Читать книгу Velasquita - Michael Schenk - Страница 6
Kapitel 4 Das versteckte Tal
ОглавлениеDas Tal verlief von Norden nach Süden und eigentlich war es eher ein Talkessel, denn ringsum stiegen steile Felswände auf. Der einzige Zugang befand sich an seiner östlichen Seite, ein finster wirkender Tunnel in den Felsen, der gut zu verteidigen war. Von dort aus konnte man das Tal gut überblicken. Im Norden war ein kleiner Wasserfall, von einem Gebirgsbach gespeist, der über einen Felsvorsprung herabstürzte, einen kleinen See bildete und dann durch das Tal lief, um irgendwo im Süden zwischen den Felsen zu verschwinden. Das Tal war überraschend grün, denn entlang des Bachlaufes wuchsen Baumgruppen und es gab ausgedehnte Grasflächen, von wilden Blumen bedeckt.
In der Mitte erhob sich eine kleine burgähnliche Anlage, die eine Mischung aus einem alten Castillo und einem herrschaftlichen Anwesen hätte sein können. Diese kleine Festung war von einer Vielzahl Hütten umgeben. Im Gegensatz zu der festungsähnlichen Anlage wirkten diese grob gefügt und schienen eher ein Provisorium zu sein. Obwohl sie jüngeren Datums waren, wirkten sie weit baufälliger als die alte Anlage. Einige bestanden aus kaum mehr als drei Wänden und einem Dach, die Stirnseite mit einer Tuchbahn als Wetter- und Sonnenschutz versehen, nicht viel mehr als ein Unterstand. Andere wiesen mehrere Räume und sorgfältigere Bearbeitung auf, je nachdem, welchen Aufwand die Benutzer ihrer Behausung zuteil werden ließen.
Es war offensichtlich, dass es einst nur die festungsähnliche Anlage im Tal gegeben hatte und das es nun zusätzliche Bewohner gab, die hier lebten.
Das Tal war so abgelegen und versteckt, dass es nur wenige Gründe geben konnte, hier zu leben. Der Wunsch, ein Leben abgeschieden vom Rest der Welt zu führen oder sich vor diesem Rest der Welt zu verbergen. Für die jetzigen Bewohner des abgeschiedenen Talkessels galt Letzteres. Sie verbargen sich vor den Blicken der Welt, wenn auch aus verschiedenen Gründen.
Bei Delfina und Fradique war es die Angst gewesen, die sie hierher getrieben hatte.
Sie hatten in Salamanca gewohnt und den Einmarsch der Franzosen miterlebt. Wie die Truppen des Kaisers über die Brücke mit den vielen Bögen in die Stadt marschierten und sie besetzten. Es hatte ihnen nicht gefallen, denn sie waren dem spanischen Königshaus treu verbundene Patrioten. Aber sie hatten es hingenommen, denn ihr Pater ermahnte sie zur Ruhe.
Padre Patricio Cortes war Rektor der irischen Schule und lehrte Naturgeschichte und Astronomie. Eigentlich war er gebürtiger Ire und hieß Dr. Patrick Curtis, aber das störte weder Fradique noch seine Delfina, denn der 72-jährige war ein gebildeter Mann und guter Katholik. Als Ire hielt er nicht viel von der Monarchie, vor allem nicht der englischen, die sein Land unterjochte, aber vom Kaiser der Franzosen hielt er offensichtlich noch weit weniger. Dennoch mahnte er zur Ruhe und seine Studenten folgten seinem Rat.
Fradique studierte die Naturwissenschaften und träumte davon, später durch wissenschaftliche Erkenntnisse das Los der einfachen Bauern zu erleichtern. Sein Vater, einer der Grundbesitzer, hielt nicht viel von dieser Idee, aber da Fradique weder die militärische Laufbahn einschlagen, noch Priester werden wollte, gewährte der Vater ihm das Studium. An der katholischen Schule von Padre Cortes hatte Fradique dann Delfina kennen und lieben gelernt.
Nicht, dass sie dort studiert hätte. An Cortes Schule galt es, Sitte und Anstand in jeglicher Form zu wahren. Aber die Tochter aus gutbürgerlichem Haus erschien gelegentlich in der katholischen Schule und der Padre hatte ihr gewährt, in seiner gut bestückten Bibliothek zu stöbern. Der Ire schien keinen Zweifel zu haben, dass eine Frau den Inhalt der Bücher ebenso gut verstehen könnte, wie einer der männlichen Studenten, was Fradique zunächst verwunderte, bis Delfina ihn in ein Gespräch verwickelte. Irgendwann, während der Diskussion um eines der physikalischen Gesetze, war es dann geschehen und sie hatten sich ineinander verliebt.
Padre Cortes tolerierte ihre Gefühle, auch wenn er eisern darauf achtete, dass die Liebenden innerhalb der Schule die Form wahrten. Delfina bewohnte eine Kammer bei einer älteren Dame, der sie ein wenig zur Hand ging und Fradique lebte in der katholischen Schule des Padre. Für die beiden wurde die große Plaza Mayor zu jenem Ort, an dem sie frei über ihre Gefühle sprechen und sie, wenn auch in begrenztem Umfang, offen zeigen konnten, denn die Plaza war der Treffpunkt der Generationen und der Geschlechter.
Siebzig Jahre hatte man an dem riesigen Geviert gebaut, das von nahezu ununterbrochenen Häuserzeilen umgeben war. Die gewaltige Plaza war von dreistöckigen Häusern flankiert, welche selbst die umlaufenden Säulengänge der Plaza überragten. Plaza und Häuser waren reich verziert und kunstvoll gefertigt, so dass die Kombination von beiden der Komposition eines Kunstwerkes gleichkam. Es war ein Ort der Schönheit und ein Ort der Begegnung.
Die Säulengänge der Plaza Mayor waren es, welche in Salamanca zu einer Besonderheit geführt hatten. Jeden Abend konnte sich hier die Bevölkerung treffen, ungeachtet ihres Standes, denn die Plaza gehörte niemandem und zugleich allen. Während die männlichen Bewohner an der Außenseite des Säulenganges entlang schlenderten, nutzten die weiblichen Bewohner die Innenseite im gegenläufigen Sinn, so dass man sich begegnete, Blicke tauschte und dann weiterschritt, um sich, vielleicht, bei der nächsten Runde zwischen den Säulen zu treffen und näher kennenzulernen.
Ausgerechnet auf der Plaza Mayor war es dann zum Eklat gekommen, als ein aufdringlicher Mann Delfina belästigte. Der Mann war einer jener Afrancesada, welche sich auf die Seite der Franzosen geschlagen hatten. Als Fradique seiner Delfina beistand und sich eine französische Patrouille nach der Ursache der Unruhe umsah, beschuldigte der Mann Fradique der Verschwörung gegen den Kaiser der Franzosen. Natürlich war das Unsinn, aber Fradique war als glühender Patriot bekannt. Ihm blieb nichts übrig, als im entstehenden Tumult mit Delfina von der Plaza zu fliehen und Salamanca zu verlassen.
Padre Cortes hatte ihnen nicht viel helfen können, denn gegenüber der katholischen Schule des Iren hatte sich eine französische Truppe einquartiert. Als er erfuhr, dass die beiden sich bei Freunden versteckten, schickte er ihnen etwas Wegzehrung, Geld und eine Empfehlung für einen Freund von ihm, der in Cáceres lebte. Wieder war der Rat des alten Padre eindeutig und Fradique und Delfina befolgten ihn.
Sie verließen die Stadt und unter den Reisenden auf der Handelsstrasse fielen sie nicht weiter auf. Eigentlich glaubten sie nicht einmal, dass die Franzosen tatsächlich nach ihnen Ausschau hielten, aber in ihrer jungen Liebe hatten sie Furcht, voneinander getrennt zu werden. Die Franzosen mochte es nicht stören, ob die Anschuldigung zu Recht bestand, denn immerhin waren sie Heiden. Auf der Strasse nach Cáceres wurden sie dann auch trotz aller Vorsicht von einer französischen Streife überrascht. Fradique´s Nervosität machte die Männer misstrauisch. Aber dann tauchte plötzlich der Don auf.
Don Lopez de Sabaja, wie er sich ihnen vorstellte, nachdem das Gemetzel vorbei war.
Weder Fradique noch Delfina hatten je miterlebt, wie Menschen einander umbrachten. Die Art, wie dies so blitzartig um sie herum geschah, verwirrte und schockierte sie gleichermaßen. Vielleicht folgten sie aus diesem Grund dem Angebot von Don de Sabaja, sich ihm anzuschließen und ihm in die Berge zu folgen. So waren sie in das versteckte Tal in den Bergen gelangt und lebten nun seit über einem Jahr mit dem bunten Gemisch von Menschen zusammen, die sich hier eine Zuflucht geschaffen hatten.
Es waren Männer, Frauen und auch Kinder, die hier lebten. Einige hatten sich dem Don angeschlossen, aus Angst, den heidnischen Franzosen in die Hände zu fallen, bei anderen war es die Not, nicht alleine überleben zu können. Dann gab es eine dritte, weit größere Gruppe, die Fradique und seine Delfina gleichermaßen mit Unbehagen betrachteten.
Einige dieser Menschen, überwiegend Männer, holten gerade ihre Reittiere aus einer der Koppeln und begannen die Tiere zu satteln. Die Männer und wenigen Frauen trugen grobe, strapazierfähige Kleidung. Einige Teile waren zivil, andere waren unverwechselbar Jacken oder Hosen der französischen oder spanischen Armee, auch wenn ihre neuen Besitzer sie ihrem eigenen Geschmack angepasst hatten. Es gab Knöpfe, Quasten und Schnüre oder auch nur einfache Stoffstreifen, welche die Gruppe der Männer und Frauen wild und verwahrlost erscheinen ließ, was für ihre Waffen jedoch nicht gelten konnte. Sie achteten sehr auf die Pflege ihrer Waffen, denn sie lebten mit und von ihnen.
Fradique zog die Harke durch das kleine Beet, welches sie hinter ihrer Hütte angelegt hatten und sah missbilligend zu der Gruppe hinüber, die nun aufsaß. „Nichts als Diebe und Mörder. Ach, Fradique, wo sind wir hier nur hinein geraten?“ Sie sah ihren Geliebten seufzend an. „Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, in Salamanca zu bleiben.“
„Du weißt, dass ich nicht dort bleiben konnte, Dela“, erwiderte er leise. „Außerdem sind die Männer des Don keine Straßenräuber. Sie sind spanische Patrioten wie wir.“
„Nicht wie wir“, widersprach sie entschieden. „Sieh dir ihre Gesichter an. Sie freuen sich aufs töten.“
Fradique kratzte sich verlegen am Hals und sah zu, wie Delfina sorgsam eine Furche neben der anderen hackte. „Sie freuen sich auf neue Vorräte und Kleidung. Du weißt, wie schwer es ist, uns alle durchzubringen.“
Über Dreihundert Menschen hatten sich dem Don in seinem verborgenen Tal angeschlossen und sie mussten natürlich ernährt und bekleidet werden.
„Aye, ich weiß es, Fradique, ich weiß es. Meinst du, ich hätte sonst das Beet angelegt?“ Delfina wandte den Kopf und blickte zu dem festungsähnlichen Bau in der Mitte des Tales. „Dabei gibt es hier reichliche Vorräte. Reichlich, sage ich dir. Du weißt doch selbst, was die Mörderbande nach jedem Überfall in das Kloster schleppt.“
„Der Don hortet die Vorräte für den Notfall“, sagte Fradique beschwichtigend. „Und es ist keine Mörderbande. Es sind Patrioten, Guerillas. Sie töten unsere Feinde, die Franzosen.“
„Und verschleppen und ermorden ihre Frauen.“ Delfina spuckte auf den Boden. „Sie mögen Heiden sein, die Franzosen, und sie mögen auch unsere Feinde sein, die Franzosen, aber was der Don und seine Mörder ihnen antun, das ist nicht Recht.“
Fradique beugte sich vor und nahm ihr die Hacke aus den Händen. „Komm, meine süße Dela, du hast genug geschuftet. Lass mich weitermachen, ja?“
„Wenn du so überzeugt bist, dass die Männer und Frauen des Dons gute Patrioten sind und ein gutes Werk tun, warum reitest du dann nicht mit ihnen, Fradique? Warum nicht?“
„Du weißt es, Delfina. Ich reite schlecht.“
„Unsinn, das kannst du lernen.“ Sie sah ihn müde an. „In Wahrheit willst du nicht an dem töten teilhaben. Weil der Don de Sabaja genau das ist, was sein Spitzname schon verrät. Ein verdammter Schlächter, das ist er.“
„Nicht alle hier sind schlecht“, murmelte Fradique und zuckte die Schultern.
Delfina blickte zu den anderen Hütten und nickte nachdenklich. „Nein, nicht alle.“
Es gab gute Menschen hier in dem Tal, darin waren sie sich einig. Aber es gab auch viel zu viele, denen es erschreckend wenig ausmachte, andere umzubringen. Wenn die ausreitenden Gruppen des Dons mit ihrer gelegentlich blutbefleckten Beute heimkehrten, dann wollten Fradique und Delfina lieber nicht genau wissen, was mit den alten Besitzern geschehen war.
Delfina sah Fradique traurig an. „Hier in dem Tal des Dons, Fradique, hier kann man nicht leben. Wir müssen fort von hier.“
„Wir können nicht fort. Der Don würde dagegen sein.“ Er seufzte entsagungsvoll. „Der gute Padre Cortes würde jetzt sagen, wir seien wie ein Schiff, das einen schweren Sturm überstehen muss. Wenigstens kann man hier überleben.“ Fradique deutete unbestimmt über das Tal. „Da draußen, da draußen sind die Franzosen und der Krieg.“
Delfina sah erneut zu dem festungsähnlichen Bau und legte ihre Hand sanft über die ihres Geliebten. „Aye, das mag sein. Aber glaube mir, mit Männern wie dem Don wird es niemals Frieden geben. Er ist ein Schlächter, Fradique, ja das ist er.“ Sie spuckte erneut auf den Boden. „Ein Carnicero. El Carnicero.“
Fradique biss sich auf die Unterlippe und hackte wütend auf den Boden ein. „Er sorgt für uns.“
Delfina schüttelte den Kopf. „Er sorgt für sich. Glaube mir, Fradique, hier in diesem Tal, leben wir nicht in Freiheit.“
„Aber wir leben.“
Die junge Frau schloss kurz die Augen und lachte dann trocken auf. Ihr Blick glitt über die elenden Hütten, aus deren Feueröffnungen Rauch von den Kochstellen aufstieg. Zwischen den Hütten war Bewegung, denn dort errichteten ein paar Männer eine Art großen Pferch. Kinder sahen ihnen zu und fröhliches Gelächter ertönte, als einer der Männer ungeschickt war und stürzte.
„Heute wird es wieder einen Hahnenkampf geben“, sagte Fradique.
Delfina nickte. „Ja, einen Hahnenkampf und noch mehr Blut.“
Fradique seufzte. Sie beide fühlten sich nicht recht wohl im Tal des Dons, den man auch El Carnicero nannte. Aber ohne die Zustimmung des Dons aus den Bergen zu entkommen, das war nahezu unmöglich. Daga, einer der Unterführer des Dons, hatten ihnen erklärt, dass dies zum Schutz des Tales und seiner Bewohner geschah. Daga war ein stämmiger und grober Bursche, aber ein guter Kerl. Vielleicht sollte Fradique einmal mit ihm reden. Er sah seine Delfina liebevoll und zugleich hilflos an, und diese Hilflosigkeit machte ihn traurig und wütend. Entschlossen begann er weiter auf den Boden einzuhacken.
Am Zugang des Talkessels wurden anfeuernde Rufe von den dortigen Wachen hörbar, als die aufgesessene Gruppe Guerilleros an ihnen vorbei in den Tunnel ritt, der aus dem Tal führte. Irgendwo würde bald neues Blut fließen.
„Verfluchter Krieg.“ Fradique hackte vehement auf den Boden. „Verfluchte Franzosen.“
Delfina lächelte zögernd. „Verfluchter El Carnicero.“
Sie lächelten sich an und hielten sich an den Händen. Immerhin, sie liebten sich und waren zusammen. Nicht alle Menschen in diesen Zeiten, konnten das von sich behaupten.