Читать книгу Sentry - Die Jack Schilt Saga - Michael Thiele - Страница 7
05 TETHYS
ОглавлениеEs war ein merkwürdiges Gefühl, die erste Nacht fort von daheim zu verbringen und nicht zu wissen, ob und wann es eine Rückkehr geben würde. Ich schien nicht der Einzige zu sein, der Gedanken dieser Art hegte. Schon den ganzen Tag lang hatte an Bord eigenartige Stimmung geherrscht, niemandem schien sonderlich an Unterhaltung gelegen zu sein. Jetzt am Abend noch viel weniger.
Wir entfachten ein Feuer, steckten den tagsüber erbeuteten Seefisch auf Holzspieße und warteten mit steigendem Appetit geduldig bis er garte. Luke kam mir fremder denn je vor. Stillschweigend und vollkommen aufrecht saß er im Schneidersitz vor dem prasselnden Feuer und fand offensichtlichen Gefallen daran, den brutzelnden Fisch zu beobachten. Fett tropfte zischend in die Flammen. Vom Strand her wehte das sanfte Plätschern der Wellen.
„Seht euch die Sterne an.“ Ich versuchte eine Konversation in Gang zu bringen. Das sture Schweigen zehrte an meinen Nerven. In der Tat haftete an diesem Abend dem Blick in den rabenschwarzen Himmel etwas Außergewöhnliches an. Das blankgeputzte Firmament schien zum Greifen nahe, die flackernden Lichtpunkte der unendlich weit entfernten Sterne erstaunlich scharf umrissen.
Drei Augenpaare richteten sich nach oben. Automatisch suchte ich nach den Planeten. Weit im Norden stand Taran, der Goldene, ein strohgelber, verschwommener Farbtupfen. In südwestlicher Richtung fand sich Belfeg, gut zu erkennen an seiner schwachvioletten Aura. Zuletzt machte ich Tauri aus, den großen Ringplaneten. Abertausende namenlose, sacht pulsierende Sterne funkelten überall. Kein Wölkchen trübte den Blick hinaus in die endlosen Weiten des unbegreiflichen Alls.
Dann sprach Luke. Zum ersten Mal seit Stunden. Seine neutrale Stimme verriet keinerlei Gefühlsregung. „Tauri wird größer und größer. Ich beobachte ihn seit langem. Noch nie war er Gondwana so nahe. Manche sagen, das ist kein gutes Zeichen.“
Mein Blick kehrte zurück zu dem Ringplaneten. Ich konnte keinen Unterschied erkennen, er sah aus wie eh und je. Luke sah mich an. Er deutete die Skepsis in meinem Gesicht richtig und fuhr fort: „Man sieht es an seinem Ring. Er ist heller und klarer zu erkennen als sonst.“
Was wusste ich schon genaues über die sechs Planeten? Ich kannte ihre Namen, natürlich, und wusste sie am Sternenhimmel auszumachen, wenn ich nur lange genug suchte. Zu manchen Jahreszeiten sah man diesen nicht, dafür jenen umso besser. Gut, ich wusste ein bisschen mehr als beispielsweise Luke, der mit Sicherheit noch nie etwas von Pangäa gehört hatte, Gondwanas unsichtbarem Zwilling, der Nummer sieben im Xynsystem. Ich sah aber keinen Anlass, ihm dies mitzuteilen. Nein, das Alte Wissen sollte und musste so geheim wie möglich bleiben, der Kreis der Wissenden auf Rob, Krister und mich beschränkt bleiben. Ob Tauri nun größer wirkte als die letzten Male, die ich ihn beiläufig wahrnahm, konnte ich beim besten Willen nicht beurteilen. Krister schien die ganze Sache am allerwenigsten zu interessieren. Er hatte sich längst wieder dem Feuer zugewandt.
„Der Sternenhimmel ist heute auffallend klar“, gab ich Luke zur Antwort. „Womöglich erscheint uns deswegen alles ein wenig fremdartiger.“
Luke nahm seinen Fisch aus dem Feuer und untersuchte ihn von allen Seiten, bevor er entschied, ihm noch ein paar Minuten Hitze zu gönnen.
„Nein, Tauri kommt näher“, beharrte er, ohne die Augen von seiner garenden Mahlzeit zu lassen.
Eine Pause entstand, die mich bereits denken ließ, das Thema sei abgehakt. Dann sah mich Luke plötzlich unverwandt an. Seine Augen flackerten im Widerschein des Feuers wie die Sterne am Firmament.
„Es gibt in Van Dien die Legende von der Taurinacht, derzufolge sich der Ringplanet so weit annähern wird, dass er den ganzen Himmel für siebzehn Tage und Nächte komplett bedeckt.“
„Klingt nach einer Sonnenfinsternis“, tat ich es ab und wandte mich etwas zu demonstrativ wieder meinem Fisch zu.
Luke lächelte einen Tick zu geringschätzig. Es missfiel mir.
„Ich rede nicht davon, wenn sich kleine Staubkörner wie Estri oder Ebrod vor die Xyn schieben und sie für ein paar Minuten ausblenden. Ich rede von Tauri, einem Giganten, hundertmal massereicher als Gondwana. Ich rede davon, dass das Licht ausgeht. Für lange Zeit.“
„Nun, zum Glück handelt es sich nur um eine Legende, wie du bereits deutlich bemerktest.“
„Ja schon, aber wie ist das mit dem Fünkchen Wahrheit, das in allen Legenden wohnen soll?“
Ich sah ihn an. Auf seinem Gesicht lag eine Art Eifer, der mich befremdete.
„Schau, Luke, wenn es so etwas wie die Taurinacht gäbe, müssten wir doch davon wissen, oder? Ich persönlich hörte noch nie davon. Ich kenne auch niemanden, der je davon zu berichten wusste. Du, Krister?“
Der Gefragte sah kurz auf, legte die Stirn in Runzeln und schüttelte den Kopf.
„Na siehst du.“ Ich beließ es dabei und kam mir wie ein rechthaberischer Lehrmeister vor. Luke schwieg fortan. Mein Versuch, eine lockere Unterhaltung in Gang zu bringen, war glatt fehlgeschlagen, zumal Krister nicht das geringste Interesse an ihr zeigte. Also aßen wir schweigend. Das im Feuer angeröstete Brot schmeckte hervorragend. Weniger schmeckte die Tatsache, bald keines mehr essen zu können. Jeden Bissen auskostend verlängerte ich den Genuss, an den ich mich in Zeiten der Entbehrung, die zweifellos vor uns lagen, genau erinnern wollte. Gesättigt und müde wickelte ich schließlich die Decke um mich und beobachtete das ersterbende Feuer.
Viel später lag ich noch immer wach, lauschte dem immerwährenden Seufzen des Ozeans, den leise vernehmbaren Atemzügen meiner beiden Gefährten, die längst schliefen, und wälzte schwere Gedanken.
Zum wiederholten Male stellte ich mir die aufwühlende Frage, was Vater wohl nun denken mochte, jetzt da seine beiden Söhne auf und davon waren. Ob er wenigstens zu verstehen versuchte?
Umgeben vom Dunkel der Nacht, eingewickelt in eine dünne Decke an der Südspitze Aucklands, erschien mein Vorhaben undurchführbarer denn je. Die feuchte Kühle, die vom vom Meer herankroch und mich frösteln ließ, trug nicht dazu bei, meinen Optimismus zu steigern.
Irgendwann ertappte ich mich dabei, Tauri zu beobachten, jene sandfarbene Scheibe am südwestlichen Horizont, die jetzt, wo sie versank, noch intensiver zu glühen schien. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl sein mochte, wenn Lukes Legende in der Tat der Wahrheit entspräche. Siebzehn Tage und Nächte vollkommene Dunkelheit. Blödsinn. Nicht einmal in den Aufzeichnungen von Radan war so etwas mit einem Federstrich erwähnt gewesen. Nun ja, wenigstens nicht in dem zugegeben verschwindend kleinen Teil, der in verständlicher Sprache niedergeschrieben worden war. Dennoch, was für ein Unfug! Keine Sekunde glaubte ich daran.
„Guten Morgen.“ Noch fest eingewickelt in seine wärmende Decke öffnete Krister die Augen und gähnte: „Ich hätte gerne gebratenen Speck mit Rühreiern. Darf ruhig etwas mehr sein.“
Kühler Wind war über Nacht herangezogen, der Himmel wolkenverhangen und wenig einladend für einen weiteren Tag auf See.
Ich grinste ihn an. „Mach zwei Portionen draus! Wann haben wir eigentlich zuletzt eine Nacht unter freiem Himmel verbracht?“
„Lass mich sehen... war das nicht kurz vor eurer denkwürdigen Entdeckungsreise nach Radan? Die stürmische Nacht am Kap Mandawar?“
Ich überlegte. Ja, er hatte Recht. Das war eine schlaflose Nacht gewesen! Schwerer Sturm war damals aufgezogen und zwang uns zu einer unfreiwilligen Zwischenstation an besagtem Kap, am westlichen Ende Avenors. Der Frühling war kaum angebrochen und die ersten warmen Tage trieben Krister, Rob und mich leichtsinnig zeitig hinaus auf die noch kalte See. Der Winter hatte sich ewig lange hingezogen, und ungeduldig wie wir waren, nutzten wir einen der ersten angenehmer temperierten Tage zu einer Reise in die December Bay. Kräftiger Ostwind nahm uns ohnehin die Entscheidung ab, in welche Richtung es gehen sollte.
Noch vor Sonnenaufgang waren wir damals losgezogen, in demselben Boot, das uns jetzt nach Hyperion bringen sollte, um das Kap noch bei Tageslicht zu erreichen. Das war uns auch gelungen. Nur war der Wind im Tagesverlauf immer stärker, die See unruhiger, die Aussichten auf einen erfolgreichen Fangzug von Stunde zu Stunde geringer geworden.
Ein Frühjahrssturm der Extraklasse brach am späten Nachmittag los, der uns an Land zwang. Mit vereinten Kräften schleppten wir das Boot einen steinigen Kiesstrand hoch und fanden Unterschlupf in einer kalten und feuchten Höhle, durch die der aufgebrachte Wind pfiff. Kein Auge hatte ich in jener Nacht zugetan, vor Kälte zitternd, vor Sorge um das Wohl des Bootes. Es gelang uns nicht einmal, ein Feuer zu machen, um uns zu wärmen. Zwei Tage und Nächte tobten die Elemente, bis sich das Unwetter am dritten Tag endlich verzogen hatte und wir halb erfroren und ausgehungert nach Hause zurückkehrten. Keinen einzigen Fisch hatten wir gefangen, dafür das Boot beschädigt, ein Segel zerrissen und ein Ruder verloren. Die fälligen Reparaturarbeiten standen in keinem Verhältnis zum Nutzen der gesamten Aktion. Aber es hatte dennoch Spaß gemacht. Verdammten Spaß.
„Du warst gestern so schweigsam“, wagte ich zu fragen.
Krister sah mich einen Augenblick an, bevor er die Augen wieder schloss, als wollte er weiterschlafen. Es gab nur wenige Themen, die Krister Bergmark nicht zu diskutieren bereit war, und dazu gehörte Sava. Seit sie sich liebten gehörte ein Teil von ihm nicht mehr zu unserer Freundschaft, gab es etwas, das trennend zwischen ihm und Rob und mir stand. Nun ist Stoney Creek nichts anderes als eine kleine Siedlung am Meer, deren wenige hundert Bewohner von Ackerbau und Fischfang leben. Irgendwie ist keiner dem anderen so richtig fremd. Krister und Sava kannten sich schon, seit sie Kinder waren, ihre Zuneigung füreinander entdeckten sie allerdings erst später, dafür umso intensiver und leidenschaftlicher.
Anfangs hatte ich recht eifersüchtig auf Sava reagiert, die mir zuweilen einen guten Freund raubte. Meiner Meinung nach gab es doch viel Sinnvolleres zu tun.
Würde ich wegen eines Mädchens auch nur einen Augenblick gezögert haben, wenn es darum ging, zwischen ihr und der Jagd nach Oktopoden zu entscheiden? Damals sicherlich nicht.
Die Zeiten änderten sich allerdings auch für mich, und die verwirrende Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht, nach körperlicher Nähe und Zweisamkeit, nahmen mich letztendlich genauso gefangen. Auch wenn es sich schwierig gestaltete.
Am Beispiel meines Bruders, der im vergangenen Jahr verschwiegen die Nähe eines Mädchens aus der Nachbarschaft, Rebekka van Renterghem, suchte, stellte ich fest, wie schwer. Ich fand sie gleichermaßen faszinierend. In ihren stolzen, etwas hochmütigen Augen schien ein eisblaues Geheimnis zu wohnen, das zu entlocken es alle Mühe wert war.
Der hochgewachsene Robert Schilt, in der Blüte seiner Jugend, sah sich mit wenigen Problemen konfrontiert, wenn es darum ging, ein Mädchen zu betören. Rebekka jedoch gehorchte lange Monate dem strengen Vater, der ihr den Umgang mit dem unwürdigen Fischersohn verbat und sein achtsames Auge nicht von ihr nahm. Folglich ging sie Rob aus dem Weg. Kein noch so süßes Wort, das er ihr auf dem Weg zum Fluss zuflüsterte, erwiderte sie. Widerspenstig schlug sie seine streichelnde Hand fort, die ihr krauses Blondhaar zu liebkosen versuchte.
Doch Rob wäre nicht Rob gewesen, hätten ihn nicht genau diese Hürden, die ihm der alte van Renterghem in den Weg legte, zu Höchstleistungen angespornt. Er spürte, ihr nicht gleichgültig zu sein, und nach und nach erlahmte der halbherzige Widerstand. Wenn auch sein Werben vom Frühjahr bis in den Spätsommer andauerte, am Ende gab sie ihm nach.
Das Verbot des Vaters hingegen hing wie dunkle Wolken über ihren zarten Spielen im goldgelben Herbstkorn. Sehr viel länger dauerte ihre Liaison auch nicht an, denn noch bevor die ersten Frostnächte über das Land kamen, hielt Rebekka dem Druck des ahnungsvollen Vaters nicht stand und beichtete ihre unglückliche Liebe. Van Renterghem sperrte seine Tochter einen ganzen Winter lang weg und schickte sie im folgenden Frühling – das war erst vor wenigen Wochen gewesen – zu Verwandten nach Cape Travis. Um ein Haar wäre Rob ihr gefolgt, doch entschied er sich letzten Endes gegen sie.
Wie oft tat er so, als sei nichts gewesen, wie sehr mimte er den willensstarken Mann, der über all diesen bittersüßen Liebesdingen stand, doch spürte ich sehr wohl den herben Stachel, der seitdem in seinem Herzen steckte. Wenig später ereignete sich Radan, was nicht nur sein Leben grundlegend umkrempelte.
Ich spürte, was kaum zu leugnen war: Krister litt unter der Trennung seiner Gefährtin Sava und wünschte nicht darauf angesprochen zu werden. Er staunte nicht schlecht, als ihm kurze Zeit später der Duft von gebratenem Speck in die Nase stieg. In der Tat fand sich im Proviant eine Seite Schweinespeck. In dem ausgelassenen Fett brieten – ganz nach Wunsch – ein Dutzend Möweneier, die Luke im dichten Strandgras aufgestöbert hatte. Zwei der Eier waren bereits angebrütet gewesen und für den Verzehr nicht mehr geeignet, doch die restlichen dickten in unserer Pfanne zu einem ansehnlichen Omelett zusammen.
„Das fängt ganz gut an“, meinte Krister deutlich besser gelaunt. „Mit einem anständigen Frühstück im Magen sieht alles gleich anders aus.“
„Ist das alles?“ fragte ich ihn mit dem Versuch eines erwartungsvollen Gesichtsausdrucks. „Immerhin ist es dem Service gelungen, Ihrem Wunsch voll und ganz zu entsprechen. Hat er sich keine Anerkennung verdient?“
Ich deutete auf Luke und mich, bemüht, Kristers Stiefbruder nach meiner herablassenden Behandlung vom gestrigen Abend auf versöhnliche Art und Weise mit einzubeziehen.
„Eine ganz hinterlistige Art, um Aufmerksamkeit zu betteln. Schön, ums Abendessen kümmere ich mich. Wenn mir das Jagdglück hold ist, werdet ihr das köstlichste Mahl eures Lebens vorgesetzt bekommen, das kann ich jetzt schon versprechen.“
Wir packten zusammen und brachen auf. Das Segel blähte sich im kräftigen Westwind, der um einiges stärker blies als gestern, was der See nicht zu imponieren schien. Sie blieb verhältnismäßig ruhig und gelassen.
Ich brachte den Kahn auf nordöstlichen Kurs. Bis Mittag würden wir Wanaka erreicht haben, vielleicht sogar dort landen, auch wenn Krister sich dagegen aussprach. Er konnte Kap Longreach nicht schnell genug erreichen, um sich heute noch auf die Jagd nach Yanduras zu machen.
Im Verlauf des Vormittags begann die See unruhiger zu werden. Nicht bedrohlich unruhig, keineswegs, aber dennoch nachdrücklich kabbeliger als am Vortag. Die Wellen trugen nun Kämme aus weißem Schaum, zuweilen sprühte Gischt über die Bordwand. Der Himmel klarte zeitweise auf und ließ hier und da die Sonne durchblicken. Alles in allem überwiegten aber dunkle Wolken, die der Xyn nur wenige Chancen ließen. Windig blieb es bis in die späten Abendstunden hinein.
Wie erwartet tauchte um die Tagesmitte herum am nordwestlichen Horizont ein blasser Schatten aus dem Meer auf, die ersten Anzeichen Wanakas. Die Insel lag jedoch überraschend weit nördlich. Hatte ich nicht ordentlich Kurs gehalten? Krister stand backbord und sah sich genau in dem Augenblick nach mir um, als mich dieser Verdacht beschlich. Aus unserem Zwischenstop würde nun wohl nichts werden, zu viel Zeit nähme eine Kursänderung in Anspruch.
„Lassen wir Wanaka ausfallen“, rief ich Krister zu, der bestätigend nickte. Luke, der ganz vorne im Boot saß, wandte sich nicht einmal um. Er hockte zusammengekauert da und starrte seit Stunden aufs Meer hinaus.
Welch merkwürdiger Junge! Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm, dachte aber auch nicht daran, mich länger damit zu beschäftigen. Nach unserer Ankunft in Hyperion würde ich ihn los sein, etwas auf das ich mich insgeheim freute. Ich konnte aber auch nicht sagen, dass er mir sonderlich auf die Nerven fiel, dafür sagte er schlicht zu wenig. Eigentlich verhielt er sich völlig unauffällig, gab mir so gut wie keinen Grund, ihn abzulehnen und dennoch hielt sich meine Aversion hartnäckig.
Wanaka verschwand genau so schnell, wie sie aufgetaucht war. Wir passierten die Insel in weitem Abstand und gute zwei Stunden später näherten wir uns bereits der schroffen Felsenküste von Geirfuglasker, der zweitgrößten Insel der Bay of Islands. Wie eine langgezogene graue Wolke tauchte sie majestätisch aus dem Dunst auf. War Lukes Vater nicht irgendwo in den Gewässern hier ums Leben gekommen? Verstohlen beobachtete ich ihn, wenn er sich ab und zu umwandte, konnte jedoch keine besondere Gefühlsregung in seinem teilnahmslosen Gesicht ausmachen. Sollte ihn tatsächlich etwas beschäftigen, ließ er es sich nicht anmerken.
Dann herrschte Aufregung an Bord. Krister hatte Schleppleinen ausgeworfen und einige Fische gefangen, die er als Köder für größere Kaliber benutzte. Tatsächlich biss ein aufsässiger Großer Sargan von knapp einem Meter Länge an, den zu besiegen es Kristers ganzes Anglergeschicks bedurfte. Der Kampf zog sich eine halbe Stunde hin, und am Ende hatte der Jäger souverän gewonnen und sein ermattetes Opfer an Bord gehievt.
„Erstklassige Arbeit“, ließ Luke aus seiner Ecke verlauten. Es waren seine ersten Worte seit der Abreise von Auckland gewesen. „Das Abendessen ist gesichert.“
„Vergiss das Abendessen! Damit hole ich uns einen Karsar!“
Ich sah keinen Grund, Kristers Optimismus zu dämpfen, auch wenn mir nicht klar war, was genau er mit einem Karsar anstellen wollte. Es musste das reine Jagdfieber sein, welches ihn trieb, denn von Nutzen konnte uns dieser bis zu drei Metern heranwachsende Fisch nicht sein, zumal wir nur einen kleinen Teil des Fleisches würden verwerten können. Und dann musste er einen dieser Riesen natürlich erst einmal kriegen.
„Einen Karsar? Hast du dafür die nötige Ausrüstung mit?“
Krister warf mir einen verächtlichen Blick zu und zauberte auch schon einen gefährlich aussehenden eisernen Haken hervor. Triumphierend hielt er ihn mir unter die Nase. Dann zerteilte er den noch zuckenden Sargan, spießte blutige Stücke auf den messerscharfen Haken und warf den Köder aus. Aufgrund des starken Windes bewegte sich das Boot mit kräftigem Tempo voran, ideale Bedingungen für die Jagd auf große Raubfische.
Anfangs passierte rein gar nichts. Ich war sicher, dass der Köder bereits von irgendwelchen kleineren Räubern bis auf die Gräten abgenagt worden war, sagte aber keinen Ton.
Kap Longreach befand sich bereits in Sichtweite, als endlich der ersehnte Ruck durch die Leine ging, die sich augenblicklich spannte. Krister zögerte keinen Moment, packte die Fangleine und wickelte sie sich mehrfach um den Körper, bevor er mit der eigentlichen Arbeit begann.
Das Einholen der zum Zerreißen gespannten Leine erwies sich als Schwerstarbeit. Krister mühte sich fluchend ab, kam aber trotz seiner Bärenkräfte nicht voran. Es sah eher so aus, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis das überaus kräftige Wesen am anderen Ende der Leine seinen Jäger ins Meer gezerrt hätte. Luke wollte seinem Stiefbruder zu Hilfe eilen, doch lehnte Krister schroff ab. Was auch immer angebissen hatte, er wollte es ganz alleine besiegen. Oder den Kampf ganz alleine verlieren.
„Es ist hoffentlich kein Ichthyon“, rief ich Krister zu, der meine Bemerkung nicht einmal registrierte. Ich kannte seine Verbissenheit, wenn es darum ging, sich etwas zu beweisen. Dieser Gegner stellte eine echte Herausforderung dar, und das konnte gefährlich werden. Ein verletzter Krister Bergmark passte gegenwärtig gar nicht in mein Konzept. Schon sah ich das Blut in seinen Händen, als die scharfe Leine tiefer und tiefer in seine Handflächen schnitt. Ich musste etwas tun.
„Lass gut sein!“ rief ich. „Das ist es nicht wert. Deine Hände werden noch gebraucht.“
„So ein Drecksvieh!“ Noch mehr Blut. Krister sah sich gezwungen, Leine nachzulassen, was die Situation entschärfte.
Luke stieß einen Schrei aus und deutete wild gestikulierend nach achtern. Ich folgte seinem ausgestreckten Arm und sah einen mächtigen Fisch springen. Ja, es war ein Karsar. Ein ausgewachsener Karsar. Mindestens drei Meter lang, vom Schwanz bis zur Spitze seiner beiden mächtigen Falchions, die beim wütenden Auf- und Zuschnappen der kräftigen Kiefer hohl aufeinander klapperten. Das riesige Tier schüttelte sich dabei wie ein nasser Hund, seinen riesigen Kopf zornig hin und her schleudernd, als versuchte es, den unsichtbaren Gegner aufzuspießen und damit außer Gefecht zu setzen.
Fasziniert starrte ich auf den großartigen Fisch, der noch drei weitere Male sprang und sich dabei in seiner ganzen eindrucksvollen Größe präsentierte. Wollte er dem kleinen Boot signalisieren, eine Nummer zu groß zu sein? Noch einmal zeigte er sich, seinen Körper halb aus den Wellen schraubend, wobei nicht klar war, ob es der zum Zerreißen gespannten Leine zuzuschreiben war, die ihn zu dieser Akrobatik zwang. Krister schielte bereits trunken vor Erregung nach der Lanze, die zu seinen Füßen lag. Plante er, das Tier aus dieser Entfernung zu stechen?
„Luke, du willst helfen? Dann halte die Lanze bereit!“
Der Junge tat wie ihm geheißen und baute sich neben seinem Stiefbruder auf, die Waffe mit der rechten Faust umklammernd.
„Okay, dann hole ich das Vieh jetzt heran!“
Mit neuer Energie startete Krister eine zweite Offensive. Den Schmerz in seinen rohen Handflächen ignorierend zerrte er mit aller Kraft, die seine starken Arme hergaben, an der Leine. Tatsächlich ließ sie sich nach einigen Anfangsschwierigkeiten erstaunlich leicht einholen. Nach den imposanten Luftsprüngen musste der Fisch allem Anschein nach erschöpft sein. Er ließ sich wie ein Spielzeug heranziehen. Meter um Meter holte Krister die Leine ein. Ein siegessicheres Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
„Er hätte nicht springen dürfen. Jetzt ist er müde und entkräftet. Jetzt hab ich ihn! Ich spüre ihn! Wie er sich windet!“
Luke stand breitbeinig da, bereit zum tödlichen Stoß. Jeden Augenblick musste der Karsar am Haken hängend auftauchen, die nun wieder gespannte Leine verschwand nur gute zwei Körperlängen entfernt in der wogenden See. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln.
Krister startete den finalen Angriff und zog brutal an. Diese Aktion musste dem Karsar heftige Schmerzen bereitet haben, womöglich hatte der messerscharfe Haken seine Eingeweide aufgefetzt. Ein gewaltiger Ruck ging durch die Leine, als zöge ein wildgewordener Ochse am anderen Ende. Krister wurde nach vorne gerissen. Glücklicherweise hatte er sich nicht mehr die Mühe gemacht, die letzten Meter der eingeholten Leine um den Körper zu wickeln, er wäre sonst unweigerlich über Bord gegangen. So gelang es ihm, sich am Bootsrand abzufangen und die Leine zu sichern. Der Karsar bot noch einmal alles auf, was er an Kraftreserven zu bieten hatte.
In Kristers Augen spiegelte sich pure Entschlossenheit wider, das Tier koste es was es wolle zur Strecke zu bringen. Ein Anblick, der mir weit weniger gefiel. Unter normalen Umständen würde ich der letzte gewesen sein, der diesem Kampf aus dem Weg gegangen wäre. Allerdings befanden wir uns zwei Tagesreisen von zu Hause entfernt. Mir stand nicht der Sinn nach Umkehren, um einen verletzten Krister verarzten zu lassen. Nicht auszudenken, in welcher Lage wir uns befänden, sollte es dem riesigen Fisch gelingen, den Spieß umzudrehen, seinen Jäger ins Meer zu zerren und dort mit seinen tödlichen Falchions zu durchbohren. Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas geschah.
Ich spielte bereits mit dem Gedanken, die gespannte Fangleine eigenmächtig zu durchtrennen, schreckte aber davor zurück. Der Rückschlag eines derart unter Spannung stehenden Strangs konnte durchaus gefährlicher sein als der Riese am anderen Ende.
Doch dann löste sich das Problem auf ganz andere Weise. Die Leine entspannte sich unvermittelt, was eigentlich nur bedeuten konnte, dass der wieder untergetauchte Karsar Kurs auf das Boot nahm. Da er einige Meter Leine gewonnen hatte, war dies durchaus möglich. Vielleicht befand er sich direkt unter unserem Boot und strebte langsam der Wasseroberfläche entgegen, bereit sich zum letzten Duell zu stellen. Wir standen da und warteten, was geschehen würde.
Hatte schon jemals ein angeschlagener Karsar ein Fischerboot attackiert? Viele Geschichten fielen mir ein, von denen ich die meisten getrost als Seemannsgarn abtun konnte. Mit seinen mächtigen Falchions durfte ein Karsar sehr wohl in der Lage sein, einen Menschen aufzuspießen. Ein Boot ernsthaft zu beschädigen oder gar zum Kentern zu bringen, traute ich ihm jedoch nicht zu.
Die Spannung stieg, und auch mich ergriff wider besseres Wissen die pure Jagdwut. Das Tier hatte sich entschlossen, den Kampf zu Ende zu bringen, eine Situation, die sich nur schwer beschreiben ließ. Die Gesetze der Vernunft waren ausgeschaltet, jetzt galt es einzig und allein, das Biest zu erledigen.
Eine weitere Minute verstrich – nichts passierte.
Krister hatte wieder damit begonnen, Leine einzuholen und hielt schließlich ungläubigen Blickes das abgetrennte Ende in seinen wunden Händen. Keine Spur mehr von dem kapitalen Karsar, der eben noch an seinem Haken gehangen hatte. Dem Fisch war es tatsächlich gelungen, den Strang, der ihn gefangen hielt, zu kappen. Krister realisierte, was vorgefallen war und fluchte beinahe mitleiderregend. Nicht nur hatte er sich blutige Pfoten eingefangen, nein, auch sein kostbarster Angelhaken war auf Nimmerwiedersehen entschwunden. Übel gelaunt holte er wortlos die restlichen Fangleinen ein und spülte seine Wunden anschließend gründlich mit Meerwasser.
„Sind deine Hände in Ordnung?“ fragte ich ihn besorgt. Mein Jagdfieber war so schnell verschwunden, wie es mich gepackt hatte.
„Ach, nur ein paar Kratzer.“
„Lass mal sehen!“
Er sah mich an wie einen Wahnsinnigen. „Ich dachte eigentlich, meine Mutter hätten wir zuhause gelassen!“
Ich musste wider Willen grinsen. Krister schüttelte verständnislos den Kopf und widmete sich missmutig der geschundenen Ausrüstung.
Seine Stimmung hob sich erst wieder, als wir Kap Longreach erreichten. Die Aussicht auf die bevorstehende Jagd auf Stamarinas ließ ihn schon wieder lächeln. Auf sein Geheiß hin rückten wir nahe ans Festland heran. Das Donnern der Brandung nahm stetig zu. Wir segelten in sicherem Abstand und doch so nahe wie möglich die Felsenküste entlang, um unser Ziel nicht zu verpassen. Die Zufahrt in die versteckte Lagune war nach Kristers Worten nicht einfach zu finden und auch für das geübte Auge nur allzu leicht zu übersehen.
„Da ist sie! Da ist die Passage!“
Luke und ich glotzten uns die Augen aus dem Kopf, konnten aber beim besten Willen nichts erkennen.
„Wo denn?“
„Tja, meine Lieben, wie ich bereits sagte, die geheime Zufahrt kennen nur wenige. Und von hier aus sieht man sie auch noch nicht. Es ist die Formation der Felsen, die mir etwas sagt. Hinter diesen beiden hier, von denen der eine aussieht wie eine auf die Seite gedrehte Schildkröte, die mit den Beinen rudert? Seht ihr? Gut verborgen, nicht wahr? Wer nicht genau weiß, dass sich dahinter ein Geheimnis verbirgt, würde achtlos vorbeiziehen.“
Ich nickte zustimmend. Nichts, rein gar nichts ließ dies vermuten.
Wir hielten auf den Schildkrötenfelsen zu und änderten den Kurs nach steuerbord. Eine kleine Bucht öffnete sich, in die wir langsam hineinsegelten. Der Wellengang ließ nach. Noch immer keine Spur von dieser mysteriösen Durchfahrt. Ich fragte aber auch nicht danach. Krister wusste offenbar, wo sie sich befand, und ich konnte abwarten. Wir durchkreuzten die Bucht, uns dabei streng an ihrem Ostrand haltend.
Krister ließ das Segel fallen. Die enge Passage durch den Kanal, die er bereits mehrere Male gemeistert hatte, lag nun direkt vor uns. Aus dem Nichts war sie aufgetaucht. Steile Felsen ragten zu beiden Seiten empor. Tausende von Seevögeln schwebten kreischend über uns, stießen sich von ihren Nistplätzen ab und tauchten pfeilschnell in die See ein, um wenige Sekunden später mit erbeuteten Fischen, die in ihren Schnäbeln silbrig schimmernd zappelten, aufzutauchen und erneut in die Lüfte zu schnellen. Wir hatten wenig Augen für die Tierwelt um uns herum. Es galt, das Boot sicher durch die Durchfahrt zu bringen.
„Wir müssen vorsichtig sein“, warnte Krister. „Die Passage ist an manchen Stellen außerordentlich schmal und ab und an herrscht kräftige Strömung. Wir müssen rudern und das Boot wenn nötig mit Hilfe der Paddel von den Felsen fernhalten.“
Ich ergriff das zweite Ruder und machte mich an die Arbeit. Luke stand am Bug und hielt Ausschau nach tückischen Unterwasserfelsen. Wir ruderten vorsichtig in den Kanal hinein. Das Donnern der Brandung nahm zu. Auch das ohrenbetäubende Geschrei der Seevögel steigerte sich zu einem wahren Stakkato. Das Boot begann hin und her zu schaukeln.
„Nach Backbord!“ rief Luke plötzlich. „Felsen voraus!“
Mit einigen kräftigen Ruderschlägen manövrierten wir das Boot wie geheißen und näherten uns gefährlich nahe der schroffen Wand des Schildkrötenfelsens. Nur drei Meter – wenn nicht weniger – schmatzendes und gurgelndes Wasser befanden sich zwischen ihm und einer Kollision mit ungewissem Ausgang. Ich spürte kalten Schweiß auf der Stirn.
„Die Stelle kenne ich“, meinte Krister mit ruhiger Stimme. „Aber keine Sorge, wir haben Flut, der Kanal ist tief genug.“
Ich lächelte schwach, vertraute ihm jedoch voll und ganz. Wäre die Durchfahrt zu problematisch, würde Krister sie niemals angehen. Dennoch wurde meine Zuversicht wenig später erschüttert.
Den gefährlichen Felsen, der nur wenige Zentimeter aus dem Wasser geragt hatte hinter uns lassend, versuchten wir wieder in die Mitte des Kanals zu gelangen, als eine kräftige Welle das Boot unerwartet anhob. Das Heck brach sofort nach backbord aus, und schon stellten wir uns inmitten des engen Kanals quer. Fluchend steuerten Krister und ich gegen, doch war es bereits zu spät. Bösartig knirschend schlug das Heck gegen die Felsen. Holz splitterte. Zudem schrammte die Unterseite irgendwo entlang. Das schleifende Geräusch tat mir körperlich weh. Ich hakte das Ruder waagrecht in den Fels und drückte mit aller Kraft dagegen, um wieder Abstand zu gewinnen. Ächzend und stöhnend und mit Hilfe einer neuen Woge hob sich das Boot, gewann an Auftrieb und glitt in die Kanalmitte zurück.
„Das war knapp“, keuchte ich. „So etwas darf nicht noch einmal passieren!“
Natürlich traf niemanden die Schuld an dieser Kollision, die glücklicherweise folgenlos blieb. Es erwies sich weiterhin als ein mühsames Geschäft, durch den langen Kanal hindurch zu navigieren. Verschieden starke Strömungen zogen das Boot mal nach links, dann wieder nach rechts, doch gelang es uns, ein zweites Rendezvous mit den Felsen zu verhindern.
„Dort vorne ist die Lagune“, hörte ich Luke endlich rufen. Der Kanal verbreiterte sich nun zusehends. Die Sonne brach durch die Wolken. In allen vorstellbaren Türkistönen schimmerte das ruhige Wasser der Lagune, und als das Boot in sie hinein glitt, sprang Krister auf die Füße und setzte das Segel. Während ich beide Ruder einholte, übernahm er flink das Steuer und drehte nach backbord ab. Wohin es nun ging, wusste nur er. Bald steuerten wir auf eine winzig kleine, mit schneeweißem Sand gesäumte Bucht zu.
„Da ist sie!“ hörte ich Krister mit entrückter Stimme sagen. „Savas Bucht.“
Ich war bestürzt. Er war also schon einmal mit ihr hier gewesen! Ich musste ihn so merkwürdig angesehen haben, dass er meinen Gedanken erriet. „Keine Sorge, Jack, ich habe die Bucht nur nach ihr benannt, sie selbst hierher zu bringen, hätte ich nie gewagt.“
Warum mich diese Worte erleichterten, begriff ich selbst nicht.
Wir warfen alles Gepäck in den strahlend weißen Muschelkalk, der die kleine Bucht säumte. Hier würde es sich vorzüglich schlafen lassen! Kaum ruhte das Boot sicher und fest, begann Krister im Schatten einer der wenigen Bäume, die hier Wurzeln zu schlagen wagten, zu graben. Wenig später brachte er eine eiserne Harpune zu Tage, die er mir stolz in die Hand drückte. Sie maß anderthalb Meter, und ich erstarrte, als ich den kalten Stahl in den Händen spürte.
„Sie ist aus Eisen!“ Ich sah ihn mit offenem Mund an. „Wo hast du sie her?“ Die Kunst des Eisengießens war im Großen Krieg verloren gegangen, eine Fähigkeit, die die Menschen erst seit kurzem wieder zu erlernen begannen. Eisenerz kam in Avenor nicht vor. Man fand es jedoch sehr wohl in den sogenannten Kupferbergen, die das nordöstliche Ende des Zentralmassivs bildeten, nahe der Grenze zwischen Aotearoa und Laurussia, dort, wo das Gebiet der Opreju begann. Unter normalen Umständen wagte sich niemand dorthin. Das wenige Eisen, das in Avenor kursierte, wurde zum größten Teil durch Einschmelzen alter Waffen aus dem Großen Krieg gewonnen, die sich immer wieder auf den ehemaligen Schlachtfeldern fanden. Aber auch das Verarbeiten von qualitativ schlechterem Sumpferz war weit verbreitet.
„Wo hast du sie her?“ fragte ich.
Krister grinste breit. „Ich fand sie vor vielen Jahren in einem Wrack an der Mündung des Sawyer. Ein uraltes Wrack, wohlgemerkt. Keines aus unserer Zeit. Ein Handelsschiff aus Van Dien, wie ich annehme. Vielleicht eines der Schiffe, die Lake Sawyer und die alte Hauptstadt miteinander verband. Wie auch immer, als ich das Wrack zufällig fand, musste ich natürlich hinuntertauchen.“
„Mit wem warst du dort?“ fragte ich. Mir war sofort klar, dass er niemals alleine in ein unbekanntes Wrack tauchen würde. Ich traute Krister zwar sehr viel zu – vielleicht zu viel – aber eines war er bestimmt nicht, sträflich leichtsinnig.
„Mit Rob natürlich“, erwiderte Krister.
„Er hat mir nie etwas davon erzählt“, murmelte ich und fühlte mich betrogen.
„Es gibt so manches, was du nicht weißt. Ich tauchte also hinunter, ein altes Wrack, halb im Schlamm versunken. Es lag tief und mir blieb nicht viel Zeit. Ich wühlte ein wenig hier und ein wenig da und fand diese eiserne Harpune. Mit ihr habe ich der Yandurakolonie hier schon das Fürchten gelehrt. Das Eisen geht durch ihre Panzer hindurch wie nichts.“
„Da kannst du drauf wetten.“ Die Waffe wog schwer in meinen Händen. „Ihr tatet gut daran, sie hier zu verstecken. Zuhause hätten sie sie euch sofort abgenommen.“
„Ja klar, und irgendeinen Scheiß daraus gegossen für die Landwirtschaft oder was weiß ich was“, argwöhnte Krister angewidert. „So etwas Edles darf man einfach nicht zerstören.“ Er nahm mir die Harpune wieder ab und prüfte die Schärfe der Spitze. Augenblicklich floss Blut. „Gut, sie ist noch messerscharf. Na dann, ich kann es kaum erwarten. Kümmert ihr euch ums Feuer?“ Und schon lief er los. Wohin konnte ich nur ahnen. Wohl zu den nur ihm und Rob bekannten Fanggründen.
„Vergiss es“, erwiderte ich sofort. „Ich komme natürlich mit.“
„Ja, geht nur“, gab Luke von sich, der der kostbaren Harpune wenig abgewinnen konnte. Er wirkte beinahe froh ob der Aussicht, uns für eine gewisse Zeit loszuwerden.
Krister und ich kraxelten das Kliff hinauf, das uns über eine Art Grat steil nach oben führte. Von dort aus blickten wir zurück auf Savas Bucht, auf das kleine Boot, das im Sand ruhte. Krister winkte Luke zu, der sich, soweit ich das sehen konnte, ganz und gar dem Sammeln von Treibholz hingab.
„Der Träumer hört und sieht jetzt nichts mehr“, sagte Krister kopfschüttelnd. „Ist wieder mal eins mit seiner geliebten Natur. Aber wenigstens tut er, was man ihm sagt, darauf kommt es an. Und er tut es gewissenhaft. Ah, siehst du? Hier drüben ist schon die Nachbarbucht, wir haben sie einst Krisberts Bucht getauft.“
„Krisbert?“ Ich erriet die Umstände der Namensgebung und fand sie überaus albern.
„Ja, ein toller Name, nicht wahr?“
„Ja, echt toll.“ Entweder nahm Krister meinen Spott nicht wahr oder bevorzugte es schlicht und einfach ihn zu überhören. Auf flinken Beinen arbeitete er sich das Kliff hinunter. Ich folgte dicht hinterdrein.
„Krisberts“ Bucht besaß keinen Strand. Merkwürdig geformte Felsen, die wie zerklüftete monströse Backenzähne aussahen, ersetzten den weißen Sand, der Savas Bucht ein so anmutiges Aussehen verlieh. Ein kleines Rinnsal sickerte gurgelnd das Kliff hinab und bildete hier und da kleine Pools. Süßwasser! Hier konnten wir also unseren Vorrat an Trinkwasser auffüllen. Das bedeutete mir mehr als eine Yandura zum Abendbrot.
Krister hatte bereits das Ufer erreicht und untersuchte die zahlreichen Spalten im Fels, die wie kleine Kanäle aussahen und jetzt bei Hochwasser geflutet waren. Später, wenn die Ebbe einsetzte, würde sich das Meer zurückziehen und aus den Kanälen isolierte Wasserlöcher formen, in denen allerlei Getier Zuflucht fand. Krebse und kleinere Fische ließen sich dann leicht erbeuten, doch waren wir deswegen nicht hierher gekommen. Unsere Jagd galt einer anderen Spezies.
Yanduras ähneln in ihrem Aussehen den von den ersten Siedlern eingeführten Langusten, einer – wie ich aus den Aufzeichnungen von Radan gelernt hatte – Tiergattung Vestans, die sich jedoch in der Tethys nicht behaupten konnte und wieder verschwand. Die Lagune wimmelte nach Kristers Erzählungen nur so von Yanduras. Es handelte sich hier offenbar um einen bevorzugten Laichgrund. Jetzt so früh im Jahr durfte es noch nicht so weit sein und ich fragte mich gerade, ob Krister nicht sehr enttäuscht mit ein paar auf dem offenen Feuer gebratenen Krebsen Vorlieb nehmen musste, als ich ihn auch schon die Harpune schleudern sah.
Die Waffe verschwand geräuschlos in einem der größeren, bereits vom offenen Meer abgetrennten Wasserlöcher. Von meiner Warte aus gesehen handelte es sich um ein beträchtlich tiefes Wasserloch und tatsächlich hörte ich Krister triumphierend schreien, als er sich die Schuhe abstreifte und kopfüber in den Pool sprang. Kurz darauf tauchte er wieder auf, die Harpune in der Rechten haltend, an deren Spitze eine wild zappelnde Yandura steckte. Ich sprang hinunter und half ihm beim Sichern seiner Beute, während er wieder aus dem Wasserloch herauskletterte.
„Ein Prachtexemplar“, sagte ich bewundernd.
Die Yandura war einen guten halben Meter lang. Ihr schuppiger Schwanz rollte sich frenetisch auf und wieder ein, vier Beinpaare strampelten wie verrückt, zwei furchterregend lange, fingerdicke Fühler schlugen wie Peitschen um sich. Die Harpune hatte das unglückliche Tier genau an der Stelle zwischen Kopf und Rumpf durchbohrt, an der beide Panzerglieder aufeinander trafen und eine verräterische Lücke aufwiesen. Krister hätte die Yandura aber auch überall treffen können, der natürliche Schutz des Tieres hätte dem kalten Eisen der Harpune nichts entgegensetzen können, auch nicht an seiner mächtigsten Stelle.
„Nummer eins!“ Der erfolgreiche Jäger taxierte seine Beute. „Schön fett und schwer. Noch zwei weitere und wir haben genug zu essen heute Abend.“
„Bei deinem Tempo sind wir ja in wenigen Minuten fertig“, sagte ich anerkennend.
„Nun ja, hier ist jetzt erst mal nichts mehr zu holen. Die anderen in dem Pool sind gewarnt und werden bis zum Einbruch der Dunkelheit die Köpfe einziehen. Aber das hier ist ja nicht das einzige Wasserloch weit und breit.“
Während Krister wieder in seine Stiefel schlüpfte und die noch immer zuckende Yandura von der Harpune nahm, fragte ich mich, wie um alles in der Welt es mir gelingen sollte, auch etwas zu erbeuten. Mit meinem Messer würde es niemals gelingen. Ich müsste es in einen Speer umfunktionieren, verspürte aber keine große Lust darauf. Warum sich diese Mühe machen, wenn Krister bereits über eine perfekte Waffe verfügte?
Ich kletterte ans Wasser hinunter, dort wo das Meer träge an Land rollte. Die Sonne verzog sich wieder hinter Wolken und schon sah es um uns herum nicht mehr ganz so perfekt aus. Das Türkis des Wassers verblasste zu schmutzigem Blaugrün, die leuchtenden Farben der Natur überzogen sich mit einem Grauschleier.
Ich beschloss, die Jagd ganz und gar in Kristers geschundenen Händen zu belassen, kniete nieder und tauchte die erhitzten Hände in kühles Seewasser, als mich dieses riesige Auge anstarrte.
Reflexartig zuckte ich zurück.
Was war das gewesen?
Mit klopfendem Herzen wagte ich mich wieder einige Schritte voran und riskierte einen neuerlichen Blick.
Ja, es war noch da.
Ein riesiges Auge, vielleicht anderthalb Meter unter der Wasseroberfläche!
Es lag regungslos da und starrte mich an. Wie gewaltig es war! Dreißig Zentimeter im Durchmesser? Ja, das kam dem ganzen ziemlich nahe. Schließlich nahm ich die Tentakeln und den pfeilförmigen Kopf wahr, in dem das riesige Auge ruhte. Es handelte sich zweifellos um ein Luvium, einen riesigen Oktopoden, einer Kopffüßerart, die an den Küsten Avenors selten geworden war. Stamarinas gab es noch zur Genüge, man musste nur wissen wo. Mir selbst war noch kein Luvium untergekommen, aber ich war überzeugt, hier vor einem Vertreter seiner Art zu kauern.
Vorsichtig zog ich mich zurück. Mein Jagdtrieb flammte auf, welcher sich mindestens ebenso schwer unterdrücken ließ wie Kristers. Ich brauchte die Harpune! Unbedingt!
Zurück am Pool fand ich die inzwischen reglose Yarunda in einer hellrosa Pfütze aus ihren eigenen Körpersäften liegend, aber keine Spur von Krister. Ich rief nach ihm.
„Was ist?“ Er tauchte hinter einem der vielen Backenzahnfelsen auf, die Harpune fest in der Rechten.
„Frag nicht!“ Ich lief zu ihm hinüber. „Gib mir die Harpune und ich besorge uns ein Abendessen, das du nie mehr vergisst.“
Krister zog die Harpune aus meiner Reichweite. „Später“, meinte er kurz angebunden.
Mein aufgebrachter Blick überzeugte ihn dann doch und er reichte mir die Waffe, wenn auch zögerlich. „Wozu brauchst du sie?“
„Wenn mich nicht alles täuscht, liegt dort unten am Strand ein Luvium“, sagte ich aufgeregt. „Es ist riesig, allein das Auge ist so groß wie mein Kopf.“
„Ein Luvium? Bist du sicher? Ich habe noch nie eines gesehen. Sind sie nicht ausgestorben?“
„In der Bay of Islands mit Sicherheit. Aber hier, wo kein Mensch normalerweise einen Fuß hinsetzt, gibt es sie anscheinend noch.“
„Wo ist es?“
„Ja, das könnte dir so passen. Nein, mein Freund, das ist mein Luvium, ich habe es zuerst gesehen. Und ich werde es erlegen.“ Damit schnappte ich die Harpune und rannte zurück. Krister folgte dicht auf den Fersen. Langsam pirschten wir uns an die Stelle heran, an der ich das riesige Tier zuletzt gesehen hatte.
„Mit der Harpune werden wir es wohl kaum töten können“, gab Krister zu bedenken. „Selbst wenn du es triffst, wird es in Richtung offenes Meer abhauen und dort verrecken.“
Daran wagte ich nicht einmal zu denken. Wahrscheinlich war das Vieh sowieso längst fort. Nach allem was ich über das Luvium wusste, handelte es sich um eine besonders wachsame Spezies, die den Menschen wie die Pest mied. Aber ich sah mich eines besseren belehrt. Es war noch da und hatte sich allem Anschein nach auch keinen Zentimeter bewegt. Kristers Atem kam stoßweise. Ich wusste, was in seinem Kopf vorging, und er wagte es auch noch in Worte zu fassen.
„Gib mir die Harpune. Du triffst ja doch nicht!“
„Vergiss es!“
„Du musst es genau ins Auge treffen, hörst du? Schlag mit aller Kraft zu, vielleicht gelingt es dir, das Biest festzupinnen! Meine Güte, wie riesig es ist. Hast du die Fangarme schon gesehen? Die sind meterlang.“
Krister ignorierend holte ich weit aus und zielte auf das Auge, das mich weiterhin nichtsahnend und unschuldig anstarrte. Wie kam er dazu, mir zu sagen, was ich tun sollte? Als würde ich das nicht selbst wissen!
In dem Moment, als ich die Harpune schleuderte, explodierte das Wasser um uns herum. Ein halbes Dutzend Tentakel schossen aus der seichten Brühe auf uns zu. Der folgende Schlag ins Gesicht warf mich um. Unsanft landete ich auf scharfen Felskanten und schlug mir Ellenbogen und Rücken blutig. Einen Sekundenbruchteil später stand ich aber auch schon wieder auf den Füßen und stürzte auf das Luvium zu.
Doch es war weg. Die Harpune steckte im Fels. Auf ihrer tödlichen Reise hatte sie jedoch einen Fangarm abgetrennt.
„Du hättest es mich machen lassen müssen!“ hörte ich Krister klagen. „Ich hätte das Vieh erlegt, sauber und schnell.“
Ich sah ihn gereizt an.
„Immerhin haben wir einen Fangarm. Sieh nur, er ist bestimmt zwei Meter lang!“
Ich ging in die Knie und ergriff den armdicken Tentakel mit beiden Händen.
Ein Fehler.
Wie eine Würgeschlange – und mindestens genau so schnell – wickelte sich das amputierte Körperteil um meinen rechten Arm und saugte sich augenblicklich fest. Von Sekunde zu Sekunde steigerte sich der Schmerz, bis ich laut schrie.
Krister reagierte geistesgegenwärtig. Er zog sein Messer, verbat es mir, mich zu bewegen (was unter den gegebenen Umständen beinahe unmöglich war) und schnitt an mehreren Stellen tief in den Tentakel hinein, bis dieser die mörderische Umklammerung aufgab. Der Schmerz ebbte ab. Dafür begann ich am ganzen Körper zu zittern.
„Du sollst dich nicht bewegen!“ Kristers ungeduldige Worte ließen mich zur Salzsäule erstarren. Mit der scharfen Klinge hob er die Saugnäpfe ab, welche sich wie Stanzen in meine blaurot verfärbte Haut gegraben hatten. Zurück blieben kreisförmige Wundmale von gut fünf Zentimetern Durchmesser, die sich allmählich mit Blut füllten.
Ich starrte auf die Blessuren, unfähig, ein Wort von mir zu geben. Die Tatsache, dass es dem Biest gelungen war zu entwischen, schmerzte allerdings am meisten.
Krister resümierte nur lakonisch: „Lektion Nummer eins: Trau keinem Luvium, nicht mal einem Teil von ihm.“
Damit ließ er mich stehen und machte sich unerschüttert wieder auf die Jagd nach Yanduras.
Als wir Luke später von dem riesigen Oktopoden erzählten, befiel ihn eine eigenartige Aufregung. Er wollte es gar nicht glauben, doch überzeugte ihn meine Trophäe restlos. Ehrfurchtsvoll untersuchte er den Tentakel von allen Seiten. Auch meine inzwischen dunkelblau angelaufenen Wundmale nahm er mehrfach in Augenschein.
„Dieses Tier muss wahrhaftig gigantisch groß gewesen sein, wenn sein Auge wirklich so riesig war, wie du sagst. Ich tippe auf eine Körperlänge von zehn bis fünfzehn Metern.“
„Möglich“, gab ich knapp von mir, immer noch an der Tatsache knabbernd, den Fang meines Lebens vergeigt zu haben.
Zusammen mit den Yanduras brieten wir auch den Fangarm in der offenen Glut. Das geröstete Muskelfleisch erwies sich deutlich zäher als jenes der Stamarinas, doch gab es keinen echten Grund, seine Qualität anzuzweifeln. Dennoch blieb der weitaus größte Teil ungegessen liegen, kein Wunder, nicht einmal uns drei hungrigen Wölfen gelang es beim besten Willen, die zwei Meter Luvium zu vertilgen, zumal sich die im Feuer gegrillten Krustentiere als eindeutig schmackhafter erwiesen. Ihr zartes Fleisch, schneeweiß und feinfasrig, mundete vortrefflich. Eine Delikatesse vom Feinsten, schon fast ein Frevel, es wie Tiere mit puren Klauen aus den geknackten Schalen herauszupulen und in den Mund zu stopfen.
Gesättigt und ermüdet wusch ich meine Wunden ein weiteres Mal mit Salzwasser aus, um einer Infektion vorzubeugen. Weder Krister noch ich hatten irgendeinen Gedanken an Heilmittel oder Wundsalben verschwendet. Es sorgte mich jedoch herzlich wenig. Aus heutiger Sicht beneide ich die Jugend um ihre gesegnete Sorglosigkeit, um diese glückselige Überzeugung, unbesiegbar und unvergänglich zu sein. Eigenschaften, die sie unerschrocken auch schier Unvorstellbares meistern lässt. Ich sehne mich heute, alt und vom Leben längst gebeugt, oftmals zurück in diese unwiederbringlich verlorene Zeit, die so kurz währte und doch die kostbarste gewesen ist.
Die Ostseite der Halbinsel Longreach lag vor uns, als sich die Xyn am östlichen Horizont aus der feuerroten Tethys erhob. Die See hatte sich über Nacht mitnichten beruhigt, es versprach ein weiterer unruhiger Tag zu werden.
Schon bei der Fahrt durch den engen Kanal hinaus aus der Lagune fiel uns der deutlich stärkere Wellengang auf. Wir meisterten diese Herausforderung diesmal jedoch problemlos. Ein kreischendes Meer aus Seevögeln auf der Jagd nach Fisch für die Brut umschwirrte uns wie Motten das Kerzenlicht. Sehr zu Lukes Verdruss schlug Krister hin und wieder mit dem Paddel nach einem seiner Meinung nach zu aufdringlichen Vogel, doch gelang ihm kein Treffer. Dann erwischte er überraschenderweise ein dunkelgraues Federvieh mit schlangenförmigem Hals und überproportional großen Schwimmfüßen, das nach erfolgreichem Fang auf erstaunlich stummelhaften Flügeln umständlich aus dem Meer abhob und ihm dabei beinahe mitten ins Gesicht geflattert wäre. Mit dem Paddel fegte er das schrill aufschreiende Tier zur Seite, das wieder ins Wasser stürzte und spurlos verschwand.
„Sinnloses Töten ist ein barbarischer Akt“, hatte sich Luke erregt, erntete jedoch nur Spott in Form eines obszönen Geräusches, das Krister mit der Zunge erzeugte.
„Quatsch nicht herum, so einfach sind die Viecher nicht totzukriegen“, wies er seinen Stiefbruder zurecht.
Luke sagte nichts mehr darauf, schien sich aber für die nächsten Stunden noch weiter in sich zurückzuziehen. Ich bemerkte, mich ein Stück weiter für ihn zu öffnen. Seine durchaus anerkennenswerte Liebe zur Natur schien nicht zu diesem in sich zurückgezogenen, verletzlich wirkenden Jungen zu passen, der bereits im Körper eines wehrhaften, ausgewachsenen Mannes wohnte, was wiederum ein Kuriosum in sich darstellte. Ein Schaf im Wolfspelz. Ein äußeres Erscheinungsbild, das so gar nicht mit dem dazugehörigen Innenleben einhergehen wollte. Ich wusste nicht, ob mich diese merkwürdige Mischung abstieß oder eher anzog, nahm mir jedoch vor, Luke nicht mehr ganz so schroff anzugehen. Womöglich hatte es noch nie jemanden wirklich interessiert, wie er unter dem Tod seiner leiblichen Eltern gelitten hatte, wie sehr er wahrscheinlich heute noch daran krankte. Zum ersten Mal überhaupt begann ich mich für seine Geschichte zu interessieren.
Was wusste ich eigentlich wirklich über ihn? Schon die Umstände seiner Ankunft in Stoney Creek, wie ich mir ins Gedächtnis rief, waren von meiner Seite aus weitgehend unbeachtet geblieben. Die Tatsache, dass den alten Anders Bergmark, Kristers Vater, mit Lukes Mutter eine wenn auch weit entfernte Verwandtschaft verband, lieferte wohl den Grund, den Waisenknaben aufzunehmen. Ich weiß noch wie Krister Rob und mir an einem dieser ersten heißen Frühlingstage vor acht Jahren – ja, es mussten wohl jetzt acht Jahre her sein – davon berichtete. In einem Nebensatz. Völlig beiläufig.
„Es wird höchste Zeit, mein eigenes Haus zu bauen“, hatte er uns eröffnet. „Zuhause bleibt langsam keine Luft mehr zum Atmen. Glaubt ihr das? Jetzt nehmen sie auch noch einen Waisenjungen auf. Als verfügte das Haus über unbegrenzten Raum. Ich fasse es nicht!“
„Einen Waisenjungen?“ fragte Rob, seine Arbeit für einen Augenblick unterbrechend. Sintflutartige Regenfälle in den letzten Tagen hatten den befestigten Weg vom Dorf hinunter zur Küste fortgewaschen und nun lag es an uns, diesen wieder einigermaßen instand zu setzen. Zu diesem Zweck hatten wir Kies in rauen Mengen zusammengetragen.
„Unglaublich, nicht wahr? Es wird wirklich höchste Zeit, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich muss da raus.“
„Wer ist es?“ wollte Rob wissen. Es war zwar nicht so, als kannten wir uns bestens mit der Bevölkerung der Siedlung aus, aber auch meines Wissens nach gab es keine Waisenkinder in Stoney Creek.
„Ach, irgend so ein Bübchen aus der fernen Verwandtschaft. Er ist gestern mit dem Treck aus Cape Travis angekommen. Seine Mutter und mein Vater sind über viele Ecken miteinander verwandt. Na ja, Lukas’ Eltern sind gestorben, ganz kurz hintereinander. Die in Van Dien wussten nicht, wohin mit ihm.“
„Van Dien? Sagtest du nicht, er käme aus Cape Travis?“
„Ja, ursprünglich kommt er aus Van Dien, Jack.“
Zwischen Stoney Creek, Cape Travis, Van Dien, Lake Sawyer und Willer, den fünf letzten von Menschen noch besiedelten Ortschaften, bestanden lockere Handelsverbindungen. Man handelte mit Salzfisch, Pökelware, Häuten und Fellen, Bauholz, Molkereiprodukten, Tee, Wein und manch anderen Erzeugnissen, die in einer Ecke Aotearoas rar waren, in einer anderen dafür im Überfluss vorkamen. In den letzten Jahren war dieser Handel wieder stark aufgeblüht, vor allem als mit der erfolgreichen Wiederbesiedelung von Willer die Menschen wieder Zugang zu einem großen Binnengewässer bekamen. Die Nachfrage nach delikaten Süßwasserfischen, Flusskrebsen, Chigalon und vielerlei anderen im Norden des Landes nicht oder nur selten zu erwerbenden Produkten stieg sprunghaft an. So schlossen sich Kaufleute und Händler zu einem Treck zusammen, der in unregelmäßigen Abständen zwischen den fünf Siedlungen hin und her pendelte. Da auf Gondwana keine Pferde mehr existierten (sie waren im Großen Krieg so stark dezimiert worden, dass die Art wenig später ausstarb), wurden nun Ochsen vor die Wagen gespannt.
Mit dem ersten Treck im Frühling des Jahres 614 erreichte der damals zehnjährige Lukas Eastley seine neue Heimat, das kleine Fischerdorf Stoney Creek am nordwestlichen Ende Avenors. Seinem entfernt verwandten Onkel, Kristers Vater, war dies von Anfang an nicht recht. Er sah sich gezwungen, den Jungen bei sich aufzunehmen und ließ seinen Unmut darüber bei jeder sich bietenden Möglichkeit an ihm aus.
Luke blieb nicht viel Zeit, sich in sich zu vergraben und den Tod seiner Eltern zu betrauern. Von der ersten Sekunde an sah er sich mit Arbeit überhäuft. Unmittelbar nach der Ankunft fand er sich bereits auf den Feldern beim Umgraben und Beackern des (teilweise noch gefrorenen) Bodens wieder. Schwere körperliche Arbeiten wie das Fahren mit dem Kuhgespann (anfangs noch unter Kristers Aufsicht) und das Beladen des Wagens gehörten schon früh zu seinen Aufgaben. Schon im ersten Herbst wurde ihm das Mahlen von Korn aufgetragen, eine überaus anstrengende Arbeit für einen noch nicht einmal elfjährigen Knaben. Steine fahren, Roden, Pflügen, Ernten und das Vieh hüten waren ebenso Teil seiner unerschöpflichen Pflichten wie das Umgraben von Torfmoor auf der Suche nach Sumpferz, das zu Roheisen geschmolzen wurde, einem überaus kostbaren und weit begehrten Material, das vor allem für die Produktion von Nägeln, Nieten und Werkzeugen Verwendung fand. Wahrscheinlich hätte der alte Anders Bergmark seinen ungewollten und ungeliebten jungen Anverwandten zu Tode schuften lassen, würden nicht hin und wieder Krister und dessen Mutter mäßigend eingegriffen haben.
Eines Abends im Spätherbst kehrte der Junge nicht nach Hause zurück. Die Nächte waren bereits empfindlich kalt, und als die Familie zum Abendessen zusammenkam, blieb Lukes Platz leer.
„Wo ist Lukas?“ erkundigte sich Kristers Mutter.
Es gehörte zu Anders Bergmarks Eigenschaften, die Fragen seiner Frau geflissentlich zu ignorieren, auch wenn sie wie in diesem Fall eindeutig an ihn gerichtet waren. Es bedurfte eines gewissen Nachbohrens, bevor aus ihm etwas herauszubekommen war.
„Was weiß ich, Ulla-Britt!“ knurrte er endlich genervt, einen frischen Brotlaib mit den Händen brechend.
„Hast du ihn nicht heute Vormittag zum Pilze sammeln losgeschickt?“ meldete sich Britt-Marie, Kristers jüngere Schwester, etwa in Lukes Alter.
„Du redest, wenn du gefragt wirst!“ Die autoritäre Stimme des Vaters und sein drohend auf sie gerichteter Zeigefinger ließen das Mädchen augenblicklich verstummen.
Krister, damals bereits ein erwachsener Mann von zweiundzwanzig Jahren, wagte es nicht, seinen Vater zur Rede zu stellen, zu angespannt hatte sich ihr Verhältnis in der letzten Zeit entwickelt. Jedes Gespräch schien unausweichlich in einem Streit zu enden. Vater und Sohn gingen sich daher aus dem Weg so gut es ging. Krister spielte mit dem Gedanken, in Bälde eine eigene Hütte zu bauen, ein Vorhaben, das der Vater zwar äußerlich begrüßte, im Innern aber nicht zu verwinden schien.
„Heute Vormittag?“ Die Mutter suchte vergeblich den Blick ihres Sohnes. „Dann ist er ja schon viele Stunden draußen. Bei dem Wetter.“ Es hatte am späten Nachmittag zu regnen begonnen, der teilweise in Graupel übergegangen war.
Krister nickte und zuckte dann hilflos mit den Achseln.
„Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist?“
Anders Bergmark ließ den Löffel in die geleerte Suppenschale fallen. „Pah, der Junge ist alt genug. Was soll ihm denn zustoßen? Und wenn – wen interessiert es wirklich? Ein unnützer Esser weniger!“
Die Tatsache, dass sich Luke sein Essen schwer verdiente, fiel nicht sonderlich ins Gewicht. Die Familie aß weiter, als sei nichts geschehen. Nach der Mahlzeit jedoch zögerte Ulla-Britt Bergmark nicht länger. Sie nahm ihren Ältesten zur Seite.
„Ich gehe jede Wette ein, dein Vater hat ihm befohlen, es nicht zu wagen, mit leeren Händen heimzukommen. Jetzt noch Pilze zu finden, grenzt fast an ein Wunder. Ich habe Angst um Lukas. Ich will nicht, dass ihm etwas zustößt wie der armen Augusta Johansson.“
Der tragische Verlust der vierzehnjährigen Augusta im letzten Herbst reihte sich nahtlos in die Liste der inzwischen dreiundzwanzig Menschen ein, die in den vergangenen Jahrzehnten auf mysteriöse Weise spurlos aus Aotearoa verschwunden waren. Meistens handelte es sich um Kinder oder Halbwüchsige, die aus unerfindlichen Gründen nicht mehr nach Hause zurückkehrten. Nicht einer der Verschwundenen war je wieder aufgetaucht oder irgendwo gesehen worden. Sie waren fort, als hätte die Erde sie verschluckt. Groß angelegte Suchaktionen blieben erfolglos. Nun existieren in Aotearoa keine wilden Landtiere, die einem Menschen hätten gefährlich werden können und denen man die Schuld zuweisen konnte.
Mit jedem Verschwinden steigerte sich die Fassungslosigkeit in der Bevölkerung, legte sich aber letzten Endes wieder. Irgendwann gewöhnte sich Aotearoa daran, ein bis zweimal pro Jahr den Verlust eines jungen Menschen beklagen zu müssen.
Beunruhigend blieb die unheimliche Regelmäßigkeit, mit der das Unfassbare zuschlug. Selbst bewaffnete und wehrhafte junge Männer wie der im Spätsommer 620 bei Cape Travis verschwundene, siebzehnjährige Annachie Brennain, tauchten nie wieder auf. Lediglich seine Jagdwaffe, einen Skinner, fand man auf dem feuchten Waldboden einer Lichtung am Nordhang des Monteskuro. Keine Spuren eines Kampfes oder einer Auseinandersetzung, kein Blut, nichts. Der Vater des Verschwundenen beharrte darauf, dass sein Sohn sich niemals freiwillig von seinem Messer getrennt hätte. Es musste ihm also körperliche Gewalt angetan worden sein. So sehr der Vater auch suchte, er fand seinen Sohn nicht wieder.
Auffällig blieb, es handelte sich stets um junge Menschen. Keiner der Verlorengegangenen war älter als zwanzig Jahre alt gewesen. Zudem schien sich das beängstigende Phänomen von Süd nach Nord vorzuarbeiten.
Kurze Zeit nach der Wiederbesiedlung von Willer im Jahre 578 ereigneten sich die ersten Fälle. Gab es wilde Tiere im Staten Forest oder im Zentralmassiv, von denen man nichts oder nichts mehr wusste? Blutrünstige Bestien, die im düsteren Wald ahnungslosen Sammlern oder Jägern auflauerten? Waren es gar Opreju, die bis nach Ergelad oder Otago vordrangen, um Jagd auf Menschen zu machen?
Theorien dieser Art ließen sich allerdings nicht lange halten. Die Opreju, die es nachweislich gab (wenn auch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Aotearoa) oder die imaginären Raubtiere, deren Existenz niemand beweisen konnte, hätten Spuren hinterlassen. Spätestens an dem Ort, an dem sie ihre Opfer töteten. Spuren fanden sich aber nicht.
Sieben Jahre später verschwanden die ersten Menschen aus Lake Sawyer, dann aus Van Dien und schließlich Cape Travis. Stoney Creek, die abgeschiedene Siedlung am nordwestlichen Ende Avenors, wurde zuletzt heimgesucht, zum erstenmal im Sommer des Jahres 607. Von da an mit der gleichen Regelmäßigkeit wie anderswo. Auch hier handelte es sich stets um Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene. Keiner der Fälle war je aufgeklärt worden, nie hatte es irgendwelche Zeugen gegeben, das im Grunde Beunruhigende an der ganzen Sache. Der Tod schien aus heiterem Himmel zuzuschlagen. Die Angst ging seit 607 auch in Stoney Creek um. Angst um die Söhne und Töchter der kleinen verwundbaren Siedlung.
Diese Befürchtungen gingen auch Ulla-Britt Bergmark an jenem Abend durch den Kopf. Das ganze Jahr über war Stoney Creek bisher verschont geblieben. Die Vermutung, dass es wieder einmal an der Zeit sei, lag nahe.
„Ich gehe ihn suchen“, erklärte sich Krister bereit.
„Alleine?“
„Weit kann er nicht sein. Ich finde ihn.“
Wie sich herausstellte, war Luke in der Tat nicht weit. Das halb gefüllte Weidenkörbchen in beiden zitternden Händen haltend, kauerte er unter der Weide am Entenstall. Bis auf die Haut durchnässt und mit den Zähnen klappernd fand Krister den unglücklichen und völlig verängstigten Jungen vor. Er hielt ihm die zischende und prasselnde Fackel unter die Nase. Luke schreckte vor der plötzlichen Hitze und dem grellen Licht zurück.
„Du kleiner Idiot.“ In den Worten lag mehr Mitgefühl als sie erahnen ließen.
Luke sah aus dunklen, regennassen Augen zu ihm auf.
„Komm, steh auf. Du hast genug getan für heute.“ Krister nahm ihm das Weidenkörbchen ab und zog den Jungen am rechten Arm hoch. „Hey, wo hast du all die Pilze gefunden?“
„Drüben am Eisbach.“ Lukes Zähne schepperten Mitleid erregend aufeinander.
„Das sind mehr als genug. Warum bist du nicht reingekommen? Mutter macht sich Sorgen.“ Doch Krister kannte die Antwort, noch bevor sein bebender Stiefbruder sie in Worte fasste.
Luke sah ihn wieder einmal mit den flehenden Augen eines tollpatschigen Welpen an, der wusste, einen Fehler begangen zu haben, welcher sich nicht hatte vermeiden lassen. Wie oft hatte er diesen Ausdruck schon gesehen und seinen Vater dafür verachtet!
„Ich hatte den Auftrag, den Korb ganz zu füllen“, flüsterte Luke mit gesenktem Blick.
Krister stöhnte.
„Na gut, jetzt komm ins Haus. Du bist ja halbtot vor Kälte.“
An diesem Abend hatte Krister beschlossen, nicht nur spätestens im Frühjahr mit dem Bau seiner eigenen Hütte zu beginnen, sondern auch Luke bei sich aufzunehmen. Um das Martyrium seines Stiefbruders zu erleichtern, weihte er ihn früh in diese Pläne ein. Von diesem Moment an blühte der Junge auf. Er war nicht mehr wiederzuerkennen. Egal welche Arbeiten ihm sein Stiefvater auftrug, er erledigte sie ohne Widerspruch, doch schien der herbste Stachel des Schmerzes gezogen. Innerlich wie äußerlich lächelnd ertrug er jedwede Demütigung, was Anders Bergmark zur Raserei brachte.
Zur Eskalation kam es, als Luke an einem unglückseligen Wintermorgen beim Melken einen Kübel frisch gemolkener Milch im eiskalten Viehstall umstieß. Die dicke weiße Brühe ergoss sich über den gefrorenen Stallboden wie zähflüssige Farbe. Nun verfügten die Bergmarks nur über eine einzige, zudem betagte Kuh, die nicht mehr viel Milch gab. So ließ sich der Vorfall nicht verbergen, denn so sehr er sich auch bemühte, aus dem Euter der alten Mukka bekam er keinen Tropfen mehr heraus. Auch der Versuch, bei einem Nachbarn Ersatz zu besorgen, scheiterte. Luke verfügte über nichts, was er gegen die kostbare Milch hätte eintauschen können, und mitten im Winter teilte niemand etwas, wenn es nicht unbedingt sein musste oder es keinen entsprechenden Gegenwert dafür gab.
Als der Vater abends vom Eisfischen zurückkehrte und keine Milch auf dem Tisch vorfand, nahm das Drama seinen Lauf. Zur Rede gestellt, suchte Luke einen Augenblick zu lange nach einer Entschuldigung für sein Missgeschick. Es klang wie ein Peitschenknall, als der Handrücken von Anders Bergmark quer über das Gesicht seines Stiefsohnes zog.
„Anders!“ Der entsetzte Ruf der Mutter und das unterdrückte Schluchzen seines Stiefbruders ließen in Krister etwas zerbrechen. Lukes Unterlippe war aufgeplatzt und der wimmernde Junge versuchte umständlich, das Blut mit den Fingern zurückzuhalten. Lange hatte Krister dem ganzen zugesehen, um des lieben Friedens willen kein Wort gesagt. Damit war jetzt Schluss. Er klatschte in die Hände und sagte mit tonloser Stimme: „Bravo, Vater! Gut gemacht! Wie fühlt es sich an, ein wehrloses Kind blutig zu schlagen?“
Anders Bergmark wandte sich um. Er blickte in das entschlossene Gesicht seines einzigen Sohnes, das nur eines widerspiegelte: Verachtung und Abscheu. Sie starrten einander an wie Kontrahenten, die einen letzten Anlass suchten, den Kampf zu eröffnen. Doch geschah etwas Unerwartetes. Der alte Mann verließ wortlos das Haus. Alles hätte Krister erwartet, am ehesten den gewalttätigen Versuch des Vaters, den verloren geglaubten Respekt wieder zurückzugewinnen. Doch Anders Bergmark reagierte überraschend, er wählte den Rückzug. Den Einsatz von körperlicher Gewalt gegen seinen Sohn scheuend – etwas, das Krister nicht für möglich gehalten hätte – wählte er eine andere, in seiner Konsequenz schmerzhaftere Variante. Von diesem Tage an sprach er kein Wort mehr mit seinem Sohn. Luke ließ er fortan in Frieden.
Bald nach diesem Vorfall begann Krister mit dem Bau eines eigenen Hauses. Eigentlich hatte er es in der Nähe seiner Familie errichten wollen, doch rückte er von diesen Plänen ab. Mit der uneingeschränkten Hilfe Lukes, einiger Freunde (unter ihnen auch Rob und ich) und der Familie seiner langjährigen Gefährtin Sava entstand sein eigenes kleines Haus. Wie versprochen siedelte Luke um und bezog seine erste eigene Kammer.
Kurz nach der Fertigstellung starb Anders Bergmark. Eine Aussöhnung zwischen ihm und seinem Sohn hatte es nicht mehr gegeben. Luke jedoch musste dem alten Mann verziehen haben. Bei der Beisetzung vergoss er Tränen für den Menschen, der ihm ein zweites Leben ermöglicht hatte, war es auch noch so unerträglich gewesen. Ohne die Zustimmung von Anders Bergmark, ihn bei sich aufzunehmen, wäre Luke ein Waisenjunge in Van Dien geblieben und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr am Leben.
Dank kräftigen Westwindes flog das Boot mit geblähtem Segel über die Wellen. Wir legten Meile um Meile in Nullkommanichts zurück. Doch gab uns das Wetter deutlich zu erkennen, wie jung das Jahr noch war. Der kühle Wind kroch durch die feuchte Kleidung und ließ uns frösteln. Hin und wieder lugte die Xyn durch die eine oder andere Wolkenlücke hindurch, aber es gelang ihr nicht, unsere kalten Gesichter zu wärmen.
Mit zunehmendem Wellengang steuerte ich das Boot näher an die Küste heran, nur um festzustellen, eine Landung – wenn sie denn hätte sein müssen – niemals bewerkstelligen zu können. Die steile Felsenküste, von gespenstischem Nebel eingewölkt, zeigte sich von ihrer feindlichsten Seite.
„Kennst du dich hier aus?“ fragte ich Krister irgendwann. „Gibt es irgendwo Landungsmöglichkeiten oder bleibt die Küste weiterhin so felsig?“
„Bis Kap Fol wird sich nicht viel ändern“, erwiderte er mit unbesorgter Miene.
„Kap Fol? Das erreichen wir selbst bei diesen günstigen Bedingungen erst frühestens morgen Abend, oder?“
Krister nickte. „Ja, das denke ich auch.“
Ich behielt die Küstenlinie weiterhin im Auge. Einmal entdeckte ich einen Strandabschnitt, der aussah als könnte man dort anlegen, doch war es noch zu früh für das Nachtlager. Über die Länge von gut einer Meile säumte heller Sandstrand das steile Kliff, zuweilen mit allerlei Buschwerk bewachsen. Wir zogen dicht daran vorbei. Drei Augenpaare blickten sehnsuchtsvoll hinüber. Ich musste zugeben, ich hatte das Geschaukel satt. Doch jetzt schon den Tag zu beenden – es durfte kurz nach Mittag sein – erschien nicht nur mir deutlich verfrüht.
„Na also“, sagte ich, nachdem wir vorbeigezogen waren. „Immerhin gibt es Landungsplätze. Wenn auch wenige.“
Ich beließ es zunächst dabei und packte einige Vorräte aus, zum größten Teil Reste der Yanduras vom Vorabend. Schweigend aßen wir und vertrieben wenigstens den Hunger.
Die nächsten Stunden vergingen und wir sahen nicht einen einzigen weiteren Strand. Felsenküste soweit das Auge reichte. Dunkle, tief hängende Wolken hatten begonnen, ihre feuchte Fracht abzulassen. Der Niederschlag, mehr ein Nieseln, ein Sprühen, erwies sich als nasser und ungemütlicher als richtig große Tropfen. Ich hasste es. Bei diesem Wetter machte es nicht den geringsten Spaß, auf dem Meer zu sein. Längst waren wir übereingekommen, bei der nächsten Möglichkeit anzulegen. Wenn sie sich doch endlich böte!
Luke zog in einer hilflosen Geste die vollgesogene Decke enger um seinen zitternden Körper. Seine blauen Lippen erinnerten daran, wie kalt auch mir war. Krister war es ebenso leid. Er sehnte sich ein warmes Lagerfeuer herbei, an dem wir uns wieder würden aufwärmen können. Doch sagte er keinen Ton. Er stand ganz vorne im Boot und blickte stur geradeaus. Ich wagte nicht daran zu denken, was es bedeutete, in dieser Witterung eine Nacht auf See verbringen zu müssen.
Am späten Nachmittag erlöste uns ein Ruf Kristers. Ich musste für einige Augenblicke eingenickt gewesen sein. Wie dunkel es bereits war!
„Hart steuerbord“, rief Krister und zeigte auf die Küste.
Ich tat wie geheißen und folgte erst dann mit den Augen seinem ausgestreckten Zeigefinger.
Tatsächlich!
Ein tiefer Einschnitt im Fels, der erst jetzt, als wir ihn beinahe passiert hatten, sein Geheimnis preisgab. Wiederum handelte es sich um eine Art Kanal, ähnlich jenem von gestern Nachmittag, der uns in die Yanduralagune geführt hatte. Dahinter machte ich eine kleine Bucht aus, in der Krister nicht zu Unrecht eine Landungsmöglichkeit vermutete.
Die Fahrt durch die enge Rinne stellte bei diesem Wellengang ein beinahe unkalkulierbares Wagnis dar. Doch es war mir egal. Ich wollte nur noch raus aus dem verfluchten Boot, irgendwo einen trockenen Platz finden und wenn möglich ein Feuer entfachen. Tatsächlich ging es leichter als erwartet. Auf dem Kamm einer hohen Welle segelnd, legten wir die wenigen gefährlichen Meter problemlos zurück und erreichten wohlbehalten die winzige Bucht, die gerade groß genug war, um darin unter vollem Segel zu wenden. All das erfasste ich jedoch erst später. Meine Augen sichteten ganz etwas anderes.
„Das ist der schönste Strand, den ich je gesehen habe“, jubelte ich. Es durfte wohl an der Tatsache liegen, so kurz vor Einbruch der Dunkelheit doch noch ein Plätzchen für die Nacht gefunden zu haben, weswegen meine Äußerung etwas euphorisch ausfiel. Alles war mir recht, nur endlich runter von der unruhigen See.
„Deutlich schöner als Savas Bucht“, meinte Luke.
„So weit würde ich jetzt nicht gehen.“
Hörte ich da eine Spur Missfallen in Kristers Stimme? Wenn ja, mochte sie durchaus gerechtfertigt sein. Savas Bucht war klein aber fein gewesen. Der winzige Strand hier verdiente eine Bezeichnung dieser Art eigentlich nicht. Maximal zehn Meter breit, bot er gerade genügend Platz, das Boot ordentlich an Land zu ziehen. Wir begnügten uns damit, es halb auf Grund zu fahren und an den Felsen zu vertäuen.
Luke war bereits ein paar Meter den Strand hochgestapft und was er fand, ließ mich restlos zufrieden auf eine trockene Nacht hoffen. Die Ausmaße der Höhle standen diesem zierlichen heimlichen Hafen in nichts nach. Sie bot gerade genug Platz für drei ausgelaugte Seefahrer. Zudem fand sich in ihr haufenweise trockenes Treibholz. Mit Hilfe von wie durch ein Wunder trocken gebliebenen Feuersteinen entfachte ich endlich das ersehnte Feuer. Wohltuende Wärme und eine beruhigende Mahlzeit im Magen ließen die Strapazen des vergangenen Tages im Nu vergessen. Es störte mich auch nicht mehr im Geringsten, als sich der Regen im Verlauf des Abends zu einer wahren Sintflut steigerte. Mochte es schiffen, so lange es wollte. Gepäck und Decken waren ohnehin durchnässt und würden erst wieder in der Sonne trocknen. Das Lagerfeuer spendete genügend Wärme, wir konnten ohne Decken liegen.
Irgendwann, ich war schon beinahe eingeschlafen, hörte ich Krister murmeln: „Wenn es so weiter herunterprasselt, läuft der Ozean heute Nacht über.“
Ich blickte auf. Der Widerschein des Feuers zeichnete zuckende Schatten an die Felswand. Krister lag auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die Höhlendecke. „Was soll’s, uns geht es jedenfalls besser als dem Kahn da draußen.“
Für einen kurzen Moment sorgte ich mich um das Boot, doch selbst wenn es voll Regenwasser lief, konnte es kaum untergehen, lag es doch sicher auf festem Grund.
„Was sagst du als alter Wetterfrosch, wird es lange regnen?“ fragte ich.
Krister zögerte mit der Antwort.
„Schwer zu sagen“, meinte er dann. „Da die Schlechtwetterfront schnell herangekommen ist, tendiere ich dazu zu glauben, dass sie morgen früh auch wieder weg ist. Andererseits ist Dauerregen in dieser Jahreszeit keine Seltenheit.“
Sein Kopf rollte zur Seite und er sah müde herüber. „Ich hoffe auf ersteres. Hier womöglich tagelang festzusitzen trifft nicht gerade meinen Gusto.“
Damit war unsere kurze Unterhaltung beendet. Das beruhigende Geräusch des fallenden Regens ließ mich endlich hinüberdämmern.
Als ich hochschreckte, wusste ich zuerst nicht, wo ich mich befand. Ich hatte wieder wüst geträumt und ärgerte mich nicht mehr, aus dem Schlaf gerissen worden zu sein. Soweit war es also schon gekommen. Ich betrachtete meine nächtlichen Visionen bereits als normal. Natürlich stand Rob wieder im Mittelpunkt. Er war durch meinen Traum gerannt wie ein verfolgtes Tier, schwarze Tränen strömten aus seinen rot geäderten Augen.
Zuerst bewegte er sich über eine weite, grüne Ebene, driftete aber immer weiter in Richtung eines düsteren Forstes ab. Ich sah ihn rennen und spürte die Bedrohung, die von diesem Wald ausging. Warum lief er so unbeirrt darauf zu? Aus der Vogelperspektive überblickte ich die gesamte Landschaft, eine freundliche und helle Ebene, die bis an den Horizont reichte. Wieso in aller Welt verließ er sie und steuerte beharrlich auf diesen düsteren Wald zu? Ich rief ihm zu, er möge die Richtung ändern, nicht die Schatten suchen Doch je stärker sich meine warnende Stimme erhob, desto weiter entfernte ich mich von meinem Bruder wie ein von kräftigem Gegenwind zurückgeworfener Vogel, welcher sich gezwungen sah, den Kurs zu korrigieren. Ich verlor Rob aus den Augen, dann den Wald, dann die Ebene... und fand mich aus dem Traum gerissen wieder in der Realität ein.
Mein Körper zitterte vor Kälte.
Das Rauschen in den Ohren entpuppte sich als trommelnder Regen.
Ich weiß nicht, wie lange ich stumm in dieser Stellung verharrte, bis mir klar wurde, das Feuer wieder entfachen zu müssen, wollte ich nicht an Unterkühlung sterben. In der Finsternis überhaupt die Feuersteine zu finden stellte eine Herausforderung dar.
Eine Unendlichkeit später hatte ich es geschafft. Kleine Flammen züngelten hoch und machten sich gierig über einen Haufen trockener Zweige her, bevor sie sich allmählich durch dickeres Holz fraßen und endlich Wärme abgaben. Mehr und mehr Holz legte ich nach, bis die Hitze in der kleinen Höhle beinahe unerträglich wurde und auch die beiden Schlafenden nicht mehr fröstelten.
In jener Nacht tat ich kein Auge mehr zu. Ergriffen von meiner neuesten Vision, die ich nach langem Grübeln als Aufforderung wertete, Rob so schnell wie möglich aufzuspüren, bevor er sich in große Gefahr begab, saß ich hellwach neben dem Feuer und legte in regelmäßigen Abständen Holz nach.
Erst als die Dämmerung über einen bleifarbenen Horizont sickerte, schloss ich erschöpft die Augen.
Der neue Tag begann wie der alte geendet hatte. Die Sintflut der vergangenen Nacht war wieder in ein Nieseln übergegangen. In bedrückendem Einheitsgrau präsentierte sich der wolkenverhangene Himmel, was wenig auf einen baldigen Wetterwechsel hindeutete.
Als ich erwachte und das Lager verließ, brannte bereits wieder ein knisterndes Feuer. Krister und Luke waren dabei, das Boot zu kippen, das bis zur Hälfte mit Regenwasser vollgelaufen war. Ein wahrer Sturzbach ergoss sich aus unserem Gefährt. Wie stark es geschüttet haben musste!
„Guten Morgen!“ begrüßte ich meine Kameraden. Mit in die Hüften gestemmten Armen stand ich da und beobachtete das ablaufende Wasser.
„Scheiß Morgen“, erwiderte Krister, offensichtlich schlecht gelaunt. Luke sagte nichts. Er hielt das Boot ganz allein noch immer in der Schräglage.
„Ja, es regnet“, stellte ich fest.
Doch der Regen hatte nichts mit Kristers mieser Stimmung zu tun. Er war in das Kalkskelett eines im Sand verborgenen Seeigels getreten und hatte sich den rechten Fuß übel zugerichtet. Zwar war es ihm gelungen, die tückischen Stacheln aus dem Fleisch zu ziehen ohne sie abzubrechen, doch bluteten die tiefen Wunden ordentlich. Zum wiederholten Male schalt er sich einen Narren, auf Schuhwerk verzichtet zu haben.
„Kannst du laufen?“ fragte ich ihn.
Er knurrte nur etwas Unverständliches und humpelte zum Lager zurück. Bevor ich ihm folgte, half ich Luke dabei, das Boot wieder in seine normale Position zu bringen. Wohlwollend registrierte ich, wie umsichtig er alle drei Wasserbeutel bis zum Rand aufgefüllt hatte, bevor das kostbare Süßwasser auf Nimmerwiedersehen versickert war.
Während des Frühstücks sprachen wir kein Wort. Krister verarztete seine Wunde so gut wie möglich. Mit besohlten Füßen hinkte er nur noch ein wenig. Doch der angespannte Blick verriet ein wenig von den Schmerzen, die er empfinden musste.
Trotz des weiterhin fallenden Regens entschieden wir uns zum Aufbruch. Die trockene Wärme der kleinen Höhle gegen die kühle Nässe im Boot einzutauschen, bedurfte einiger Überwindung. Doch der Entschluss stand, es gab kein Zurück mehr. Wir ließen die kleine Bucht hinter uns und segelten hinaus auf die unruhige Tethys. Mit Hilfe des immer noch kräftig blasenden Westwindes nahm das Boot schnell Geschwindigkeit auf und trieb uns der nächsten Etappe entgegen: Kap Fol.