Читать книгу Sentry - Die Jack Schilt Saga - Michael Thiele - Страница 5
03 SCHWARZE TRÄNEN
ОглавлениеIn Stoney Creek leben mehr oder weniger fünfhundert Seelen. Im Vergleich mit den zwei weiteren Siedlungen Avenors ist mein Heimatdorf das mit Abstand kleinste.
Cape Travis, die nächstgelegene Stadt, gute drei Tage Fußmarsch östlich gelegen, verfügt bereits über die zehnfache Anzahl an Bevölkerung.
Die Hauptstadt Van Dien, an der azurblauen Moabucht gelegen, kann noch mit zweitausend zusätzlichen Einwohnern aufwarten und stellt damit die größte Stadt Avenors und zugleich Aotearoas dar. Avenor ist somit das am dichtesten besiedelte Gebiet Aotearoas.
Gemessen an der Größe des Landes verliert sich allerdings die Gesamtpopulation von rund fünfzehntausend Menschen. Die Entfernungen zwischen den Siedlungen tragen das ihrige bei. Zwischen Cape Travis, dem westlichen, und Van Dien, dem östlichen Ende Avenors, liegen zweihundertfünfzig Meilen. Die zweihundert Meilen von Van Dien nach Stoney Creek noch hinzugerechnet, ergibt sich die ungefähre Breite Avenors.
Im Süden grenzt mein Heimatland an das alte Kernland Aotearoas, an Otago. Dort, am südlichsten Zipfel, am Willersee, gute tausend Meilen von Stoney Creek entfernt, liegt die Stadt Willer, die älteste Siedlung Aotearoas. Über dreihundert Jahre nach ihrer Zerstörung durch die Opreju leben dort wieder geschätzte anderthalbtausend Menschen.
Noch vor hundert Jahren hatte das anders ausgesehen.
Nur sehr langsam war der Neuaufbau wieder in Gang gekommen. Lange Zeit wagte sich niemand in die Tiefen Otagos oder auch Ergelads, aus Angst vor dort immer noch marodierenden Opreju. Befürchtungen wie diese erwiesen sich letztlich als haltlos, und die Wiederinbesitznahme des Willersees, des einzigen nennenswerten Binnengewässers Aotearoas, konnte erfolgreich angegangen werden. Die Zahl der Siedler wuchs stetig an, und heute wohnen in Willer sogar wieder mehr Menschen als in Lake Sawyer, der fünften und zweitkleinsten Siedlung Aotearoas.
All diesen fünf Städten und Städtchen hatte ich bereits zumindest einmal einen Besuch abgestattet, mit dem Ergebnis, mich in Stoney Creek noch wohler zu fühlen als ohnehin schon. Die Größe und der Lärm Van Diens übertreffen sogar noch die Unruhe, die Cape Travis ausstrahlt. Einzig und allein Willer, mit den imposanten schneebedeckten Gipfeln des Zentralmassivs im Rücken, ist es gelungen, einen Platz in meinem Herzen zu finden. Vielleicht lag es auch an den stillen Wassern des Willersees und an dessen mit düsteren Bäumen gesäumten und Wasserrosen bewachsenen Ufern. Ein See gefüllt mit Trinkwasser stellt für jemanden wie mich, der am Meer aufgewachsen ist, eine Kostbarkeit dar. Dennoch würde ich es nicht einen Augenblick in Erwägung ziehen, dort leben zu wollen. Nein, ich gehöre nach Stoney Creek und Stoney Creek gehört zu mir. Nirgendwo anders spüre ich deutlicher, was Heimat bedeutet, auch wenn mir die Verschlafenheit meines Dorfes mitunter gegen den Strich geht.
Im Vergleich mit den anderen Siedlungen wirkt Stoney Creek ärmlich, zurückgeblieben, ja heruntergekommen. Es gibt nur wenige Gebäude aus Stein, die weit überwiegende Mehrzahl ist aus dem Material gebaut, das es in Hülle und Fülle gibt: Holz. So auch mein Elternhaus, in dem ich lebe, seit ich denken kann. Von dort aus begann ich bereits im zarten Knabenalter die Welt zu erforschen. Zunächst zusammen mit Rob, meinem wenige Jahre älteren Bruder und Beschützer, später auch mit der Handvoll Freunde, denen ich diesen edlen Status verleihen durfte. Viele waren es beileibe nicht. Womöglich lag es an der schon früh tief in mir verwurzelten Sehnsucht nach Zurückgezogenheit. Ich muss für all die anderen ein seltsamer Junge gewesen sein. Schon von klein an strich ich am liebsten allein durch den Wald, wenn möglich den ganzen Tag lang, an den entlegensten Plätzen, wo mir mit Sicherheit niemand begegnete. Dort nahm mich meine Einbildungskraft gefangen und ich versank in meiner eigenen Welt aus seliger Zufriedenheit. Stundenlang konnte ich auf dem Bauch liegend am Eisbach verbringen und den Fischchen zusehen, die sich im kühlen Nass tummelten, einander spielerisch jagten und bei der geringsten Störung pfeilschnell in den Schutz spendenden Schatten der Weidenruten verschwanden.
Später, als ich als Halbwüchsiger gelernt hatte, mit einem Boot umzugehen, eroberte ich das Meer und wagte mich entgegen aller Verbote schon früh hinaus in die Inselwelt der Bay of Islands, wo es so unendlich viel zu entdecken gab. Nicht immer war Rob zugegen, und ich genoss es noch ein Stück weit mehr, die eine oder andere geheime Bucht ganz allein und ohne seine Hilfe oder Aufsicht in Besitz zu nehmen. Die Natur und ich, wir waren eins, wir gehörten zusammen, sie war die Liebe meines Lebens. Nach den Pflichten des Tages, die mit zunehmendem Alter anstiegen, gab es nur eines: bei welchem Wetter auch immer hinaus nach draußen, in den Wald, an den Bach oder auf die See. Dort – und nur dort – lernte ich, was Freiheit und Erfüllung bedeuteten.
Nur wenige Gleichaltrige fanden sich, die meine Leidenschaft mit ähnlicher Inbrunst teilten. Und nur diesen wenigen gewährte ich Zugang zu meiner Welt. Rob als mein Bruder empfand auf vergleichbare Weise, wobei er anders als ich immer einen gewissen Nutzen anstrebte. Ihm genügte es nicht, an einem schönen Ort zu verweilen, umherflatternden Schmetterlingen zuzusehen oder schillernde Vögel zu beobachten. Ihm verlangte es nach Eroberungen anderer Art. Seine Jagdleidenschaft erwies sich als ausgeprägter. Zu einem gelungenen Tag gehörten für ihn ein Netz voller Fische oder ein erlegter Moa, etwas, auf das ich gerne verzichten konnte. Doch zählte das Fischen schon bald zu meinen Pflichten, auch wenn es lange Zeit in Anspruch nahm, bis ich einen Fisch ohne Reue töten konnte.
Wenn auch jene Pflichten von Jahr zu Jahr wuchsen, brachen wir immer wieder aus, nahmen das Boot und verschwanden tagelang in der December Bay, erkundeten Kap Aló, das bereits außerhalb Aotearoas liegt, tauchten in das geheimnisvolle Delta des Angaraflusses ein oder erforschten die Inselwelt vor der Küste Avenors. Manchmal zu zweien, manchmal zu dritt, wenn Robs guter Freund Mats sich hinzugesellte. Aber immer machte es alleine am meisten Spaß, erlebte ich alle kostbaren Einzelheiten intensiver, hinterließen Eindrücke weitaus tiefere Spuren, als wenn ich sie mit anderen teilte. Oh ja, ich muss ein seltsamer Junge gewesen sein.
Dieser Lebensabschnitt, meine Kindheit, eingebettet in ihre unwiederbringliche Unbekümmertheit, liegt bereits weit hinter mir. Mit der Heimkehr von Radan ging die nächste Epoche zu Ende, verlor sich das verspielte Dasein der Jugendzeit mit furchterregender Schnelligkeit. Mit ihr endete die kostbarste Zeit meines Lebens, endete meine Jugend. Und sie erlosch bei Weitem zu früh. Der Name Radan steht stellvertretend für den einschneidendsten Umbruch, den mein Leben je erfahren sollte.
Robs Veränderung vollzog sich in dramatischem Tempo. Mit drückenden Kopfschmerzen und ungewöhnlich dunklem Tränenfluss hatte es angefangen, beunruhigende Vorgänge fürwahr. Schlimmer und tragischer jedoch stellte sich für mich, seit jeher mit überaus sensiblen Sensoren ausgestattet, welche die kleinste Abweichung im Verhalten anderer schonungslos wahrnahmen, sein enormer Verhaltenswandel dar.
Rob schien nicht mehr der Rob zu sein, den ich kannte.
Schon am ersten Tag nach der Heimkehr benahm er sich eigenartig distanziert und sprach nur das Nötigste. Auf unser jüngstes Erlebnis angesprochen, überraschte er mit gegensätzlichen Reaktionen: bald mit übersteigertem Interesse, bald mit unwirscher Ablehnung. Was auch immer in ihm vorging, es konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, dafür kannte ich meinen Bruder zu gut.
Zunächst beruhigte ich mich mit dem tröstlichen Glauben, es würde vorüber gehen. Doch im Gegenteil, am darauffolgenden Morgen wurde die Sache noch ernster. Wie üblich war ich in aller Frühe aufgestanden, damit wir noch vor Sonnenaufgang auf See sein konnten, um die Netze auszuwerfen. Gewöhnlich war Rob vor mir auf den Beinen. Diesmal nicht. Ich fand ihn entkleidet in seiner Kammer, bäuchlings auf dem kalten Boden liegend, als wäre er im Begriff gewesen zu Bett zu gehen, bevor er zusammenbrach. Ein Blick in sein teilweise schwarz verfärbtes Gesicht jagte mir dann so richtig Angst ein. Das flackernde Kerzenlicht in meinen zitternden Händen beleuchtete eine unvergessliche Szenerie. Einen grauenhaften Moment lang griff eine kalte Hand nach meinem laut klopfenden Herzen. Aber nein, er atmete noch, er war nicht tot.
„Rob?“ Meine Stimme zitterte. „Schläfst du?“
Keine Antwort.
Sachte rollte ich ihn zur Seite. Sein Gesicht ruhte in einer dunklen, klebrige Fäden ziehenden Pfütze. Mein Magen verkrampfte. War es Blut? Mit einer befremdlichen Mischung aus Neugierde und Furcht wagte ich einen genaueren Blick, die Kerze so nahe wie möglich neben Robs Antlitz haltend. Unvermittelt schlug er die Augen auf. In seinem Blick lag etwas Feindseliges, zutiefst Bösartiges. Erst als seine rissigen Lippen Worte formten, verschwand der unheilvolle Ausdruck aus seinen schwarzgeränderten Augen.
„Jack? Bist du es?“ flüsterte er.
Ich nickte. „Was ist passiert?“
„Mir ist kalt. Furchtbar kalt.“
Kein Wunder, wer weiß wie lange er schon nackt und bloß auf dem kalten Bretterboden lag. Ich half ihm auf. Sein Körper fühlte sich wie ein Eisblock und mindestens ebenso hart an. Erst als er gut zugedeckt im Bett lag, beruhigte ich mich wieder ein wenig.
„Was ist passiert?“ wollte ich erneut wissen.
„Müde“, kam die schwache Antwort, dann schlossen sich seine Augen. An diesem Vormittag war kein Wort mehr aus ihm herauszubekommen. Nachvollziehbar war mir die Lust zum Fischen vergangen.
Im Verlauf des weiteren Tages sah ich mehrmals nach ihm, doch er schlief tief und fest. Meine Sorgen zogen weite Kreise. Mehrmals verwarf ich den Entschluss, unseren Vater zu Rate zu ziehen. Nein, ihn damit zu behelligen machte wenig Sinn. Seit Mutters Tod hatte er sich tief in seine innere Welt zurückgezogen, die er mit niemandem teilte. Ich wollte ihn nicht beunruhigen. Jedenfalls noch nicht.
Kurz vor Sonnenuntergang verließ Rob sein Lager. Ich sah ihn im Garten Wasser aus dem Brunnen schöpfen und stand auch schon neben ihm. Tatsächlich schien er sich nicht an das zu erinnern, was sich gestern des Nachts zugetragen hatte. Immerhin sah sein Gesicht wieder normal aus. Alles in allem wirkte er erfrischt und gestärkt. Beim Zubereiten der Abendmahlzeit half er nur wenig und aß noch weniger.
„Hast du schon einmal daran gedacht, Marten wegen deiner Augen aufzusuchen?“ warf ich betont nebensächlich auf. Robs Abneigung gegen alles, was auch nur im Entferntesten mit einem Medikus zu tun hatte, war mir wohlbekannt. Spätestens seit dem frühen Tod unserer Mutter hatte er jegliches Vertrauen in die wenigen Heilkünstler Stoney Creeks, die Blutegel, wie er sie nannte, verloren.
„Ich sehe keinen Grund“, kam die knappe Antwort.
„Aber ich sehe einen Grund.“ Mein suchender Blick fand den seinen. Eine ungewöhnliche Situation für beide von uns. Rob war nicht dafür bekannt, gut gemeinte Ratschläge anzunehmen, schon gar nicht welche seines jüngeren Bruders. Glücklicherweise fand ich mich nicht unbedingt oft in dieser unangenehmen Lage wieder.
„Was geht‘s dich an?“ Seine abweisende Haltung erstaunte keineswegs. Die Kraftlosigkeit seiner Ablehnung schon eher.
„Eine Menge, wie ich finde.“
„Das geht schon wieder vorbei, keine Sorge.“ Damit erhob er sich. „Kalt heute Abend. Ich leg‘ mich wieder hin.“
Ich sah ihm nach. Der Frühling lag zwar erst seit kurzem in der Luft, doch von einem kühlen Abend konnte nicht die Rede sein, empfand ich doch gerade die letzten Tage als ungewöhnlich warm für die Jahreszeit.
Anderntags wirkte Rob wie verwandelt. Er sprühte vor Tatendrang, konnte es gar nicht abwarten, zum Fischfang zu gehen. Wieso er mich nicht dabeihaben wollte, erklärte er nicht. Also ließ ich ihn gewähren. Nichts Ungewöhnliches an sich. Zuweilen zog mein Bruder ähnlich wie ich die Einsamkeit vor. Doch bei all den Ungereimtheiten seit der Rückkehr von Radan vermutete ich hinter jeder seiner Äußerungen und Taten etwas Befremdliches.
Lange sah ich dem Boot hinterher, das in nordöstlicher Richtung verschwand. Mehrfach beschlich mich das unangenehme Gefühl, ihn nicht alleine hätte ziehen lassen zu dürfen. Den ganzen langen Tag über machte ich mir Vorwürfe, zu schnell nachgegeben zu haben. Was, wenn ihm etwas zustieß? Noch nie hatte ich mir um meinen Bruder Sorgen gemacht, er genoss mein vollstes Vertrauen. Wieso hatte sich das geändert? Zweifellos war er körperlich angeschlagen, schon allein der Zustand seiner Augen bekundete es. Inwieweit konnte ich, ja durfte ich, weiter in ihn dringen, einen Medikus aufzusuchen, ohne das Gegenteil zu bewirken?
Der Abend brach an, die ersten Boote kehrten heim, unter ihnen auch Krister und Scott. Geduldig wartend saß ich am Strand und beobachtete sie beim Ausladen.
„Hey, Krister. Na, wie war’s?“ rief ich ihnen zu, wenn auch es mich augenblicklich nicht im Mindesten interessierte.
„Ordentlicher Fang heute. Wenn ihr wollt, kommt später rüber, wir haben eine Menge Scharen gefangen, das gibt einen Festschmaus. Ist Rob noch draußen?“
Ich nickte. Krister bemerkte meine Anspannung, ging aber nicht näher darauf ein, auch wenn ich es mir gewünscht hätte. Er erneuerte lediglich seine Einladung.
Rob kehrte erst Stunden später zurück. Ein spektakulär strahlender Ebrod half dabei, ihn endlich ausfindig zu machen. Lange war ich mir nicht im Klaren darüber, ob er es überhaupt war, doch innerlich siegte schon früh die Überzeugung, selbst wenn unser Boot aus der Ferne wie alle anderen aussah. Zu dieser vorgerückten Stunde befanden sich nicht mehr viele Fischer auf dem Meer. Um meinem Bruder nicht den Eindruck zu geben ich überwachte ihn, entfernte ich mich von unserer Anlegestelle und ging ein Stück den Strand hoch, um dort zu warten. Wenn er einen guten Tag gehabt hatte, würde er hilfreiche Hände brauchen und meine Anwesenheit ohnehin begrüßen. Dennoch wollte ich es nicht so offensichtlich aussehen lassen.
Warum um alles in der Welt beschlich mich mit jedem Meter, den der Kahn näherkam, ein ungutes Gefühl? Irgendetwas stimmte nicht. Wieso kroch das Boot so langsam heran? Gut, es herrschte bereits ablandiger Wind, aber von großräumiger Luftbewegung keine Spur. Dann erkannte ich endlich, was mich störte.
Das Boot war leer!
Ich sprang auf die Füße. Verbarg sich Rob hinter dem Segel und entzog sich somit meinen Blicken? Er musste an Bord sein, von selbst konnte das Boot unmöglich zurückgefunden haben.
An der Wasserlinie blieb ich stehen und wartete ungeduldig die letzten Meter ab. Aufgrund des kaum vorhandenen Wellengangs steuerte das Boot ohne nennenswertes Schaukeln gemächlich auf die Küste zu. Erst kurz bevor es auf Grund lief, machte ich schließlich alle Einzelheiten aus. Es saß in der Tat niemand am Steuer. Dennoch war der Kahn nicht führerlos. Rob lag reglos auf den Planken, den Kopf nach achtern gerichtet. Sein rechter Arm hielt das Ruder in der Ellenbeuge umklammert.
Ich zog das Boot den Kies hoch und sprang hinein. Nicht ein einziger Fisch war an Bord. Just in diesem Moment zog sich Ebrod hinter eine Wolke zurück. Nur noch schemenhafte Umrisse ließen sich ausmachen. Aufgewühlt kniete ich nieder und drehte meinen Bruder auf den Rücken. Trotz der miesen Lichtverhältnisse entgingen mir die dunklen Flecken auf seiner in deutlich helleren Tönen schimmernden Gesichtshaut nicht. Er starrte mich aus zwei milchig leuchtenden Augen an. Für einen Augenblick blitzten zwei Reihen Zähne auf, als beabsichtigte er mich zu beißen. Ich zuckte instinktiv zurück und hielt alarmiert inne, als der Mond wieder aus der Wolke hervortrat. Ich musste mich geirrt haben. Robs Augen sowie sein Mund waren geschlossen. Nur die dunklen Flecken blieben. Und ich hatte sehr wohl eine Ahnung, wovon sie herrührten. Morgen würde ich Marten um einen Hausbesuch bitten, auch wenn sich jemand mit Händen und Füßen dagegen wehren sollte! Erst nach mehrmaliger Wiederholung seines Namens und mit Hilfe zweier Ohrfeigen schlug Rob die Augen auf.
„Rob, was ist geschehen?“
„Müde…“, kam die Antwort, und ich fühlte mich auf verwirrende Weise an den gestrigen Morgen erinnert.
„Kannst du gehen?“ Umständlich half ich ihm auf die Füße. Nur meiner Hilfestellung verdankte er es, nicht sofort wieder einzuknicken. Wie einen alten Mann stützte ich ihn auf dem Weg ins Haus. In dieser Situation hätte ich so gerne unseren Vater ins Vertrauen gezogen, so überfordert fühlte ich mich. Aber er schlief bereits, so verschob ich dieses Vorhaben auf den kommenden Morgen. So konnte es nicht mehr weitergehen. Rob war zweifellos krank und benötigte Hilfe. Gleich morgen früh würde ich dafür sorgen, dass er sie auch bekam.
Rob fiel mit dem Gesicht zuerst auf sein Bett und blieb reglos liegen. Wie ein Kleinkind zog ich ihm die feuchten Klamotten vom Leib. Die Kälte seiner Haut irritierte. Bis zum Hals zugedeckt lag er endlich da. Besorgter denn je ließ ich mich auf der Bettkante nieder und beobachtete ihn im Licht der leise flackernden Kerze. Die schwarzen Flecken unter seinen geschlossenen Augen starrten mich feindselig an. Gerade als ich mich dazu entschlossen hatte, sie mit einem Tuch wegzuwischen, schlug Rob die Augen auf. Eigentlich ein gutes Zeichen. Doch gefiel mir nicht die Art, wie er sie aufschlug. Es geschah zu schlagartig und passte nicht zu seiner geschwächten körperlichen Verfassung.
„Wie geht es dir?“ flüsterte ich.
Rob schluckte.
„Nicht gut“, kam die schwache Antwort. Diese beiden Worte, so besorgniserregend sie sich auch anhören mochten, trugen paradoxerweise zu meiner Beruhigung bei. Seine eigene Schwäche eingestehend würde er die Anwesenheit eines Medikus womöglich eher zulassen.
„Hast du Schmerzen?“
Rob verneinte.
„Was geht hier vor?“ fragte ich ihn. „Seit unserer Rückkehr aus Radan stimmt etwas nicht mit dir.“
Von einer Sekunde auf die andere zeigte mir Rob auf alarmierende Weise, wie viel ungeahnte Kraft noch in ihm steckte. Ich fuhr regelrecht zusammen, als er fauchte: „Ich will dieses Wort nicht mehr hören! Lass es!“
Aus großen Augen musterte ich den fremdartig gewordenen Bruder, der nach dieser Anstrengung in sich zusammensank. Mit geschlossenen Lidern und energieloser Stimme wisperte er: „Ich bin so müde… so sehr müde.“
Für einen minimalen Moment drängte sich der absurde Eindruck auf, vor mir zwar äußerlich meinen Bruder zu haben, in seinem Inneren aber schienen zwei völlig verschiedene Wesen zu hausen, die mal mehr mal weniger die Oberhand erlangten. Die pure Abwegigkeit dieses irrsinnigen Gedankens ließ ihn mich auch schnell wieder beiseiteschieben. Nicht die leiseste Ahnung hatte ich, wie erschreckend nahe ich für einen verschwindend kurzen Atemzug der Wahrheit gekommen war. Wie hätte ich es zu jenem Zeitpunkt auch ahnen sollen? Selbst wenn, was hätte ich tun können, um meinem Bruder beizustehen? Nichts.
Bevor er hinweg dämmerte, öffneten sich seine Augen noch einmal. Langsam, ganz langsam, teilten sich die Lider. Schwarze Tränen drängten hervor, die im schwachen Kerzenlicht wie Blut aussahen. Endlich fand er meinen Blick. Seine Lippen bebten.
„Was willst du mir sagen?“ Ich brachte das Gesicht nahe an seines.
Rob stammelte etwas Verworrenes. Verständnislos sah ich ihn an. Dann begriff ich. Er hatte Angst. Todesangst. Seine eiskalte Hand berührte die meine. Dies geschah unerwartet, und ich erschrak unwillkürlich.
„Rob, bitte sag, was hier vorgeht! Ich werde Vater holen. Das hätte ich schon viel früher tun müssen.“
Da griff seine eiskalte Hand fest zu und hielt mich zurück. Überrascht nahm ich sein Kopfschütteln zur Kenntnis.
„Nein“, raunte er so energisch wie unter diesen Umständen möglich. „Er hat keinen Zugang dazu… hol ihn nicht, bitte!“
„Keinen Zugang? Wovon sprichst du?“
„Hör mir zu!“ Seine Worte kamen genau so stoßweise wie sein Atem. Das Sprechen fiel ihm von Sekunde zu Sekunde schwerer, als umklammerte eine unsichtbare Hand seine Kehle. „Ich habe nicht viel Zeit, es ist stärker geworden. So viel stärker.“ Das blanke Unverständnis in meinen Zügen mahnte ihn zur Eile. „Lass mich nicht alleine! Lass mich nicht alleine, hörst du?“
„Ja, ich bleibe heute Nacht bei dir.“
„Nein, das meine ich nicht. Gib mich nicht auf! Bleib bei mir, hörst du? Gib mich nicht auf!“ Diese letzten Worte waren nur noch ein heiseres Krächzen, dann versiegte seine Stimme. Robs Augen schlossen sich. Seine Hand löste sich aus der meinen. Dann lag er ruhig da. Schwach ging sein Atem.
„Nein, ich werde dich nicht aufgeben.“ Angst hielt mein Herz umklammert. Wohlbegründete Angst um den geliebten Bruder. Unversehens verschleierten heiße Tränen meinen Blick. „Niemals, hörst du? Niemals! Ich verspreche es.“
Wie viele Stunden ich neben ihm wachend und grübelnd zubrachte, bis mich der Schlaf übermannte, weiß ich heute nicht mehr. In jener Nacht kehrte er zurück, der gleiche Traum, den ich bereits auf Radan geträumt hatte. Wieder trug ich den schweren Stapel Bücher. Wieder folgten mir die dunklen Schatten. Zwischen den freiliegenden Wurzeln abgestorbener Bäume lag Rob. Starr und kreidebleich, die Augen weit geöffnet. Schwarze Tränen flossen unaufhörlich heraus, ein pulsierender Sturzbach aus zäher Tinte. Er war nicht mehr zu retten, dessen war ich mir überraschend gewiss. Dennoch wollte ich nur noch zu ihm und ließ die verfluchten Bücher achtlos fallen. Wie eine Wand schoben sich daraufhin die Schatten zwischen Rob und mich, vernebelten jede Sicht und ließen mich nicht passieren. Was immer ich auch versuchte, ein Durchkommen war unmöglich. Schließlich gab ich es auf. Mein Blick fiel auf die zu meinen Füßen verstreuten Bücher, die zu Staub zerfielen, als liefen Jahrzehnte in Sekunden ab. Ich sah auf. Die Schatten waren verschwunden. Und Rob mit ihnen.
Am Morgen sah ich den Traum verwirklicht. Mit angewinkelten Beinen lag ich vor Robs Bettstatt, mein Oberkörper ruhte in unbequemer Position am Fußende. Das Bett war leer. Keine Spur von Rob.
Ein kurzer Blick durch die Kammer genügte, um mir zu sagen, dass sowohl sein Rucksack als auch der Langbogen fehlten. Mit flauem Gefühl im Magen rannte ich aus dem Haus und den Kiesweg hinunter ans Meer. Sicher war Rob im Morgengrauen kurzerhand zum Fischen aufgebrochen, wie er es oftmals tat, wenn ihn etwas beschäftigte. Wozu in aller Welt benötigte er auf See seinen Bogen mit den Pfeilen? Das Boot lag am Strand an genau der Stelle, an der ich es gestern Abend zurückgelassen hatte. Dann war er mit Sicherheit jagen. Das machte auch am ehesten Sinn. Innerlich aufgewühlt ging ich zum Haus zurück. Der Druck in der Körpermitte intensivierte sich. In diesem Moment wusste ich, Rob war fort. Hatte er mich nicht gebeten, auf ihn achtzugeben, ihn nicht alleine zu lassen? Wäre ich nicht eingeschlafen, wüsste ich wo er sich befand, wohin er gegangen war. Ich hätte ihm folgen und mein Versprechen halten können.
In meiner Verzweiflung wurde mir klar, mein Schweigen brechen zu müssen. Das Verlangen, mich anzuvertrauen, wurde unwiderstehlich. Naturgemäß suchte ich sogleich nach unserem Vater, der jedoch weder im Haus noch in der Werkstatt war. Also eilte ich wieder zum Strand hinunter, in der Hoffnung, ihn dort irgendwo zu finden. Stattdessen lief mir Krister Bergmark über den Weg. Mein besorgter Gesichtsausdruck schien Bände zu sprechen.
„Jack, was ist los? Du siehst aus, als wärst du dem Leibhaftigen begegnet.“
„Rob ist fort“, sprudelte es aus mir heraus. „Hast du meinen Vater gesehen? Ich muss ihn finden!“
Krister schüttelte verständnislos den Kopf. Er spürte intuitiv den Ernst der Situation. „Nun mal langsam, immer schön der Reihe nach. Was meinst du damit, Rob ist fort?“
Den Tränen nahe sah ich Krister Bergmark an und wusste, meinen Vater nicht länger suchen zu müssen, um mich jemandem anzuvertrauen.
Wir erreichten Radan bei bestem Wetter gegen Mittag des folgenden Tages. Nicht die Spur einer Wolke trübte den tiefblauen Frühjahrshimmel. Warmer Wind schickte das erste vollmundige Versprechen auf den nahenden Sommer. Ich hatte die Nacht kaum ein Auge zugemacht und war wie nicht anders zu erwarten während der Überfahrt in tiefen Schlaf gefallen. Wieder quälten mich flüsternde Stimmen, erschienen geisterhafte Schatten, die mich bisher nur auf meinen nächtlichen Irrfahrten heimgesucht hatten. Nun stellten sie sich auch am Tage ein. Hier mitten auf der Tethys, in einem kleinen Boot, welches auf dem Weg zum Ursprung allen Übels war. Mehrere Male, wie Krister mir nachträglich berichtete, war ich im Schlaf unruhig geworden und hatte zu sprechen begonnen, einmal sogar um mich geschlagen. Er hütete sich jedoch davor, mich zu wecken. Ich hatte ihm erzählt, wie meine Nächte seit der Rückkehr von Radan aussahen, und ihm war klar, dass jede Minute Schlaf eine Kostbarkeit darstellte.
Kurz vor der Ankunft erwachte ich ruckartig. Zu laut waren sie geworden, die spitzen Schreie, die in meinem Innersten nachhallten. Mir war, als lebte ich den Schmerz eines gepeinigten Wesens nach, eines Wesens, das mich dazu erkoren hatte, sein Leid in diese Welt zu tragen. Konnte es sich um Rob handeln? Lotste er mich auf diese verfluchte Insel zurück?
Krister war meinen Anweisungen gefolgt und am westlichen Ende der hufeisenförmigen Bucht ganz im Süden Radans gelandet. Hellwach übernahm ich nun das Ruder und steuerte auf den Küstenabschnitt zu, an dem Rob und ich vor wenigen Tagen gestrandet waren.
Wie oft waren wir im Laufe unseres Lebens schon hier gewesen? Unzählige Male. Auckland, die größere Nachbarinsel, wies bei weitem die schöneren Strände auf, weswegen wir meist sie wählten, wenn es darum ging, ein paar Tage von zu Hause weg zu verbringen. Womöglich lag es auch an den Moas, die es auf Auckland gab, wenn auch es sich nur um eine kleinere Art handelte als auf dem Festland. In dieser Hinsicht hatte Radan wenig zu bieten. Dafür brannte sich die Insel nun auf ganz andere Art und Weise in meine Erinnerung ein.
Wir legten an exakt der gleichen Stelle an, die Rob gewählt hatte, um den gebeutelten Kahn wieder seefest zu machen. War das wirklich erst weniger als eine Woche her? Als meine Füße Radans Boden berührten, ging ein befreiendes Seufzen durch mein Inneres. Abermals fragte ich mich, wer oder was hier seinen Willen durchsetzte.
„Wo ist sie denn nun, diese geheimnisvolle Höhle?“ Krister vertäute das Boot gewissenhaft und sah mich dann fragend an.
„Keine fünf Minuten von hier.“ Wir stapften den Strand hoch, gingen genau denselben Weg wie Rob und ich es vor noch nicht all zu langer Zeit getan hatten. Schon von weitem sah ich sie. Der dunkle Schlund im Kliff wirkte wie der Eingang zur Unterwelt, er gähnte mir schon von weitem entgegen. Mir schauderte beim Gedanken an das Skelett, das darin lag. Unschlüssig blieb ich stehen.
„Und jetzt? Gehen wir nicht hinein?“ erkundigte sich Krister.
Ohne eine Antwort zu geben kramte ich Feuersteine hervor und entfachte eine Fackel. Tief durchatmend setzte ich mich schließlich in Bewegung. Krister folgte dicht hinterdrein. Den muffigen Geruch im Innern der Höhle hatte ich das letzte Mal gar nicht wahrgenommen. Lag es an dem Knochenmann, der seit Tagen freilag und still vor sich hin moderte? Nein, das war unmöglich, an ihm war nun wirklich nicht mehr viel dran, das modern konnte.
Die prasselnde Flamme leuchtete jeden Winkel aus. Dort war der Platz, an dem ich mit dem Brummschädel meines Lebens von den Toten erwacht war. Mit gemischten Gefühlen machte ich die nächsten Schritte. Der innere Widerstand traf mich unvorbereitet. Was in aller Welt sperrte sich derart dagegen, diesen Ort wieder zu betreten?
Ja, da lagen sie, die mysteriösen Schriften, deren Entdeckung ich am liebsten ungeschehen machen würde. Krister staunte nicht schlecht, als ich ihm zwei Bücher in die Hand drückte, die er betrachtete wie einen noch niemals zuvor ins Netz gegangenen Fisch. Schriftgut jeder Art war ihm von jeher ein Gräuel, und ich bin nie ganz sicher gewesen, ob er überhaupt ordentlich lesen konnte.
„Hier, die Reste der Mauer. Dahinter liegt auch das Skelett, und es hatte ordentlich Lektüre in den letzten paar hundert Jahren“, sagte ich lapidar.
„Ja, und sie schien nicht sehr interessant gewesen zu sein. Der arme Kerl ist wahrscheinlich an Langeweile krepiert.“
Erstmals gab der abgetrennte Teil der Höhle seine wahren Ausmaße preis. Und die waren bei weitem nicht sonderlich aufregend. Überall lagen sie verstreut auf einer Fläche nicht größer als der meiner Kammer zuhause in Stoney Creek, jene Schriften, die ich vor nicht all zu langer Zeit wieder achtlos an ihren angestammten Platz geworfen hatte.
„Vorsicht!“ warnte ich. „Noch einen Schritt weiter und du trittst deinem armen Kerl mitten ins Gesicht.“
Krister ging in die Knie und räumte einige Bücher von dem Toten herunter.
„Herrje, du hast Recht, der liegt schon etwas länger hier. Die Knochen sind ja schon zerbröselt. Was haben wir denn hier?“
„Was machst du denn da? Würdest du das Gerippe bitte in Ruhe lassen?“
„Stell dich nicht so an! Sieh mal! Ist der nicht wunderschön?“ Krister hielt mir sein Fundstück entgegen. Zuerst dachte ich, es sei ein dunkler Kiesel, dann sah ich jedoch im Licht der Fackel die metallene Fassung. Ein Ring! Kein wirklich ansehnlicher, aber ein Ring. Wenige Sekunden später steckte er bereits an Kristers Finger. Als er mein entrüstetes Gesicht sah, erwiderte er nur: „Der Knochenmann hier wird ihn sicherlich nicht mehr brauchen.“
Ich verbiss mir den passenden Kommentar, ließ nur ein gezischtes „Grabräuber!“ durch die Zähne entwischen und machte mich daran, die ersten Bücher aufzusammeln.
„Ich begreife immer noch nicht, wo du einen Zusammenhang zwischen diesen Wälzern und Robs Verschwinden siehst.“ Krister richtete sich wieder auf.
„Denkst du etwa ich? Deswegen sind wir hier. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als den ganzen Haufen Geschmier genauestens unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht finden wir einen Hinweis, der uns weiterhilft.“
Mein guter Freund sah mich zweifelnd an. Sein Blick stimmte mich angriffslustig, nahm er mir doch von der wenigen Zuversicht, die noch vorhanden war.
„Was sollen wir sonst tun?“ rief ich und zeigte damit ungewollt, wie wenig ich selbst an den Erfolg der ganzen Aktion glaubte. „Ich sehe nur diese Möglichkeit.“
„Du hast ja Recht. Los, bringen wir den ganzen Mist raus!“
Nun begann die eigentliche Arbeit, das erneute Aussortieren. Ging ich anfangs noch mit Sorgfalt vor, änderte sich das relativ schnell. Was noch nicht völlig kaputt war, war es spätestens, nachdem Krister oder ich es inspiziert hatten. Leserliche Passagen rissen wir achtlos heraus und stapelten sie neben einem immer höher werdenden Haufen Abfall. Jeder Fetzen Information konnte von Nutzen sein, nichts von dem, was für uns verständlich war, durfte verloren gehen.
„Das meiste Zeug ist in einer Sprache geschrieben, die kein Mensch lesen kann“, sagte Krister irgendwann. „Was machen wir damit?“
Ich zuckte mit den Achseln.
„Hier lassen, denke ich. Wenn wir es nicht entziffern können, wer dann? Ich habe nicht die Absicht, irgendetwas davon irgendjemandem zu zeigen. Wem auch?“
Krister nahm dies nickend zur Kenntnis.
Alsbald hielt ich die Sammlung vergilbter Landkarten in den Händen, die Rob vor wenigen Tagen, als die Welt noch in Ordnung schien, so beeindruckt hatte. Ich öffnete den zerbröselnden ledernen Umschlag und nahm die erste Karte heraus, die den nordöstlichen Teil Gondwanalands darstellte. Meine Augen suchten und fanden Stoney Creek ganz im Nordwesten. Dann wanderten sie langsam nach Süden, durch Aotearoa, über das Zentralmassiv hinein nach Laurussia mit seiner alten Hauptstadt Hyperion und weiter über die Verfluchten Berge in ein Land, das ich nach einigen Mühen als „Ar-Nhim“ entzifferte.
Ich stutzte. Diesen Namen hatte ich doch schon einmal gelesen. Ob er dem Vokabular der Opreju entlehnt war? Oder der Uhleb?
Ah, dort lag also die Große Caldera, im Herzen Yalgas. Und am unteren linken Kartenrand ein riesiges Gewässer, der Taorsee. Obwohl schon beträchtlich lädiert, waren einige wenige Farben erhalten geblieben, vor allem das tiefe Blau der Gewässer und das Eisenbraun der Gebirge. Hier und da fanden sich noch olivgrüne Tupfer, die einst stilisierte Wälder kolorierten. Als ich mit dem Fingernagel sacht über das Kobaltblau der Tethys strich, bröckelte Farbe ab und hinterließ den Hauch eines Schattens auf nacktem, vergilbtem Pergament. Behutsam schloss ich den Umschlag wieder, stufte ihn als wertvoll ein und bettete ihn vorsichtig in den Sand. Neben anderen Schriften, die ich bereits durchforstet hatte, fiel mir auch das Tagebuch von Philip J. Patterson wieder in die Hände. Ich nahm mir vor, es genauer zu studieren und legte es ebenfalls beiseite.
„Dies hier dürfte so etwas wie eine Chronik sein“, meldete sich Krister. „Nach Jahren sortiert, so wie es aussieht. Beginnt im Jahre 51.“
„In unserer Sprache geschrieben?“ erkundigte ich mich leicht abwesend.
Krister warf mir den schweren, großformatigen Band zu.
„Und ob. Aber pass auf, die Seiten sind lose!“
„Gar nicht mal so schlecht erhalten.“ Beim Öffnen des Einbandes fiel mir der halbe Inhalt entgegen. Poröse, zum Teil aufklappbare Innenseiten verschieden großer Formate mit mehr oder weniger gut erhaltenen gedruckten Illustrationen aller Art weckten mein Interesse. Detailgetreue Bilder von Tieren, die ich nur zum Teil erkannte. Akribisch genau wiedergegebene Pflanzen und Bäume. Herrliche Landschaftsabbildungen, Fotografien, wie ich annahm. Die Kunst des Fotografierens war nach dem Großen Krieg verlorengegangen. Wohl gerade deswegen faszinierten mich Fotografien so sehr. Eine Menge Aufnahmen von wunderschön gemauerten Häusern mit meisterhaft gearbeiteten Fassaden, überdachten Terrassen und kunstvoll verzierten Säulen. Ansichten einer großen Stadt, die vom Meer bis in die Berge reichte. Womöglich bestand sie aus den vielen schönen Häusern, die ich ein paar Seiten vorher bewundert hatte. Dann folgten mehrere Darstellungen von grotesk anmutenden, walzenförmigen Gebilden auf vier oder auch sechs Laufrädern, darunter welche mit starr abstehenden, flügelartigen Auswüchsen.
Sehr eigenwillig.
Aber das Beste daran: alle Abhandlungen, jede Notiz war in unserer Sprache geschrieben. Es würde sich also für alles eine Erklärung finden. Mein Interesse wuchs von Seite zu Seite. Beim ersten Mal war mir dieser Band gar nicht aufgefallen. Das versprachen lange Abende zu werden. Ich konnte es kaum erwarten, das Bild von Gondwana korrigiert zu sehen.
Der gebratene Speck roch köstlich. Krister legte noch einen Armvoll Feuerholz nach. Inmitten der Glut schmorten Kartoffeln in ihrer Schale. Erst jetzt bemerkte ich, wie hungrig ich war und vergab Krister, der mich irgendwann hatte alleine sitzen lassen, um sich so etwas Niederem wie der Verköstigung zu widmen. Da wir davon ausgegangen waren, die Nacht auf Radan zu verbringen, durfte es natürlich nicht an Proviant fehlen. Dafür war bestens gesorgt. Als Krister ein Dutzend Eier aufschlug und in dem ausgelassenen Speck anbriet, war es endgültig um mich geschehen. Hungrig wie ein Wolf fiel ich über meine Ration her.
„Schon irgendetwas Aufschlussreiches herausgefunden?“ fragte Krister mit vollem Mund.
Ich schüttelte den Kopf. Davon war ich auch nicht ausgegangen. Das genaue Studium der Funde würde wahrscheinlich Tage in Anspruch nehmen. Immerhin hatte sich ein ansehnlicher Berg von verwertbarem Material angesammelt. Ich brannte darauf, den vielen verwelkenden Seiten ihr Geheimnis so schnell wie möglich zu entlocken, als erwartete ich in Bälde ihren unwiderruflichen Zerfall.
Bis zum Sonnenuntergang hatte ich es schließlich geschafft, die Spreu vom Weizen zu trennen. Krister stopfte die Ausbeute in zwei Leinensäcke, die wir zum Boot schleppten. Während er das Nachtlager direkt am Strand bereitete, machte ich mich daran, die aussortierten Schriften, die sich noch immer auf dem nackten Sandboden türmten, in die Höhle zurückzubringen. Bedeutend behutsamer als beim erstenmal stapelte ich sie hinter der zusammengestürzten Mauer auf, akribisch darauf achtend, nicht auf unseren armen Kerl zu treten. Nachdenklich ging ich in die Knie und betrachtete im Licht der Fackel die Überreste des Toten. Er lag auf dem Rücken, ganz so als wäre er im Schlaf gestorben. Jedenfalls redete ich mir das ein.
Das Skelett erschien männlich, ich führte es auf die markanten Muskelansätze zurück, vor allem an den beiden Hüftkämmen. Der Unterkiefer war kräftig geformt, mit ausstehenden Kieferwinkeln, die Zähne zum Teil ausgefallen. Wie er wohl umgekommen war? War er wirklich bei lebendigem Lein eingemauert worden, wie Rob vermutet hatte, oder schon vorher tot gewesen? Diese Frage würde wohl für immer unbeantwortet bleiben. Irgendwie fühlte ich mich schuldig. Wer weiß wie viele Jahrhunderte der arme Kerl seinen Schatz bewacht hatte, bevor ich daherkam und ihn ihm für immer entriss.
Mein Blick fiel auf den rechten Ringfinger des Toten. Er war glatt in der Mitte durchgebrochen. Krister war beim Ablösen des Rings nicht zimperlich umgegangen. Kopfschüttelnd richtete ich mich wieder auf und blieb unschlüssig stehen. Hatte sich der Tote nicht ein anständiges Grab verdient? Der fortgeschrittene Zerfall sprach dagegen, die porösen Knochen umzubetten. Nein, hier, wo er seit einer halben Ewigkeit lag, sollte er auch bleiben. Ich beschloss, das Gerippe wenigstens notdürftig zu bedecken, jetzt wo es so offen dalag und keine Mauer mehr Schutz spendete.
Kurz entschlossen häufte ich mit Armen und Händen Sand und Kies an. Dabei berührte ich mit den Handkanten einen vergrabenen Gegenstand, der zuerst an einen Schaufelschaft erinnerte. Doch organische Substanz hätte längst vermodert sein müssen, und meine forschenden Finger erkannten sehr schnell, dass es sich mitnichten um Holz handelte. Nein, es war ein durchaus härteres Material, ich tippte sogleich auf Eisen. Schnell hatte ich ihn freigelegt, einen ungefähr anderthalb Meter langen Stab. Leicht lag er in der Hand, viel zu leicht. Eisen konnte es schlecht sein, nicht die Spur von Rost fand sich auf seiner stumpfen, silbergrauen Oberfläche. Material wie dieses hatte ich noch nie gesehen. Es war in der Tat leicht wie Holz, sah aber aus und fühlte sich auch an wie Metall. Mein Fund faszinierte mich von Sekunde zu Sekunde mehr. Was Krister wohl dazu sagen würde? Gewissenhaft führte ich die mir selbst auferlegte Arbeit zu Ende und bedeckte das Skelett von oben bis unten, bevor ich die Höhle verließ, den Strand hinunterlief und Krister stolz meine neueste Errungenschaft präsentierte.
„Liegt prächtig in der Hand“, meinte der nach einer ersten Untersuchung. „Merkwürdiges Material allerdings.“
„Ja, nicht wahr? Wahrscheinlich eine Schlagwaffe aus der Alten Zeit.“
„Zum Schlagen eignet sie sich auf jeden Fall prächtig.“ Krister holte weit aus und wirbelte den Stab fauchend umher. „Was meinst du, tauschen wir? Ring gegen Stab?“
Ich kam mir vor wie ein Leichenfledderer.
„Danke, kein Interesse“, gab ich kühl zurück. Mochte Krister seinen lumpigen Ring behalten. Mit diesem Stab ließ sich weitaus mehr anfangen.
Widerwillig händigte er ihn dann auch wieder aus.
„Also doch nicht nur altes Geschmier. Wer weiß, was noch alles vergraben da drinnen rumliegt?“
Ich wusste, was nun kommen würde. Immerhin erklärte sich Krister bereit, die unmittelbare Nähe des Skeletts unangetastet zu lassen. Doch all sein Buddeln und Wühlen brachte nichts mehr zu Tage. Wir hatten der Höhle alle Schätze entrissen.
Nach Einbruch der Dunkelheit legten wir uns zum Schlafen nieder. Ich starrte hinauf in den prächtig funkelnden Sternenhimmel und wurde mir zum tausendsten Mal meiner kleinen und unbedeutenden Existenz gewahr, diesen Wimpernschlag in der unendlichen Zeitrechnung des Universums. Der Gedanke gefiel mir vom ersten Moment an, als er mir vor vielen Jahren in den Sinn kam. Unbedeutend, ein Niemand zu sein, hatte etwas ungemein Beruhigendes an sich.
Das Lagerfeuer prasselte knisternd vor sich hin und zeichnete lange, flatternde Schatten des uns umgebenden Buschwerks. Niemand sprach eine Silbe, und als ich tief in Gedanken längst überzeugt war, dass Krister eingeschlafen war, meldete er sich ohne Vorwarnung zu Wort.
„Sicher bin ich nicht, ob ich all das wissen möchte, was wir im Begriff sind zu erfahren.“ Aha, auch ihm schien das Ergebnis des vergangenen Tages den Schlaf zu rauben.
„Wir wissen leider schon viel zu viel. Es lässt sich nicht mehr ändern.“
„Die Frage ist, ob ich all das glauben kann. Es klingt so phantastisch, so unwirklich. Stammen wir in der Tat von einem anderen Planeten? Bis heute hatte ich an so etwas nicht im Entferntesten gedacht. Und nun weigere ich mich einfach, es anzunehmen, nur weil es in irgendeinem Buch steht, das jemand vor Hunderten von Jahren geschrieben hat.“
Ich sagte darauf nichts. Dieser Zweifel war mir kein Unbekannter. Dennoch spürte ich, dass es der Wahrheit entsprach. Irgendetwas in mir weigerte sich standhaft, das ganze abzulehnen oder als bloßes Hirngespinst abzutun. Nein, da steckte mehr dahinter. Viel mehr.
„Gute Nacht, Krister.“ Schläfrig rollte ich zur Seite und zog die Decke enger zusammen. Der weiche und noch warme Sandboden erwies sich als bequemer und wohlriechender wie das muffige Stroh zuhause. Ginge es nach mir, schliefe ich immer im Freien.
Als ich hochschreckte, war das Feuer heruntergebrannt. Die Asche glimmte nicht mehr. Tiefste Dunkelheit herrschte, kein Stern leuchtete. Für einen Augenblick wusste ich nicht, wo ich mich befand. Warum war ich so jäh erwacht, wo mich nicht einmal der Anflug eines Traumes geplagt hatte? Es dauerte ein wenig, bis ich überzeugt war, nicht in unmittelbarer Gefahr zu schweben. Erst dann hörte ich das Flüstern. Wie ein leises Raunen drang es an mein Ohr, als wisperte mir der Wind eine geheime Botschaft zu. Ich lauschte schreckenstarr. Phantasierte ich oder spielte mir Krister einen üblen Streich? Wie versteinert lag ich da, unfähig auch nur den kleinen Finger zu bewegen.
Was zum Teufel war das?
Endlich streifte ich die Starre ab und richtete mich auf. Das Geflüster dauerte an, es kam nicht aus Kristers Richtung, das stand fest. Nein, es kam von woanders her, von ganz woanders.
Das Flüstern kam aus der Höhle!
Es drang aus dem schwarzen Schlund!
In der Sekunde, in der es mir klar wurde, verstummte die leise Stimme. Lauschend stand ich da und fragte mich allen Ernstes, ob ich noch klar bei Verstand war. Sollte ich der Sache auf den Grund gehen? Die Fackel wäre schnell entfacht, keine Frage. Doch bei dem Gedanken, mich jetzt in die Höhle vorzuwagen, stellten sich meine Nackenhaare einzeln auf. Nein, nicht jetzt. Nicht mitten in der Nacht.
„Was ist los, Jack?“
Kristers Stimme ließ mich zusammenfahren. Fast hätte ich laut losgeschrien.
„Himmel, hast du mich erschreckt“, entfuhr es mir.
„Was stehst du da rum? Wieso schläfst du nicht? Wieder einer dieser Träume?“
„Sieht ganz so aus“, murmelte ich und legte mich umständlich wieder hin. Krister wach zu wissen und seine Stimme zu hören, beruhigte ungemein.
„Versuche wieder einzuschlafen“, sagte er. „Wir haben noch die halbe Nacht vor uns.“
„Ich gebe mein Bestes“, versprach ich. Tatsächlich dauerte es eine Ewigkeit, bis mein rastloses Gehirn den dunklen Schleiern der Müdigkeit erlag und ich endlich wegdämmerte. Stimmen vernahm ich nicht mehr. Jedenfalls keine, die aus der mysteriösen Höhle drangen.