Читать книгу Unsere Natur stirbt - Michael Schrödl - Страница 7

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EINLEITUNG

Mein grundsätzlich lebensfroher Opa hat mir oft von der schlechten Zeit nach den Kriegen erzählt. Natürlich wollte ich das nicht wirklich hören. Aber ein paar Geschichten habe ich mir trotzdem gemerkt: Er wuchs als jüngstes von zehn Kindern auf einem kleinen Bauernhof nördlich von München auf. Da, wo die Schotterebene der Eiszeiten in die hügelige Tertiärlandschaft übergeht und sich heute auf der A9 täglich Zehntausende Fahrzeuge stauen. Sein Vater war ausgezehrt und krank und tat, was er konnte, doch es reichte nicht. Essen war immer knapp, aber eines Tages verhungerte sogar der klapperdürre Hofhund.

Damals, mit 14 Jahren, beschloss mein Opa, hinaus in die Welt zu ziehen, etwas zu lernen und der bitteren Not zu entkommen. Er ging zu Fuß bis ins Rheinland, lernte, was es als Zimmerer und Maurer zu lernen gab und verdingte sich als Wirtschaftsmigrant auf Baustellen. Als er von seiner Walz zurückkam, sprach er ein paar Brocken Französisch, konnte von seiner Arbeit als Baupolier leben und gründete eine Familie. Damals die normalste Sache der Welt. Und auch heute, nur dass niemand mehr in Europa verhungern muss, Bildung und Wissen allgemein verfügbar sind, Fernreisen bezahlbar sind, karrierebewusste Auszubildende gern bei internationalen Großkonzernen anfangen und Studierende in den USA oder Australien ihre Erfahrungen sammeln. Wir haben uns an Wohlstand, Freiheit und vielerlei Wahlmöglichkeiten gewöhnt.

Diese Normalität ändert sich gerade. Die Weltordnung gerät zusehends aus den Fugen. Zwar gibt es Fortschritte im Kampf gegen den Welthunger, doch die Weltbevölkerung, vielerlei Umweltprobleme und auch die Unruhen nehmen zu. Extremismus, Fanatismus und auch Fatalismus sind scheinbare Auswege aus echten und gefühlten Missständen nicht nur in den armen Ländern. Autokraten, Nationalisten, Ultraegoisten in vielerlei skurrilen Erscheinungsformen sollen es richten und setzen sich und ihr Gedankengut fest. Das Recht des Stärkeren wurde wieder salonfähig. Wer kann, der kann, und er wäre ja dumm, wenn er es nicht ausnützen würde, nicht wahr? Kleine Nebenwirkung allzu großer Egos: Rücksichtsloses Durchsetzen kurzfristiger Eigeninteressen samt Plünderung des Planeten führt unweigerlich in ein ökologisches und humanitäres Desaster. Wieso sehen das so viele nicht, sind wir blind? Oder doof?

Wir Wissenschaftler wissen es längst, die einst wunderbare Vielfalt des Lebens stirbt, nur interessierte das weder Medien noch sonst wen. Aber ja, seit 2017 ist die Katze auch medial aus dem Sack: Bienen sterben, Insekten sterben, Arten sterben. Wir verbrauchen und vergiften die Natur. Damit gehen Bestäuber, Bodenfruchtbarkeit und natürliche Medikamente verloren sowie Nahrung für Nutztiere, saubere Luft und Trinkwasser und sämtliche lebenswichtige Ökosystemfunktionen. Wer denkt, dass das gut sein oder auf Dauer gut gehen kann? Wenn bald nichts mehr wächst, habe ich nichts mehr zu essen. Logisch, oder?

Lerneffekt? Gleich null!

Dieselskandal? Was ist das? VW verbuchte 2017 Rekordgewinne. FIFA-Korruptionen? Fußball ist einfach zu schön. Olympia auch: Wen scheren da schon über hunderttausend im Naturschutzgebiet für Pisten gefällte Bäume in Südkorea?

Aber Flüchtlinge, das sind doch alles Kriminelle! Nein, die Kriminalität sinkt laufend, seit 1992 war Deutschland nicht mehr so sicher wie heute. Trumps fiese Twitterei von zehn Prozent steigender Kriminalität in Deutschland waren Fake News, und doch erreichen sie die, die genau so etwas glauben wollen. Sogar für junge Männer gilt: kein Unterschied in der Kriminalitätsrate zwischen Flüchtlingen und Deutschen. Flüchtlinge überschwemmen uns? In Wahrheit geht die Zahl der Flüchtlinge stark zurück und erreicht die »Obergrenze« nicht mehr. Egal, wen interessiert das alles? Macht endlich die Grenzen dicht!

Der Zweck dieses ganzen Theaters: Unsere allerwichtigsten Bedürfnisse werden scheinbar befriedigt: Unterhaltung, Intrigen, Drama sowie das Gefühl (!) von Schutz und Sicherheit, Geld und Macht.

Was also tun in unsicher erlebten Zeiten?

Schneller Konsum! Wer hat, zeigt es zunehmend, wer kann, auch, und wer nicht, muss halt so tun, als ob. Wie sonst sind ständig steigende PS-Zahlen der Neuwagen zu erklären? Fast 30 Prozent SUV-Anteil bei den Neuzulassungen: Niemand kann mehr ernsthaft glauben, dass die Boliden sparsam sind, Grenzwerte einhalten, der Umwelt guttun. Niemand kann glauben, dass immer mehr Verschmutzung, immer mehr Umweltzerstörung, immer mehr materielles Wachstum auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen gute Ideen für uns und unsere Zukunft sind. Oder etwa doch?

Ob reich oder arm, gebildet oder nicht. Zu viele von uns lassen sich leiten von Gier oder von vagen Ängsten, von zündelnder Politik und Massenmedien oder von blankem Egoismus zulasten anderer. Falls Unmut entsteht, wird er flugs gewinnbringend umgeleitet: Weg von echten Missständen wie der himmelschreienden globalen Ungerechtigkeit, weg von echten Gefahren wie dem heranrasenden ökologischen und humanitären Super-GAU, weg von echten Übeltätern wie Autobahndränglern, Giftspritzern und allzu gierigen und rücksichtslosen Ausbeutern. Hin zu Asyl, Terrorismus und all den anderen gefühlten Bedrohungen. Argumente, Vernunft und Fakten bleiben außen vor.

Im Kleinen ist es die verhärtende Einstellung gegen Andersdenkende oder die viel zitierte »Google-Blase«, die wir kaum je bemerken. Im Großen ist es die politisch zelebrierte Renaissance der Heimat, der eigenen Sprache, der Religion. Auch des Nationalismus, der militärischen Macht und der starken Männer, die das schon richten werden. Was genau? Die hemmungslose Durchsetzung eigener Interessen. Eigene Stärke wird auf Kosten anderer demonstriert, Schwache werden noch schwächer gemacht, Menschenrechte mit Füßen getreten. Unsere kollektive Angst wird ausgenutzt. Wir, die wir so viel besitzen, mehr Geld, Sicherheit und Freiheit als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte, fürchten Verluste, sozialen Abstieg, den Anspruch einer immer schnelleren, erschöpfenderen, globalisierten Zeit. Wir wollen beschützt werden. Dafür sind uns viele Mittel recht. Abgrenzung, Mauern und Zäune sollen es richten – werden es aber nicht.

Dieses Buch handelt von der einen Umwelt, in der wir alle leben, egal wo. Es handelt von der einen Natur, von der wir alle leben, egal ob arm oder reich. Es handelt davon, wie alles mit allem zusammenhängt in Ökologie und Ökonomie, und von der Art und Weise, wie wir gerade durch unsere Lebensweise einen Großteil allen höheren Lebens auf unserem Planeten vernichten. Einschließlich unserem eigenen.

Ich bin viel gereist, bin wie mein Opa grundsätzlich optimistisch, und ich sehe schon noch Möglichkeiten, die Welt, wie wir sie kennen, zumindest in ihren Grundzügen zu retten. Gute Informationen ermöglichen richtige Entscheidungen und zukunftstaugliche Prioritäten in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Aber was tun, wenn weiterhin Egoismus, Werbung und Kommerz die Meinung dominieren, schlichte Wahrheiten gebeugt, ignoriert oder frech nach Belieben umgedeutet werden? Was, wenn sich weiterhin viel zu wenig tut? Wenn sich die, die etwas bewegen könnten, nicht bewegen wollen?

Der Wandel fängt in und bei uns selbst an. Die Umweltprobleme, insbesondere die biologische Krise, erfordern ein rasches Umdenken, ein entschlossenes »Umhandeln« von uns allen.

Zusammen mit Dr. Vreni Häussermann habe ich im Vorgängerbuch »Biodiversitot« (www.biodiversitot.de) ausführlich geschildert, was wo und wie schiefläuft, was man auch als Einzelner konkret und sofort tun kann und woran es liegt, wenn noch viel zu wenig getan wird. Es gab viele positive Reaktionen, und etliche LeserInnen verhalten sich nun bewusster. Darüber freuen wir uns sehr! Mögen wir mit Büchern und Vorträgen Hunderte, vielleicht sogar Tausende angeregt haben, sich zu verändern. Wie aber Millionen oder gar Milliarden von Menschen erreichen, überzeugen und verändern? Darunter natürlich auch viele, die Umweltschutz als mäßig sinnvoll, eigene Beiträge als sekundär bedeutsam und das Heer der noch vorhandenen Tierarten bestenfalls als nicht lästig empfinden?

Ich musste erkennen, dass sich die meisten Menschen wohl nur ändern, wenn es an ihre eigene Existenz geht. Dass sie nur Neues wagen, nur Missstände bekämpfen, wenn zumindest der Hofhund verhungert – direkt vor der eigenen Nase.

Bitte sehr, mit existenziellen Problemen kann die biologische Krise, das große Sterben leider wirklich dienen. Einiges findet bereits direkt vor unserer Nase statt, anderes ist nicht so offensichtlich – noch nicht! Dieses Buch ist eine eindringliche Warnung vor der »Biokalypse«, die uns und alles, was uns lieb ist, auslöscht, und zwar recht bald, wenn wir nicht alle schleunigst und entschlossen etwas dagegen tun!

Naturschutz ist Menschenschutz!

Unsere Natur stirbt

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