Читать книгу Sentry - Die Jack Schilt Saga - Michael Thiele - Страница 8
06 VAN DIEN
ОглавлениеIm Laufe des Tages klarte es nach und nach auf. Ab Mittag fiel kein Regen mehr, und hier und da zeigte sich eine Sonne, die stetig an Kraft gewann. Ihre wärmenden Strahlen waren wie Balsam für unsere ausgekühlten Körper. Bald konnten wir uns trotz des munteren Westwinds der feuchten Klamotten entledigen. Die Stimmung an Bord hellte sich deutlich auf. Krister liebäugelte sogar wieder mit dem Auswerfen der Leinen, tat es dann aber doch nicht. Seine Hände waren vom gestrigen Kampf mit dem Karsar noch zu lädiert, um neue Herausforderungen anzunehmen.
Als wir Kap Fol passierten und Luke einen Ichthyon sichtete, Gondwanas furchterregendsten Raubfisch, hielt ich den Atem an. Groß war er, mächtig groß, schätzungsweise sechs oder gar sieben Meter lang. Und zum Glück ein gutes Stück vom Boot entfernt. Im Laufe meines Lebens hatte ich schon viele dieser grusligen Räuber der Meere gesichtet, doch war es immer wieder ein unheimliches Erlebnis. Der Anblick der dreieckigen Rückenflosse, die die Wasseroberfläche kräuselt und wie ein Messer durchschneidet, löst stets Unbehagen in meiner Magengegend aus.
Tödliche Angriffe von Ichthyonen auf Menschen kamen alle Jubeljahre vor, zumal sie vor der Küste Avenors oder auch in der December Bay verhältnismäßig selten anzutreffen sind. Dennoch gab es in Stoney Creek nicht einen einzigen Fischer, der noch nicht in Kontakt mit einem Ichthyon gekommen war. Sie tauchen immer dann auf, wenn man sie am wenigsten erwartet und können mit ihren bis zu zehn Metern Länge einem kleinen Fischerboot durchaus gefährlich werden. Unser Exemplar hier verlor schnell das Interesse und tauchte ab.
„So ein großes Tier siehst du nicht oft“, schwärmte Luke. „In Van Dien haben sie einmal einen ausgewachsenen Ichthyon harpuniert, der sich mit mehreren Booten angelegt hatte. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, auch wenn es viele Jahre zurückliegt. So etwas kriegst du nie mehr aus deinem Kopf.“
„Der hier war wohl nicht auf Ärger aus“, kommentierte Krister das Ereignis knapp. „Kap Fol liegt hinter uns. In zwei Stunden geht die Sonne unter. Schlage vor, wir halten Ausschau nach einem Landeplatz.“
Ich brachte das Boot wieder näher an die Küste heran. Bald schipperte es endlosen Sandstränden entlang, die zum Verweilen einluden. Wir zögerten auch nicht lange und nahmen das Angebot an. Für die kommende Nacht rechnete ich keineswegs mit Regen, und so schlugen wir das Lager unter freiem Himmel gleich neben dem Boot auf. Treibholz fand sich in rauen Mengen, und schon loderte ein schönes Feuer empor. Mit dem Verschwinden der Xyn kühlte es empfindlich ab. Auch der Wind frischte erneut auf. Fröstelnd legten wir die wieder trockene Kleidung an, wickelten uns nach einem ausgiebigen Mahl in die Decken und schliefen noch vor Sonnenuntergang ein. Tag vier ging ohne weitere Vorkommnisse zu Ende.
Der neue Tag begann, wie der alte geendet hatte. Strahlendblauer Himmel, kräftiger Westwind. In allen Belangen sahen wir uns vom Wetter begünstigt. Das Boot flog über die Wellen. Bei diesem Tempo mussten wir im Laufe des Nachmittags schon die Ostkante der Mooka-Halbinsel erreichen. Von dort aus lag nur noch die Moa Bay zwischen uns und Van Dien. Mit dem Anlaufen der größten Stadt Aotearoas nahmen wir zwar einen nicht unerheblichen Umweg in Kauf, sahen es jedoch als notwendig an, die Vorräte aufzustocken, bevor es ins Niemandsland ging. Für Luke bedeutete es in seine alte Heimat zurückzukehren, die er vor vielen Jahren als Kind verlassen hatte. Wenn er aufgeregt war, ließ er es sich nicht anmerken.
Zeitiger als erwartet tauchte Kap Farewell auf, jene schmale, bewaldete Landzunge, die sich wie eine lange Nadel in den weichen Bauch der Tethys bohrte. Ich traute meinen Augen kaum. Auch Krister zeigte sich überrascht.
„Wir müssen wie die Teufel gefahren sein“, rief er aus. „Kann das wahr sein? Natürlich, keine Frage, das ist unverkennbar Kap Farewell.“
„Und ob das Kap Farewell ist“, stimmte ich ein. „Jetzt schaffen wir es heute sogar noch bis Van Dien, Krister, da gehe ich jede Wette ein.“
„Wenn der Wind weiterhin so pfeift, auf jeden Fall. Das sollten wir ausnutzen, wer weiß, wie lange er uns noch so gnädig verbunden ist.“
Er blieb uns verbunden. Die Umsegelung des Kaps erforderte einiges Fingerspitzengefühl, denn die See wurde merklich rauer, und die Brise nahm Starkwindcharakter an. Hohe Wellen schlugen von achtern gegen die Bootswand. Mit geblähtem Segel fuhren wir vor dem Wind her und legten noch an Geschwindigkeit zu. Nach Umrundung des Kaps ging ich auf südlichen Kurs und wich dadurch von der Ideallinie ab, die uns in Rekordzeit an Mithanforg vorbei nach Zadar gebracht hätte. Doch dort wollten wir noch gar nicht hin. Unser Ziel hieß jetzt Van Dien. Die See beruhigte sich schlagartig. Kein Wunder, lag doch die Moa Bay, von drei Seiten vom Festland umgeben, relativ geschützt da, ein natürlicher Hafen wie man ihn sich nur wünschen konnte. An ihrem südlichsten Punkt hatten die ersten Siedler im Jahre 57 die Stadt Van Dien gegründet, welche sich bis zu ihrer Zerstörung durch die Opreju 223 Jahre später zur größten Stadt Aotearoas gemausert hatte. Nach Ende des Krieges dauerte es annähernd 150 Jahre, bis es die Menschen wieder wagten, auf den zerfallenen Ruinen eine neue Stadt aufzubauen.
Im Gegensatz zu Cape Travis, das sich sanft an die dicht bewaldeten Hügelketten des Monteskuro anschmiegt, präsentiert sich Van Dien relativ flach und eben. Nur am westlichen Stadtrand zeigt sich eine nennenswerte Erhebung, Van Diens Hausvulkan, der knapp vierhundert Meter hohe Catarakui.
Schon aus weiter Entfernung erblickten wir die vielen weiß schimmernden Häuser, die sich aneinander reihten und im Zentrum zu einem Haufen zusammenballten. Ein imposanter Anblick. Die Moa Bay in Windeseile durchquert, näherten wir uns ebenso schnell dem Festland. Erste Boote tauchten auf, Fischer wie wir, die die See mit ihren Netzen durchkämmten. Wir winkten zur Begrüßung, indessen nahm man wenig Notiz von uns, waren wir doch nur ein Boot von vielen. Niemand konnte uns ansehen, dass wir eine mehrtägige Reise hinter uns hatten und vom anderen Ende Avenors kamen.
Ich steuerte auf den Hafen zu. Anders als in Stoney Creek gab es hier eine Unmenge von Anlegeplätzen, an denen unzählige Boote vertäut lagen. Jetzt, am beginnenden Abend, herrschte reges Treiben, brachen viele Fischer zum Fangzug auf. Im Hintergrund glaubte ich die Betriebsamkeit eines Marktes zu erspähen. Die vielen Menschen, denen wir uns annäherten, entmutigten ein wenig. Als echtes Dorfkind pflegten mich Ansammlungen wie diese eher zu erschrecken als anzusprechen und entsprechend schweigsam harrte ich der Dinge, die da auf uns zukamen. Wie lange war ich schon nicht mehr in Van Dien gewesen? Es mussten über vier Jahre her sein, als Rob und ich uns dem Treck nach Osten angeschlossen hatten, um einmal die größte Stadt Aotearoas zu besuchen. Schon damals hatte sie mir nicht sonderlich gefallen, und auch heute spürte ich dieselbe Abneigung.
An einem der vielen geschäftigen Landungsstege legten wir an und gingen von Bord. Menschen wohin ich sah. Mit knapp siebentausend Einwohnern war Van Dien sogar noch bevölkerungsreicher als Cape Travis. Kein Vergleich mit meinem kleinen Fünfhundertseelendorf. Für Luke bedeutete es die erste Rückkehr in seine Heimatstadt nach über zehn Jahren. Er wirkte aber nicht im Mindesten aufgewühlt oder unruhig. Vielleicht ein wenig verunsichert. Sah so aus, als hätten jene zehn Jahre sämtliche Erinnerungen ausgelöscht. Mit großen Augen sah er sich aufmerksam um.
„Und wie fühlt es sich an wieder hier zu sein, Luke?“ erkundigte sich Krister.
Der Gefragte zuckte mit den Schultern.
„Das kann ich jetzt noch nicht sagen“, meinte er unbestimmt.
Wir ließen den Landungssteg hinter uns und fanden uns sogleich auf dem Markt wieder, den ich bereits von See aus gesichtet hatte. Hier wurde alles feilgeboten was man sich vorstellen konnte.
Hinter dem ersten Stand, der mir ins Auge fiel, saß eine betagte Frau mit schneeweißen Haaren in einem leuchtend purpurfarbenen Gewand und verkaufte warme Speisen, deren Bestandteile sich auch bei näherem Hinsehen schwer erraten ließen. Energisch wedelte sie mit einem fleckigen Tuch über die irdenen Gefäße hinweg, um die Scharen von Fliegen zu verjagen, die sich darüber hermachten.
Ein hagerer alter Mann und eine dicke Frau ähnlichen Alters zerteilten nur wenige Meter daneben eine frisch geschlachtete Ziege. Obwohl ich in meinem Leben schon unzählige Tiere zerlegt hatte, fand ich diesen Prozess immer noch abstoßend und wandte die Augen ab.
Direkt nebenan priesen zwei besonders attraktive junge Frauen mit strohgelben Haaren Obst an. Sie trugen eng anliegende Kleider mit blauen Mustern und hatten sich Leinenschürzen umgebunden. Ich blieb stehen und betrachtete die beiden reizenden Wesen, die meine Aufmerksamkeit registrierten und zu tuscheln anfingen. Die eine kicherte und hielt sich verstohlen die Hand vor den Mund. Ich grinste zurück. Jedenfalls solange, bis mich jemand am Arm ergriff und wegzog.
„Unter 'die Nacht hier verbringen' verstehe ich was anderes“, hörte ich Krister sagen. „Dich kann man wirklich nicht alleine lassen, Jack.“
Ich sah mich noch einmal um. Die beiden jungen Marktfrauen blickten lächelnd hinterher. Die kleinere deutete sogar mit dem Finger auf mich.
„Waren die nicht Zucker?“ schwärmte ich und lief direkt in einen vielleicht dreizehnjährigen Jungen hinein, der einen Handkarren mit undefinierbarem Plunder hinter sich herzog. Im letzten Moment wich er zur Seite und warf mir einen bösen Blick zu.
„Deswegen sind wir nicht hier“, erwiderte Krister knapp und ließ mich wieder los. „Und immer nach vorne sehen! Ah, ich denke, das dort könnte ein Gästehaus sein.“
Wir steuerten das alleinstehende Gebäude an, das mit jedem Meter heruntergekommener aussah und sich am Ende als Taverne entpuppte. Der Abend hatte zwar noch gar nicht begonnen, aber Männer jeden Alters saßen an den Tischen und tranken und schwatzten und ließen es sich gut gehen. In Stoney Creek gab es auch Tavernen wie diese, nur ging es dort erheblich ruhiger zu.
„Gibt es hier ein Gästehaus?“ Ich wandte mich wahllos an einen sitzenden Gast in meinem Alter, der neugierig dreinblickte.
„Wo kommt ihr her?“ fragte er zurück, unser Gepäck beäugend.
„Aus Stoney Creek“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Gerade angekommen.“
„Mit welchem Treck?“
„Mit keinem, wir sind mit dem Boot hier.“
„Ah ja?“ Seine merkwürdig grasgrünen Augen musterten mich. „Um diese Jahreszeit wagen das nicht viele. Ihr müsst in wichtiger Angelegenheit unterwegs sein.“
„Nicht unbedingt“, gab ich zur Antwort. „Wo ist denn nun das nächste Gästehaus?“
„Wenn ich dir einen Rat geben darf, Fremder, dann geh auf dein Boot zurück und verbringe die Nacht dort“, mischte sich sein Tischnachbar ein, ein allmählich ergrauender, grobschlächtiger Kerl in seinen späten Vierzigern, welcher mir auf den ersten Blick unsympathisch war. „Van Dien ist nicht gerade für weiche Betten bekannt. Und außer Wanzen wirst du in ihnen auch nichts Unterhaltendes vorfinden.“
Höhnisches Gelächter. Unversehens standen wir im Mittelpunkt des Interesses zweier Tische.
„Hör nicht auf ihn!“ sagte Grünauge, schob seinen Stuhl zurück und sprang förmlich auf. Er durfte in Kristers Alter sein, verfügte auch über dessen Statur, war aber zwei Köpfe kleiner. „Nehmt Platz! Lasst euch willkommen heißen! Hey, Wirt! Dreimal Korma für die Neuankömmlinge! Soll niemand behaupten, wir seien nicht gastfreundlich!“
Krister und ich sahen einander an. Keiner empfand Lust, der Einladung zu folgen.
„Wir wollen uns erst einquartieren“, sagte Krister bestimmt. „Danach nehmen wir eure Einladung sehr gerne an.“
„Wie ihr wollt. Nehmt das Mataki. Hundert Schritte die Straße hoch, auf der linken Seite. Sagt der hübschen Amny, dass euch Finn schickt. Dann werdet ihr mit Bestimmtheit ein besseres Zimmer bekommen.“
„Dank dir, Finn“, sagte ich. Wir wandten uns zum Gehen.
„Ich hoffe, wir sehen uns später noch“, rief er hinterher. „Wie gesagt, um diese Jahreszeit bekommen wir selten Besuch aus dem Westen. Es gibt sicher einiges zu schwatzen!“
Ich nickte ihm zu, und schon waren wir wieder draußen.
„Übler Laden“, sagte Luke angewidert. „Wie man sich in so einer Spelunke vollaufen und dabei wohlfühlen kann, entzieht sich mir völlig.“
„Nun, so schlimm fand ich es gar nicht“, erwiderte Krister. „Und ehrlich gesagt sah das Korma sehr verlockend aus.“
Wir marschierten die Straße hinauf und hielten Ausschau nach dem Mataki. Der Weg verlief parallel zum Meer, was ein gutes Gefühl vermittelte. Wenig Verlangen hatte ich danach, mich in das Gewühl der engen Gassen zu begeben, die ins Zentrum Van Diens führten. Der eine oder andere Passant blickte uns unverhohlen neugierig hinterher, doch vermochte ich nicht festzulegen, ob wir derart fremdartig wirkten oder es am Gepäck lag, das wir mit uns führten und uns als Reisende verriet. Die fremdartige Stadt hatte Besitz ergriffen und mir war nicht klar, ob ich mich wohlfühlte oder diesem bunten Treiben eher ablehnend gegenüberstand. Vermisste ich jetzt schon die Ruhe und das beschauliche Leben meines Dorfes?
„Da vorne ist es!“ rief ich endlich. Ein simples Holzschild über dem Eingang verriet mit schwarzen Pinselstrichen den Namen der Absteige. Es waren meiner Meinung nach deutlich mehr als hundert Schritte gewesen.
Das Mataki wirkte genauso wenig einladend wie die Taverne. Sauberer würde es wohl auch nicht sein. Aber legte ich darauf wirklich Wert? Eine Nacht auf weicher Unterlage war alles, wonach ich mich sehnte. Erst in Hyperion würden wir wieder eine von Menschen errichtete Siedlung erreichen, und was uns dort erwartete, konnte niemand vorhersagen. Nach allem was ich wusste, existierte die Weiße Stadt sowieso nur noch in meinen Träumen, war dort während des Großen Krieges kein Stein auf dem anderen geblieben. Dort eine intakte Herberge erwarten, durfte zu viel verlangt sein.
Artig klopfte ich an die schwere Holztüre.
„Gehen wir einfach rein!“ forderte Krister ungeduldig.
„Nein, das machen wir nicht!“ hielt ich ihm entgegen.
„Und wieso nicht?“
Ich schüttelte den Kopf. „Mann, Krister, schon mal was von Manieren gehört? Wie würde es dir gefallen, wenn wildfremde Leute vor deinem Haus stünden und hineingingen wie es ihnen beliebt?“
Krister grinste breit und sah sehr vergnügt drein. „Wusste gar nicht, dass ich ein Gästehaus führe.“
„Du weißt was ich meine“, murmelte ich, als die Türe aufschwang. Eine junge Frau blickte uns fragend und erkennbar ablehnend entgegen. Sie durfte es sich leisten, denn sie sah bezaubernd aus.
„Amny?“ fragte ich sogleich.
„Wer fragt danach?“ kam die brüske Antwort. Ihre warme Stimme wollte nicht so ganz mit ihrer Abneigung einhergehen.
„Finn schickt uns. Er sagt, dies hier ist das einzig annehmbare Gästehaus der ganzen Stadt.“ Ich strahlte sie an, wissend, dass auch mein Lächeln durchaus Türen öffnen – oder in diesem Fall offen halten – konnte.
„Sagt er das?“ Sie schmunzelte einen verschwindend kurzen Moment. „Ihr habt eine gute Zeit gewählt, im Augenblick haben wir nicht viele Besucher. Wie lange wollt ihr bleiben?“
„Nur eine Nacht“, erwiderte Krister. „Was verlangst du?“
Sie sah uns der Reihe nach an.
„Sechs Schildlinge...“ und fügte schnell „...im Voraus“ hinzu.
Nun waren es wir Männer, die sich ansahen. Natürlich! Wie konnten wir das bloß vergessen haben? Während im Westen Avenors überwiegend Tauschhandel betrieben wurde, gab es hier in Van Dien Tauschmittel, sogenannte Schildlinge. Ich kannte diese kupferfarbenen Münzen von der Größe eines Daumennagels sehr wohl, sie kursierten wenn auch seltener in Avenor. Mit ihnen ließen sich Waren, die mit dem Treck aus Aotearoa kamen, problemlos handeln. Dumm, dass weder ich noch Krister auch nur über einen einzigen Schildling verfügten.
„Wir können nur Perlen tauschen.“ Krister holte ein kleines ledernes Säckchen aus dem Rucksack hervor und leerte einen Teil der leise klickernden, schwarz glänzenden Kugeln in seine gewölbte Handfläche.
Mit Perlen ließ es sich in Stoney Creek hervorragend tauschen, noch viel besser als mit Coris oder einer perfekt geformten Marcoma. Es ist nicht gerade einfach, an Perlmuscheln heranzukommen, da sie in Tiefen leben, die der Mensch nur schwer ertauchen kann. Und bei weitem nicht in jeder Muschel findet sich eine der begehrten Kostbarkeiten. Daher auch ihr hoher Tauschwert.
Ich staunte nicht schlecht, als ich das gute Dutzend rabenschwarzer Prachtstücke auf Kristers Hand erblickte. Er suchte eine mittelgroße aus und hielt sie Amny unter die Nase.
„Ich nehme an, eine wird reichen“, sagte er, wohl wissend, für eine Schwarzperle dieser Größe den Gegenwert von mindestens dreißig Schildlingen erwarten zu dürfen. „Ich nehme an, es ist nicht vermessen, wenn wir dafür die bequemsten Betten des Hauses bekommen.“
Amny verschlang das kleine Juwel mit den Augen. Offenbar hatte sie ein Exemplar dieser Größe noch nie gesehen.
„Nein, das ist nicht vermessen“, sagte sie eifrig und nahm die Bezahlung entgegen, die sofort in ihrer Rocktasche verschwand. Über eine wild knarzende Stiege führte sie uns nach oben in die nach ihren Worten beste Kammer. Darin befanden sich ein Tisch und vier Schlafgelegenheiten, gepolstert mit gehäckseltem Stroh. Das ließ keine Wünsche mehr offen. Wir erkundigten uns nach einem guten Wirtshaus und bekamen auch bereitwillig Auskunft.
„Wo hast du diese vielen Perlen her?“ fragte ich Krister auf dem Weg zur Schänke. „In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so viele Schwarzperlen auf einem Haufen gesehen. Du schleppst ja ein kleines Vermögen mit dir herum.“
„Und wie man sieht, nicht vergeblich. Was nützt mir das Zeug, wenn es zu Hause rumliegt? Und was deine erste Frage angeht: Ich kenne da ein ganz vorzügliches Perlenrevier vor Ajutaia. Streng geheim natürlich. Und keiner hält die Luft länger an als der gute Scott.“ Er grinste mich an.
„Dann können wir uns heute Abend ja ein Festmahl leisten, auf deine Kosten versteht sich!“
„Sehr gerne, so wie ich es sehe, ist dies hier sowieso der letzte Ort, an dem uns die Dinger zu etwas nütze sein werden, oder glaubst du, wir werden von den Opreju auch so freundlich empfangen, wenn ich mit dem Perlensäckchen winke?“
Wohl kaum. Wir würden eher mit gespicktem Rücken in einem großen Topf landen. Doch formulierte ich meine Befürchtung nicht und schüttelte stattdessen zweifelnd den Kopf.
„Seht mal, ist das da vorne nicht das Wirtshaus, das Amny empfohlen hat? Ich kann es kaum erwarten, was Anständiges zwischen die Kiemen zu bekommen!“
Wir ließen es uns in der Tat gut gehen und langten tüchtig zu. Zweikornsuppe als Vorspeise. Emmereintopf und Hühnerpastete als zweiten und dritten Gang. Als Nachtisch wählten wir Hirsekuchen mit Dörrobst und Nüssen. Zum Hinunterspülen gab es natürlich das unvermeidliche Korma, das nur Luke in Maßen genoss. Krister und ich dafür umso mehr.
Die mächtig korpulente Wirtin, einem wandelnden Fass gleich, zeigte sich anfangs etwas argwöhnisch ob ihrer gefräßigen Gäste, fasste aber Vertrauen als Krister zwei Schwarzperlen als Bezahlung in Aussicht stellte.
Mit gut gefülltem Magen ließ ich mich in den Stuhl zurücksinken, spürte das Korma wohlig durch die Venen rauschen und angenehme Schläfrigkeit aufkommen. Es tat gut, für den Augenblick all die Anspannung zu vergessen. Immerhin hatten wir vor, in spätestens vier Tagen eine schwere Missetat zu begehen. Die Mündung des Skelettflusses an der Fisk Bay, die natürliche Grenze Aotearoas, stellte das Ende der uns bekannten Welt dar. Nicht dass ich schon einmal so weit südlich vorgedrungen wäre, weiter als bis nach Van Dien hatte es bisher noch nie gereicht. Wozu auch? Das Land jenseits des Skelettflusses lockte zwar wie jede verbotene Frucht, doch lag den Menschen neben Aotearoa noch ganz Cimmeria offen, ein riesiger Landstrich, der bis ins Zentrum Gondwanalands reicht und bis heute größtenteils unerforscht blieb. Selbst dorthin hatte ich noch nie einen Fuß gesetzt. Alles was ich von Cimmeria kannte, beschränkte sich auf die dicht bewaldete Halbinsel Aló ganz im Norden. Allein die vielen Avenor vorgelagerten Inseln boten Raum genug für ein ganzes Leben voller Entdeckungsfahrten. Welcher Mensch mit klarem Verstand fühlte sich von Cimmeria, das zum größten Teil aus Ödland bestand, angezogen?
Doch mit Robs Verschwinden sah alles anders aus. Jetzt forderten die Umstände einen Bruch des Tabus, was in unserem Fall das Durchqueren der Fisk Bay und die Einfahrt in den östlichen Zadarkanal bedeutete. Damit würden wir uns in den Gewässern Laurussias befinden, also faktisch auf dem Territorium der Opreju. Was dort wartete, konnte niemand sagen. So war es ganz angenehm, die unterschwellige Furcht vor dem Unbekannten wenigstens eine Zeitlang in bittersüßem Korma zu ertränken.
Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Durchaus möglich, dass wir bereits mehrere Stunden in dem Wirtshaus verbrachten. Das Korma schmeckte einfach zu gut. Die Läden waren bereits geschlossen worden und verwehrten den Blick nach draußen. Es war sicherlich schon dunkel.
„Jetzt nehmen wir noch einen Schluck in der Taverne.“ Krister hatte zwar schon gewaltig gebechert, stand aber auf sicheren Füßen, als er der Wirtin die beiden Schwarzperlen in die Hand drückte. „Danke, Frau Wirtin. Es war köstlich!“
Dann beugte er sich nach vorne und drückte der überraschten Frau einen dicken Kuss auf die fleischige rosa Wange. Wenigstens hier zeigte sich deutlich, dass er bereits einen in der Krone hatte. Die massige Wirtin errötete und fing an zu kichern wie ein Backfisch. Das halbe Wirtshaus beobachtete den Vorgang und verfiel in röhrendes Gelächter.
„Hey, Emma, was hast du dem Kerl ins Essen gemischt?“ grölte ein nicht mehr ganz nüchterner Gast. „So was will ich auch haben, dann klappt’s vielleicht wieder mit meiner Alten!“
Noch mehr ausgelassenes Gelächter. Ich packte Krister am Arm und zerrte ihn nach draußen, bevor er noch ganz und gar über die Wirtin herfiel. Er protestierte lautstark und riss sich los. Ich musste lachen als er entrüstet rief: „Glaubst du ich bin schon so besoffen, dass ich nicht mehr zwischen Fleisch und Fisch unterscheiden kann?“
„Schlimmer“, warf Luke ein. „Du solltest dich mal selber sehen!“
„Du hältst schön die Futterluke“, wies Krister den jüngeren Stiefbruder zurecht. „Wenn dir was nicht passt, kannst du dich gerne ins Bett begeben! Frag doch Amny, ob sie dich zudeckt!“
„Er gehört jetzt ganz dir, Jack!“ Luke nickte mir kurz zu und machte sich ohne noch einmal umzuschauen auf den Weg ins Mataki.
„Was glaubt er eigentlich, wer er ist?“ empörte sich Krister weiter.
„Jemand, der Recht hat“, sagte ich leise. Aber aus unerfindlichen Gründen stimmte ich einem letzten Krug Korma zu, womöglich weil es unhöflich gewesen wäre, Grünauges Einladung abzuschlagen.
Nicht mehr ganz Herr aller Sinne marschierten wir die Straße hinunter in Richtung der Landungsstege. Mein Kopf fühlte sich an wie in mehrere Lagen Watte gepackt. Durchaus angenehm, keine Frage! Wir hörten das Grölen lange bevor wir die Taverne erblickten. Halb hoffend, dass Finn bereits gegangen war, traten Krister und ich ein. Aber da saß er immer noch, am selben Tisch, und hatte uns auch sofort gesehen.
„Sieh einer an, unsere Fremden sind wieder hier!“ Der merkwürdige Klang in der Stimme verriet den hohen Alkoholgehalt in seinem Blut. „Hey, Wirt! Noch zwei Korma für unsere Freunde aus dem Westen!“
Wir zogen zwei Stühle heran und setzten uns. So schnell wurde man in Van Dien also von einem Fremden zu einem Freund. Es wollte mir nicht gefallen. Ich beschloss, dem Ganzen schnell eine Richtung zu geben.
„Danke für die Einladung und die freundliche Empfehlung. Das Mataki ist wirklich ein ausgezeichnetes Gästehaus...“
„Und Amny? Wie findest du Amny?“ fiel mir Finn ins Wort. Er sah mich erwartungsvoll an wie ein Kind, das glaubte, etwas ganz Schlaues gesagt zu haben. In seinen Mundwinkeln klebten eingetrocknete Schaumreste.
„Nun, Amny ist...“
„Sie ist ein Juwel, stimmt’s? Ich wusste, sie gefällt dir. Aber wage es nicht, sie anzurühren, verstehst du? Sie ist meine Verlobte, musst du wissen!“
Ich sehnte mich auf unser Boot zurück oder zumindest in die abgeschiedene Ruhe des Gästehauses.
„Du kannst ganz unbesorgt sein“, entgegnete ich kühl.
Der Wirt knallte mit Vehemenz zwei Steinkrüge auf den Tisch. Las ich Ablehnung in seinen missbilligenden Augen?
Krister nahm einen Krug, leerte ihn in einem einzigen Zug und ließ das Gefäß dann mindestens ebenso lautstark auf den Tisch krachen. Dann verkündete er: „Nochmals vielen Dank für die Einladung. Aber wir müssen los, morgen geht es in aller Frühe weiter.“
„Nicht so schnell, Freunde!“ warf Finn ein. „Ein paar Minuten eurer kostbaren Zeit müsst ihr uns schon noch schenken! Einen kleinen Schwatz könnt ihr uns nicht abschlagen, oder? Was gibt es neues im Westen?“
„An welche Art Neuigkeiten denkst du?“
Finn zuckte mit den Achseln. „Mann, muss ich dir alles aus der Nase ziehen? Hat der Winter auch so getobt wie hier?“
„Wir hatten einen strengen Winter, oh ja. Meterhoher Schnee. Heftige Stürme. An manchen Tagen war es besser, das Haus nicht zu verlassen.“
Finn nickte beipflichtend. „Wir hatten hier mächtig Windwurf und Schneebruch. Und eine Sturmflut. Ich sage euch, hier sah es aus, als wären Opreju brandschatzend durch die Stadt gezogen.“
Da war er also gefallen, dieser elektrisierende Name. So wie es aussah, gehörte er hier zum Sprachgebrauch, ganz anders als zu Hause. Meine Nackenhaare erhoben sich als ich fragte: „Hat jemand von euch hier schon einmal einen Opreju gesehen?“
Verlegene Gesichter. Ein älterer Mann mit schneeweißem Bart, welcher beinahe sein ganzes Gesicht verdeckte, sagte schließlich mit tiefstem Bass in der Stimme: „Ich kenne niemanden, der einen Opreju gesehen und überlebt hätte. Wieso fragst du?“
Jetzt war Vorsicht angesagt. Das Gespräch drohte in eine ganz falsche Richtung zu gehen.
„Nur so aus Interesse“, wiegelte ich ab.
Grünauge sah mich aus halb geschlossenen Lidern an.
„Ihr kommt aus Stoney Creek, sagt ihr? Eins verstehe ich nicht. Ihr seid erst heute Nachmittag angekommen und wollt morgen schon wieder aufbrechen? Das ist ungewöhnlich. Wohin führt euch eure Reise, wenn ich fragen darf?“
Oh ja, definitiv in die ganz falsche Richtung. Mir wurde bewusst, darauf keine passende Antwort zu haben. Es musste natürlich verdächtig aussehen, die anstrengende Reise von Stoney Creek nach Van Dien gemacht zu haben und nur eine Nacht lang zu verweilen.
„Rein persönliche Gründe“, antwortete Krister, der mein Zögern bemerkte.
Finn sah ihn ungläubig an.
„Wir haben Nordwestwind, das wird kein Zuckerschlecken. Wollt ihr nicht günstigere Winde abwarten?“
„Würde mich nicht wundern, wenn der Wind heute Nacht dreht“, entgegnete Krister gewandt. „Keine Seltenheit in dieser Jahreszeit.“
„Wo steckt denn euer junger Begleiter?“ meldete sich ein schmächtiger Kerl zu Wort, der der ganzen Unterhaltung bisher mucksmäuschenstill gefolgt war. Er durfte in seinen späten Dreißigern sein. Die ungeheuer lange Nase, ein wahrer Gesichtserker, verlieh ihm ein groteskes Aussehen.
„Mein Bruder Luke? Er besucht Verwandte hier in Van Dien. Luke stammt von hier.“ Krister ging das Frage-und-Antwort-Spiel mächtig gegen den Strich. Mit einem letzten Schluck leerte auch ich endlich meinen Krug. Einem Aufbruch stand nun nichts mehr im Wege.
„Ihr habt es wirklich eilig“, bemerkte Finn mit geringschätzigem Blick. Ihm entging keine Sekunde, wie Krister dem Ledersäckchen, welches er jetzt an einer Schnur um den Hals trug, eine kleine schwarze Perle entnahm und dem Wirt als Bezahlung offerierte.
„Lass gut sein! Ich habe euch eingeladen“, warf Grünauge mürrisch dazwischen. „Eine Schwarzperle für zwei Korma? Du machst uns hier die Preise kaputt, Fremder!“
Krister sah ihn fest an, er machte aus seiner Abneigung keinen Hehl mehr.
„Ich bleibe niemandem etwas schuldig, wenn ich es nicht muss“, sprach er und erntete dafür einen verächtlichen Blick. „Angenehmen Abend noch!“
Wir standen auf und gingen. Auf dem Weg nach draußen lauschte ich den Reaktionen, doch gab es keine. Unser Weggang wurde mit Schweigen quittiert.
„So ein Idiot.“ Krister war in der Tat aufgebracht. „Welches Recht glaubt er zu haben, ein derartiges Verhör zu führen?“
„Vergiss ihn! Jetzt wird gepennt und morgen früh geht’s weiter. Wir hätten erst gar nicht mehr in diese dumme Taverne gehen sollen. Hoffentlich finden wir jetzt im Dunkeln das Mataki.“
Es war in der Tat stockduster geworden. Zwar drang Licht aus den Fenstern der umliegenden Häuser, doch war es bei weitem nicht ausreichend, um genügend zu erkennen. Ich zählte im Geiste hundert Schritte und sah mich dann um. Nichts. Der Versuch, einen Passanten aufzuhalten, scheiterte kläglich. Auf meine Frage bekam ich keine Antwort, und als ich mich anschickte, ihm nachzugehen, rannte er ängstlich davon.
Achselzuckend gingen wir weiter und erreichten alsbald einen düsteren, gepflasterten Platz. Hier waren wir mit Sicherheit noch nicht gewesen, mussten am Ziel vorbeigelaufen sein. Also wieder zurück. Wir hielten uns dicht an den Wänden der rechten Straßenseite und begutachteten jedes Haus, das wir passierten. Eines davon musste das Mataki sein!
Zweimal war mir so, als hörte ich hinter mir Kies knirschen, als hielte sich jemand in unmittelbarer Nähe auf. Doch sah ich nichts, und auch Krister, der glaubte, etwas wahrgenommen zu haben, konnte in der Dunkelheit beim besten Willen nichts ausmachen. Unschlüssig blieben wir einen Augenblick stehen und lauschten.
Nichts.
„Jetzt leiden wir schon an Verfolgungswahn“, hörte ich ihn frustriert stöhnen. „Als nächstes fürchten wir uns noch vor dem schwarzen Mann. Eins schwöre ich dir, Jack, nie wieder Korma!“
Es war aber auch zu dämlich. Diese bescheuerte Herberge ließ sich nicht finden, dabei konnten wir unmöglich weit entfernt sein. Ich nahm mir das nächste Haus vor, unverkennbar ein Eckhaus. Damit schied es schon aus. Rechts davon mündete eine kleine, rabenschwarze Gasse, die sich wie ein gähnender Rachen auftat. Ich spähte fröstelnd in die Finsternis hinein. Wieder hatte ich das unbehagliche Gefühl, jemand hielt sich in unmittelbarer Nähe auf, auch wenn ich rein gar nichts sah oder hörte.
„Wer ist da?“ rief ich in die Dunkelheit der Gasse hinein. Alles blieb ruhig. Dumm, wer eine Antwort erwartete. Sollte jemand hier mit bösen Absichten lauern, würde er sich wohl kaum selbst verraten. Ich löste mich von der Hauswand und überquerte die Einmündung. Erneut knirschte es deutlich vernehmbar hinter mir. Drehte ich jetzt völlig durch? Spielte mir der Alkohol in meinem Blut einen garstigen Streich?
„Na, haben wir uns verlaufen?“ hörte ich eine spöttische Männerstimme dicht hinter mir. Ich wirbelte auf der Stelle herum und sah den Knüppel schon auf mich zurasen. Hastig zog ich den Kopf zur Seite und konnte auf diese Weise wenigstens den Schädel aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich bringen. Dafür traf der wuchtige Hieb ungebremst die linke Schulter. Schreiend ging ich zu Boden, rollte mich instinktiv Richtung Straßenmitte ab und kam wieder auf die Beine. Meine Schulter schien Feuer gefangen zu haben. Dank des explosionsartigen Schmerzes war ich mit einem Schlag stocknüchtern. Alle Sinne schalteten im Nu auf Verteidigung um. Ein Stück neben mir hörte ich Krister fluchen und dann unverkennbare Kampfgeräusche. Es waren also mehrere.
Verdammt!
In dieser Dunkelheit war verwünscht wenig zu erkennen. Knirschender Kies direkt vor mir, ein huschender Schatten. Ich tauchte nach rechts weg und ließ das linke Bein auf gut Glück hochschnellen.
Treffer!
Wie es sich anfühlte, hatte ich meinen Gegner in den Unterleib getroffen, aber bei weitem nicht kräftig genug, um ihn loszuwerden. Als ich auf die Füße sprang, spürte ich einen Windhauch haarscharf an meiner rechten Wange vorbeisausen. Das war knapp! Dieser Bastard musste über Katzenaugen verfügen, er wusste offensichtlich zu jeder Zeit, wo ich mich befand, während ich rein gar nichts sah. Noch mehr Gelegenheiten mich auszuschalten wollte ich ihm nicht mehr zugestehen!
Auf Verdacht katapultierte ich mich in die Richtung, in der ich meinen Widersacher vermutete und prallte auch sofort gegen ihn. Wie merkwürdig leicht und schmächtig er sich anfühlte. Mich in seine Kleidung krallend riss ich ihn wuchtig mit zu Boden, inständig hoffend, dass er kein Messer in den mordlustigen Pfoten hielt.
Fluchend und ächzend rollten wir über das Pflaster, und als ich auf ihm zu liegen kam, fand meine Linke seine Kehle. Ich packte kräftig zu und schickte meine Rechte auf die Reise. Planmäßig fand sie ihr Ziel. Mit einem letzten Röcheln erschlaffte der Körper unter mir. Okay, einer weniger!
„Krister, wo bist du?“ keuchte ich in die Dunkelheit und lauschte.
„Hier!“ kam es aus unmittelbarer Nähe.
„Bist du in Ordnung?“
„Alles in Ordnung. Und bei dir?“
„Bestens! Mein Baby schläft bereits.“
Krister lachte missmutig. „Meins auch. Das dritte hat das Weite gesucht.“
Es waren demnach drei gewesen. Ich staunte nicht schlecht, als sich mein Opfer als der dürre Kerl mit der langen Nase aus der Taverne entpuppte. Wetten hätte ich darauf abgeschlossen, simplen Wegelagerer in die Hände gefallen zu sein, die zufällig unseren Weg kreuzten.
Krister hielt einen kleinlauten Finn in eisernem Griff, der bei Bewusstsein war und mich hasserfüllt anstarrte. Seine lädierte linke Schläfe sah aus, als hätte ihn eine Moaklaue gestreift. Da hatte wohl jemand Kristers Wehrhaftigkeit maßlos unterschätzt. Zornig packte ich ihn am Kragen und zog die blutige Visage zu mir heran.
„Was sollte das denn? Aus welchem Grund habt ihr uns überfallen?“
Finn kniff beide Augen zusammen, als erwartete er weitere Schläge.
Krister hielt mich zurück.
„Lass gut sein, Jack! Hier, das war der Grund.“ Und er hielt mir das Säckchen mit den Perlen entgegen. Die Schnur, die es um seinen Hals gehalten hatte, war gerissen. „Reine Gier war es. Aber es lief nicht ganz nach Plan, nicht wahr?“ Er schüttelte den überwältigten Angreifer wie eine nasse Ratte. Grünauge wimmerte wie ein verängstigter Welpe.
„Mieser kleiner Straßenräuber! Was machen wir jetzt mit den beiden?“ Ich war einigermaßen ratlos.
„Nichts, nehme ich an. Von denen geht keine Gefahr mehr aus. Das Dumme ist nur, sie wissen wo unsere Unterkunft ist. Noch dümmer ist, dass dieser Saukerl offenbar mit unserer Wirtin verlobt ist. Ich denke, mit der Nachtruhe auf einem weichen Lager dürfte es vorbei sein.“
Ich dachte ähnlich. Wir konnten es kaum noch riskieren, die Nacht im Mataki zu verbringen. Krister schickte den winselnden Finn mit einem gezielten Fausthieb „schlafen“, wie er es nannte, und zusammen schleiften wir die beiden besinnungslosen Halunken an den Straßenrand.
Wo war das verfluchte Gästehaus? Nicht ein Mensch begegnete uns mehr. Traute sich in Van Dien nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr aus dem Haus? Wir hangelten uns von Gebäude zu Gebäude – und fanden es endlich. Aufatmend rüttelte ich an der Türe, die natürlich verschlossen war. Erst nach mehrmaligem Poltern rührte sich etwas.
Mir kam ein Gedanke. „Glaubst du, dieser Amny können wir trauen? Am Ende steckt sie mit den Gaunern unter einer Decke.“
„Ich traue hier keinem mehr“, brummte Krister, und ich gab ihm Recht. Zu viel war heute Nacht schon passiert.
„Wer ist da?“ Amnys Stimme klang dumpf durch das Holz der schweren Türe. Sie klang nicht besonders erfreut.
„Die Gäste aus dem besten Zimmer des Hauses“, erwiderte ich salopp. Nach kurzem Zögern öffnete sich die Tür einen Spalt. Ein fahler Lichtschein fiel auf die Straße. Mit einem einzigen Ruck riss ich die Tür gänzlich auf. Darauf war die arme Amny wohl nicht vorbereitet, denn sie flog mir förmlich entgegen. Die Kerze, die sie in der Hand hielt, fiel zu Boden und erlosch.
„Was soll denn das?“ protestierte sie lautstark.
„Empfängt man Gäste hier immer mit Knüppeln?“ Ich stieß das überraschte Mädchen ins Haus zurück. „Tolle Gastfreundschaft! Dein Finn ist ein sauberer Bursche, das muss ihm der Neid lassen. Konntest du keinen besseren finden als diesen Schweinehund?“
Amny stand da wie vom Donner gerührt. Ihr unschuldiger Gesichtsausdruck überzeugte jedoch. Nein, sie wusste von nichts, soviel Menschenkenntnis traute ich mir zu.
„Was ist passiert?“ Sie verzog die Nase, roch wohl unsere Alkoholfahnen. „Ihr seid ja betrunken! Trunkenheit wird in diesem Haus nicht geduldet. Ihr müsst sofort gehen!“
„Keine Angst, das tun wir auch. Nicht eine Sekunde bleiben wir in diesem Räubernest!“ Krister ergriff sie sanft aber doch nachdrücklich an den Schultern. „Du musst dich nicht fürchten, kleine Amny, dir wird nichts geschehen, das verspreche ich. Aber bis wir dieses anständige Haus verlassen haben, wirst du nicht von unserer Seite weichen!“
„Nimm deine Pfoten weg!“ Amny riss sich los, wich aber keinen Meter zurück. Wütend funkelte sie uns an. „Ich werde um Hilfe schreien, wenn ihr nicht auf der Stelle verschwindet!“
Krister wollte sie erneut packen, doch hielt ich ihn zurück.
„Amny, hör mir zu! Dein sauberer Verlobter hat eben versucht, uns umzubringen. Für ein paar lumpige Schwarzperlen! Du wirst verstehen, dass wir in dieser Stadt niemandem mehr trauen.“
Unsere junge Wirtin sah mich an wie einen Geistesgestörten und schüttelte dann langsam den Kopf.
„Du lügst! Finn kann keiner Fliege etwas zuleide tun!“ Dabei tat sie den ersten Schritt rückwärts.
„Einer Fliege vielleicht nicht“, seufzte Krister.
„Ich glaube euch kein Wort!“ Amny machte zwei weitere Schritte zurück, als suchte sie Halt. Ehe wir uns versahen, fegte sie die einzige brennende Kerze vom Tisch. Sofort versank der Raum in tiefer Dunkelheit.
„Verdammt!“ fluchte ich und stürzte auf sie zu. Doch ging mein Griff ins Leere. Eine Tür fiel krachend ins Schloss.
„Kluges Ding“, hörte ich Krister neben mir knurren. Es klang beinahe bewundernd. Dann rief er lautstark nach seinem Bruder. In der oberen Etage flog eine Tür auf, Licht strömte von der Treppe herab. Endlich sahen wir wieder.
„Luke, bist du das?“
„Ja. Was ist los da unten?“
„Ich fürchte, die Nachtruhe ist beendet. Wirf das Gepäck runter, wir müssen verschwinden!“
Luke zögerte naturgemäß. „Ist das dein Ernst?“
„Ja, und jetzt Schluss mit der Fragerei! Tu was ich dir sage!“
Ein kurzer Seufzer war alles, was Luke noch zum Besten gab. Ich rannte die Treppe hoch und half ihm beim Zusammensuchen des Gepäcks. Zum Glück hatten wir wenig ausgepackt, und mit ein paar Handgriffen war alles wieder verstaut. Währenddessen erzählte ich mit knappen Worten, was sich zugetragen hatte. Luke zeigte sich bestürzt und verstand sofort. Voll aufgepackt begaben wir uns nach unten. Krister stand an der halb geöffneten Tür und spähte hinaus.
„Alles ruhig“, flüsterte er. „Die Luft scheint rein zu sein.“
„Wo ist Amny?“ erkundigte sich Luke.
„Hat sich irgendwo eingeschlossen. Sie traut uns wohl nicht mehr über den Weg. Los jetzt, Abmarsch! Runter zu den Stegen! Ich hoffe, wir finden in der Dunkelheit das Boot.“
Wie Verbrecher stahlen wir uns aus der Herberge und marschierten die dunkle Straße hinunter. Kein Mensch kam uns entgegen. Als wir an der Taverne vorbeischlichen, drang kein Laut mehr heraus. Auch hier schien der Abend zu Ende gegangen zu sein.
Am nordöstlichen Horizont tauchte Ebrod aus dem Meer auf. Noch war der Mond selbst nicht zu sehen, aber sein Vorbote, eine milchig-silberne Aura, kündigte sein baldiges Erscheinen an. Zwar wölbte sich über uns ein nahezu sternenklarer Himmel, und hier abseits der dunklen Gassen war die Umgebung einigermaßen erkennbar, doch waren wir für das zusätzliche Licht dankbar. Die Chancen, das Boot jetzt in der Nacht zu finden, stiegen dadurch erheblich.
Im Hafen herrschte nur noch wenig Betrieb, eine Handvoll müder Fischer kehrte mit vollen Netzen zurück. Sie hatten offensichtlich den ganzen Tag auf See verbracht und sehnten sich nun nach warmer Mahlzeit und einer Mütze voll Schlaf. Wir gingen an ihnen vorbei ohne dass sie Notiz von uns nahmen.
Luke schritt unbeirrt voran, er hatte sich unseren Landungsplatz am besten eingeprägt. Bei dem Durcheinander an Piers, Anlegebrücken und festgemachten Booten wollte es mir einfach nicht gelingen, mich zu orientieren.
„Hier entlang!“ rief Luke plötzlich und sputete zielstrebig auf einen der vielen Stege hinaus. An was auch immer er sich orientiert hatte, blieb mir schleierhaft. Doch das Ergebnis zählte. Ich stand vor unserem Boot, ohne es zu bemerken.
„Gut gemacht, Luke!“ sagte ich erleichtert. „Wie hast du das nur gemacht? Ich hätte den Kahn in dieser Dunkelheit beim besten Willen nicht mehr gefunden.“
Kristers Stiefbruder stand mit dem Rücken zum Meer, sein Gesicht lag in tiefem Schatten, doch sah ich zwei Reihen schneeweißer Zähne schimmern. Ganz klar, er grinste über beide Backen.
„Schön, dass ich mich nützlich machen kann“, sagte er und sprang an Bord. Krister und ich folgten. Es war, als käme ich zuhause an, alles schien wieder vertraut. Die tausendfach eingeübten Handgriffe saßen auch bei schlechten Lichtverhältnissen. Das Segel war in Nullkommanichts gesetzt, und wir legten ab.
Keine Minute zu früh.
Von der Straße her näherten sich mit atemberaubender Geschwindigkeit flackernde Lichter, ein wahrer Fackelzug. Noch konnte ich keine Einzelheiten ausmachen, aber es mussten wohl an die zwanzig Mann sein, die zu den Landungsstegen eilten.
„Krister, schau dir das an!“ zischte ich.
„So etwas Ähnliches habe ich erwartet. Wären wir im Mataki geblieben, hätte uns der Mob vermutlich schon gelyncht. Die haben wirklich keine Zeit verloren!“
Ich schluckte hart. Jetzt erst wurde mir richtig bewusst, in welcher Gefahr wir geschwebt hatten. Nicht auszudenken, was passiert wäre, würde Luke nicht über die Augen einer Eule verfügen! Naheliegend, dass uns der aufgebrachte Pöbel an Ort und Stelle ohne mit der Wimper zu zucken erschlagen hätte. Dabei waren wir unschuldig in diese Situation geraten. Doch das zählte nicht. Der Fremde ist stets der Verdächtige, der Täter. Womöglich hätte ich daheim in Stoney Creek ähnlich reagiert. Schuldig bis zum Beweis der Unschuld. Ob Zeit geblieben wäre, selbige zu beweisen, durfte bezweifelt werden.
Einer Eingebung folgend griff ich zu den Rudern, um das Boot zu beschleunigen, doch Krister hielt mich zurück.
„Besser nicht. Wir verziehen uns lieber so lautlos wie möglich.“
„Sie werden uns sehen, wenn sie sich am Ende irgendeines Stegs postieren. Wir haben nicht genug Fahrt, der Wind ist zu schwach.“
„Nein, das würde die Aufmerksamkeit nur auf uns ziehen, Jack. Los, geht auf Tauchstation! Unsere sauberen Fackelträger werden nach einem Boot mit drei Leuten Ausschau halten, warum sollten wir ihnen den Gefallen tun?“
Luke und ich befolgten diesen Rat und legten uns flach auf die Planken, während Krister der Meute den Rücken zuwandte.
In diesem Augenblick schob sich eine freundliche schwarze Wolke vor den aufgehenden Ebrod. Von Sekunde zu Sekunde nahm das Licht ab. Unsere Verfolger näherten sich. Aufgebrachte Stimmen zerrissen die Stille der Nacht. Einige wenig Gutes versprechende Satzfetzen drangen über das Wasser bis an meine Ohren. Im Schutz der Dunkelheit trieben wir langsam aber stetig immer weiter aufs Meer hinaus.
Als die wenigen flackernden Lichter Van Diens am Horizont verschwammen, gingen wir davon aus, nicht mehr in Gefahr zu schweben. Selbst wenn einige Boote die Verfolgung aufnähmen, jetzt in der Nacht standen unsere Chancen bestens, nicht mehr entdeckt zu werden. Die Aufregung an Bord legte sich.
„Aus dem Vorräte aufstocken wird jetzt wohl nichts mehr“, resümierte ich sarkastisch. „Der ganze Umweg war für die Katz!“
„Ich halte es für keine gute Idee, noch einmal umzudrehen und wegen ein paar Laiben Brot mein Leben zu riskieren. Ich denke, ich muss dir nicht extra verbieten, Van Dien bei der Rückfahrt anzulaufen, Luke, nicht wahr?“
Ich sah Lukes Gesicht aufgrund der Dunkelheit zwar nicht, war mir aber seines breiten Grinsens sicher, als er antwortete: „Ich gedenke nicht nur das Boot sondern auch mich heil und gesund wieder nach Stoney Creek zu bringen.“
„Gutes Tier!“ Damit war dieses Thema für Krister beendet.
Nun stellte sich die Frage, wie wir die Nacht verbringen wollten. Es wäre nicht die erste, die ich auf einem Boot verbrächte. Das Festland lag freilich nicht weit entfernt in östlicher Richtung, doch mitten in der Nacht zu versuchen, an einer unbekannten Küste zu landen, grenzte an Wahnsinn. Die See versprach ruhig zu bleiben. Auch der Himmel sah nicht so aus, als wollte er in den kommenden Stunden ein Unwetter ausbrüten. Also wählten wir die unter diesen Umständen einfachste Lösung: eine Nacht auf dem offenen Meer. Das versprach nicht sehr bequem zu werden.
Um das Boot zu sichern, war es unerlässlich, Wache zu halten. Ich erklärte mich bereit, die erste zu übernehmen, da ich aufgrund der vorangegangenen Ereignisse sowieso nur wenig Müdigkeit verspürte. Luke und Krister legten sich auf die Planken und schliefen ein. Mit dem Ruder fest in der Rechten blieb ich auf nordöstlichem Kurs. Der Wind ließ noch weiter nach, was ich gleichwohl begrüßte.
Meine Gedanken schweiften ab. Ich fragte mich irgendwann, warum der letzte Kontakt zu anderen Menschen ein derart feindseliger gewesen war. Hatten wir uns falsch verhalten? Musste ich mir etwas vorwerfen? Ich erkannte jedoch keine eigenen Fehler. Sich zur Wehr zu setzen durfte uns niemand vorwerfen.
Mit einem Ruck schreckte ich hoch. Irgendetwas Großes war mit der Unterseite des Bootes in Kontakt gekommen. Leichtes Raunen ging durch die Querspanten, als sich der Kahn für einen Moment sacht nach steuerbord neigte. Hatte uns eine einsame Woge längsseits gestreift? Unwahrscheinlich, die Meeresoberfläche schimmerte wie ein glatter Spiegel im Mondlicht. Ich tippte auf einen neugierigen Ichthyon und lauschte aufmerksam. Aber alles war wieder ruhig.
Kurz bevor mich die Müdigkeit zu übermannen drohte, weckte ich Krister, der ohne zu murren die nächste Wache übernahm. Todmüde legte ich mich nieder und schlief noch in der Bewegung ein.
So endete ein langer Tag, der eigentlich in der sicheren Obhut eines einladenden Gasthauses in einem weichen Bett hätte ausklingen sollen, auf den harten Planken unseres Bootes, das sanft durch die Weiten der Moa Bay in Richtung offene Tethys schaukelte.