nicht sehr zu

beunruhigen schien. »Sehr schnell, aber wir sind schneller.«


»Der kriegt uns nie«, stimmte Steuermann Gendrion zu. Er hielt das lange

Führungsholz des Steuerruders eher nachlässig zwischen Arm und Körper

geklemmt. Beinahe schien es, als döse er dabei, aber Lotaras ahnte, welche

Kraft es erforderte, das Steuer so zu handhaben, denn das lange Ruderblatt am

Ende des Ruders tauchte tief ins Wasser, und Gendrion musste die Masse des

Schiffes durch die Kraft des Segeldrucks und des Ruders auf Kurs halten.


Lotaras blickte wieder zu der dunklen Silhouette hinüber, die am fernen

Horizont sichtbar war. Viel konnte er nicht erkennen. Der See-Elf neben ihm

schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Wenn du willst, Bruder des

Waldes, kannst du ruhig zu Rodas hinaufsteigen. Es ist Platz genug dort

oben.«


Die Festigkeit des Schiffes erschien Lotaras bereits zweifelhaft genug, und

er hatte nicht unbedingt Sehnsucht danach, sich auf eine winzige Plattform zu

zwängen, die so weit über das Wasser hinausschwang, wenn das Schiff sich

neigte. Andererseits waren da die Neugier und der geringschätzige Blick, den

Steuermann Gendrion ihm gerade zuwarf.


Lotaras rückte Bogen und Pfeilköcher zurecht, trat an den Mast heran und

kletterte hinauf. Nicht mit der Gewandtheit und Eleganz, die Rodas gezeigt

hatte, aber mit der Sicherheit elfischer Reflexe, denn dies hier war nicht viel

anders, als wenn Lotaras sich in den geliebten Wäldern an einer der

Kletterlianen entlangbewegte. Rodas wirkte ein wenig überrascht und nickte

anerkennend, als Lotaras sich neben ihm emporschwang.


Der See-Elf wies auf eine Leine, die um die Plattform herumgespannt war.

»Eine Hand für dich und eine für das Schiff, so will es der Brauch des

Seehauses, Bruder des Waldes. Halte dich gut fest.«


Das brauchte Rodas nicht zu wiederholen. Doch als Lotaras sich

umblickte, vergaß er mit einem Mal das Schwanken der Plattform, denn der

Anblick, der sich ihm bot, war tatsächlich faszinierend. Von hier oben sah das

Meer ganz anders aus, was wohl daran lag, dass Lotaras nun erstmals aus der

Höhe ins Wasser hineinblickte. Viele Längen tief war es kristallklar, und er

sah Schwärme verschiedenster Fische darin schwimmen. Die Farbe des

Wassers wandelte sich in dunkles Blau und Schwarz, wo es sehr tief war,

doch dazwischen gab es immer wieder Stellen, an denen Lotaras bis auf den

Meeresgrund blicken konnte. Sand und farbige Pflanzen sowie bunte

Korallenbänke, die der Wasseroberfläche entgegenwuchsen und sich nach

dem Schiff zu recken schienen. Lotaras hätte nicht einzuschätzen vermocht,

wie tief das Meer unter dem Rumpf der »Sturmschwinge« war, doch die See-

Elfen schienen die Gewässer ausgezeichnet zu kennen und machten sich

offensichtlich keine Sorgen, dass ihr Schiff auf Grund laufen könnte.


»Die kleinen Zweimaster der Schwarzen Korsaren sind Jagdschiffe«,

brummte Rodas neben Lotaras und riss ihn aus der Beobachtung der

Wasserwelt. »Sie sind flink und wendig und schneller als ein Handelsschiff.

Sie versuchen stets das Heck des Opfers anzugreifen, um zunächst das Steuer

zu zerstören. Ist das Schiff erst einmal manövrierunfähig, warten die

verdammten Bastarde, bis eines ihrer großen Dreimaster heran ist. Und dann

beginnt die Metzelei.«


Lotaras konzentrierte sich auf den Anblick des Korsarenschiffes, das er

nun weitaus besser erkennen konnte als von unten. Der gesamte Rumpf des

schnittigen Gefährts war tiefschwarz, und dort, wo die Öffnungen für Ruder

oder Waffen waren, wirkte das Schwarz noch dunkler und bedrohlicher. Der

Bug war oben gerundet und wirkte eher stumpf und massig, nach unten

hingegen lief er in einer langen Spitze aus, die mit dickem Eisenblech

beschlagen war: Ein Rammsporn, der sich unter Wasser in den Rumpf eines

feindlichen Schiffes bohren und ihn zertrümmern konnte.


Die zwei Masten des Jagdschiffes ragten so hoch auf, wie dessen Rumpf

lang war. Es hatte eine Besegelung, wie sie für die elfischen Schiffe typisch

war, auch wenn sie sich als nicht so effektiv erwies. Die Masten waren nach

vorne und hinten durch ein dickes Tau gesichert, welches vom Bug des

Schiffes über die Masten hinweg zum Heck führte. An den Seiten der Masten

führten keilförmige Leinenstränge zum Schiffsrumpf hinunter. Sie sorgten für

seitliche Stabilität. Die Segel waren, wie auch der tödliche Rammsporn,

tiefrot gefärbt und zeigten die jeweiligen Symbole der Korsarenstämme.


»Wie ist er bewaffnet?«, fragte Lotaras neugierig.


»Neben dem Rammsporn haben die großen Schiffe Katapulte und

Pfeilschleudern. Mit den Katapulten werfen sie Steine oder Metallstücke, um

die Segel des Gegners zu beschädigen oder sein Ruder zu treffen. Mit den

Pfeilschleudern verschießen sie übergroße Pfeile, an die Leinen gebunden

sind.« Rodas spuckte aus und blickte grimmig zum Korsarenschiff hinüber.

»Treffen die Pfeile den Rumpf eines anderen Schiffes und verhaken sich

darin, lassen sich die Gefährte so nah aneinander heranziehen, dass die

Bastarde übersetzen und die Besatzung erschlagen können. Das ist ihnen

lieber, als ein Schiff zu versenken, Bruder des Waldes, auch wenn sie keine

Skrupel haben, dies notfalls zu tun. Aber die Segler stellen eine wertvolle

Beute dar und noch mehr das, was sie in ihren Laderäumen mit sich tragen.

Korsaren lieben Schiffe, Beute und Weiber, und zwar genau in dieser

Reihenfolge.«


Lotaras blickte unwillkürlich auf das Deck hinunter, wo seine Schwester

Leoryn noch immer neben dem Kapitän und seinem Steuermann stand. Rodas

spürte Lotaras’ Sorge und schaute ihn aufmunternd an. »Die bekommen uns

nicht. Das hier ist die ›Sturmschwinge‹, Bruder des Waldes, ein Pfeilschiff.«


Es sah auch ganz danach aus, als sei die Sorglosigkeit der Besatzung

gerechtfertigt. Das Schiff der Schwarzen Korsaren bewegte sich fast parallel

zu ihnen und begann langsam zurückzufallen. Es war offensichtlich, dass die

Korsaren das Elfenschiff nicht einholen konnten.


Doch dann stieß Rodas einen leisen Fluch aus und blickte mit

zusammengekniffenen Augen auf das Deck hinunter. »Zweites Jagdschiff

voraus! Will uns den Weg abschneiden!«


Auch Lotaras sah nun den hinzugekommenen Zweimaster, der sich jedoch

ein gutes Stück vor der »Sturmschwinge« und seitlich zu ihr versetzt befand.

Selbst ihm, als einem mit dem Meer nicht vertrauten Elfen, wurde sofort klar,

dass von diesem zweiten Schiff Gefahr ausging. Gischt sprühte an dessen Bug

auf und verriet, dass es mit hoher Geschwindigkeit fuhr.


»Es will uns den Weg abschneiden und uns zur Küste treiben«, knurrte

Kapitän Herolas grimmig. »Unsere brave ›Sturmschwinge‹ wird fliegen

müssen, um das zu verhindern. Aber wir werden zwischen dem Bastard und

der Küste hindurchschlüpfen.«


Gendrion stemmte die Füße aufs Deck und korrigierte die Lage des

Ruders. »Das wird sie, Kapitän. Sie wird fliegen.«


Es würde ein knappes Rennen werden, das erkannte selbst Lotaras, denn

Gendrion blickte mit grimmiger Miene auf das prall gefüllte Segel der

»Sturmschwinge«. Vielleicht wünschte er sich nun neben dem zusätzlichen

Satz Stimmbänder, den er offensichtlich besaß, auch ein paar zusätzliche

Lungen, um die Segel mit etwas mehr Wind füllen zu können. »Holt die

Leinen straff, ihr Brüder der See«, brüllte der Steuermann. »Lasst die

›Sturmschwinge‹ fliegen!«


Das Pfeilschiff war wirklich schnell. Auch an seinem Bug wurde nun

Gischt aufgeworfen, und Wasser sprühte in feinem Nebel über das Vorschiff.

Lotaras war unsicher, ob er oben auf der Aussichtsplattform bleiben sollte, die

ihm immer wackliger erschien. Zugleich hatte er von hier jedoch einen

faszinierenden Überblick über die Ereignisse. Oder besser einen

erschreckenden, denn das zweite Jagdschiff der Korsaren kam beständig

näher, während das erste immer weiter zurückfiel.


Da hörte Lotaras auf einmal einen hallenden Schlag und fuhr zusammen.

Zuerst glaubte er, der aufrüttelnde Laut sei durch das sich nähernde

Korsarenschiff ausgelöst worden, aber Rodas wies zum fernen Horizont, wo

Meer und Himmel ineinander zu verschwimmen schienen. »Jetzt wirst du

bald beide Hände für dich brauchen, Bruder des Waldes. Der von Gendrion

prophezeite Sturm kommt auf.«


Am fernen Horizont verdunkelte sich der Himmel, und seine Farbe

verwandelte sich von einem strahlenden Blau über ein helles Grau rasend

schnell in ein tiefes Schwarz. Erneut ertönte der hallende Schlag, und nun sah

Lotaras auch einen gewaltigen Blitz über das Firmament zucken, dem ein

weiterer folgte. Der Wind wurde nun spürbar stärker, und trotz aller Neugier

erschien es Lotaras angebracht, wieder das Deck des Schiffes aufzusuchen.

Rodas Blick war keineswegs geringschätzig, als er Lotaras zunickte. »Denke

daran, Bruder des Waldes, jetzt gilt für euch Waldbewohner: zwei Hände für

euch selbst.«


»Und ihr See-Elfen?«


Rodas lachte. »Eine für die ›Sturmschwinge‹ und eine für uns. Wer sonst

soll den Pfeil übers Wasser führen?«


Plötzlich war der Sturm mit unerwarteter Heftigkeit da.


Lotaras war von seiner Gewalt überwältigt und begriff, warum Rodas ihm

geraten hatte, nurmehr seine beiden Hände für sich selbst zu gebrauchen. Der

Wind trieb die Wellen hoch und peitschte sie gegen den schlanken Rumpf des

Pfeilschiffes, während die See zu kochen schien. Weiße Gischt tobte über die

Wellenkämme hinweg, und die »Sturmschwinge« wurde rasend schnell in die

Höhe gehoben, nur um Augenblicke später wieder in eine bodenlose Tiefe zu

stürzen. Lotaras und Leoryn waren derart beschäftigt, sich immer wieder

festen Halt zu verschaffen, dass sie gar keine Zeit fanden, Übelkeit zu

empfinden.


Die Leinen und Taue summten unter der Spannung, und das Schiff schien

zu ächzen, denn das prall gefüllte Segel trieb es unbarmherzig durch den

Sturm, doch weder Herolas noch Gendrion machten Anstalten, die Fahrt zu

verringern. Das erste Korsarenschiff war ihren Blicken entschwunden und das

zweite, weitaus nähere, tauchte nur gelegentlich in ihrem Blickfeld auf. Es

schien wie ein Korken auf den Wellen zu tanzen, aber Lotaras und Leoryn

vermuteten, dass ihr Schiff von Ferne wohl denselben Anblick bot.


Der Sturm umtoste sie, und so krampften sie ihre Hände in Handläufe und

Leinen, um nur nicht über Bord gewirbelt zu werden. Lotaras sah, wie

Gendrion eine kurze Leine nahm und sie um seinen Körper schlang, um sich

mit ihr an der Heckreling anzubinden. Kapitän Herolas wies zu der kleinen

Treppe hinüber, die ins Innere des Schiffes führte. »Unter Deck, Bruder und

Schwester des Waldes. Es wird jetzt ein wenig lebhaft werden.«


»Ich möchte sehen, was geschieht«, widersprach Leoryn.


Herolas’ Gesicht verlor seine Freundlichkeit. »Unter Deck! Alle beide!

Oder ich werfe euch eigenhändig hinunter.«


Lotaras schaffte es, Leoryns Arm zu ergreifen, und versuchte gegen die

Kraft des Sturmes anzubrüllen. »Hinunter mit dir, Schwester. Vertraue den

See-Elfen. Sie wissen, was zu tun ist.«


Er schob sie zur Treppe hinüber, hatte selber jedoch Mühe, Halt zu finden,

und ächzte schmerzerfüllt, als ihn eine abrupte Bewegung des Pfeilschiffes

gegen den Mast schleuderte. Er glaubte, seine Rippen brechen zu fühlen, und

stieß seine Schwester fluchend den Treppenabgang hinunter. Im Innern der

»Sturmschwinge« waren die Schiffsbewegungen zwar nicht angenehmer, aber

man konnte wenigstens nicht über Bord gehen. Wer bei diesem Sturm ins

Wasser stürzte, war dem Tode geweiht, für ihn würde es keine Rettung mehr

geben.


»Wir müssen reffen und das Segel kürzen«, ertönte Gendrions Ruf von

Deck. »Die Leinen summen bereits. Sie werden reißen.«


»Sie werden halten«, brüllte Herolas zurück.


Lotaras und Leoryn wurden im Rumpf von einer Seite zur anderen

geschleudert und schrien gemeinsam auf. Lotaras bemerkte verwirrt, dass

seine Schwester Vergnügen an dem Abenteuer zu finden schien.


»Sie werden reißen«, rief Gendrion erneut. »Lass sie uns kürzen, Kapitän.«


»Dann stellt uns das Jagdschiff«, erwiderte Herolas. »Sie halten.«


»Sie halten nicht!« Gendrions wütender Erwiderung folgte eine unflätige

Bemerkung über Kapitäne, die erst lächerliche tausend Jahre zur See fuhren

und keine Ahnung vom Meer hätten.


Auf einmal hatte Lotaras das Gefühl, als würde er schweben. Es dauerte

nur einen kurzen Augenblick, dann kam der harte Schlag, der ihm die Füße in

den Schädel zu treiben schien. Er begriff, dass die »Sturmschwinge« in ein

Wellental getaucht und dann wieder nach oben geworfen worden war. Ein

Wasserschwall klatschte durch die offene Luke herein, und Leoryn schrie

empört auf, als ihr weißgoldenes Haar durchnässt wurde. Das Pfeilschiff

neigte sich zur Seite und wieder drang Wasser ins Schiff ein.


Ein See-Elf der Besatzung erschien in der offenen Luke und blickte auf

Lotaras und Leoryn herab. Dann schwang er sich mit einem Satz zu ihnen

hinunter und prüfte den Wasserstand im Inneren des Schiffes. »Zwei

Handbreit«, brüllte er an Deck hinauf.


»Zu viel. Nimm die beiden Waldelfen und die Pumpe und schaffe es

hinaus«, brüllte Herolas zurück.


Der See-Elf sah die beiden Geschwister kurz an und stützte sich instinktiv

ab, als das Schiff weit überholte und sich dann wieder zögernd aufrichtete,

nur um sich sogleich zur anderen Seite zu neigen. Der Elf trat gegen eine der

Stützstreben des Rumpfes, worauf neben der Stütze ein metallener Griff

hervorklappte. Der Elf sah die Geschwister auffordernd an. »Auf und ab.

Immer auf und ab.«


Der See-Elf drückte den langen Hebel hoch und runter, und ein leises

Schlürfen ertönte. Lotaras und Leoryn traten zu ihm und halfen ihm, die

Pumpe zu betätigen, die nun irgendwo im Rumpf der »Sturmschwinge«

arbeitete und das eindringende Wasser wieder nach draußen beförderte. Nach

kurzer Zeit waren die Geschwister schweißgebadet. Aber das Pumpen hielt

sie nicht nur warm, der Hebel verschaffte ihnen auch etwas Halt, wenn das

Schiff den Bewegungen des Wassers folgte.


»Gendrion, wir müssen das Segel kürzen«, brüllte Kapitän Herolas. »Die

Leinen werden nicht halten!«


»Sag ich doch«, erwiderte Gendrion lautstark, und Lotaras konnte förmlich

das mürrische Gesicht des Steuermanns vor sich sehen.


Dann gab es einen peitschenden Knall, der selbst das Tosen des Sturms

übertönte. »Zu spät«, brummte der pumpende See-Elf lakonisch. »Herolas

hätte auf Gendrion hören sollen.«


»Kürzen«, brüllte Herolas mit Stentorstimme. »Refft das Segel, aber lasst

uns Steuerdruck, sonst macht der Sturm mit uns, was er will. Rodas, schlag

eine Ersatzleine an!«


Eine Ersatzleine. Lotaras wusste nicht, welche der vier Leinen, die den

Mast stabilisierten, gebrochen sein mochte, aber er schauderte bei dem

Gedanken an die Aufgabe, vor der Rodas nun stand. Er musste eine neue

Leine vom Mast aus zum Verankerungspunkt an Deck spannen. Aber mit nur

einer Hand würde das kaum möglich sein.


Noch bevor Leoryn oder der See-Elf reagieren konnten, hastete Lotaras zur

Treppe und schob sich hinauf an Deck. Herolas und Gendrion standen beide

am Ruder, krallten ihre Hände in das Holz und die bloßen Füße in die Planken

des Decks; sie hatten, in des Wortes wahrstem Sinn, alle Hände voll zu tun

und erhoben keinen Einspruch, als Lotaras erschien. Der junge Waldelf

umklammerte den Handlauf des Schiffes und sah weit über sich Rodas, der

auf halsbrecherische Weise halb unter der Plattform hing. Irgendwie hatte der

See-Elf es geschafft, sich mit den Beinen um den Mast zu haken, sodass seine

Hände frei waren. Nun schwankte er beinahe stärker als das Schiff, während

er mit fieberhaften Bewegungen eine Leine unterhalb der Aussichtsplattform

festband. Das Segel war ein gutes Stück herabgelassen worden, bauschte sich

aber noch immer unter dem gewaltigen Winddruck. Die »Sturmschwinge«

begann sich indes zu drehen, da nicht genug Segeldruck für das Ruder

vorhanden war. Wenn der Sturm sie nun von der Seite packte, konnte er sie

umwerfen und zum Kentern bringen. Eile war also geboten.


»Öffne die Sturmschlitze«, brüllte Gendrion gegen den Wind an. »Du

musst die Sturmschlitze öffnen!«


Neben Lotaras stand der dritte See-Elf und angelte bereits nach dem frei

baumelnden Ende der Leine, um es an der seitlich am Rumpf angebrachten

Halterung festmachen zu können. Der Sturm und das Schwingen des Schiffes

machten es schwer, das Leinenende zu ergreifen, trotz der elfischen Reflexe,

über die der Mann verfügte.


Eher zufällig gelang es schließlich Lotaras, die Leine zu fassen, und

während Rodas hoch über ihren Köpfen noch immer unermüdlich arbeitete,

kämpften sich Lotaras und der See-Elf zur Halterung hinüber, wobei sie

versuchten, der Gewalt des Sturms, so gut es ging, zu widerstehen und die

Leine zu verknoten. Dem See-Elf gelang es schließlich, diese mit einem

ungewöhnlichen Knoten an der Halterung zu befestigen, dann nahm er einen

kräftigen Holzkeil und steckte ihn zwischen die beiden verdrillten Stränge,

aus denen die Leine bestand. »Wir müssen sie noch weiter drehen«, brüllte

der Mann, »sonst bekommt sie keine Spannung, und der Mast hat keinen

Halt.«


Als der Mann das Holz zu drehen begann, packte auch Lotaras mit an und

spürte augenblicklich, welche Kraft dazu erforderlich war, denn je mehr sich

die Leine spannte, desto schwerer war es, das Holz zu bewegen.


»Nicht loslassen«, brüllte der See-Elf. »Wenn du loslässt, schnellt es

zurück, und alles war umsonst.«


Dann schlug der Mann hastig eine Leine um das gedrehte Holz und erst,

als diese ebenfalls festgelegt war, nickte der See-Elf zufrieden. »Gut gemacht,

Bruder des Waldes. Nun kümmern wir uns um das Segel.«


Sie kämpften sich zum Mast zurück und blickten zu Rodas hinauf, der es

irgendwie schaffte, sich wieder auf die Plattform hochzuziehen, und ihnen

dann ein Zeichen gab. Lotaras und der andere Mann warfen sich in die Leine,

die das Segel aufzog, woraufhin sich dieses augenblicklich wieder füllte.

Lotaras spürte kaum die Nässe, die seine Kleidung durchdrungen hatte, er

nahm nur wahr, wie die »Sturmschwinge« wieder auf das Ruder reagierte,

und Herolas und Gendrion zufriedene Laute ausstießen, als sich das

Pfeilschiff wieder in den Sturm drehte.


»Flieg, meine Schöne«, brüllte der Kapitän begeistert. »Zeige deine

Schwingen!«


Und das Schiff zeigte seine Schwingen. Von Rodas kam ein Schrei, den

keiner von ihnen zu deuten vermochte, bis der Ausguck ihn wiederholte.

»Einer ihrer Masten ist gebrochen und über Bord gegangen!«


»Ha«, brüllte Kapitän Herolas triumphierend. »Niemand nimmt es mit

meiner ›Sturmschwinge‹ auf! Niemand!« Er bemerkte Gendrions Blick. »Mit

unserer ›Sturmschwinge‹«, verbesserte er sich dann.


Gendrion nickte zustimmend. »Niemand.«


Für einen Moment konnte Lotaras das Jagdschiff der Schwarzen Korsaren

erkennen, und er war überrascht, wie nahe es an sie herangekommen war.

Keine fünf Hundertlängen entfernt, tanzte es auf den Wellen. Der hintere

Mast hatte dem Winddruck nicht standgehalten. Er war nach vorne gestürzt,

wobei er das Segel des vorderen Mastes zerfetzte, und dann seitlich vom

Schiff gerissen worden. In einem Gewirr von Tauen und Segeltuch hing er

nun außenbords und wirkte wie ein Schleppanker, der das schnittige

Jagdschiff herumzog und es hilflos der Gewalt des Sturms aussetzte. Lotaras

sah auf Deck undeutliche Gestalten, die sich verzweifelt bemühten, die Taue

zu kappen und den Mast vom Schiff zu lösen, aber es war zu spät. Eine

gewaltige Woge erfasste das Jagdschiff, hob es an und tauchte es in die See,

dann war es verschwunden.


Kapitän Herolas nickte zufrieden. »Refft ein wenig, Brüder der See. Wir

können den Sturm nun abreiten, die Gefahr ist vorüber.«


Als würde auch der Sturm diese Meinung teilen, begann er sich so

unerwartet rasch zu legen, wie er aufgezogen war. Die schwarzen Wolken

rissen auseinander, und Lotaras sah den klaren Sternenhimmel über dem

Schiff, das jetzt wieder ruhig durchs Wasser glitt.


»Nun können wir uns ein wenig entspannen«, brummte Steuermann

Gendrion. Er sah Lotaras aufmunternd an. »Ich denke, die schnelle Fahrt wird

dir in Erinnerung bleiben.«


Ja, es war Zeit, sich wieder zu entspannen, und auch Lotaras’ Magen

schien es so zu sehen, weshalb der junge Waldelf die nächste Zeit weit über

den Handlauf gebeugt verbrachte und sich weniger um die Schönheit der See

als vielmehr um die Erleichterung seines Leibes kümmerte.


Die Pferdelords 03 - Die Barbaren des Dünenlandes

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