Читать книгу PROJEKT KUTAMBATI - Michael Stuhr - Страница 11
13.03.1955 - 20:11 - Allentown, Pennsylvania
Оглавление"Und der Fluch des Herrn wird euch zerschmettern ..." Der junge Reverend Linus van Harp hob beschwörend die Hände.
"Herr sei bei uns", antwortete die Gemeinde.
"Die unkeuschen Wünsche und die verwerfliche Tat werden euch töten ..."
"Herr sei bei uns!"
"Ihr werdet das ewige Leben verlieren ..."
"Herr sei bei uns!"
"...wenn ihr dem Satan nachgebt!"
"Herr sei bei uns!"
"So höret denn! Die unkeuschen Wünsche der Männer und die Wollust der Frauen sind der Welt Untergang! Der Herr hat uns die Welt gegeben, um sie in Demut zu bebauen. In Demut stehen wir vor dem Herrn, der uns Kinder zeugen lässt, auf dass unser Geschlecht stark werde. Vergeudet nicht die Kräfte eures Geistes und den Saft eures Blutes! Verliert euch nicht in Wollust und unzüchtigem Tun! Entwürdigt nicht den heiligen Akt der Zeugung durch widernatürlichen Sex!"
"Halleluja!" Eine junge, unscheinbare Frau schnellte von ihrem Platz hoch. "Herr sei bei uns!"
Ihr Platznachbar, offenbar ihr Mann, zog das Genick ein und wurde aschfahl, während seine Frau sich wieder auf ihren Platz sinken ließ.
"Sei sicher, meine Tochter, du bist nicht allein. Unser aller Kraft ist bei dir. Wenn die Versuchung an dich herantritt, weise dem Satan die Tür! Denke immer daran: Der Herr hat uns die Lust gegeben, um uns zu prüfen.
Ewige Verdammnis - ich sage, ewige Verdammnis ist allen sicher, die sich dem Satan hingeben! Wehret dem Feind, liebe Töchter! Verspielt nicht leichtfertig euer Seelenheil! Rettet euch und eure Familie vor dem Fegefeuer! Verweigert euch, wann immer ihr könnt! Jede Minute der Lust, die nicht der Zeugung dient, schleudert euch und eure Männer in tiefste Verdammnis!
Seid stark, liebe Töchter! Sucht Befreiung im Gebet! Der Herr wird euch helfen! Der Herr wird euch befreien!
Aber seid auf der Hut. Der Böse ist allgegenwärtig und weiß um die Schwäche des Fleisches. Denkt an eure Kinder! Gebt Ihnen ein Beispiel!
Es soll in unserer Gemeinde Ehepaare geben, die sich halbnackt vor ihren Kindern zeigen." Der Blick des Predigers suchte das Ehepaar Weigth.
"Zerstört nicht die Unschuld der kindlichen Seele! Bedenket, die Liebe und das Verlangen zur Zeugung sind von Gott. - Die Schamlosigkeit aber und die unverhüllte Lust am Körper sind vom Teufel!
Ja wollt ihr denn..." brüllte er plötzlich die Weigths an. "...eure Kinder zu Spielbällen der satanischen Triebe machen?"
Frau Weigth schluchzte laut auf. - Die Blicke der ganzen Gemeinde richteten sich auf sie.
"Ich sage euch - ich beschwöre euch - tut Buße! Lasst das Böse nicht in euer Leben dringen! Denkt an die unschuldigen Seelen, die auf euch blicken! Euch allen, liebe Brüder und Schwestern, ist die Zukunft der Welt anvertraut! Lasst eure Kinder und Kindeskinder nicht in dumpfe, finstere Triebhaftigkeit abgleiten! - Lasset uns beten!"
Nach dem Gottesdienst kam die junge Frau, die vorhin aufgesprungen war, nach vorne. Ihr Mann, ein schmaler, blasser Jüngling im grauen Anzug hielt sich ein paar Schritte abseits.
"Reverend van Harp, ich - ich möchte Ihnen danken! Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen. Ich hoffe nur, dass auch Dennis sich besinnt."
"Bleib stark, Peggy! Mit Gottes Hilfe wird auch dein Mann auf den rechten Weg zurückfinden."
Der Versammlungsraum leerte sich langsam. Unsicher schaute Peggy sich nach ihrem Mann um. "Reverend - ich bin ja so unglücklich. Hätte ich doch nie geheiratet!"
"Sei nicht undankbar, Peggy! Der Herr hat dir eine Prüfung auferlegt. Denk an dein Ehegelübde! Stehe deinem Mann bei! Sei stark! Versucht gemeinsam, den richtigen Weg zu gehen!"
"Aber - aber er ist wie ein Tier!" Peggy standen die Tränen in den Augen. "Reverend - helfen Sie mir! Er fasst mich manchmal an - oft - fast jeden Tag! Dann kommt die Lust über mich - wir wollen doch Kinder! - Aber gestern - gestern hat er ..."
"Ja, bitte?" Van Harp beugte sich vor.
"...hat er mich gefragt, ob wir es nicht mal - nicht mal - anders machen können. Verstehen Sie, Reverend? - Anders! - Er hat mich gefragt, ob ich nicht mal auf ihn - auf ihn - draufklettern will." Wild schluchzend warf sie sich dem Reverend in die Arme.
"Mein armes Kind." Über Peggys Schulter hinweg warf er Dennis einen hasserfüllten Blick zu.
"Oh Linus, ich bin so stolz auf dich! Wie wunderbar du wieder gepredigt hast! Die ganze Gemeinde war ergriffen. Und wie du erst diese unmöglichen Weigths ermahnt hast. Ich habe dir ja gesagt, dass es stimmt. Die armen Kinder! Aber die Gemeinde wird sich schon um sie kümmern. Mit Nancy Buchanan und Pearly Tucker zusammen habe ich mir etwas ausgedacht. Jeden Tag wird eine von uns zu den Weights gehen. Die sollen ruhig wissen, dass wir ein Auge auf sie haben. Die Kinder werden uns schon alles erzählen. Pearly ist da sehr geschickt."
"Gut Amy, halt mich auf dem Laufenden." Van Harp stocherte lustlos in seinem Abendessen herum.
"Wie hoch war eigentlich die Kollekte?" wollte er wissen.
"620 Dollar, Linus. Es ist einfach wunderbar, wie der Herr für uns sorgt! Aber du bist auch ein großer Prediger. Es kommen schon Paare vom anderen Ende der Stadt, um dich zu hören."
"620 Dollar?" Linus überschlug schnell die Summe: 91 Personen waren erschienen. Das machte fast 7 Dollar pro Person. Lächelnd lehnte er sich zurück.
"Ich bin jetzt satt, Amy. Du kannst abräumen!"
Amelia Van Harp kümmerte sich seit Jahren liebevoll und energisch um alle Angelegenheiten ihres Bruders. Alle Männer, außer ihrem vergötterten Linus, waren in ihren Augen triebhafte Tiere.
Rastlos sorgte sie mit großem Eifer dafür, dass die Mitglieder der Gemeinde sich ständig überwacht fühlten. Jederzeit konnte sie - oder eine ihrer Freundinnen - überraschend zu Besuch kommen. Die kleinste Unregelmäßigkeit die dabei auffiel, konnte beim nächsten Gottesdienst ein fürchterliches Strafgericht auf die betreffende Familie herab rufen.
"Du treibst die Schäfchen zusammen, damit ich sie bekehren kann", hatte ihr Bruder einmal gesagt. Daraufhin hatte sie ihre Anstrengungen noch verdoppelt.
Unermüdlich suchte und fand sie ihren Lebensinhalt darin, die Gemeinde zu bespitzeln und ihrem Bruder alles zuzutragen, was dieser nur irgendwie in seinen Predigten verwerten konnte. Nebenbei spielte sie bei den Gottesdiensten das Harmonium und sammelte die Opfergroschen ein.
"Wenn das noch ein paar Jahre so weitergeht", schürte van Harp die Träume seiner Schwester, "können wir mit Gottes Hilfe einen eigenen Tempel errichten."
"Wie glücklich wir doch leben, Linus - und wie schön alles noch werden wird!" Amy van Harp sah sich schon als First Lady der zukünftig weltumspannenden "Temple of Heaven Church" an der Seite ihres Bruders. Reverend van Harp hatte im Moment allerdings ganz andere Sorgen.
"Ich muss umdisponieren Amy", ließ er seine Schwester wissen. "Dick hat angerufen. Er will mich unbedingt gleich morgen früh sehen. Er hat scheinbar sehr viel mit mir zu besprechen. Ich muss also heute Nacht noch los."
"Du Ärmster! Warum musstest du aber auch einen Anlageberater in New Jersey aussuchen? Ich finde, der Weg ist einfach zu weit."
"Richard De Rink ist der beste Finanzmann, den ich kenne, Amy. Außerdem ist er ein sehr anständiger Mann - und ich vertraue ihm."
"Ich weiß, Linus! Ich weiß! Ich bin überzeugt, dass du weißt, was du tust."
"Sei sicher, Amy!" Van Harp zog seine Jacke an. "Bis Übermorgen!"
Nach einer halben Stunde Fahrt überquerte van Harp in seinem 47er Hudson die Staatsgrenze nach New Jersey. Langsam zogen links die Lichter von Philipsburg vorüber. Zu dieser späten Stunde waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs. So hatte der Mann am Steuer Gelegenheit, ein wenig nachzudenken.
Diese Fahrten nach New Jersey waren langsam zur Sucht geworden. Damals, als er Dick De Rink kennenlernte, hatte es zunächst ganz harmlos angefangen: Linus war seinerzeit ein armer Prediger ohne jede Ausbildung gewesen, der versucht hatte, seine eigene Gemeinde zu gründen. Ein kleiner ungeheizter Raum diente als Versammlungsort; und Linus war schon froh, wenn sich dort einmal in der Woche zwanzig arme Seelen einfanden, die Zuspruch suchten.
Gegen alles hatte Linus gewettert: Gegen den Krieg, gegen die Trunksucht, gegen den Ehebruch - gegen alles, was sich überhaupt nur denken ließ. Erfolglos!
Die Leute kamen - die Leute gingen. Wer Linus zweimal gehört hatte, ließ sich in der Regel nie wieder sehen. Von einer festen Gemeinde konnte nicht die Rede sein. Die Kollekte überstieg an keinem Abend zwanzig Dollar; und wenn Amy nicht gewesen wäre, hätte sich Linus direkt eine anständige Arbeit gesucht. Doch Amy glaubte an ihren Bruder und trieb ihn mit eisernem Willen zu immer neuen Misserfolgen. In dieser hoffnungslosen Situation tauchte Richard De Rink auf.
De Rink war damals schon ein erfolgreicher Geschäftsmann und wollte nun - auf dem Höhepunkt seiner Karriere - heiraten. Seine Eltern, waschechte Holländer, aus der Gegend von Appeldoorn, hatten davon abgesehen, ihren Jüngsten dem Zwang der Taufe und des Kirchgangs zu unterwerfen. So gehörte er keiner Konfession an.
Seine Braut, die Freundin einer Freundin von Amy, bestand aber auf einer kirchlichen Trauung; und so geriet De Rink an Reverend Linus van Harp, Gründer und Prediger der "Temple of Heaven Church".
So begab sich also Linus am Vorabend der Trauung auf die Reise nach New Jersey. Da er noch keinen Wagen hatte, musste er mit dem Greyhound fahren. Sein Gepäck bestand aus einem einzigen Koffer, der einen Talar, ein Bäffchen, eine Spitzendecke und zwei Leuchter enthielt. Es handelte sich um das gesamte Betriebsvermögen seiner Kirche.
Am folgenden Morgen setzten sich De Rink und van Harp kurz zusammen. De Rink gab Linus die nötigen Anweisungen für die Zeremonie.
Nachmittags veranstaltete Linus dann mit seiner Kirche aus dem Koffer in Dicks Haus den größten religiösen Budenzauber, den Newark je gesehen hatte. Zweihundert geladene Gäste lauschten im Garten von Dicks Villa den Texten, die De Rink selbst geschrieben hatte. Alle waren ergriffen von der Schlichtheit und Sanftmut, die aus den Worten des Predigers gesprochen hatte. Selbst Linus war so gerührt gewesen, dass ihm fast die Tränen gekommen waren, als er dem Brautpaar seinen fragwürdigen Segen erteilte.
"Du hast Talent, Junge! Wir sollten uns zusammensetzen." hatte De Rink ihm später auf der Feier in einer ruhigen Minute zugeflüstert.
Also war Linus wieder nach New Jersey gefahren, als Dick von der Hochzeitsreise zurück war.
Am Ende der langen Besprechung hatte De Rink es geschafft, van Harps Weltbild gründlich zu verändern: "Spezialisierung! - Spezialisierung ist das, wovon wir heute alle leben." Dick war in seinem Element. "Pass mal auf, Linus! Ich habe dir gesagt, was ich von dir halte. Du bist genau der Typ, der bei den Leuten ankommt. Aber was du mir von deiner Kirche erzählt hast, klingt doch reichlich verworren. Für oder gegen was predigst du eigentlich?"
Linus schwieg betreten. Er hatte wirklich noch keinen eigenen Stil gefunden.
"Siehst du? Du weißt es selbst nicht! Du überforderst die Leute, indem du auf alle Schlechtigkeiten der Welt zugleich einschlägst." Dick schüttelte den Kopf.
"Vor noch nicht einmal einem Jahr sind tausende unserer Jungs in Korea getötet worden. Und du sagst deiner Gemeinde, Krieg sei sinnlos und dumm. Die meisten Amerikaner ahnen, dass ihre Kinder, Verwandten und Freunde für nichts gestorben sind. Aber hören will das doch niemand." Beschwörend hob Dick seine Hände.
"Die Leute sind müde, Linus! Sie suchen Vergessen! Dabei trinken sie ganz gerne mal einen. Also solltest du den Alkohol nicht verteufeln. Unehrlichkeit, Lüge und Betrug sind von jeher bestimmende Faktoren in der Geschäftswelt gewesen. Jeder kleine Mann will irgendwann zu einem großen Mann werden. Und jetzt kommst du daher und sagst ihm, dass er nicht schwindeln darf!
Linus, sei mir nicht böse; aber es ist kein Wunder, dass dir niemand zuhören will!"
"Aber was soll ich denn tun, Dick?", flüsterte Linus kläglich in jammerndem Tonfall. In einer hilflosen Geste hob er die Schultern.
"Du musst dich besser verkaufen! Ich habe ein wenig für dich nachgedacht und festgestellt, dass die kleinen freien Kirchen den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen wie Drugstores oder Snackbars. Angebot und Nachfrage bestimmen den Erfolg. - Und vor allen Dingen muss das Angebot richtig sortiert sein!" Dick sah Linus eindringlich in die Augen. "Jetzt denk doch mal nach, Linus! Was interessiert die Menschen seit Adam und Eva am meisten? - Richtig, Sex und Gewalt!" Dicks Augen blitzten, als er fortfuhr: "Nun ist Gewalt für die meisten Menschen etwas, das die anderen ausüben, hier kannst du als Kirchenmann natürlich nicht ansetzen. Aber Sex - Sex macht jeder selber. Und glaube mir, Linus: Millionen von Amerikanern, vielmehr Amerikanerinnen stinkt das gewaltig!"
Linus schaute verlegen zu Boden. Sex war nicht sein Fach. Jedes Mal, wenn er gezwungen war, das Thema in einer Predigt anzuschneiden, bekam er vor versammelter Gemeinde rote Ohren.
"Dank unserer Sonntagsschulen, Mädchengruppen und Frauenvereine", fuhr Dick fort, "ist Nordamerika zurzeit so sexfeindlich, wie kaum ein anderes Land der westlichen Welt. Und genau hier kannst du einhaken!" Dick beugte sich vor und wies mit erhobenem Zeigefinger in seine Richtung.
"Tatsache ist, dass cirka zehn Prozent der amerikanischen Ehefrauen ihren Mann nur noch als Ernährer der Familie betrachten. Stellt der Mann im Bett irgendwelche Ansprüche an sie, rennen sie am nächsten Tag zu ihren Freundinnen und heulen sich aus. Diese bedauernswerten Geschöpfe wollen nur noch ihre Ruhe haben, sie brauchen Beistand! Linus, begreife was ich dir sage! Millionen frigider weißer Amerikanerinnen warten auf ihren Erlöser! - Du kannst es sein!"
Linus nickte nachdenklich, er war bereit zu helfen.
"Verdamme den Sex!" redete Dick auf ihn ein, "Mach die Männer zu Tieren und die Frauen zu Märtyrerinnen - und die Weiber werden dir nachlaufen, wohin du sie auch führst. Du wirst der Racheengel sein, der über den Mann kommt, der seiner lieben Frau zur Mittagsstunde an die Titten greift! Du wirst der gütige Vater sein, dem man die schrecklichsten Sünden beichtet, denn auch die verklemmteste Vorstadtmutti spürt mal so ein gewisses Kitzeln."
Verlegen blickte Hochwürden Linus zu Dick auf. "Meinst du, dass das funktioniert?"
Drei Monate später zog die Gemeinde in einen größeren Raum um. Noch mal zwei Monate später bezogen Amy und Linus ein nettes Appartement, und Linus kaufte sich einen guten Gebrauchtwagen.
"Chucks" In regelmäßigen Abständen blitzte die Neonreklame neben dem Highway auf. Ein riesiger hell erleuchteter Hamburger strahlte vom Dach der Raststätte.
Langsam entspannte sich Linus. Er war nun schon etliche Meilen weit auf New Jersey-Territorium. Allentown und seine Rolle als Rächer der unterdrückten Frauen lagen weit hinter ihm.
Linus war sehr bekannt geworden in den letzten Monaten. Die Frauen vergötterten ihn und beobachteten verzückt jeden Schritt ihres neuen Heiligen. Die Männer dagegen hätten ihn liebend gern erschlagen.
Kurz - das Leben in Allentown war für Linus unerträglich geworden. Er zahlte den Preis aller Prominenten. Wenn er sich wie ein normaler Mensch bewegen wollte, musste er dorthin gehen, wo man ihn nicht kannte.
Chucks Hamburgerstation war so etwas wie ein Signal für Linus geworden. Hier war ein anderer Bundesstaat. Niemand kannte ihn und er konnte sich frei bewegen wie immer er wollte.
Freundlich lächelte das hässliche Pappmaché-Brötchen vom Dach der Raststätte. Linus lächelte zurück und gab dem alten Hudson die Sporen. Plötzlich hatte er es sehr eilig.