Читать книгу Sentry - Die Jack Schilt Saga - Michael Thiele - Страница 9
07 ERGELAD
ОглавлениеDer neue Tag empfing uns Reisende von seiner freundlichsten Seite. Kein Wölkchen trübte den nahezu pathetisch strahlend blauen Himmel. Die blendende Sonnenscheibe schickte schon vom frühen Morgen an wärmende Strahlen, die unsere ausgekühlten Körper mit neuem Leben erfüllten.
Als ich die Augen aufschlug, lag Krister noch schlafend neben mir. Über uns flatterte das Hauptsegel leise raunend im Wind. Luke saß achtern und hielt, die geschlossenen Augen himmelwärts gerichtet, das Ruder fest in der Rechten. Ich beobachtete ihn eine Weile. Er schien zu träumen, ein kleines zufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen. Ich kam nicht umhin ihn für einen Moment zu bewundern. Uns trennten nur wenige Jahre, doch hatte ich mich ihm bisher als der Ältere, der ich nun einmal war, stets überlegen gefühlt. Aber stimmte das wirklich? Ich bemerkte, ihn um seine vorbehaltlose Verbundenheit mit der Natur zu beneiden. Ohne Frage liebte auch ich sie, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Luke indessen schien eine Einheit mir ihr gefunden zu haben, die mir bisher verschlossen blieb. Abermals stellte ich fest, mich ihm einen weiteren Schritt anzunähern. Welch eine Veränderung innerhalb der wenigen Tage, die wir drei auf diesem Boot verbracht hatten! Mich aus der Decke schälend stand ich auf und streckte ausgiebig meine von der Nachtruhe noch steifen Glieder.
„Guten Morgen!“ kam es von achtern.
Ich warf Luke einen brüderlichen Blick zu und erwiderte lächelnd seinen Gruß. Er schien die positive Veränderung in mir zu bemerken und grinste zurück.
„Das war eine Nacht, was? Junge Junge, mit euch zusammen wird es wirklich nicht langweilig. Schade, dass unsere gemeinsame Reise bald zu Ende sein wird. Ich gewöhne mich schon an all die Aufregungen.“
Ich wusste nichts darauf zu sagen. Erwartete er am Ende womöglich ein Angebot meinerseits, ihn in Hyperion doch nicht wieder wie ausgemacht heimzuschicken? So weit ging meine erwachende Sympathie dann doch nicht.
Bei der ersten Gelegenheit legten wir an. Nach Kristers Einschätzung befanden wir uns bereits nahe am östlichen Eingang des Zadarkanals, auch wenn sich Zadar, die große Barriereinsel, weiterhin verborgen hielt. Wir waren zwar noch mindestens zwei Tagesreisen von der Mündung des Skelettflusses entfernt, dennoch ließ sich die Aufregung vor dem Unbekannten nicht mehr leugnen. Wir näherten uns langsam aber stetig verbotenem Land.
Die Küste nordöstlich Van Diens erwies sich freundlicher und einladender als noch die Tage vorher. Die schroffen Felsen wichen langen, ausgedehnten Sandstränden und weitläufigen Dünen. Auch vom Boot aus entgingen uns die Mamoras nicht, die sich träge an der Küste im dunklen Sand wälzten und die Sonne auf den Pelz scheinen ließen. Als wir uns annäherten, zogen sie es allerdings vor, das trockene Element zu verlassen und zielstrebig ins sicherere Nass zu flüchten. Mamoras fürchten den Menschen nicht zu Unrecht. Er stellt neben dem Ichthyon ihren größten Feind dar. Die erfolgreiche Jagd auf diese imponierende Reptilienart bedarf großer Erfahrung und wie so oft einer Portion Glück. Ich fragte mich, ob sie sich jenseits des Skeleton River zutraulicher zeigen würden.
Nach erfolgreicher Landung machten wir uns sogleich an die Arbeit. Krister warf die Angelschnüre aus, Luke klaubte trockenes Feuerholz zusammen und ich, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, suchte mein Glück auf der Jagd. Eine Stunde später brutzelten auf dem offenen Feuer zwei dicke Barsche und ein säuberlich gehäutetes und ausgenommenes Rotkaninchen. Der Tag fing gut an.
„Was ist das denn?“ Angewidert zeigte Krister auf eine undefinierbare schwarze Masse, die am äußersten Rand der Glut schmorte. „Sieht aus wie Mamorascheiße.“
„Ist es nicht. Ich frage mich, wie du darauf kommst. Hier liegt genug Mamorascheiße herum, du solltest allmählich wissen, wie sie aussieht.“
Gut pariert! Grinsend beschloss ich, Partei für Luke zu ergreifen. Natürlich nicht zu offensichtlich.
„Und was ist es nun?“ erkundigte ich mich, natürlich nicht zu interessiert. „Sieht nach Seetang aus.“
„Richtig erkannt, Jack. Ja, es ist Seetang. Kurz angebraten schmeckt er ganz gut.“
Kristers unwilliger Gesichtsausdruck ließ mich auflachen, eine Reaktion, die ich schnell bereute. Der eisige Blick, den mir Luke zuwarf, verfehlte sein Ziel nicht.
„Spotte nur, Krister“, versuchte ich die Situation zu retten. „Du als ausschließlicher Fleischfresser findest dafür zweifelsohne kein Verständnis. Ich für meinen Teil werde auf jeden Fall davon kosten.“
Nicht wissend wie weit meine Fürsorge für Luke gehen durfte, ohne selbst Schaden zu nehmen, ließ ich mir eine winzig kleine Portion Seetang reichen. Krister hatte Recht. In gekochtem Zustand sah das Zeug Mamorascheiße noch ähnlicher. Ja, zum Verwechseln ähnlich. Und es klebte auch exakt so an den Fingern.
Seetang wurde auch in Stoney Creek verzehrt, dessen war ich mir wohl bewusst. Als einen Freund dieser Nahrungsquelle durfte ich mich jedoch nicht bezeichnen. Sogar Rob, der im Grunde alles aß was irgendwann einmal gelebt hatte, konnte ihr wenig abgewinnen. Gab es eigentlich irgendjemanden, der diesen Glibber mit Genuss schluckte?
„Na dann!“ spornte ich mich selber an und stopfte die lauwarme Masse in den Mund. Gequält lächelnd begann ich zu kauen und versuchte dabei nicht an Exkremente zu denken, was mir schwer fiel, denn genau so mussten sie schmecken.
Krister probierte grinsend den fast garen Fisch.
„Jetzt tut es mir richtig leid, das Fischgedärm schon entfernt zu haben. Es war voll leckerer Scheiße, die hättet ihr schön anbraten und fein würzen können. Hätte euch beiden Feinschmeckern sicherlich vorzüglich gemundet.“
In erwachender Einigkeit wussten Luke und ich, was nun zu tun war. Einen Wimpernschlag später klebte halbgarer Seetang in Kristers verdutztem Gesicht. Er benötigte einen langen Augenblick, um in unser Gelächter einzustimmen, aber dann johlten wir alle, bis uns die Bäuche weh taten. Ich bin mir heute noch nicht sicher, ob es Luke wirklich entgangen war, wie ich währenddessen meine Portion Seetang ausgespuckt und verstohlen mit Sand bedeckt hatte.
Um nicht in die Sawyer Bay zu geraten, was einen zu großen Umweg bedeutet hätte, nahmen wir nach Verlassen der Moa Bay Kurs offene See. Mich am Sonnenstand orientierend, hielt ich den Kahn in streng östlicher Richtung. Gegen Mittag frischte der Westwind wieder auf, was unserer Reisegeschwindigkeit wie schon am gestrigen Tag sehr zuträglich war. Alles klappte wie am Schnürchen. Noch weit vor Sonnenuntergang tauchten sie aus dem dunstigen Horizont auf, die Gestade Zadars, der großen Barriereinsel. Wie ein vorgelagerter Schutzschild zog sie sich annähernd dreihundert Meilen entlang der nordöstlichen Küste des Kontinents hin und schirmte das dahinterliegende Land von der offenen Tethys ab. Ziemlich genau in der Mitte, einer gedachten Verlängerung des Skelettflusses folgend, lag die historische Grenze zwischen Aotearoa und Laurussia. Nach dem Krieg zeigten sich die Menschen diesseits des Skeleton nur noch wenig interessiert an „ihrem“ Anteil Zadars, der sich eindeutig zu nahe an Feindesland befand und zudem keine schützende natürliche Grenze aufwies. Obendrein wurden auf der mit Abstand größten Insel Gondwanalands die Opreju vermutet, ein weiterer Grund, ohne Bedauern zu verzichten.
Alten Erzählungen nach war Zadar einst an ihrem östlichen Ende durch eine schmale Landzunge mit Travorsa verbunden, der drittgrößten Insel Gondwanalands. Manche behaupten, sie sei sogar die zweitgrößte. Ich für meinen Teil verwies Travorsa eher auf Platz vier. Den eindrucksvollen Landkarten, die sich unter den Aufzeichnungen von Radan befanden, galt mein vollstes Vertrauen. Tief im Süden, jenseits des Landes Nepondria, zeigten sie eine weitere beachtliche Insel mit dem Namen Irndo, eindeutig größer eingezeichnet als Travorsa. Und ewig weit im Westen Gondwanalands, am anderen Ende der gewaltigen Landmasse, die sich vom Großen Barrieregebirge bis hin zur westlichen Tethys zog, lag die stattliche Vulkaninsel Araka, die es meiner Meinung nach durchaus mit Travorsa aufnehmen konnte. Es war an der Zeit wieder einmal einen Blick auf die vergilbte Karte zu werfen, die ich im Rucksack verwahrt mit mir führte.
Welche natürlichen Prozesse zum Verschwinden der Landbrücke zwischen den beiden Inseln geführt hatten, Seebeben oder vulkanische Aktivitäten, wusste niemand. Gegenwärtig trennt der nur wenige Kilometer breite und nicht unbedingt tiefe Travorsakanal die beiden Inseln voneinander.
Travorsa, die auch die Toteninsel genannt wird, gilt seit Menschengedenken als Wiege der Opreju. Auf ihr soll der Legende nach der Ursprung dieser sagenumwobenen Lebensform zu finden sein. Gerüchte, nach denen bei extremem Niedrigwasser die beiden Nachbarinseln hin und wieder kurzzeitig eins werden, taten ihr weiteres, um das Interesse an einer Besiedlung Zadars zu dämpfen. Dieser Insel näherten wir uns nun, mit der Absicht, die Nacht darauf zu verbringen. Bei dem Gedanken daran gruselte es mich ein wenig. Es konnte bedeuten, zum ersten Mal auf Opreju zu treffen, auch wenn ich nicht recht daran glauben wollte. Früher oder später hätten auch wir Hinterwäldler in Stoney Creek davon erfahren, sollten auf Zadar die Opreju sitzen.
„Was ist das?“ Lukes Ruf ließ unsere Blicke automatisch seinem ausgestreckten Zeigefinger folgen, der nach Nordwesten und damit von der Insel weg zeigte.
Ich konnte nichts entdecken. Krister erging es ähnlich.
„Ich sehe nichts“, meinte er. „Wo soll es denn sein?“
„Na dort! Seid ihr blind? Es ist ein Boot. Ziemlich weit weg, aber immerhin ein Boot!“
So sehr ich mir auch die Augen aus dem Kopf schaute, es gelang nicht, irgendetwas anderes auszumachen als unzählige mit Schaumkronen verzierte Wellen und Scharen fischender Seevögel.
„Du musst dich irren“, meinte Krister schließlich.
„Nun sehe ich es auch nicht mehr.“ Luke zeigte sich einigermaßen enttäuscht, uns seine Entdeckung nicht vermittelt haben zu können. „Aber es war ein Boot. Das Segel war unverkennbar!“
„Vielleicht ein auf der Stelle schwebender Vogel?“ mutmaßte ich. „Die Entfernung gaukelt einem schon manchmal ein Trugbild vor.“
Luke sah mich entrüstet an. „Glaubst du etwa, ich kann einen Vogel nicht von einem Segel unterscheiden?“
„Selbst wenn es ein Boot war...“, begann Krister.
„Es war ein Boot!“ beharrte Luke eisern.
„Wie dem auch sei. Nicht unbedingt ungewöhnlich. Wir befinden uns kaum eine Tagesreise entfernt von Van Dien. Warum sollten wir die einzigen sein, die in dieser Gegend herumschippern? Womöglich sind hier gute Fischfanggründe.“
Ich nickte zustimmend. „Im Grunde wundert es mich mehr, noch niemandem begegnet zu sein. Schließlich gehören diese Gewässer zu Aotearoa und liegen zudem vor der Haustür seiner größten Stadt.“
„Ein gutes Zeichen“, schloss Krister. „Damit sind meine letzten Zweifel an einer Landung auf Zadar beseitigt.“
„Ach, hattest du welche?“
„Du etwa nicht, Jack?“
„Einige wenige vielleicht. Aber da merkt man doch, wie tief sich die Ammenmärchen unserer Kindheit ins Gedächtnis gebrannt haben. Die unmittelbare Nähe zur Toteninsel lässt einen sofort an Geister und andere Ungeheuer denken.“
„Und an Opreju“, erinnerte Luke.
„Auch nichts anderes als Gespenster“, winkte Krister ab. „Ich habe noch nie an sie geglaubt. Und zu deiner Information, Jack: Die Toteninsel liegt gute vierhundert Meilen in dieser Richtung.“ Er zeigte nach Südosten. „Von ‚unmittelbarer Nähe’ kann keine Rede sein.“
„Ja, jetzt noch nicht. Wir werden sehen, wie du in ein paar Tagen darüber denkst.“
Bei Ebbe setzten wir das Boot mit einem kräftigen Ruck auf Grund. Dies geschah nicht unerwartet, hatten wir die stetig abnehmende Wassertiefe doch genauestens im Auge behalten und das Segel beizeiten eingeholt. Die See hatte sich weit zurückgezogen und entblößte ihr Bett aus schmutzig grauem Schlick, das wenig dazu einlud, den Kahn an den schätzungsweise fünfhundert Meter entfernten Strand hoch zu schleppen.
„Wann ist eigentlich Flut?“ fragte ich in die Runde und erntete allgemeines Achselzucken. Wir konnten schlecht an Land waten und das Gefährt alleine zurücklassen. Also beförderte Krister kurzerhand seinen Stiefbruder zum Kommandanten und übertrug ihm die volle Verantwortung für das Boot, was im Kern nichts anderes bedeutete, als auf das irgendwann eintreffende Hochwasser zu warten. Luke freundete sich damit schnell an. Selbstsicher nahm er am Ruder Platz und beobachtete uns gähnend beim Marsch durch den zähen Schlick.
Während der Wattwanderung fielen mir die zahlreichen handtellergroßen Krebse auf, die sich eingebuddelt im lockeren Schlamm in Sicherheit wiegten. Ihre stattlichen, fremdartig bläulich schimmernden Scheren ragten hier und da abwehrbereit hervor. Mit dem Eisenstab hebelte ich ein wahrhaft monströses Exemplar aus seinem glitschigen Versteck, pinnte es auf den Rücken und nahm die beeindruckenden, unfügsam auf- und zuschnappenden Verteidigungswerkzeuge in Augenschein. Zwei bis drei Dutzend Scheren würden für eine Mahlzeit ausreichen, schätzte ich.
Kurze Zeit später brieten auch schon sechs ansehnliche Exemplare im Feuer vor sich hin. Ich hatte mir die Freiheit herausgenommen, sie nach der Größe ihrer Scheren auszuwählen, die mir so bereitwillig entgegengestreckt wurden. Nachschub sollte kein Problem darstellen, so dachte ich. Es wimmelte geradezu von ihnen. Aber die erstaunlich schnell zurückkehrende See machte einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Wieder in ihrem natürlichen Element, begnügten sich die Krebse nicht mehr damit, sich dem hinter ihnen herjagenden Schatten durch flinkes Eingraben zu entziehen. Mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit, die ich ihnen niemals zugetraut hätte, nahmen sie stattdessen auf munteren sechs Beinen Kurs offene See Reißaus. So blieb uns der ersehnte Nachschlag süßen Fleisches trotz allen guten Willens und ebensolcher Hartnäckigkeit verwehrt.
Wir gaben es schließlich auf.
Nicht so Luke. Er hatte sich, wie es aussah erfolgreich, nach Alternativen umgesehen. Die Hosentaschen gefüllt mit walnussgroßen Mollusken watete er an den Strand zurück. Krister beobachtete ihn skeptisch.
„Sieht so aus, als will er uns diesmal endgültig vergiften“, mutmaßte er argwöhnisch. „Es wird wohl besser sein, die Angeln auszuwerfen, wenn wir nicht all zu hungrig schlafen gehen wollen.“
Das Jagdglück blieb ihm dieses Mal allerdings verwehrt. Der erfolgsverwöhnte Jäger kehrte nach Einbruch der Dunkelheit mit leeren Händen zurück. Kein Fisch. Auch in den Rucksäcken fand sich nichts mehr Verwertbares. Alle Vorräte von zu Hause waren unwiderruflich aufgebraucht. Indessen schälte Luke geschäftig mit Hilfe seines Messers die in ihren Gehäusen gekochten Seeschnecken heraus.
„Du machst das nicht das erstemal, hab ich Recht?“
„Da liegst du ganz richtig, Jack.“ Mehr als einen Happen machte der an der Messerspitze hängende graue Klumpen nicht aus. Im nächsten Moment führte ihn Luke an den Mund und begann auch schon genüsslich zu kauen. Aus sicherer Entfernung fragte ich erkennbar angewidert: „Es gibt nicht viel, wovor du dich ekelst, stimmt’s?“
„Da liegst du wieder richtig“, kaute Luke. Seine wachen Augen beobachteten mich genauestens. „Willst du probieren?“
„Besser nicht“, wehrte ich ab. „Lass dich nicht bei deiner Mahlzeit stören.“ Nach kurzer Pause und einer weiteren verspeisten Molluske konnte ich mir nicht verkneifen ihn zu fragen: „Was würdest du eigentlich noch alles essen, wenn es sein müsste?“
Luke musste zu meinem Schrecken nicht großartig nachdenken. „Raupen sind gut. In Honig gekocht. Oder geröstete Heupferde. Die würde ich auch ohne Zwang essen.“ Er lachte, als er mein ablehnendes Gesicht sah. „Mutter Natur versorgt dich mit allem nötigen. Die Krebse vorhin hast du doch auch mit Genuss verspeist.“
„Krebse sind etwas ganz anderes!“
„Wenn du meinst.“ Und aß Schnecke Nummer drei, ohne mich aus den Augen zu lassen. In der Tat hatte mich Luke zum Nachdenken angeregt. Bestimmt würde irgendwann der Tag kommen, an dem kein Fleisch auf unserem Feuer landete. War es nicht falsch, ja geradezu töricht, aus einem simplen Vorurteil heraus Alternativen auszuschließen? Luke sah jedenfalls ganz so aus, als genoss er sein Mahl. Und er schien Gedanken lesen zu können.
„Interesse?“ Schon hielt er mir Schnecke Nummer vier unter die Nase. Aus der Nähe betrachtet sah sie gar nicht mehr so widerlich aus. Die üble Erfahrung mit dem gestrigen Seetang ließ mich weiterhin zögern. „Nimm schon!“
„Gut, aber nur um dir zu zeigen, dass ich Neuem sehr wohl aufgeschlossen bin.“ Und hungrig wie ein eingesperrtes Tier. Mit Daumen und Zeigefinger nahm ich die Molluske von Lukes Messer und stopfte sie endlich zwischen die Zähne. Und siehe da! Niemals hätte ich vermutet, dass ein auf dem Meeresboden herumkriechendes Schleimtier so vortrefflich schmeckte. Zart wie Geflügel, aber längst nicht so faserig.
„Und?“ erkundigte sich Luke, Schnecke Nummer fünf aus der Schale pulend.
Ich zwinkerte kameradschaftlich. „Lass mir noch was übrig, okay?“
Das Eis begann merklich zu tauen.
Später löschte Krister das Feuer. Diese Vorsichtsmaßnahme galt der Anwesenheit möglicher Gefahren. Ich fühlte mich zwar relativ sicher, dennoch durften wir uns die Sorglosigkeit der vergangenen Nächte nicht mehr erlauben. Immerhin gehörte Zadar streng genommen bereits zum Reich der Opreju, auch wenn der Eroberer in mir dies vehement ablehnte. Unsere Augen gewöhnten sich rasch an das klare Sternenlicht. Nun stand einem Standortwechsel nichts mehr im Wege. Das Boot im knietiefen Wasser hinter uns her ziehend wanderten wir los in Richtung Osten, Entfernung zwischen uns und die verräterische Feuerstelle bringend.
Am Rand einer kleinen Bucht ließen wir uns im tiefschwarzen Schatten einer Baumgruppe zum Schlafen nieder. Wir losten aus, wer die erste Wache zu übernehmen hatte. Diese Prozedur sollte in den kommenden Wochen zur Routine werden. Für heute Nacht traf es Krister. Luke und ich wickelten uns in die Decken und schliefen rasch ein. Ohne zu murren trat ich Stunden später meinen Teil der Wache an. Die See hatte sich wieder weit zurückgezogen, das Boot lag weit zur Seite geneigt auf dem Trockenen und schien ebenfalls tief und fest zu schlummern. Von weit her drang gedämpftes Meeresrauschen. Die Ebbe musste ihren tiefsten Stand erreicht haben. Schlaf gut, Rob, wo immer du auch sein magst. Ich werde dich finden. Verlass dich drauf!
Das dürftige Abendessen und ein komplett ausgefallenes Frühstück sorgten anderntags für schlechte Laune. Die Reise führte uns den ganzen Vormittag entlang der Küste Zadars. Kristers Fangleinen erschienen den Fischen wohl ebenso unattraktiv wie uns die eintönig vorbeiziehende Küstenlandschaft. Das Innere Zadars bestand offensichtlich nur aus Dünen. Eine langgestreckte Wüste am Rande des Kontinents. Wir mussten bald etwas Nahrhaftes auftreiben. Schon rächte es sich, in Van Dien nicht zum Aufstocken der Vorräte gekommen zu sein. Warum nur die Fische nicht anbissen! Wenigstens Wind und Wetter spielten uns in die Hände.
Zum x-ten Male überprüfte Krister die Angelhaken. „Schau dir das an!“ knurrte er resignierend. „Jetzt ist auch der letzte Köder bis auf die Gräten abgenagt. Mit einem blanken Haken kann ich nichts ausrichten.“
Ich nickte teilnahmsvoll. „Das Trinkwasser geht auch bald zur Neige. Was hältst du von einem kleinen Jagdausflug?“
„Davon halte ich ganz viel. Je eher desto besser.“
Die zweite Landung auf der Großen Barriereinsel erfolgte bei Flut und entsprechend unkomplizierter. Luke versprach in der Nähe des Bootes zu verweilen, während Krister und ich ins Innere der Insel vorzudringen gedachten, um etwas Essbares und Wasser zu finden. Zu diesem Zweck füllte ich die Reste aus drei Wasserbeuteln in einen um, den ich Luke in die Hand drückte.
„Bei Gefahr schnappst du dir den Kahn und bringst ihn in Sicherheit!“ sagte ich zu ihm. „Das Boot ist unser kostbarstes Gut. Wenn es verloren geht, kommen wir hier nie wieder weg.“
„Verstanden. Und was ist mit euch?“
„Mach dir um uns keine Sorgen!“ sagte Krister. „Natürlich kann es etwas dauern, bis wir wieder hier sind, hängt davon ab, wie hold uns das Jagdglück ist. Du kannst jedoch davon ausgehen, dass wir nicht mit leeren Händen zurückkommen werden.“
Ich legte den Köcher mit den Pfeilen an und prüfte die Sehne des Bogens. Krister nahm den Eisenstab an sich. Dann rückten zwei hungrige Jäger in das Innere Zadars vor. Das ebene, nur spärlich mit niederer Vegetation bewachsene Gelände stellte keine Herausforderung dar. Nach einer guten halben Stunde Marschierens änderte sich die Situation jedoch. Der Boden versandete zusehends. Buschwerk zog sich zurück. Schon von weitem erblickten wir jene hohen Dünen, die mir schon vom Meer aus aufgefallen waren. Mit jedem Meter, den wir uns näherten, schienen sie noch an Größe zuzulegen. Die Existenz von Sandbergen dieser Kategorie entzog sich bisher meiner Kenntnis.
„Nicht schlecht“, meinte ich, auf die Wand aus Sand vor uns deutend. „Und ich dachte immer, die Dünen von Aiutaia hielten den Rekord. Man lernt doch immer etwas Neues dazu.“
Krister nickte nur. Ihm war genau so klar wie mir, diese Barriere nur mit großer Anstrengung überwinden zu können. Eine Anstrengung, die wahrscheinlich nicht lohnen würde. Enorm steil ging es nach oben, dreißig Meter, wie ich schätzte. Zu meiner Überraschung sagte Krister unvermittelt: „Ich sehe mir das mal an“, und machte sich ohne ein weiteres Wort an den Aufstieg.
„Du willst da hoch?“ fragte ich ungläubig.
„Ja, ich will wissen, wie es dahinter weitergeht. Hier, fang!“ Er warf mir den Eisenstab zu. Breitbeinig und unter Zuhilfenahme von Armen und Händen grub sich Krister in die bröckelnde Wand und begann mit dem Aufstieg. Er machte das richtig gut, stellte ich neidlos fest. Die kraftvollen Bewegungen wirkten mühelos, es sah kinderleicht aus. Nur der Schweiß auf seinem im gleißenden Sonnenlicht glänzenden Rücken zeugte von der Schufterei, der er sich so bereitwillig hingab. Endlich oben angelangt wandte er sich um und winkte, bevor er aus meinem Sichtfeld verschwand. Da stand ich nun und glotzte dümmlich in die Höhe.
„Was siehst du?“ rief ich endlich.
Keine Antwort.
„Krister?“ Geduld zählte eindeutig nicht zu meinen Stärken. Als zehn Sekunden später immer noch keine Antwort kam, war es um meine Beherrschung geschehen. Ebenso kraftvoll aber sicherlich weniger geschickt hastete ich die Sanddüne hoch, wobei Kristers tiefe Spuren nicht unerheblich Hilfestellung leisteten.
Auf halber Höhe hielt ich inne und lauschte. Hatte da jemand meinen Namen gerufen? Mein Pulsschlag beschleunigte nochmals, auch wenn das unter den gegebenen Umständen kaum möglich war.
Die restlichen Meter hetzte ich regelrecht hinauf. Da lag Krister. Auf dem Bauch. Alle viere von sich gestreckt. Einen Sekundenbruchteil später kniete ich tief besorgt neben ihm. Ein Blick in sein zu einem breiten Grinsen verzogenes Gesicht bedeutete mir jedoch sogleich, ihm wieder einmal auf den Leim gegangen zu sein. Seine zuweilen derben Scherze enstprachen nicht jedermanns Geschmack. Für einen Moment verspürte ich gewaltige Lust, ihn zu verprügeln.
„Du enttäuschst mich nicht, Jack.“ Seine von der Sonne gebleichten Locken wehten verspielt im Wind. „Rekordzeit. Ich hätte dich eine halbe Minute später erwartet. Kompliment!“
„Wahnsinnig ulkig, du schwachsinniger Esel!“ Ich stand auf und wandte mich demonstrativ der Umgebung zu.
„Tolle Aussicht, was?“ Schon lehnte Krister an mir, versöhnlich einen schweren Arm um meine Schultern gelegt. Von unserer Warte aus bot sich ein eindrucksvoller Fernblick auf eine ausgedehnte Dünenlandschaft, die in drei Himmelsrichtungen bis zum Horizont reichte. In unserem Rücken lag die See. Wir entdeckten sogar das auf den Strand hochgezogene Boot.
„Schöne Gegend, fürwahr“, konnte ich nur bestätigen. „Diese Wüstenei wird unsere Mägen allerdings nicht füllen. Und nach Wasser sieht es hier auch nicht aus.“
„Immerhin gibt es Vögel.“ Krister deutete auf einen flatternden Punkt, der aus den Dünen auf uns zuflog. Zunächst maß ich dem wenig Bedeutung bei. Doch der Punkt nahm rasant schnell an Größe zu. Und sein Kurs stand unbeirrbar fest.
„Was zum...“ entfuhr es mit, als das aufgeregte Tier mit einem Höllenkreischen und wild um sich schlagenden Flügeln nur eine Handbreit über unseren Köpfen schwebte. Sein langgezogener spitzer Schnabel hieb dabei mit erstaunlicher Präzision auf beide Blondschöpfe ein, die die Arme hochrissen, um den unerwartet hartnäckigen Angreifer zu verscheuchen. Tatsächlich entfernte sich der entengroße Vogel daraufhin auch ein Stück und umkreiste das Objekt seiner Rage in gewisser Distanz.
„Hab ab, du blödes Vieh!“ schrie ich ihm zu.
„Qui wieh, qui wieh“, kam die unmissverständliche Antwort, was wohl so viel wie „Verpisst euch von hier!“ heißen sollte.
„Typisches Brutverhalten“, meinte Krister. „Wir müssen wohl in sein Revier eingedrungen sein. Womöglich ist ganz in der Nähe sein Nest.“
Wir tauschten zwei Blicke aus und wussten auch schon, das gleiche zu denken. Ich sah mich schon eine mächtig große Portion Rührei verschlingen – und Mamma Vogel gerupft am Spieß über kleiner Flamme. Aus dem Nichts tauchten angelockt von dem Lärm noch weitere schwarze Punkte auf, die sich schon von weitem mit ohrenbetäubendem „Qui wieh!“ ankündigten. Noch bevor wir wussten wie uns geschah, schwirrte ein halbes Dutzend wildgewordener Elternvögel schnabelhackend über unseren Köpfen. Und es wurden stetig mehr. Wir hatten nicht viel Auswahl: flüchten oder angreifen. Ich entschied mich für letzteres. Der Gedanke an knuspriges Brathuhn ließ nicht mehr los. Jetzt zahlte es sich aus, Pfeil und Bogen mitgeführt zu haben. Ich ging in die Knie. Nun bildete allein Krister eine hervorragende Angriffsfläche, und der mittlerweile auf ein Dutzend Exemplare angewachsene Sturmtrupp attackierte ihn nach Belieben von allen Seiten.
Anlegen – spannen – loslassen. Die einzige Gefahr bestand darin, aus Versehen Krister zu verletzen. Doch er vertraute auf was ich im wahrsten Sinne des Wortes abzielte und beschränkte sich darauf, den Kopf mit übereinandergeschlagenen Armen zu schützen und ansonsten reglos zu verharren. Noch bevor die Krachmacher realisierten, zu Gejagten geworden zu sein, hatte ich zweimal getroffen. Ein dritter Pfeil verfehlte sein Ziel knapp. Das erstickende Kreischen der zu Boden gestürzten, tödlich verwundeten Tiere verfehlte seine Wirkung nicht. Innerhalb von Sekunden war der flatternde Spuk vorüber. Weiterhin laut protestierend stellten die Vögel den Angriff ein und zogen ab. Kein Wunder, ihre Verluste waren furchtbar.
Eines der Tiere lag bereits tot da. Das zweite hingegen zeigte sich noch verblüffend lebendig trotz des tief in der Körpermitte steckenden Pfeils. Nicht mehr flugfähig versuchte es mit ruckartigen Bewegungen aus der Gefahrenzone zu hüpfen. Doch dagegen hatte Krister etwas. Wie ein Schraubstock schlossen sich seine kräftigen Hände um den schlangenförmigen Hals. Sein Gezeter erstickte unverzüglich. Einmal nur knackte es, dann war alles vorbei.
Ich schloss die Augen. Es würde mir wohl niemals gelingen, kein Bedauern gegenüber der Kreatur zu empfinden, das durch mein Zutun sein Leben verlor. Für einen Moment spürte ich Traurigkeit, den Tod dieser beiden furchtlosen Geschöpfe verantwortet zu haben. Aber es musste sein. Und schon einen Wimpernschlag später tröstete mich der Gedanke an gebratenes Geflügel darüber hinweg.
„Ich hätte nicht gedacht, dass uns das Mittagessen entgegenfliegen würde.“ Krister begutachtete die ihm beigebrachten blutigen Schrammen an beiden Armen. Es sah jedoch schlimmer aus, als es tatsächlich war. „Sehr gut gemacht, Jack. Hungers werden wir heute nicht sterben.“
Die beiden erlegten Vögel wogen gut und gern zehn Pfund. Nach Abzug von Knochen und Fett bedeutete das rund fünf Pfund frisches Fleisch, was für den Rest des Tages mehr als genügen sollte. Zufrieden machten wir uns an den Abstieg. Der Ausflug ins Innere Zadars hatte sich gelohnt. Luke würde Augen machen!
Doch zunächst sollten wir Augen machen. Streng unseren Fußspuren folgend ging es zielstrebig zurück in Richtung Küste. Wir ließen die Dünenlandschaft hinter uns und erreichten abermals bewachsenes Terrain. Annähernd den halben Rückweg bewältigt, blieben wir wie angewurzelt stehen. Irgendetwas hatte in der Zwischenzeit unsere Fährte gekreuzt. Und dieses Irgendetwas hinterließ Spuren, die meine Nackenhaare dazu veranlassten, sich steil aufzurichten.
„Was zum Teufel ist das?“ Krister ging in die Knie. Im Fährtenlesen machte ihm so schnell keiner etwas vor, auch wenn seine Erfahrungswerte jetzt versagten. „Das nenne ich eine Bodenverwundung! Und eine äußerst frische dazu. Spuren dieser Art habe ich noch nie gesehen. Sieht aus wie eine Klaue mit nur einer Zehe. Oder einer Kralle. Sehr merkwürdig.“
„Mich beunruhigt eher die Größe dieser Klaue.“ Unbehaglich sah ich mich nach allen Seiten um. „Das dazugehörige Tier muss riesig sein! Wie weit mag es entfernt sein?“
Krister richtete sich auf. „Nicht all zu weit“, meinte er und prüfte die Windrichtung. „Westwind. Und die Spur führt nach Osten.“
„Lass uns verschwinden.“ Zu meinem Befremden sah ich Jagdfieber in Kristers Augen glimmen. „Am Ende sind das hier die Spuren eines Opreju. Krister, keine Dummheiten jetzt! Luke ist alleine beim Boot!“
Mein Freund sah mich unentschlossen an. Dann siegte die Vernunft auch bei ihm. Den restlichen Weg zur Küste legten wir im Sprint zurück.
Atemlos brachen wir endlich durch das Buschwerk auf den Strand zu. Noch nie waren mir ein paar hundert Meter so lange vorgekommen! Da lag das Boot – aber keine Spur von Luke.
„Luke!“ Kristers Rufen verriet die Sorge um den Bruder. „Luke, wo bist du?“
„Luke!“ schrie nun auch ich. Rückwärts langsam auf das Boot und damit die schützende See zusteuernd, sahen wir uns nach allen Seiten um.
Nichts.
„Wo kann er nur stecken? Hier sind seine Spuren. Sie führen vom Boot fort.“ Und schon hastete Krister, den Blick auf den Erdboden geheftet, los. Ich zwang mich zur Ruhe. Mit Sicherheit war Luke nicht in Gefahr. Was auch immer sich auf dieser Insel herumtrieb, es handelte sich bestimmt nur um eine harmlose, großgewachsene Tierart. Wahrscheinlich ein Pflanzenfresser. Wäre uns diese Kreatur bösartig gesinnt gewesen, würde sie beim Anblick unserer Fußspuren die Verfolgung aufgenommen oder uns zumindest aufgelauert und aus dem Hinterhalt angegriffen haben. Nichts davon war jedoch geschehen. Das mysteriöse Wesen hatte stur seinen Weg fortgesetzt, der eindeutig von uns wegführte. Den Impuls unterdrückend, Krister hinterherzulaufen, hielt ich noch kurz inne und handelte dann. Das Boot flott zu machen besaß höchste Priorität. Sollte ein schneller Rückzug von der Insel erforderlich sein, musste es abreisebereit sein. Und das war es augenblicklich nicht. Mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften zerrte ich den Kahn zurück ins Wasser. Endlich bekam es den nötigen Auftrieb. Hurtig kletterte ich an Bord, ergriff die Ruder und brachte es in tieferes Gewässer. Von weitem musste es aussehen, als wollte ich Zadar fluchtartig verlassen. Alles war jetzt bereit zum Aufbruch – nur fehlten noch zwei Passagiere, die allerdings nicht lange auf sich warten ließen. Wenige Augenblicke später erschienen sie auf der Bildfläche. Ich rief erleichtert ihre Namen, doch hatten sie mich schon längst erspäht und näherten sich.
„Wo warst du?“ fragte ich Luke in vorwurfsvollem Ton. Es klang schärfer als beabsichtigt.
„Wasser holen!“ Erst jetzt bemerkte ich die beiden prall gefüllten Beutel über seinen Schultern. Fürsorglich half ich ihm sogleich, die Last abzulegen. Wie es ihm gelungen war, auf dieser staubtrockenen Insel überhaupt welches zu finden, interessierte zunächst nur zweitrangig. Vielmehr war ich froh, ihn wohlbehalten wieder um mich zu wissen.
„Sehr gut gemacht, Luke!“ Lobende Worte Kristers gehörten eher zu den selteneren Äußerungen, die er von sich gab. „Mann, wir haben uns ganz schön aufmischen lassen. So Hals über Kopf habe ich noch nie den Schwanz eingezogen.“
„Ich bin heilfroh, wieder auf See zu sein“, gab ich zu, mich in keinster Weise meiner Furcht schämend. „Hier sind wir zumindest sicher.“
„Klarer Fall von Überreaktion. Alleine das Wort ‚Opreju’ genügte, uns in Panik ausbrechen zu lassen. Das zeigt, wie wenig wir eigentlich auf das vorbereitet sind, was uns erwarten dürfte. Wenn wir künftig auch so feige reagieren, werden wir nicht weit kommen.“
Von dieser Warte aus betrachtet musste ich ihm uneingeschränkt Recht geben. Wir beabsichtigten immerhin, in das Land der Opreju vorzudringen. Wie komfortabel ich ihre Existenz ins Reich der Phantasie abgedrängt hatte! Zum ersten Mal begann ich wahrhaftig zu realisieren, auf was wir uns hier einließen. Meiner Angst vor dem Unbekannten war es mühelos gelungen, die Oberhand zu gewinnen. Die Zuversicht, das Richtige zu tun, erfuhr eine heftige Erschütterung. Umso mehr überraschte mich Lukes Reaktion. Er stand achtern neben mir am Ruder und warf sehnsüchtige Blicke zurück.
„Nicht einmal die Spuren habe ich gesehen!“ Es klang wie ein Jammern. Kein Hauch von Furcht. Nüchtern betrachtet war er der einzige gewesen, der nicht den Kopf verloren hatte.
„Meinst du wirklich, es waren Spuren eines Opreju?“ fragte ich Krister. Der zuckte nur mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Wir sollten davon ausgehen.“
Der Vorfall führte mir endlich vor Augen, wo ich wirklich stand. Der romantische Hauch von Abenteuer, der über allem geschwebt hatte, war spätestens jetzt verflogen.
Nach dieser Erfahrung zog es uns naturgemäß nicht mehr nach Zadar zurück. Mit geändertem Kurs näherten wir uns wieder dem Festland und folgten seinem Küstenlauf, bevor uns gnadenloser Hunger an Land trieb. Die Zubereitung der beiden Vögel, die so lecker duftend über dem Lagerfeuer schmorten, brachte uns auf andere Gedanken. Mit gut gefüllten Bäuchen und dem Wissen, wieder „zuhause“ zu sein, scherzten wir umeinander, als wäre nichts geschehen. Doch die unbeschwerte Leichtigkeit war unwiederbringlich verflogen. Vielleicht zur rechten Zeit.
Über Nacht hatte der Wind gedreht und wehte nun kräftig aus nordöstlicher Richtung. Mit ihm zogen dunkle Wolken heran, doch regnete es nicht. Diese Wetterlage verlangte etwas mehr Aufmerksamkeit als das simple Vor-dem-Wind-fahren der letzten Zeit. Ich schickte das Boot windwärts auf Kreuzkurs, und wir segelten zunächst auf Backbordbug vom Festland fort. Als die Große Barriereinsel wie ein Geist aus dem Dunst stieg, fuhr ich eine ausgedehnte Wende und ging auf Steuerbordbug.
So kreuzten wir den lieben langen Tag in mehr oder weniger östlicher Richtung hin und her. Krister hatte wie immer die Angelschnüre ausgeworfen und fing über Stunden hinweg völlig versunken in seine Tätigkeit einen Fisch nach dem anderen. Luke dagegen saß bewegungslos am Bug und starrte auf das Meer hinaus. Ab und zu wandte er sich um, als wollte er sich vergewissern, ob wir anderen noch da waren. Stets sah ich dabei ein schwer zu beschreibendes Lächeln auf seinem Gesicht, das mich mehr als nur einmal an das verklärte Grinsen eines Schwachsinnigen erinnerte. In diesen Momenten bemerkte ich, wie wenig ich ihn doch kannte, wie fremd er mir zuweilen immer noch vorkam. Krister zerrte derweil den dritten Sargan aus seinem natürlichen Element. Ein Prachtexemplar von einem guten Meter Länge. Längst befand sich mehr Fisch an Bord, als wir in den nächsten beiden Tagen würden vertilgen können.
Am späten Nachmittag leitete ich die letzte Wende ein und nahm wieder Kurs Festland. Trotz des widrigen Windes waren wir gut vorangekommen und durften uns gut und gerne auf halber Strecke zwischen Sawyer Bay und Fisk Bay befinden. Der Skelettfluss befand sich also günstigstenfalls nur noch anderthalb, höchstens zwei Tagesreisen entfernt. Beim Gedanken daran spürte ich das Blut in meinem Kopf rauschen. Oder war es nur der mir um die Ohren pfeifende Fahrtwind?
Die Reste vom Vorabend reichten nicht aus, die Mägen dreier erwachsener Männer zu füllen. Wir beschlossen deshalb, den Tag ausklingen zu lassen und an Land zu gehen und den Fisch zu verwerten.
Unterdessen hatte sich Aotearoa spektakulär verändert. Obwohl ich noch nie im Leben diesen Teil meiner weiten Heimat gesehen hatte, wusste ich doch, wo ich mich befand. Wir hatten unverkennbar Ergelad erreicht, das Hügelland zwischen Lake Sawyer und den Kupferbergen.
Vom Meer aus bot sich uns ein faszinierendes Naturschauspiel. Das der See zugewandte Bergland präsentierte sich in glanzvollen Rottönen, das kurzzeitige Geschenk eines farbenprächtigen Sonnenuntergangs. Die Küstenlinie erinnerte wieder mehr an Avenors Norden, wild zerklüftet, felsig, von kleinen strandlosen Buchten durchzogen.
In eine dieser Buchten steuerte ich das Boot auf der Suche nach einer geeigneten Anlegestelle. Es boten sich einige Möglichkeiten, die mir allerdings nicht sicher genug erschienen. Ich verwarf sogar einen kanalartigen Einschnitt, der wie aus dem Fels herausgehauen wirkte und regelrecht zum Festmachen einlud. Zu riskant! Freilich hätte sich das Boot dort vertäuen lassen, sogar von zwei Seiten. Dennoch fürchtete ich die Gefahr zunehmenden Wellengangs, vor allem bei der gegenwärtig unsicheren Wetterlage. Ein paar hohe Wogen würden genügen, um das kleine Boot – festgezurrt oder nicht – gegen die Felsen zu schleudern. Am liebsten hätte ich es wie sonst einen sicheren Strand hochgezogen. In dieser Hinsicht zeigte sich Ergelad jedoch von seiner sparsamen Seite.
Allmählich drängte es. Die Nacht brach an und wir hatten noch nicht einmal Holz fürs Feuer gesammelt, geschweige denn einen Lagerplatz gefunden. Meine Unentschlossenheit stellte die Geduld der hungrigen und müden Gefährten auf eine harte Probe.
„Was war an dem Platz eben nicht in Ordnung, Jack?“ fragte Krister gereizt. Er hatte sich lange zurückgehalten und machte endlich seinem Unmut Luft.
„Der Kanal? Nein, viel zu eng. Ein paar hohe Wellen würden ausreichen, um das Boot an den Felsen zerschellen zu lassen.“
„Aber doch nicht wenn wir es ordentlich vertäuen“, widersprach mein Freund. „Außerdem sieht es nicht nach Sturm aus. Wieso sollte der Wellengang zunehmen?“
„Ich bin eben vorsichtig“, verteidigte ich mich schwach. „Nicht auszudenken, wenn dem Boot etwas passierte.“
Womöglich hatte Krister aber Recht. Der Kanal verlockte in der Tat zum Anlegen. Eine bessere Alternative würde sich angesichts der fortschreitenden Dämmerung wahrscheinlich auch nicht finden lassen. Ich lenkte schließlich ein. Im Dunkeln irgendwo zu landen behagte mir noch ein ganzes Stück weniger. Krister nickte beipflichtend als ich wendete und das Boot mit gerefftem Segel und unter Zuhilfenahme der Ruder in die schmale Rinne manövrierte. Sorgfältig machten wir es an zwei Seiten fest. Es bedurfte schon wirklich eines Unwetters, um es loszureißen. Einigermaßen beruhigt ließ ich es leise schaukelnd zurück.
Etwas höher gelegen stieß Luke auf der Suche nach essbarem Grünzeug auf einen dicht mit Moos bewachsenen Felsvorsprung. Einen besseren Schlafplatz konnten wir uns nicht wünschen. Das weiche Moos bildete eine ideale Unterlage, bequemer noch als Sand. Einen Nachteil jedoch galt es hinzunehmen: Von dort aus gab es keine direkte Sicht auf das Boot. Die Felsen, die es an drei Seiten umgaben, versperrten jeden Blick. Ich war jedoch bereit, auch diesen Umstand hinzunehmen. Bei der augenblicklichen Bewölkung versprach die Nacht sowieso eine tiefdunkle zu werden. Selbst wenn ich direkt davor säße, würde ich das Boot nicht mehr sehen können. Es war also müßig, sich darüber Gedanken zu machen.
Wir brieten jeden einzelnen der gefangenen Fische und aßen hemmungslos. Luke hatte die silbrigen Bäuche mit frischen Kräutern gefüllt, was ihren Geschmack noch verfeinerte. Was nicht sofort in unseren Mägen landete, verschwand als Vorrat für den morgigen Reisetag in den Rucksäcken. Wohl genährt und hundemüde legten wir uns nieder. Das Lagerfeuer brannte leise knisternd herunter und erlosch.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ich hätte schwören mögen, Kies unter besohlten Schuhen knirschen zu hören. War es dieses Geräusch gewesen, das mich hatte hochschrecken lassen?
Ich lauschte.
Nichts außer dem sanften Lied des Windes und dem ewigen Rauschen der niemals ruhenden See. Mein himmelwärts gerichteter Blick fand nur tiefste Schwärze. Kein Stern zeigte sich.
Schläfrig sank ich alsbald wieder auf das weiche Lager zurück und schloss die Augen. Ich hatte wieder von Rob geträumt. Er war auf einem Schiff, umgeben von tosenden Wellen, die es nach Belieben hin und her warfen. Ich näherte mich ihm unter vollem Segel mit dem größtmöglichen Risiko in meines Vaters Boot, froh und glücklich, ihn endlich gefunden zu haben. Doch noch ehe ich ihn erreichte, löste es sich unter den Füßen auf und verschwand. Der gleiche Traum wie immer, nur in etwas abgewandelter Form. Stets verlor ich Rob aus den Augen, sobald er zum Greifen nahe war. Wie ein flatternder Vogel im Sturm trieb ich durch die Lüfte von ihm fort. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich widerstandslos den Elementen hinzugeben. Wie sehr ich diesen deprimierenden Traum verabscheute, in dem ich immerfort den Kürzeren zog! Die Variante mit dem verschwindenden Boot stellte nur eine weitere Spielform einer Aneinanderkettung von Niederlagen dar. Rob blieb unerreichbar, was ich auch anstellte, wie nah ich ihm auch immer kam. Kurz bevor ich wieder einschlief, schalt ich mich einen Narren, die Sorge um unser Boot so dominierend werden zu lassen, dass sie mich sogar in meine Träume verfolgte. Wie berechtigt diese Sorge war, sollte ich erst am anderen Morgen so richtig erfassen.
Der neue Tag begann mit dem herbsten Rückschlag seit Beginn der Reise. Ein Alptraum wurde wahr. Wie die begossenen Pudel standen wir an genau der Stelle, an der ich gestern Abend das Boot festgemacht hatte. Mit der Ausnahme, dass es sich dort nicht mehr befand.
Es war fort.
Ungläubig schaute ich mir die Augen aus dem Kopf. Mein erster Gedanke galt dem Naheliegendsten: Die Taue hatten sich aus irgendeinem Grund gelöst, und die Gezeiten das ungesicherte Boot aus dem Kanal hinaus in die Bucht gezogen. Es konnte also nicht weit sein, musste irgendwo in der Nähe angetrieben liegen. So dachte ich. Wie gehetzt jagte ich das Kliff hinunter an die Küste, halb erwartend, mein Boot irgendwo in der Nähe auf den Wellen hüpfen oder zumindest angespült zu sehen. Aber es war nicht da. So sehr ich auch suchte, es blieb verschwunden.
Krister hatte sich inzwischen auf eine Klippe geschwungen, die einen guten Blick über die gesamte Bucht ermöglichte. Flehentlich sah ich zu ihm empor, auf ein positives Signal wartend, einen ausgestreckten Arm, der auf die See zeigte, einen Schrei, irgendetwas. Doch er stand schon viel zu lange reglos suchend da. Mein verzweifelter Blick fiel auf Luke, der wie ein Häufchen Elend auf den Kanal starrte, als befände sich unser Gefährt versunken auf seinem Grund. Mein Magen begann zu realisieren, was geschehen war. Er brannte wie Feuer. Warum sprach niemand ein Wort? Wieso holte mich niemand aus diesem furchtbaren Traum?
„Wo ist es?“ rief ich endlich laut aus. „Wo ist das Boot?“
Ich drückte mich an einem immer noch in den Kanal gaffenden Luke vorbei und untersuchte die Felsen, an denen es vertäut war. Keine Spur von den Tauen. Nirgendwo. Ich lachte irr.
„Das gibt es nicht! Ich würde ja einsehen, wenn sich ein Tau warum auch immer gelöst hätte. Das kommt vor. Aber beide? Unmöglich!“ Mir fielen die Geräusche der letzten Nacht ein. War ich nicht wach geworden, weil ich glaubte, Schritte gehört zu haben?
„Jemand muss das Boot gestohlen haben, als wir schliefen!“ rief ich Krister zu, der niedergedrückt angetrottet kam.
„Nein, das glaube ich nicht“, meinte er nach kurzer Überlegung. „Hier ist außer uns niemand.“
„Aber ich habe Schritte gehört heute Nacht!“ beharrte ich. Luke sah mich von der Seite an, bevor er den Blick wieder abwandte. „Hast du auch Schritte gehört, Luke?“
Er schüttelte den Kopf, ohne mich wieder anzusehen. „Das schöne Boot“, sagte er stattdessen tonlos. Ich verachtete ihn dafür, schon resigniert zu haben. Oh nein, so schnell nicht. Nicht mit mir!
Ich rannte los, die Bucht hinunter. Krister rief mir etwas hinterher, was ich nicht verstand. Vielleicht wollte ich auch nur nicht verstehen. Fest entschlossen, jeden Winkel in der näheren Umgebung abzusuchen, machte ich mich ans Werk. Aufgeben kam nicht in Frage!
Wir suchten bis in den Nachmittag hinein. Vergeblich. Irgendwann sank ich erschöpft nieder, bereit, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Es war fort, verschwunden, verloren. Das Boot war nicht mehr.
Tiefe Resignation machte sich breit und erfüllte mein Inneres bis in den letzten Winkel. Bittere Tränen verschleierten meinen Blick, als ich das komplette Scheitern der ganzen Unternehmung ahnte.
Welch ein Idiot ich doch war!
Wie bescheuert, zu glauben, ein paar lumpige Träume und Ahnungen würden mir den Weg zu Rob zeigen. Ich hatte mich und die anderen nur unnötig in Gefahr gebracht. Nun war auch noch das Boot verloren. Gerade diese Tatsache traf am härtesten. Hatte ich Luke nicht extra mitgenommen, damit er es sicher wieder nach Hause bringen konnte, falls ich Vollidiot meinen Bruder entgegen aller „Visionen“ nicht in Hyperion auffand? Oh, wie dumm und naiv mir die Überzeugungen von gestern jetzt im Licht der knallharten Realität vorkamen. Mein Vater hatte voll und ganz Recht gehabt. Nur ein Wahnsinniger würde aufgrund eines simplen Verdachts das Tabu brechen wollen. Ganz so weit war es ja nun nicht gekommen. Nicht einmal in die Nähe des Tabus hatte ich es geschafft.
Lange Zeit saß ich einfach nur da, mit leerem Blick auf die Tethys hinausstarrend, unfähig, meinen Gedanken eine neue Richtung zu geben. Nur eine Überzeugung setzte sich allmählich durch: es war vorbei. Selbst wenn wie durch ein Wunder das Boot nun direkt vor mir auftauchte, ich hätte die Reise in diesem Moment nicht mehr fortsetzen können.
Nach der Rückkehr ins Lager teilte ich den anderen meinen Entschluss mit. Einen Lidschlag lang sah es so aus, als wollte Krister widersprechen. Dann nickte er nur stumm. War er bereits zu ähnlicher Erkenntnis gekommen, fürchtete sich aber davor, sie zu offenbaren?
„Das beste wird sein, wir schlagen uns durch die Wälder nach Westen in Richtung Lake Sawyer durch“, sagte ich ganz pragmatisch. „Irgendwann müssen wir auf die alte Straße treffen, die von Wynyard nach Van Dien führt. Von dort aus ist es ein Kinderspiel. Ich hoffe nur, das Hügelland hier ist einigermaßen passierbar. Wir werden ja sehen. Es bleibt uns auch nichts anderes übrig.“ Ich versuchte, entschlossen zu wirken, was bei weitem nicht der Fall war.
Luke hatte der Entwicklung bisher wortlos und mit gesenktem Blick beigewohnt. Doch jetzt, wo die Rückkehr feststand, meldete er sich zu Wort. Mit unerwartetem Einsatz.
„Was ich da höre kann ich einfach nicht glauben“, sagte er kopfschüttelnd. „Du willst also wirklich aufgeben, ja? Einfach so. Nur weil es einen Rückschlag gab? Ich dachte bisher, es ging um deinen Bruder, Jack, und nicht um ein Boot.“
Er traf eine mächtig verwundete Stelle. „Sei still! Du weißt nicht, was du sagst.“
„Ach?“ Zu meinem Befremden grinste er, was mich nur noch mehr gegen ihn aufbrachte. „Ich glaube eher, du bist derjenige der nicht weiß was er sagt. Mit dem Boot steht und fällt also das Ganze. Interessant. Soviel ich weiß, wolltet ihr anfangs bis Hyperion laufen. Dann erst kam die Idee, den Seeweg zu nehmen. Soweit so gut. Warum gehen wir jetzt nicht einfach zu Fuß weiter?“
Ich wünschte mir dringend, Krister würde seinem Stiefbruder den Mund verbieten. Doch er tat es nicht. Wollte er am Ende die Diskussion über den Umweg Luke weiterführen?
„Es ist entschieden“, resümierte ich müde. „Wenn du nach Hyperion gehen magst, dann geh. Ich halte dich nicht auf. Und jetzt Schluss damit! Ich will nichts mehr hören!“
Kraftlos erhob ich mich. Luke sah herausfordernd herüber. Auf seinen Lippen lagen eine Vielzahl Worte, die er sich wohlweißlich verkniff. Jedoch war es der Spott in seinem Gesicht, der mich am meisten verwunderte. Wieso setzte er sich so vehement für die Fortführung der Reise ein? Sie hätte für ihn unter normalen Umständen sowieso in wenigen Tagen geendet. Das machte alles wenig Sinn... und ich verfügte momentan nicht über die Kraft, mir darüber auch noch den Kopf zu zerbrechen.
Mutlos entfernte ich mich wie ein gebrochener Mann von meinen Gefährten, wollte alleine sein. Den Rest des Tages verbrachte ich an einem geschützten Platz an der Wasserlinie, apathisch auf das Meer hinausschauend. Ein nicht unterzukriegender Teil in mir erwartete immer noch, das Boot jeden Augenblick irgendwo auf den Weiten der See zu erblicken. Das Loslassen gestaltete sich äußerst schwierig. Noch war ich nicht völlig bereit dazu.
Krister und Luke verstanden meine Verzagtheit und ließen mich in Ruhe. Irgendwann am frühen Abend gewahrte ich Krister neben mir. Der Gute brachte etwas zu essen, größtenteils Reste vom vergangenen Tag, aus einer Zeit, die mir so viel unbeschwerter erschien. Warum verdammt noch mal klammerte ich mich so sehr an das Boot? Wieso gelang es nicht, die Tatsachen hinzunehmen und nach vorne zu sehen? Weswegen machte ich es mir selbst so schwer?
„Du musst etwas essen.“ Ich sah kurz zu ihm hoch und bedankte mich leise, während er in die Hocke ging. „Ich wollte dir sagen, wie sehr es mir um das Boot leid tut. Ich gebe mir einen beträchtlichen Teil der Schuld an seinem Verschwinden.“
Das überraschte. „Aus welchem Grund?“
„Immerhin bin ich es gewesen, der dich gestern Abend drängte, es in diesem Kanal festzumachen.“ Er wich meinem Blick aus. „Womöglich hätten wir eine bessere Anlegestelle gefunden, wenn ich nur geduldiger gewesen wäre.“
„Nein, nein, dich trifft keine Schuld“, wehrte ich umgehend ab. „Es ist einfach passiert.“
„Vielleicht tröstet es dich ein wenig, wenn du weißt, dass ich alles tun werde, um es ersetzen zu helfen. Meine wenigen Schwarzperlen reichen bei weitem nicht aus, aber...“
Unangenehm berührt bedeutete ich ihm zu schweigen.
„Jetzt müssen wir erst einmal den Weg nach Hause finden. Dann sehen wir weiter.“
Krister nickte. „Jetzt iss! Mal sehen, ob ich nicht noch etwas für morgen fange. Ein wenig Proviant werden wir schon brauchen. Zum Glück hat Luke die Angeln gestern noch aus dem Boot geholt.“
Damit stand er auf und marschierte zur Küste hinunter. Lange sah ich ihm nach. Unvermittelt verachtete ich mich für meine negative Art, die Entwicklung der vergangenen Stunden zu betrachten. Sah so aus, als akzeptierte ich allmählich den Verlust. Das Boot war verloren. Gut. Daran gab es nichts mehr zu ändern. Hatte Luke nicht Recht? Hing unser aller Schicksal wirklich an einem Haufen Planken? Wohl kaum.
Gedankenverloren aß ich von dem kalten Fisch und beobachtete Kristers dunkle Silhouette beim Fischfang. Kurz darauf stand ich auch schon neben ihm im hüfthohen Wasser und nahm ihm die zweite Fangleine ab. Mein Freund nahm es wohlwollend zur Kenntnis und nickte mir anerkennend zu. Zum Abendessen gab es abermals Fisch satt. Und wenn auch die Stimmung gedämpft blieb, sah ich zumindest wieder ein Stück zuversichtlicher in die Zukunft.
Anderntags brachen wir auf. Noch länger zu bleiben machte keinen Sinn. Wir beschlossen, solange an der Küste entlang in nordwestlicher Richtung zu marschieren, bis sich der Hauch eines erkennbaren Tierpfades ins Hinterland fand. Hohe, unpassierbare Klippen verwehrten uns zunächst den Durchlass. Die felsige Küstenlinie entlang zu stolpern gestaltete sich auch nicht eben einfach. Tief ins Land einschneidende Lagunen zwangen uns zu zeitraubenden Umwegen. Die Umrundung einer Bucht nahm enorm Zeit in Anspruch. Wie oft ich mich in diesen Stunden nach allen Seiten umsah, das Boot hinter jeder Biegung angetrieben vermutete, lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken. Was, wenn es nach Osten abgedriftet war und jetzt irgendwo in der Gegenrichtung lag? Aber nein, das konnte nicht sein. Seit zwei Tagen wehte strammer Ostwind. Wenn überhaupt musste es westlich von hier liegen.
Doch sollte es verschollen bleiben.
Endlich zogen sich die Klippen zurück, wurden flacher und zugänglicher. Es hieß Abschied von der See zu nehmen... und endgültig auch Abschied von meinem Boot. Schweren Herzens schickte ich einen letzten Blick hinaus auf die tiefblaue, im Sonnenlicht gleißende Tethys. Wir würden sie, die uns seit vielen Tagen zu einem vertrauten Begleiter geworden war, für die nächste Zeit nicht mehr sehen. Diese Tatsache stimmte mich zusätzlich traurig. Letztlich wandte ich mich ab, keinen Blick mehr zurückwerfend.
Die nur dürftig bewachsene Küstenlandschaft setzte nicht viel Widerstand entgegen. Wir kamen leidlich gut voran. Bei einer ersten Rast konsultierte ich leichtsinnigerweise die Karte. Luke sah sie zum erstenmal und war entsprechend hingerissen. In seinen Augen leuchtete das gleiche Licht der Begeisterung wie in Robs, wie ich einigermaßen irritiert feststellte.
„Das ist ja eine tolle Landkarte“, rief er eifrig. „Sie sieht verdammt alt aus. Wo hast du sie her?“
„Mein Vater besitzt einen Haufen altes Zeug“, tat ich es ab. „Wir dürften ungefähr hier sein.“ Mein Zeigefinger schwebte auf halber Länge zwischen der Sawyer und der Fisk Bay. „Wenn wir uns südwestlich halten, müssten wir in ein paar Tagen Lake Sawyer oder zumindest die Straße dorthin erreichen.“
Luke indes verschlang die Karte mit den Augen. Ich ließ ihn wenn auch ungern gewähren. „Seht mal!“ rief er plötzlich. „Hier ist eine Brücke über den Algon eingezeichnet.“
„Was redest du denn da?“ fuhr Krister seinen Stiefbruder unwirsch an. „Wo siehst du eine Brücke?“
„Hier!“ Luke deutete auf einen schmalen, verwischten Federstrich nahe des Zusammenflusses der Ströme Algon und Angara, an der Westgrenze Aotearoas in Richtung Cimmeria. Bei genauem Hinsehen – und wirklich nur dann – erkannte ich tatsächlich eine Art Struktur darin. Mit etwas Phantasie sogar eine Brücke.
„Gut möglich“, spielte ich die Sache herunter. „Vielleicht auch nur Fliegendreck. Wie kommst du darauf, dass die Landkarte alt ist? Nur aufgrund ihres schlechten Zustands?“ Plötzlich interessierte mich Lukes Meinung.
„Sieh dir die Brücke an. Fast nicht mehr erkennbar, so gut wie verblichen. Und jetzt wirf einen Blick auf Stoney Creek. Oder Van Dien. Oder auch Cape Travis. Siehst du? Klarere Farben, deutlichere Linien. Nach meinem Dafürhalten sind die Siedlungen viel später in diese Karte eingetragen worden. Womöglich zu einer Zeit, als die alte Brücke schon nicht mehr existierte.“
„Oder ein Spritzer Fett tropfte irgendwann auf diesen Federstrich und löschte ihn halbwegs aus“, hielt ich weiter dagegen.
Luke erweckte für einen Weile immerhin den Anschein, diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zu ziehen, bevor er den Kopf schüttelte. „Das glaube ich nicht. Sieh einmal hier!“ Und sein Zeigefinger wanderte vom Algon nach Norden in die Bay of Islands. „Die Inselnamen sind allesamt überschrieben worden. Leider lassen sich die ursprünglichen Bezeichnungen nicht mehr entziffern. Sehr schade. Ein weiterer Hinweis, dass die Karte nachträglich verändert wurde.“
Ich nickte langsam. Wieso war mir das noch nicht aufgefallen?
„Wer würde denn eine Brücke am Rande des Niemandslandes bauen?“ meinte nun Krister zweifelnd. „Die nächste Siedlung ist ewig weit entfernt. Welchen Nutzen sollte sie haben?“
Luke zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Höchstwahrscheinlich einen Nutzen, den wir aus heutiger Sicht nicht mehr erkennen. Wenn wir wieder zuhause sind, werde ich deinen Vater einmal aufsuchen und ihn auf die Karte ansprechen. Vielleicht weiß er noch, woher er sie einst bekam.“
Der Gedanke an meinen Vater führte mir nicht zum ersten Mal vor Augen, ihm früher oder später den Verlust des Bootes beibringen zu müssen. Da spielte die Tatsache, ihm den Besitz einer fremden Karte angedichtet zu haben, nur eine untergeordnete Rolle. „Ja, tu das“, schloss ich und faltete das alte Pergament betont nebensächlich zusammen. Luke verfolgte jede meiner Bewegungen argwöhnisch, als behandelte ich das Objekt seiner Begierde nicht mit dem nötigen Respekt.
Wir marschierten den Rest des Tages schweigend weiter. Das unwegsame Gelände wollte sich nicht auf eine klare Linie festlegen lassen. Kontinuierlich ging es auf und ab – und auf und wieder ab. Wir orientierten uns so gut es ging am Stand der Sonne, die hier im Landesinneren deutlich an Stärke gewann. Alsbald schwitzte nicht nur ich wie ein Ochse. Die ungewohnte Anstrengung ging unerwartet schnell in die Knochen. Beladen mit sämtlichem Gepäck spürte ich zudem den ächzenden Rücken. Wie hatte ich mir das nur vorgestellt, auf diese Weise bis nach Hyperion zu laufen? Ich musste verrückt gewesen sein! Zu allem Überfluss fing mein ruheloser Geist an, mich auf ganz tückische Art zu quälen. Mit unheimlicher Regelmäßigkeit stellte er mir immer dieselbe Frage: War das alles, was du zu geben bereit warst? Mehrere Male hätte ich heulen mögen über meine innere Zerrissenheit.
Auf dem Rücken eines Höhenzuges machten wir Halt und nahmen eine Mahlzeit ein. Weit unter uns ruhte ein tiefes, dunkel bewaldetes Tal, das bis an den westlichen Horizont reichte. Ein vage erkennbarer Gebirgszug schien es dort zu begrenzen, es konnte sich aber auch um eine optische Täuschung handeln. Von hier oben sah jenes Tal atemberaubend schön und friedlich aus. Es stand aber auch fest, dort hindurch zu müssen. Ein Umstand, der weniger gut gefiel.
Krister deutete den Rand des Grats entlang, auf dem wir rasteten. „Wenn wir hier weitergehen, können wir das Tal vielleicht umrunden und müssen es nicht mühsam durchqueren“, meinte er, meine Gedanken zielsicher erratend.
„Womöglich“, zweifelte ich. Mir schmeckte die Tatsache nicht, zu diesem Zweck die entgegengesetzte Richtung einschlagen zu müssen. Der von Krister vorgeschlagene „Weg“ führte eindeutig zurück in Richtung Küste. Verflucht! Wenn wir Idioten das Boot nicht auf so kreuzdumme Weise verloren hätten, befänden wir uns aller Wahrscheinlichkeit nach schon kurz vor der Hyperion Bay. Ganz nahe am Ziel. Und wo waren wir stattdessen? Irgendwo in der tiefsten Wildnis Ergelads, dort wo ich niemals sein wollte. Ich hätte mich vor Wut über meine Unfähigkeit am liebsten selbst geohrfeigt.
„Dann machen wir das.“ Mein Widerstand bröckelte. „Ich verspüre wenig Lust, die Nacht in den Wäldern da unten zu verbringen. Dann schon lieber irgendwo in luftiger Höhe.“
Krister sah mich mit nur schwer zu interpretierendem Blick an. War es meine kritiklose Bereitwilligkeit gewesen, die Marschrichtung zu ändern? Suggerierte er mir indirekt, meine Entscheidung zu überdenken? Las er in meinen zwiespältigen Zügen wie in einem offenen Buch? Kurz darauf sollte sich der Verdacht bewahrheiten. Mein alter Freund wusste nur zu genau, auf welch tönernen Füßen mein Entschluss stand.
„Jack, ein Wort von dir und wir machen es“, bedeutete er mir bewusst zweideutig.
„Machen was?“ stieß ich hervor, noch nicht gänzlich bereit, aus der Deckung zu kommen.
Krister war noch nie ein Mann großer Worte gewesen. Und von großen Umschweifen hielt er noch viel weniger. Infolgedessen überraschte die schonungslos ehrliche Antwort nur wenig. „Einfach aufgeben ist doch Scheiße, Jack! Und du weißt das!“
Ich musste lächeln. Wie sehr ich ihn für seine zuweilen primitive Art liebte, die Dinge auf den Punkt zu bringen.
„Der Verlust des Bootes war ein schwerer Schlag, das gebe ich zu“, fuhr er fort. „Aber dies zum Anlass zu nehmen, alles hinzuschmeißen, halte ich für falsch. Luke sprach es gestern schon aus. Ich finde er hat Recht. Du solltest Robs Schicksal nicht von dem des dummen Kahns abhängig machen.“
Mein Blick wanderte zu dem Zitierten. Er stand reglos da, mich beschwichtigend ansehend. Ein winziges Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sprach: „An mir liegt es mit Sicherheit nicht! Ich bin mehr als bereit, mit euch überall hinzugehen. Meinetwegen bis in die tiefsten Tiefen des Eisgebirges und wenn es sein muss, auch hindurch.“
In diesem befreienden Moment spürte ich, wie unsere noch junge Gemeinschaft gänzlich zusammenwuchs. Mein Herz glühte vor Freude. Ich war mächtig stolz auf Krister, meinen alten, unerschütterlichen Vertrauten – und natürlich auf Luke, einen neu gewonnen Freund. Konnte ich mir etwas Schöneres wünschen, als zwei treue Gefährten, die allen Widrigkeiten zum Trotz fest an meiner Seite standen? Nein. Es gab augenblicklich kein schöneres Gefühl auf dieser Welt.
Als wir den Weg nach Osten einschlugen, das dunkle tiefe Tal in unserem Rücken lassend, versicherte mir eine Stimme aus meinem unergründlichen Inneren, das Richtige zu tun.