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Ein klassischer Einstieg

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Meine lieben Freunde, sollen wir tatsächlich so beginnen? Natürlich, immerhin ist das ja eine Fantasygeschichte. Pardon, diese Geschichte ist natürlich wirklich passiert, irgendwo in weit entfernten Landen, in einem längst vergessenen Zeitalter. Wie beginnen diese monumentalen und mittelalterlichen Erzählungen immer? Richtig! Dunkel, erdrückend, tragisch, die Welt steht am Abgrund, nichts ist mehr so, wie es vorher war. Wollen wir uns das wirklich antun? Haben wir das nicht schon hundert Mal davor gelesen, gesehen oder gehört? Klar doch, aber weil es eben so schön und ein Dauerbrenner ist, steigen wir auch so ein. Alte Traditionen und Klassiker müssen eben erhalten bleiben. Beim Fußball erfreuen wir uns doch auch, wenn zum 5821 Mal Real Madrid gegen den FC Barcelona spielt und im Restaurant bestellt man sich, obwohl man die Speisekarte fast auswendig studiert hat, dann doch immer dasselbe Gericht. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Also lassen wir alles beim Alten und ersparen uns einen neumodischen Einstieg. Es ist aber keine billige und schnulzige Seifenoper wie „Game of Thrones“, also ein verruchtes „Reich und Schön“ im Mittelalter und es ist auch keine Geschichte über einen metrosexuellen Vampir. Nein, mit solch einem Unfug geben wir uns gar nicht erst ab, wir sind für Größeres bestimmt! Das hier wird ein knallhartes Epos, das kann ich euch garantieren.

Natürlich kommen auch all unsere geliebten Freunde vor: Elfen, Zwerge, Kobolde, andere lustige und geheimnisvolle Völker, furchteinflößende Kreaturen und wenn ihr ganz brav seid, dann baut der nette und betrunkene Märchenonkel noch ein paar Drachen ein. Toll, oder? Das klingt ja jetzt schon alles extrem spannend! Aber wir wollen nicht zu viel vorwegnehmen, beginnen wir ganz am Anfang, ganz klassisch eben. Entwertet eure Fahrkarten, steigt ein und begebt euch auf eine atemberaubende Reise in eine Zeit, von der kaum noch etwas bekannt ist.

Halt! Stopp! Damit das Ganze noch wirklich authentisch rüberkommt, heizt sich der liebe Onkel noch eine Pfeife an und schenkt sich ein riesengroßes Glas Cognac ein. Schneit es eigentlich? Schade, das hätte uns die perfekte Atmosphäre beschert. Das macht aber nichts, kannst du bitte trotzdem den Kamin anheizen?

Ja, mit dir rede ich. Sei doch so freundlich, ich möchte mich jetzt nicht mehr aus meinem gemütlichen Lehnstuhl erheben. Ein Lehnstuhl, eine Pfeife und ein Glas Cognac, jetzt muss ich nur noch ein Album von Dean Martin auf den Plattenspieler legen und wir hätten es verdammt gemütlich. Die Lieder von Dean Martin sind grandios, euer Märchenonkel ist ein großer Fan von ihm, aber seine Musik passt irgendwie nicht zu einer Fantasygeschichte. Da würden wir irgendetwas Dramatisches brauchen, Gustav Holst, Carl Orff oder Richard Wagner. Nein, lassen wir die Musik lieber weg, so könnt ihr euch besser auf mich und meine Geschichte konzentrieren. Ach ja, bitte dreht euer cooles Smartphone ab. Wenn ich euch schon etwas erzähle, dann will ich gefälligst nicht von eurem Robin Schulz-Klingelton gestört werden. Außerdem gibt es hier auch keine Pokémon, aber Pokémon GO ist doch ohnehin schon wieder out.

Noch eine Info für alle Instagramer: Wer ein Selfie mit dem Märchenonkel haben will, soll sich in die Liste eintragen, die ich gleich durchgeben werde. Da die Liste höchstwahrscheinlich im Nu voll sein wird, habe ich noch eine zweite, also macht euch keine Sorgen.

Nun kann unsere Reise aber auch wirklich beginnen.

Erster Halt: Ithrien, das mächtigste Land der Welt. Wir befinden uns im Jahre eins nach Hieronymus. Eine alte und bodenständige Zeit, die man zirka mit unserem späten Mittelalter vergleichen kann. Strom gab es keinen, Internet und Facebook daher auch nicht. Und auch all die anderen Luxusgüter nicht, ohne die ihr verwöhnten Rotzlöffel nicht einmal eine Stunde überleben könntet.

Dunkelheit umhüllte die Gefilde, die Schatten der Berge waren länger als je zuvor, der Nebel wich kaum noch aus den Tälern und dichten Wäldern, der Schnee wollte nicht schmelzen, die Sonne war vom Himmel gefallen.

Nicht etwa, weil ein Landesfürst aus Nordslowenien einen alkoholbedingten Unfall mit seiner Kutsche hatte und dabei verstarb, nein, viel schlimmer, aber gestorben ist auch jemand! Nämlich Großkaiser Hieronymus, Alleinherrscher von Ithrien. 952 Jahre lang saß er auf seinem Ebenholzthron in der Kaiserfeste.

Moment, jetzt fragt ihr euch sicher, wie ein Mensch so lange Leben konnte, oder? Habe ich überhaupt gesagt, dass er ein Mensch war? Nein, er könnte doch auch ein Elf gewesen sein.

Aber er war eben doch ein Mensch, und zwar ein spezieller. Hieronymus stammte aus der Linie des weißen Bluts, eine uralte Adelsfamilie. Galdrar, ein Zauberer der Hochelfen, lud die Familie vor langer, langer Zeit zu sich ins ferne Land Gahan ein. Dort durften sie in den ewigen Seen baden und erhielten dadurch ein unnatürlich langes Leben.

Na bitte, unser Intro ist noch nicht einmal bei der Hälfte und es kommt schon fast alles vor, was das Fantasyherz höherschlagen lässt: Weißes Blut, ein Elfenmagier, hui, na wenn das nicht spannend ist!

Fahren wir nun fort, liebe Freunde! Was war dieses Ithrien überhaupt und wer zum Teufel war Hieronymus?

Nun ja, Ithrien war wie gesagt das mächtigste Land der Welt, ein Vielvölkerreich. Menschen, Zwerge, Elfen, alle fanden darin ihren Platz und alle waren von gleichem Rang. Es war ein Miteinander und kein Gegeneinander, eine Besonderheit, denn in anderen Ländern war das nicht der Fall. Dort standen Unterdrückung und Rassismus an der Tagesordnung. In einigen Landen der Elfen wurden die Menschen als Sklaven gehalten, weil sie niedere Lebewesen waren und in den Königreichen der Menschen waren die Elfen der Abschaum der Gesellschaft. Niemand mochte die hochnäsigen Spitzohren und es wurde alles unternommen, um ihnen das Leben zur Hölle zu machen. Die waren dort verdammt in heruntergekommenen Gettos zu hausen, ähnlich den Favelas in Brasilien. Schäbige kleine Hütten, Armut und schmutziges Wasser, mehr Luxus gab es nicht.

Super, Wahnsinn! Die Diskriminierung der Anderlinge, das darf in keiner guten Geschichte fehlen! Macht das euer Märchenonkel nicht wunderbar? Ein Zug vom Pfeifchen, damit ich mich besser an die alten Tage erinnern kann, vielleicht kommt ja dann bald einmal ein Krieg ins Spiel.

Bitte? Natürlich rauche ich Marihuana in meiner Pfeife, schwarzer Afghane, what else?

Machen wir aber weiter, meine lieben Freunde: Die Zwerge waren sowieso die Punker dieser Zeit, die waren immer gegen alles und jeden und duldeten keine anderen Lebewesen in ihren steinernen Festungen. Außer den Kobolden, das lag vermutlich daran, dass sie eine ähnliche Körpergröße hatten und genauso alkoholsüchtig wie die grimmigen Zwerglein waren.

Doch auch in Ithrien existierte diese Einigkeit der verschiedenen Völker nicht seit Anbeginn der Tage. Wir werden gleich darauf zurückkommen, aber vorher machen wir noch einen kleinen Exkurs.

Es gab nämlich noch viele andere Lebewesen, die aber nicht als höhere Lebewesen wie Menschen, Elfen und Zwerge eingestuft waren, sondern nur als niedere und somit denselben Status wie Tiere hatten. Obwohl einige von ihnen alles andere als Tiere und durchaus intelligent waren. Die Kobolde zum Beispiel, die haben wir ja gerade erwähnt. Ein lustiges und geselliges Volk, das die meiste Zeit mit Trinken und Feiern verbrachte. Menschen und Elfen bekamen die lieben Kobolde allerdings nur äußerst selten zu Gesicht. Sie lebten sehr abgeschieden und versteckten sich unter der Erde, in Baumstümpfen und manche sogar in den Baumkronen. Ihre Siedlungen lagen häufig in der Nähe eines Zwergenreichs. Die Zwerge verstanden sich äußerst gut mit den Kobolden und boten ihnen Schutz. Die kleinen Kerlchen waren aber durchaus hinterlistig und spielten verirrten Wanderern und Wanderinnen gerne Streiche. Sie lockten sie zum Beispiel in die Sümpfe, verwirrten sie und hauchten ihnen Angst ein, indem sie sich im Dickicht versteckten, ihre Stimmen verstellten und den Fremden von allen Seiten aus zuflüsterten. Auch durfte man kein Getränk oder eine Speise von ihnen annehmen, da sie dort gerne eine betäubende Substanz reinmischten und dem schlafenden Opfer dann alles raubten, was es an sich trug. Sie waren äußerst flink und kannten die Wälder wie ihre Westentaschen. Städte und Dörfer der Menschen und Elfen mieden sie generell. Einem erwachsenen Menschen reichte ein Kobold gerade einmal bis zum Knie, wenn überhaupt. Nein, eigentlich nur bis zum halben Knie, und das ist schon sehr großzügig. Ihre Kleidung war schlicht, ein paar bunte Lumpen, den Stoff dafür bekamen sie von den Zwergen. Die größten Feinde der Kobolde waren die Orks, die ihre äußerst delikaten Eintöpfe gerne mit den quirligen Winzlingen garnierten.

Im Grunde waren die Orks ein friedliches Volk, lebten in simplen Hütten im dichten Wald oder in der Nähe von Sümpfen. Archaische Lebewesen, die den Tieren viel ähnlicher als den Menschen waren. Die Orks beherrschten die Menschensprache, auch wenn ihre Diktion ziemlich plump und schmucklos erschien. Sie waren große, dicke Urwesen, die aufrecht gingen und keinerlei Körperbehaarung hatten. Weitere Erkennungsmerkmale waren ihre dunkelbraune Haut, kräftige Hände und Füße, spitze Ohren und eine runde Nase. Ihr ganzes Interesse galt dem Jagen und dem Essen. Auch wenn sie wirklich sehr primitiv waren, besaßen sie durchaus ein wenig Intelligenz, wenn auch nicht viel. Jeder Orkstamm hatte einen Häuptling und jeder Häuptling hatte drei Frauen. Menschen und Elfen taten sich schwer, männliche und weibliche Orks zu unterscheiden, es war fast unmöglich. Einzig anhand der Kleidung ging dies. Die Männer trugen dunkle Hosen, falls man das überhaupt als Hosen bezeichnen konnte und waren obenrum nackt. Die Frauen dagegen hatten helle Kleider an ihrem Leibe.

Ein kriegerisches Volk, so wie wir sie aus anderen Geschichten kennen, waren sie überhaupt nicht. Ein paar friedliche Barbaren, die gerne auf die Jagd gingen und die Beute dann festlich zubereiteten. Wenn sich einmal ein Mensch, ein Elf oder ein Zwerg in die Gebiete der Orks verirrte, dann taten sie einem auch nichts. Vorausgesetzt, er oder sie tat ihnen auch nichts. Reizte man nämlich einen Ork, dann stand es ziemlich schlecht um das leibliche Wohl. Um gegen diese kraftvollen Burschen eine Chance zu haben, bedurfte es einige Männer, die mit Rüstung, Schwert und Axt vom Meisterschmied ausgestattet waren.

Bevor Hieronymus den Thron bestieg, waren die Orks vom Aussterben bedroht. Die Elfen und Menschen fürchteten diese Wesen und bekämpften sie. Wilde Lügen wurden verbreitet, dass die Orks in der Nacht die Dörfer plünderten und Frauen und Kinder verschleppten. Mit Heugabel, Axt und Fackel bewaffnet, zogen die Männer los, um die nicht ganz so schönen Kreaturen zu bekämpfen. Außerdem war der Schädel eines Orks eine begehrte Jagdtrophäe. Ein jeder Mann musste zur Verlobung dem Vater seiner künftigen Braut einen Orkschädel schenken, sonst durfte er sie nicht heiraten. Das sollte dem Schwiegervater in Spe zeigen, dass das neue Familienmitglied Mut besitzt, ein Kämpfer ist und selbst die abscheulichsten Kreaturen der Wälder nicht scheut. Seine Tochter war dann in guten Händen. Hieronymus brach allerdings diese Tradition und verhängte so eine Art Naturschutz über sie.

Den Orks sehr ähnlich waren die Trolle. Es gab zwei Arten von Trollen, die Grautrolle und die Sumpftrolle. Die Grautrolle waren groß, viel größer als die Orks und unglaublich dick. Sie hatten eine bleiche Haut, kleine Augen, eine runde Nase und ebenfalls kein einziges Haar am Körper. Meist lebten sie in kleinen Gruppen in den Höhlen der Berge. Ein kleines Gehirn hatten sie zwar, aber das merkte man kaum. Sie waren dumm und dadurch brandgefährlich. Die monströsen Gestalten überfielen Dörfer und fraßen deren Bewohner und Bewohnerinnen sowie das Vieh in den Stallungen. Ihre Stimmen waren tief und kratzig und ihr Körpergeruch war einfach nur widerlich. Kein Wunder, sie lebten ja in der Wildnis und hatten keine Badewanne aus Lavastein samt Duschbad von Axe.

Außer Riesen und Drachen fraßen sie alles, was sich bewegte, am liebsten gleich roh und blutig.

Die Sumpftrolle sahen völlig anders aus, waren aber eine ähnlich gefährliche Plage und nur eine Spanne größer als die Orks. Sie hatten einen muskulösen Körperbau, waren aber nicht dick und hatten lange Gliedmaßen. Ihr ganzer Körper war mit einem dunkelbraunen Fell bedeckt und ihre Krallen und spitzen Zähne waren scharf wie Messer. Von den Elfen wurden sie auch Sumpfteufel genannt und sie verließen ihre Sümpfe nur selten. Diese Bestien griffen jedes Wesen, das sich den Sümpfen näherte, ausnahmslos an. Wanderer und Jäger mussten daher immer besonders auf der Hut sein.

Weitere lustige Wesen waren die Riesen. Ein Kobold reichte einem ausgewachsenen Menschen bis zum halben Knie und ein ausgewachsener Mensch reichte einem Riesen bis zum Knie. Sie lebten meist in kleinen Gruppen in den flachen Gegenden des Landes und waren Nomaden. Gelegentlich drangen sie in die Dörfer vor, um das Weidevieh zu stehlen. Auch um einen Riesen zu bekämpfen bedurfte es einiges an Personal. Die beste Waffe gegen sie, war ein Pfeil mit einer Spitze aus purem Gold. Er durchschlug den Riesen mühelos. Im Nahkampf waren Menschen, Elfen und Zwerge gegen die langen Burschen chancenlos.

Es gab noch viele andere Lebewesen in Ithrien: Goblins, Gnome, Wassermänner, Greifen, Basilisken, Pelzteufel, Waldteufel, Waldgeister, Berggeister, Waldschrate und was weiß ich noch alles. Darauf gehen wir aber jetzt nicht näher ein, das würde wohl zu lange dauern und ich will euch nicht mit diesen ganzen Einzelheiten langweilen. Sollte später eine von den gerade erwähnten Gestalten vorkommen, dann werde ich selbstverständlich mehr über sie erzählen.

Ja, mein Freund, schauen wir einmal, was da noch so vorkommen wird, das hängt auch stark von meinem Alkoholpegel ab.

Wie bitte? Nein, Riesenspinnen und Rieseninsekten gibt es in dieser Welt keine. Ich habe nämlich eine extreme Phobie vor diesen hässlichen Lebewesen. Da ich fest davon überzeugt bin, dass man diese Geschichte später einmal verfilmen wird und es ein lässiges Videospiel dazu geben wird, baue ich sämtliche Lebewesen, vor denen ich mich fürchte, gar nicht erst ein. Ich habe absolut keine Lust, dann diese Viecher auf der Kinoleinwand zu sehen und in dem Spiel gegen sie zu kämpfen. Daher keine Spinnen und keine Insekten, mein Freund.

Bevor wir zur der eigentlichen Geschichte kommen, die nach dem Tod von Hieronymus spielt, müssen wir noch ein bisschen Geschichtsunterricht nachholen. Keine Sorge, eine Prüfung gibt es nicht. Das, was ich euch jetzt erzähle, ist eigentlich keine Vorgeschichte im klassischen Sinne, sondern schon ein Teil der Hauptgeschichte. Passt alle gut auf, da wir einiges davon später noch einmal brauchen werden. Uns erwartet jetzt ein theoretischer Teil, aber fürchtet euch nicht, ich werde das schon äußerst brillant und kurzweilig erzählen. Wir müssen da durch, sonst kennen wir uns nachher nicht aus. Da unsere Geschichte in späterer Folge noch ziemlich ernst wird, gehen wir das jetzt einmal ganz locker an, los geht’s!

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