Читать книгу Kelter Media Adventskalender 1 - Michaela Dornberg - Страница 12
ОглавлениеAlex’ Blick wanderte von der Anzeigentafel mit den An- und Abfahrtszeiten der Züge zur Bahnhofsuhr und wieder zurück: Bis zur Ankunft des Euromed aus Madrid, mit dem Julias Mutter ankommen sollte, blieben noch gut zwanzig Minuten.
Zeit genug für einen Becher Kaffee, entschied Alex, und machte sich auf den Weg zum Kiosk.
Menschen mit Reisetaschen und Koffern hasteten an ihm vorbei, die Luft schwirrte von den Geräuschen der ein- und ausfahrenden Züge, von durcheinanderredenden Stimmen und von den alles übertönenden Lautsprechern des Bahnhofspersonals.
»Achtung, Achtung, eine Durchsage!«, vernahm Alex, während er seinen Kaffee bezahlte und das Wechselgeld in Empfang nahm. »Der Euromed aus Madrid, planmäßige Ankunft 13 Uhr 30, hat leider circa 15 Minuten Verspätung! Achtung, Achtung! Der Euromed aus Madrid, planmäßige Ankunft 13 Uhr 30 …«
Während Alex den ersten Schluck aus seinem Kaffeebecher nahm und sich durch das Gewühle seinen Weg zurück zu Gleis 21 bahnte, wo der verspätete Zug mit Julias Mutter einfahren würde, kam ihm plötzlich Julias Ankunft in den Sinn.
Vor noch nicht einmal einem Jahr hatte er hier an dieser Stelle Julia abgeholt.
Und er hatte aus tiefstem Herzen gehofft, Julias Zug möge Verspätung haben, war er doch auf dem Weg zum Bahnhof in einen Unfall verwickelt worden – den Unfall, bei dem er Sina kennengelernt hatte.
Unwillkürlich schüttelte Alex den Kopf.
Er konnte es kaum fassen, wie viel in den wenigen Monaten, die seither verstrichen waren, geschehen war.
Aus ihm und Sina war ein Paar geworden, er hatte das erste Semester seines Medizinstudiums erfolgreich hinter sich gebracht und nebenbei eine Ausbildung zum Rettungssanitäter absolviert, er hatte sein Praktikum an der Behnisch-Klinik begonnen und er war aus seinem Zimmer im Haus der Nordens ausgezogen, um nun in einer studentischen Wohngemeinschaft zu leben.
Und Julia – seine »kleine« Cousine Julia - hatte geheiratet.
Keinen Geringeren als Tonio Manolo, Sinas Bruder, den sie bei einer Party in der Villa von Sinas Eltern kennengelernt hatte.
Die beiden hatten als Krönung ihrer jungen Liebe ein feudales Apartment in München bezogen und dann, nach ihrer Hochzeit, einen romantischen Honeymoon in Venedig verbracht.
Das mit Abstand Schönste jedoch war, dass Julia inzwischen ein Baby erwartete.
Der neue kleine Erdenbürger, der in Julia heranwuchs, war denn auch der Grund, warum Julias Mutter aus Spanien anreiste. Sie wollte Julia während der Schwangerschaft nach Kräften zur Seite stehen und sich vergewissern, dass ihre Tochter wohlauf und gut versorgt war.
Julia hatte sich natürlich von Anfang an sehr auf das Kommen ihrer Mutter gefreut und sich vorgenommen, jede Stunde und jede Minute der gemeinsamen Zeit zu genießen.
Liebend gern hätte sie ihre Mutter persönlich vom Bahnhof abgeholt, hatte dann aber Tonio notgedrungen zu einem für ihn sehr wichtigen Geschäftsessen begleiten müssen.
Sie hatte deshalb Alex gebeten, an ihrer Stelle pünktlich zur Ankunftszeit des Euromed aus Madrid am Bahnsteig zu stehen, ihre Mutter willkommen zu heißen und sie in ihr und Tonios Apartment zu bringen, wo ein wunderschön eingerichtetes und aufs Beste für ihren Aufenthalt vorbereitetes Gästezimmer auf sie wartete.
Alex konnte sich gut vorstellen, mit welcher Freude und welchem Stolz Julias Mutter den Luxus sehen würde, in dem ihre Tochter hier in München wohnte. Immerhin war Julias Mutter eine einfache Frau und würde deshalb den Wohlstand, mit dem Julia zusätzlich zu ihrem Liebesglück gesegnet war, ganz besonders zu würdigen wissen.
Je länger Alex über alles nachdachte, was sich, seit er und Julia nach München gekommen waren, in seinem und in Julias Leben ereignet hatte, desto glücklicher und dankbarer wurde er angesichts so vieler positiver Entwicklungen.
Konnte man vom Leben noch reicher beschenkt werden?
Einziger Wermutstropfen war Tonios Multiple-Sklerose-Erkrankung.
Zum Glück sprachen jedoch die Medikamente, die Dr. Norden Tonio verordnet hatte, so gut an, dass Tonio, seit er sie einnahm, ein völlig normales, beschwerdefreies Leben führen konnte.
Sowohl bei den Manolos als auch bei Julia machte sich aus diesem Grund mehr und mehr die Hoffnung, ja sogar die Überzeugung breit, die Medikamente hätten eine vollkommene Heilung bewirkt.
Zumindest was Sina betraf, hatte Alex stets sanft, aber bestimmt durchblicken lassen, dass eine völlige Heilung bei Tonios Krankheit fast ausgeschlossen war, doch Sina hatte sich von Alex’ Worten von Mal zu Mal weniger beeindrucken lassen.
Sie hatte ihm schließlich mit nachsichtigem Lächeln erklärt, dass seit jeher bei jeder Krankheit immer wieder Spontanheilungen geschehen wären, die an ein Wunder grenzten, und dass mit Sicherheit auch Tonio eine solche Heilung erfahren habe.
Natürlich war Alex keine andere Wahl geblieben, als Sina die Antwort schuldig zu bleiben und …
»Hilfe! Helfen Sie! Ist hier jemand Arzt oder Sanitäter?«
Erschrocken fuhr Alex herum und schaute suchend in die Richtung, aus der die schrille Frauenstimme kam, die seine Gedanken so jäh durchbrochen hatte.
Er sah eine elegant gekleidete ältere Dame mit silbergrauen Löckchen, die verzweifelt ihre Hände nach den achtlos vorüberhastenden Menschen ausstreckte, als wollte sie sie festhalten.
»Hallo, so bleiben Sie doch stehen! Ist denn hier niemand, der ein Handy hat und den Notruf …«
Panik stand der älteren Dame ins Gesicht geschrieben.
Neben ihr auf dem Boden lag eine scheinbar bewusstlose Frau, halb verdeckt von einem umgestürzten Trolley und einer übergroßen Reisetasche. Die Frau mochte etwa Anfang dreißig sein und war offenbar soeben aus einem Intercity gestiegen.
Alex dachte spontan an einen Sturz vom Trittbrett, stellte dann jedoch fest, dass die Frau so weit von der Waggontür entfernt lag, dass ein Unfall beim Verlassen des Zuges eher unwahrscheinlich erschien.
Mit Riesenschritten eilte er auf die beiden Frauen zu. »Ich bin Sanitäter. Ich kann Erste Hilfe leisten«, sagte er.
»Gott sei Dank. Alle rennen vorbei, und niemand kümmert sich«, erwiderte die ältere Dame und fügte, während Alex sich über die Bewusstlose beugte, hinzu: »Ich weiß nicht, wer sie ist. Sie ist zufällig neben mir auf dem Bahnsteig gelaufen. Plötzlich hat sie geschwankt, als ob ihr schwindlig wäre. Und dann ist sie auf einmal zusammengebrochen. Einfach so, ohne jede Vorwarnung.«
Alex fühlte den Puls der Bewusstlosen.
Da er sehr schwach und unregelmäßig und am Handgelenk kaum mehr spürbar war, tastete Alex nach der Halsschlagader und merkte zu seinem Entsetzen, dass der Puls auch dort fast nicht zu fühlen war. Zudem ging der Atem der Frau schwerer und schwerer. Sie rang regelrecht nach Luft, und ihre Lippen und ihre Augenlider waren aufgrund des Sauerstoffmangels bereits bläulich verfärbt.
»Ich konnte keinen Sanitäter und keinen Notarzt rufen. Ich habe kein Handy dabei. Ausgerechnet heute habe ich es zuhause vergessen«, redete die ältere Dame indessen weiter. »Wenn Sie nicht gekommen wären …«
»Nehmen Sie mein Handy und rufen Sie den Rettungswagen«, unterbrach Alex. »Ich schätze, die Frau hat einen Herzinfarkt erlitten. Sie muss schnellstens in ein Krankenhaus. Jede Sekunde zählt.«
Alex reichte der älteren Dame sein Smartphone, doch ihre Miene drückte beim Anblick des Geräts so viel Hilflosigkeit aus, dass Alex es nach einem Moment der Überlegung vorzog, selbst die Nummer des Notdiensts zu wählen.
Dann wandte er sich wieder der Bewusstlosen zu und begann unverzüglich mit Herzdruckmassage und Mund- zu Mundbeatmung. Alex war schon völlig erschöpft, als er endlich spürte, wie der Pulsschlag der Frau wieder kräftiger wurde und auch ihr Atem sich normalisierte.
Sie blinzelte und schien aus ihrer Ohnmacht zu erwachen, während endlich das Martinshorn des Rettungswagens zu hören war.
Wenige Minuten später stürmten bereits Notarzt und Sanitäter mit einer Trage in den Bahnhof.
Zu Alex Erleichterung war es Dr. Rudolf, der Dienst hatte.
Alex schilderte ihm kurz, was geschehen war und was er unternommen hatte, um der Frau zu helfen.
»Gut gemacht, Alex«, lobte Dr. Rudolf, während die Sanitäter die Frau auf die Trage hoben und wegtrugen.
Alex richtete sich mit einem tiefen Atemzug auf und stellte stirnrunzelnd fest, dass sich inzwischen eine Menge Schaulustige eingefunden hatten, die die Szene interessiert beobachteten. Einige von ihnen hatten sogar ihre Handys gezückt.
Dr. Rudolf verdrehte beim Anblick der Hobbyfilmer ärgerlich die Augen und konnte sich nicht enthalten, sie mit ein paar harschen Worten zurechtzuweisen, während er bereits den Sanitätern nacheilte.
Alex stand einen Moment lang unschlüssig da, dann folgte er dem Notarzt und rannte ebenfalls dem Rettungsteam hinterher.
»Ich glaube, die Frau hatte einen Herzinfarkt«, sagte er, als er Dr. Rudolf eingeholt hatte.
Dr. Rudolf quittierte Alex’ Vermutung mit einem eher skeptischen Blick.
»Möglich«, erwiderte er. »Auszuschließen ist es natürlich nicht. Aber für sehr wahrscheinlich halte ich es, offen gestanden, auch nicht. Zumindest gibt es durchaus noch andere Optionen.«
Alex’ Wissbegier war sofort geweckt. »Aber es stimmt doch, dass der Sturz durch den Ohnmachtsanfall ausgelöst wurde und nicht umgekehrt?«, hakte er nach.
»Ja. Das zumindest sehe ich genauso«, pflichtete Dr. Rudolf Alex bei. »Ich hoffe, dass die Frau sich durch den Sturz keine inneren Verletzungen zugezogen hat.«
»Das hoffe ich auch«, erwiderte Alex. »Aber … was wären die anderen Optionen als Ursache für den Ohnmachtsanfall? Welche Auslöser kämen infrage?«
Dr. Rudolf zuckte die Schultern. »Möglich wäre zum Beispiel eine Thrombose in einer Lungen- oder Herzvene«, meinte er. »Oder ganz allgemein ein plötzlicher Blutdruckabfall, wodurch auch immer er ausgelöst wurde. Deshalb ist es, wenn die Patientin erst wieder ansprechbar ist, wichtig zu erfahren, ob sie Medikamente einnimmt. Und wenn ja, welche.«
Alex nickte zustimmend.
Wie selbstverständlich verließ er an der Seite von Dr. Rudolf den Bahnhof und ging auf den Sanitätswagen zu, in dem die Patientin lag. Er wollte soeben einsteigen und mit zur Behnisch-Klinik fahren, als Dr. Rudolf ihn kopfschüttelnd davon abhielt.
Verlegen senkte Alex seinen Blick und trat zurück, was Dr. Rudolf ein Schmunzeln entlockte.
»Auch wenn du gerade als Sanitäter im Einsatz warst und gute Arbeit geleistet hast – heute hast du keinen Dienst, Alex«, erklärte er. »Und was dein medizinisches Interesse an dem Fall betrifft, wirst du im Zuge deiner Praktikumsschichten mit Sicherheit bald erfahren, ob deine Diagnose richtig war oder meine. Im Übrigen nehme ich an, dass du nicht zufällig im Bahnhof warst.« Dr. Rudolf blinzelte Alex zu. »Ich schätze, du wolltest jemanden abholen, denn um selbst zu verreisen, würdest du wohl eher dein Motorrad besteigen als einen Zug.«
»Ach du liebe Zeit«, entfuhr es Alex. Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich muss die Mutter meiner Cousine Julia abholen. Ich habe Julia fest versprochen, mich um ihre Mutter zu kümmern. Der Euromed aus Madrid dürfte trotz Verspätung längst angekommen sein. Verdammt, ich …«
Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, machte Alex auf dem Absatz kehrt. Drei Stufen auf einmal nehmend, hechtete er die Steintreppe zum Bahnhofseingang hinauf, stieß die Tür auf und spurtete los.
Er achtete nicht auf Zusammenstöße und auch nicht auf Schimpfworte, die ihm nachgerufen wurden, weil er einzig und allein Gleis 21 im Blick hatte und den Euromed aus Madrid, der soeben wieder abfuhr.
Als er endlich keuchend den Bahnsteig erreichte, suchten seine Augen fieberhaft die ganze Umgebung ab, aber er konnte Julias Mutter nirgends entdecken.
Ob sie sich ein Taxi genommen hatte?
Immerhin kannte sie Julias Adresse, und das Taxi würde sie sicher ans Ziel bringen.
Oder versuchte sie womöglich, auf eigene Faust …
Verärgert wandte Alex sich ab, um den Bahnhof zu verlassen, als jemand ihm von hinten auf die Schulter tippte.
»Alex? Da bist du ja! Gott sei Dank! Ich dachte schon, wir hätten uns verpasst!«
Alex fuhr herum und wurde in diesem Moment von Julias Mutter so heftig umarmt, dass ihm schier die Luft wegblieb. Als Ana Sanchez ihn endlich losließ, musste er erst einmal wieder zu Atem kommen, eher er sie begrüßen konnte.
»Wie geht es Julia?«, war Anas erste Frage.
»Es geht ihr ausgezeichnet«, erwiderte Alex. »Sie ist zusammen mit Tonio bei einem seiner Geschäftsessen und hat mich geschickt, um dich abzuholen. Aber da gab es bedauerlicherweise einen Notfall, und ich musste Erste Hilfe leisten. Dabei war ich eigentlich superpünktlich, weil ich dich nicht warten lassen wollte. Es tut mir leid, dass du nun doch …«
»Kein Problem«, wiegelte Ana Sanchez ab. »Du hast völlig richtig gehandelt. Wenn die Pflicht ruft, muss man Folge leisten. Das ist wichtiger als Privates. Zumal ich von Julia zur Genüge weiß, was für ein begeisterter Medizinstudent, Praktikant und Sanitäter du bist. Julia ist richtig stolz, einen so tüchtigen Cousin zu haben.«
Es hätte nicht viel gefehlt, und Alex wäre rot geworden, doch es blieb ihm keine Zeit dazu.
»Und wie geht es Tonio?«, redete Ana Sanchez bereits weiter.
»Ebenfalls bestens«, antwortete Alex wahrheitsgemäß. »Er ist munter wie ein Fisch im Wasser und arbeitet sich mit Feuereifer in das Management der Da Manolo-Restaurantkette ein. Es würde mich nicht wundern, wenn die Restaurantkette unter seiner Führung schon bald beträchtlich expandieren und sich auch im europäischen Ausland etablieren würde.«
»Wirklich?«, freute sich Julias Mutter. »Das wäre wunderbar. Ich würde Tonio den Erfolg von Herzen gönnen. Er ist so ein tüchtiger junger Mann. Er hat Geschäftssinn, er ist intelligent und fleißig. Und dabei ist er so sympathisch. Julia hat mit ihm das große Los gezogen.« Ana strahlte Alex an und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Diesen Hauptgewinn verdankt sie im Grunde dir. Ohne dich hätte sie Tonio nie und nimmer kennengelernt. Das sagt auch Miguel. Und Linda ist derselben Meinung. Sie würde sich übrigens sehr freuen, ihre Schwester bald einmal wiederzusehen. Vielleicht, wenn das Baby erst da ist, klappt es mit einem längeren Aufenthalt in Girona. Das … das wäre wirklich wunderbar.«
Alex nickte zustimmend, wenn er sich die Erfüllung dieses Herzenswunsches der Familie Sanchez vorerst auch nicht so recht vorstellen konnte.
Zunächst stand auf alle Fälle das Familientreffen der Manolos auf dem toskanischen Weingut von Sinas Onkel an, und wenn in den nächsten Semesterferien Zeit war, wollten Sina und er endlich seine Familie auf Gran Canaria besuchen.
Die Familie Sanchez in Girona würde also wohl noch eine Weile warten müssen, bis sie an der Reihe war …
»Wie geht es eigentlich Miguel, deinem Mann?«, erkundigte sich Alex. »Hat er sich wieder vollkommen erholt?«
»Ja. Es geht ihm wirklich gut. Er hat seine Krankheit komplett überwunden und ist wieder ganz der Alte. Wer hätte das gedacht?«, antwortete Ana. »Auch Linda geht es blendend. Sie ist sehr glücklich mit ihrer Arbeit als Lehrerin. Sie … ich wollte es eigentlich noch nicht verraten, aber … sie wird wohl bald heiraten. Sie hat an der Schule, an der sie unterrichtet, einen sehr netten Kollegen kennengelernt, mit dem sie sich nicht nur beruflich hervorragend versteht. Die beiden … sind, wenn du mich fragst, wie füreinander geschaffen.«
»Das nenne ich großartige Neuigkeiten«, platzte Alex voll ehrlicher Freude heraus. Nach einem Blick auf die Bahnhofsuhr fügte er dann ein wenig zögernd hinzu: »Allerdings sollten wir jetzt allmählich aufbrechen, Ana, und zu Julia und Tonio fahren. Sonst sind die beiden von ihrem Geschäftsessen wieder zu Hause, und wir stehen immer noch hier auf dem Bahnsteig.«
»Du hast Recht. Reden können wir in Julias und Tonios Apartment schließlich auch. Und sogar bequemer«, stimmte Ana Sanchez Alex zu, zögerte dann aber und kaute auf ihrer Unterlippe herum, bis ihre Schneidezähne einen tiefroten Lippenstiftrand bekamen. »Du … du erwartest aber nicht von mir, dass ich auf dem Rücksitz deines Motorrads mitfahre, Alex?«, fragte sie endlich.
Alex musste lachen. »Nein, keine Angst, Ana«, beschwichtigte er. »Julia hat mich diskret darauf hingewiesen, dass du andere Fahrzeugtypen bevorzugst. Ich habe mir aus diesem Grund Sinas Auto ausgeliehen. Und zwar den gelben Sportwagen. Damit ich dich stilvoll an deinen Bestimmungsort chauffieren kann.«
*
»Vielen Dank, Herr Dr. Norden. Ich … ich hoffe, dass Sie mit mir zufrieden sein werden. Und dass Sie es nicht bereuen werden, mich als Praktikantin hier in der Behnisch-Klinik aufzunehmen.« Sina gab Dr. Norden die Hand und schnaufte aufgeregt. »Mit … mit Alex dürfen Sie mich natürlich nicht vergleichen. Ich bin weder in der Theorie noch in der Praxis annähernd so gut wie er, und deshalb …«
Dr. Norden konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Bescheidenheit ist eine lobenswerte Charaktereigenschaft«, meinte er. »Aber übertreiben sollte man es damit auch nicht. Ein gesundes Selbstbewusstsein hat jedenfalls noch niemandem geschadet.«
Sina wurde rot, warf Alex einen fragenden Seitenblick zu und schob dann ihre freie Hand hilfesuchend in die seine.
Unwillkürlich wurde Dr. Nordens Schmunzeln noch ein wenig breiter. »In Anbetracht der Tatsache, dass Sie Alex’ Verlobte sind, sollten wir vielleicht, zumindest privat, allmählich zu einer vertrauteren Anrede übergehen. Nennen Sie mich einfach …«
Weiter kam er nicht, denn Sina schüttelte sofort den Kopf. »Nein, nein«, wehrte sie beinahe erschrocken ab. »Ich werde Sie weiterhin mit Dr. Norden ansprechen. Auch privat. Etwas … etwas anderes kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.« Sie schluckte trocken, dann fügte sie mit gesenktem Blick hinzu: »Aber Sie müssen mich nicht siezen, Herr Dr. Norden. Wirklich nicht. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich duzen.«
Dr. Norden nickte Sina zu. »Das mache ich sehr gerne. Aber spätestens nach deiner Hochzeit mit Alex wirst du dich hoffentlich überwinden können, mich Daniel zu nennen. Schließlich bin ich weder der liebe Gott persönlich noch ein Ungeheuer. Und in ein paar Jahren, wenn du dein Studium hinter dir hast, werden wir immerhin Kollegen sein.«
Sina hüstelte nervös, während sie ihre Finger ganz fest um Alex’ Finger schlang.
Sie nickte nur stumm.
Als das Gespräch mit Dr. Norden beendet war und die Tür zu seinem Büro sich wieder hinter ihr und Alex geschlossen hatte, atmete sie erleichtert auf.
Alex sah sie mitfühlend an. »War es wirklich so schlimm?«, erkundigte er sich.
Sina schüttelte betreten den Kopf. »Nein, natürlich nicht«, gab sie zurück. »Dein Onkel ist wirklich sehr, sehr nett. Aber … aber trotzdem danke, dass du mitgekommen bist, Alex.« Sie lehnte ihren Kopf an Alex’ Schulter. »Ich glaube, ich wäre vor Angst verrückt geworden, wenn ich deinem Onkel allein hätte gegenübertreten müssen.«
Alex nahm Sinas Gesicht zwischen seine Hände und drückte ihr einen neckischen Kuss auf die Nasenspitze.
»Ein bisschen kann ich dich sogar verstehen«, räumte er ein. »Auch ich habe großen Respekt vor Daniel und sehe ihn als Vorbild. Aber er ist trotzdem ein ganz normaler Mensch, das darfst du mir glauben. Schließlich muss ich es wissen, denn immerhin habe ich eine Zeitlang unter seinem Dach gelebt.«
Sina seufzte. »Ach Alex. Manchmal frage ich mich, wie du so ein dummes Huhn wie mich überhaupt mögen kannst. Du hättest eine sehr kluge Freundin verdient, mit der du dich wirklich austauschen kannst, anstatt ihr dauernd helfen zu müssen.«
Alex musste lachen. »Willst du mich mit Britt Gäbel verkuppeln?«, fragte er mit einem tiefen Blick in Sinas Augen. »Und außerdem – wer sagt denn, dass ich dir dauernd helfen muss? Dass ich mich bei meinem Onkel deines Praktikums wegen für dich verwendet habe, war schlicht und ergreifend eine Selbstverständlichkeit, weiter gar nichts. Das … das hätte ich auch für Klaus oder Peter getan.«
»Ach ja?« Sina machte ein gespielt enttäuschtes Gesicht, stimmte aber im nächsten Moment in Alex’ Lachen ein. »Wollen wir zusammen in der Cafeteria noch etwas essen? Ich habe heute Morgen beim Frühstück vor lauter Aufregung kaum einen Bissen schlucken können. Kein Wunder, dass mir jetzt allmählich der Magen knurrt.«
»Okay. Statten wir der Cafete noch einen Besuch ab«, erwiderte Alex gut gelaunt. »Ich lade dich zu einem fürstlichen Mahl ein mit all den Delikatessen, die es im Behnisch - Gourmetlokal gibt: Sandwich, Spaghetti Bolognese, Gemüseeintopf mit Fleischbällchen … was immer du möchtest.« Er blinzelte Sina schelmisch zu. »Du bekommst als Zugabe natürlich auch eine Cola oder einen Kaffee obendrauf. Schließlich feiern wir sozusagen deinen Einstand in der Behnisch-Klinik.«
»Glaubst du, dass wir hin und wieder zur gleichen Zeit, also zusammen Schicht haben?«, wollte Sina wissen, während sie an Alex’ Seite den Aufzug hinunter ins Erdgeschoß betrat.
Alex tat, als würde er angestrengt überlegen. »Denkst du an ganz normalen Dienst oder eher an Nachtschichten?«, antwortete er schließlich und gab Sina einen sanften Rippenstoß.
»An ganz normalen Dienst natürlich«, erwiderte Sina und schubste zurück. »Hat dein Onkel eigentlich schon irgendetwas verlauten lassen, auf welcher Station ich am Anfang eingesetzt werde?«
»Er hat eine Andeutung gemacht«, sagte Alex, brach aber ab, als die Aufzugtür sich öffnete und den Weg zum Ausgang der Behnisch-Klinik und zur Cafeteria freigab.
»Und wo will er mich hinschicken?«, hakte Sina nach. »Mach es gefälligst nicht so spannend, Alex. Oder darfst du mir noch nichts verraten?«
»Du kommst in den ersten Wochen auf die Kinderstation«, erklärte Alex. »Spätestens seit der Geschichte mit der kleinen Leni Friedmann weiß Daniel ja, wie kinderlieb du bist und wie gut du mit Kindern umgehen kannst. Die Kinderstation bietet sich also für den Einstieg regelrecht an.«
»Ich darf auf die Kinderstation? Ist das wahr?«, jubelte Sina und fiel Alex um den Hals.
»Selbstverständlich ist es wahr. Du weißt doch, dass ich niemals lüge. Oder fast niemals. Zumindest lüge ich nicht dir gegenüber.«
»Ich darf auf die Kinderstation! Ich darf auf die Kinderstation!«, wiederholte Sina und hopste dabei hoch, als wäre sie selbst noch ein kleines Mädchen. Es dauerte eine geraume Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte. »Hast du, was die Kinderstation betrifft, womöglich ein bisschen nachgeholfen?«, wandte sie sich dann erneut an Alex.
Alex schüttelte den Kopf. »Kein bisschen. Großes Ehrenwort«, versicherte er. »Auf diese geniale Idee ist mein Onkel von ganz alleine gekommen. Er mag dich nämlich sehr gern, musst du wissen.«
»Ich mag ihn auch sehr«, beteuerte Sina spontan. »Obwohl ich so einen Heidenrespekt vor ihm habe.«
»Nach der Kinderstation wirst du auf die Gynäkologie versetzt«, erklärte Alex weiter. »Auch das hat Daniel schon fest eingeplant.« Als Sina Alex nur schweigend mit leuchtenden Augen und vor freudiger Überraschung offenem Mund anstarrte, setzte er hinzu: »Und dort werden wir, so wie es momentan aussieht, sogar eine Weile gemeinsam Dienst tun.«
»Ich fasse es nicht. Heute ist mein allergrößter Glückstag ever«, frohlockte Sina, breitete ihre Arme aus und drehte sich im Kreis.
Bereitwillig ließ sie sich von Alex auffangen, als sie ins Taumeln geriet. »Wenn sie in der Behnisch - Cafete auch Champagner haben, geht der auf meine Rechnung«, lachte sie. »Ein Glas oder eine ganze Flasche – egal. Wir feiern und bechern, bis wir sturzbetrunken sind!«
Sie griff nach Alex’ Hand und zog ihn hinter sich her in Richtung Cafeteria, als sie plötzlich wie vom Blitz getroffen innehielt. Im nächsten Augenblick löste sie sich von Alex und lief auf eine Frau zu, die soeben im Rollstuhl auf den Klinikausgang zu fuhr.
»Frau Walser«, rief Sina und winkte mit den Armen. »Hallo, Frau Walser, was machen Sie denn hier im Krankenhaus?«
Die Frau im Rollstuhl, die mit missmutiger Miene vor sich hingestarrt hatte, schaute auf. Beim Anblick Sinas glitt ein Lächeln über ihre Züge, das jedoch rasch wieder verschwand. »Hallo, Sina«, sagte sie trotzdem mit freundlicher, wenn auch sehr leiser Stimme und streckte Sina zur Begrüßung beide Hände entgegen.
Alex stutzte.
Die Frau kam ihm seltsam bekannt vor, aber er wusste nicht, woher.
Diese aschblonden Haare, die in einem kessen Kurzhaarschnitt das schmale Gesicht umrahmten, die feine Nase, die in krassem Gegensatz zu dem markanten, fast männlich wirkenden Kinn stand …
Es konnte noch nicht allzu lange her sein, seit er diese Frau gesehen hatte.
War es hier in der Behnisch-Klinik im Rahmen seines Praktikums gewesen? Oder bei einem Sanitätseinsatz?
Während Alex noch überlegte, fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen: Die Frau im Rollstuhl war dieselbe Frau, die bewusstlos am Bahnsteig gelegen hatte, als er Julias Mutter vom Bahnhof hatte abholen wollen!
Unwillkürlich tat Alex einen Schritt auf Sina und die Frau zu.
Sofort wandte Sina sich zu ihm um. »Darf ich bekanntmachen?«, sagte sie höflich. »Das ist Dr. Karin Walser.« Als Sina das Erstaunen in Alex’ Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Nein, Frau Walser ist keine Ärztin, sondern Rechtsanwältin. Und eine ausgezeichnete obendrein. Frau Dr. Walser hat meinem Papa schon des Öfteren juristischen Beistand geleistet und vertritt ihn zurzeit in einem für unsere Restaurantkette sehr wichtigen Prozess.«
Noch ehe es Alex gelang, seine Gedanken zu ordnen, trat Sina neben ihn und gab ihm einen raschen, aber sehr zärtlichen Kuss. »Und das ist Alex. Alex Norden, mein Verlobter. Dr. Norden, der Chef der Behnisch-Klinik, ist sein Onkel.«
Karin Walser runzelte die Stirn.
Spontan dachte sie an die pummelige Krankenschwester, die ihr jeden Morgen das Frühstück brachte.
›Sie müssen sich bei Alex Norden, dem Neffen unseres Klinikchefs aufs Herzlichste bedanken‹, hatte die Schwester ihr gleich am ersten Tag ihres Klinikaufenthalts mitgeteilt. »Er hat Sie, als Sie im Bahnhof bewusstlos zusammengebrochen sind, vor dem sicheren Tod bewahrt und veranlasst, dass Sie hierhergebracht wurden. Aber keine Sorge, Alex Norden wird Ihnen sicher bald über den Weg laufen. Er studiert nämlich Medizin und macht hier an der Behnisch-Klinik sein Praktikum. Und er sieht richtig gut aus!‹
Karin Walser strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn.
Das also war der junge Medizinstudent und Sanitäter, den die pummelige Schwester gemeint hatte!
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Norden«, sagte Karin Walser. Sie räusperte sich. »Sie sind also der große Held, der mir bei meiner Rückkunft nach München das Leben gerettet hat. Dafür ein dickes Dankeschön. Ich hoffe, ich kann mich irgendwann für Ihre Hilfe revanchieren. Wenn Sie einmal juristischen Rat brauchen, stelle ich Ihnen mein Wissen gerne kostenlos zur Verfügung. Sie dürfen sich jederzeit an mich wenden.«
Alex dachte spontan an die drastische Mieterhöhung für die Dachwohnung in der Glockenbachstraße und hätte sich am liebsten erkundigt, ob ein derartig saftiger Aufschlag nicht gegen irgendein Mieterschutzgesetz verstieß, besann sich aber gerade noch rechtzeitig eines Besseren.
»Und wie geht es Ihnen, Frau Dr. Walser?«, fragte er stattdessen höflich.
Karin Walser verdrehte die Augen. »Ihr Onkel meint es sehr gut mit mir«, antwortete sie. »Für meinen Geschmack fast ein wenig zu gut. Seit über einer Woche werde ich nun hier hinter diesen Klinikmauern festgehalten. Ich befinde mich sozusagen in ›Untersuchungshaft‹. Man steckt mich in alle möglichen und unmöglichen Apparate und checkt mich von Kopf bis Fuß durch, um herauszufinden, woher meine rätselhaften Ohnmachtsanfälle kommen.«
»Sie … Sie sind schon öfter ohnmächtig geworden?«, platzte Alex heraus, ruderte aber sofort zurück. »Ich meine, es geht mich im Grunde überhaupt nichts an, aber …«
»Sie sind Medizinstudent und an medizinischen Dingen interessiert«, erwiderte Karin Walser. »Warum sollten Sie sich also nicht genauer über meinen Gesundheits- oder, besser gesagt, Krankheitszustand informieren wollen?«
Alex rieb sich leicht verlegen das Kinn.
»Meine Ohnmachtsanfälle haben ihre Ursache in schweren Herzrhythmusstörungen und einem leider in unregelmäßigen Abständen immer wiederkehrenden Vorhofflimmern«, redete Karin Walser weiter, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, Alex über das bisherige Ergebnis der an ihr durchgeführten Untersuchungen aufzuklären. »Was allerdings die Ursache der Herzrhythmusstörungen und des Vorhofflimmerns angeht, haben die Ärzte bis jetzt bedauerlicherweise noch nichts herausfinden können. Deshalb bin ich immer noch hier.« Sie zuckte mit den Schultern und fügte dann mit einem Blick auf den Rollstuhl, in dem sie saß, hinzu: »Und natürlich auch, weil ich mich nach dem jüngst vergangenen Ohnmachtsanfall im Bahnhof nach wie vor sehr schwach fühle. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten, und selbst mein Kopf funktioniert nicht immer, wie er sollte und wie ich es gewohnt bin. Ich versuche zwar zu arbeiten, um meine Mandanten nicht zu enttäuschen, aber es fällt mir alles andere als leicht, mich zu konzentrieren.«
»Das tut mir leid, aber ich bin mir sicher, dass die Ärzte hier in der Behnisch-Klinik bald vollends herausfinden werden, was Ihnen fehlt«, versuchte Alex zu trösten. »Dann bekommen Sie ein geeignetes Medikament und können wieder volle Kraft voraus durchstarten.«
Karin Walser zog ein wenig skeptisch die Augenbrauen hoch. »Ihr Wort in Gottes Ohr, Herr Norden«, sagte sie. »Ich hoffe sehr, dass sich die Untersuchungen nicht mehr allzu lange hinziehen werden. Und dass ich bald vollkommen wiederhergestellt bin. Eine erfolgreiche Kanzlei führt sich schließlich nicht von alleine. Aber nachdem die kurz nach meiner Einlieferung gestellte Diagnose Herzinfarkt nicht aufrechterhalten werden konnte …« Sie seufzte. »Hoffen wir das Beste. Und ich bin froh, Sie nun kennengelernt zu haben, Herr Norden. So hatte ich wenigstens die Gelegenheit, meine Dankesschuld abzustatten.«
Sina, die dem Gespräch zwischen Alex und Karin Walser mit wachsendem Interesse zugehört hatte, schaute Alex, als sie sich von Karin Walser verabschiedet hatten und sich einen Tisch in der Cafeteria der Behnisch-Klinik suchten, mit großen Augen voller Bewunderung an.
»Dass du unserer Anwältin, die so wichtig für uns ist, das Leben gerettet hast, muss ich gleich heute Abend meinem Papa erzählen«, sagte sie. »Er wird einmal mehr begeistert von dir sein. Da bin ich mir ganz sicher.«
»Heute Abend?«, hakte Alex entgeistert nach. »Du willst heute Abend zu deinen Eltern?«
Sina nickte, während sie die Gerichte inspizierte, die die Cafeteria zu bieten hatte. »Warum nicht?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage. »Immerhin sitze ich sonst wieder einmal alleine in der Wohnung.«
Alex schlug für einen Moment die Hände vors Gesicht. »Ich habe heute Abend Sanitätsdienst, stimmt. Das hätte ich im Eifer des Gefechts beinahe vergessen.«
*
»Nächster Einsatz. Fahr los, Alex. Kaulbachstraße 14«, ordnete Dr. Rudolf an, während er das Funkgerät aus der Hand legte. Dann schüttelte er entgeistert den Kopf. »Das ist doch tatsächlich schon wieder dieser Heimwerker-Fuzzi. Das darf einfach nicht wahr sein.«
»Heimwerker-Fuzzi?«, hakte Alex mit hochgezogenen Augenbrauen nach. »Ruft er regelmäßig den Notdienst, wenn er beim Einschlagen von Nägeln einen seiner Finger trifft?«
»Unter anderem«, brummte Dr. Rudolf. »Aber das ist längst noch nicht alles. Stromschlag, Sturz von einer meterhohen Leiter, akute Atemprobleme aufgrund irgendwelcher Giftstoffe in selbstgemischten Farben … Ich schätze, ich könnte die Liste noch gefühlt eine halbe Stunde lang fortsetzen.«
»Das hört sich irgendwie schräg an«, grinste Alex. »Sollten wir den Typen, falls er einen Krankenhausaufenthalt nötig hat, vielleicht lieber ins Bezirkskrankenhaus bringen anstatt in die Behnisch-Klinik?«
»Klingt gut. Aber dort werden sie ihn, fürchte ich, nicht aufnehmen. Abgesehen von seinem Selfmade-Spleen ist er nämlich völlig normal. Irgendwie ist er sogar nett. Trotzdem ärgere ich mich über ihn. Wenn es noch mehr Menschen gäbe, die sich, mit zehn Daumen und zwei linken Händen begabt, unverzagt daran machen würden, mit selbstgebastelten Werkzeugen permanent ihre Wohnung zu renovieren und zu verschönern, hätten wir kaum noch Zeit für die echten Notfälle.«
»Eine Art Großstadt-Prepper«, grinste Alex. »Da bin ich ja gespannt.«
»Mach dich auf einiges gefasst«, warnte Dr. Rudolf, um dann völlig überraschend das Thema zu wechseln. »Weißt du eigentlich schon Genaueres über unsere Patientin vom Münchner Hauptbahnhof, Alex?«, fragte er. »Hatte die Frau wirklich einen Herzinfarkt, wie du vermutet hast, oder bin doch eher ich auf der richtigen Spur gewesen?«
Alex schnitt eine Grimasse. »Sie hatte keinen Herzinfarkt«, räumte er leicht widerwillig ein. »Allerdings haben auch die Ärzte in der Behnisch-Klinik zunächst auf Herzinfarkt getippt, genau wie ich. Aber die Diagnose war nicht haltbar.«
»Und wie geht es der Frau mittlerweile? Ist sie schon wieder entlassen? Und wodurch wurde der Ohnmachtsanfall überhaupt ausgelöst?«
»Karin Walser ist nach wie vor in der Behnisch-Klinik. Sie wird weiter untersucht, bis die Ursache für ihre Herzrhythmusstörungen und ihr immer wieder auftretendes Vorhofflimmern …«
»Karin Walser?«, fiel Dr. Rudolf Alex ins Wort. »Hast du Karin Walser gesagt? Ist das … am Ende die Staranwältin, die diese feudale Kanzlei am Marienplatz betreibt? In einem luxuriösen Penthouse mit Terrasse direkt über dem Café Glockenspiel?«
»Gut möglich. Frau Walser ist in der Tat Rechtsanwältin«, erwiderte Alex. »Und sie arbeitet in München. Ich habe zwar keine Ahnung, ob sich ihre Kanzlei am Marienplatz befindet, aber allzu viele Münchner Rechtsanwältinnen namens Karin Walser wird es wohl nicht geben.«
»Mit Sicherheit nicht«, gab Dr. Rudolf zurück. »Diese … diese Frau ist ein Phänomen. Ein Bekannter hat mir neulich durch Zufall von ihr erzählt. Sie ist megaerfolgreich und gewinnt so gut wie jeden Prozess. Sie hat eine Menge Kampfgeist und Durchsetzungsvermögen und ist superintelligent, von ihrer Zungenfertigkeit und Redegewandtheit einmal ganz abgesehen.«
»Sie ist auch sehr fleißig und arbeitet enorm viel«, ergänzte Alex. »Sie liegt in der Behnisch-Klinik in einem Einzelzimmer, das inzwischen eher wie ein Büro aussieht als wie ein Krankenzimmer. Jedes Mal, wenn ich zu ihr geschickt werde, ist sie am Telefonieren, Mailen oder Faxen. Sie gönnt sich kaum Ruhe. Es würde mich nicht wundern, wenn sie selbst nachts, anstatt zu schlafen, noch irgendwelche Prozessakten studiert.«
Dr. Rudolf entfuhr ein anerkennender Pfiff. »Ich stehe auf erfolgreiche Powerfrauen, die ehrgeizig sind, vollen Einsatz bringen und alles, was sie anpacken, zu Gold machen«, bemerkte er. »Vielleicht sollte ich Karin Walser einmal in der Behnisch-Klinik besuchen, um sie persönlich kennenzulernen.«
Alex musste lachen. »Das stelle ich mir lustig vor, wenn ein vielbeschäftigter Notarzt und eine Anwältin, die ein notorischer Workaholic ist …«
»Pass gefälligst auf den Verkehr auf«, unterbrach Dr. Rudolf. »Und an der nächsten Kreuzung musst du abbiegen, sonst kommst du nie und nimmer in die Kaulbachstraße, sondern landest stattdessen irgendwo im Nirwana.«
»Ich kenne den Weg in die Kaulbachstraße«, gab Alex zurück und fing erneut an zu lachen. »Ich fand nur die Vorstellung, dass zwei Menschen, von denen ein jeder noch weniger Zeit hat als der andere …«
Ein scharfer Blick von Dr. Rudolf brachte Alex endgültig zum Schweigen.
Kurze Zeit später bog er in die Kaulbachstraße ein und parkte den Rettungswagen vor dem Mehrfamilienhaus mit der Nummer 14.
Schwungvoll sprangen Alex und Dr. Rudolf aus dem Wagen und liefen auf die Haustür zu, um zu klingeln, wurden aber im Hauseingang bereits von einer elegant gekleideten Frau Mitte sechzig erwartet.
»Da sind Sie ja. Ich … ich bin Martha Weiß, die Lebensgefährtin des Patienten. Vielen Dank, dass Sie so rasch gekommen sind«, sagte sie. »Leo wollte das Badezimmer seiner Wohnung neu fliesen. In rosarot, weil das meine Lieblingsfarbe ist. Er war mit Feuereifer bei der Arbeit, und er nimmt doch immer alles so genau. Er gibt immer 110 Prozent, wissen Sie. Um die Fliesen in der obersten Reihe direkt unter der Zimmerdecke akkurat anzubringen, ist er deshalb auf den Rand der Badewanne gestiegen. Dabei ist er leider ausgeglitten und gestürzt. Er hat sich die rechte Hand verletzt. Ich fürchte, es handelt sich um einen Knochenbruch. Jedenfalls jammert er und scheint schreckliche Schmerzen zu haben. Seine Hand ist ganz unförmig angeschwollen. Leo tut mir so leid. Er wollte mir doch nur eine Freude machen.« Die Frau hob hilflos die Hände und ließ sie wieder sinken. »Leo kann mit der verletzten Hand kein Auto steuern. Sonst hätte er selbst in die Notaufnahme fahren können, und wir hätten Sie nicht bemühen müssen. Ich … ich selbst habe leider keinen Führerschein, und deshalb …« Sie brach ab und zeigte mit dem Kinn in Richtung Treppenhaus. »Bitte kommen Sie mit mir. Ich bringe Sie jetzt zu Leo.«
Dr. Rudolf warf Alex einen vielsagenden Blick zu, während sie Martha Weiß die Treppe hinauf in den zweiten Stock folgten.
»Na, Herr Wemding? Hat beim Heimwerkern wieder einmal etwas nicht so richtig geklappt?«, konnte sich Dr. Rudolf nicht enthalten zu fragen, als er Leo entdeckte, der wie ein Häuflein Elend zusammengesunken in einem Sessel im Flur kauerte und seine verletzte Hand hielt.
»Nicht richtig geklappt ist gut«, krächzte Leo mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Aber Erfolg und Misserfolg wechseln sich nun einmal ab im Leben. Es geht leider nicht immer alles glatt. Vor allem dann nicht, wenn man sich nicht zu schade ist, selbst die Ärmel hochzukrempeln und etwas Praktisches und Nützliches anzupacken. Nur wer nichts macht, macht bekanntlich keine Fehler und muss sich nicht über Fehlschläge ärgern.«
»Wahre Worte«, bemerkte Dr. Rudolf mit einem sarkastischen Grinsen, während Alex’ Blicke unwillkürlich zu der sperrangelweit offenstehenden Badtür wanderten.
Der Raum war ein einziges Tohuwabohu.
Die von der Wand geschlagenen alten Fliesen lagen in Trümmern auf dem Boden, die Emaille-Verkleidung der Badewanne wies etliche hässliche Flecken und Kratzer auf, die wohl den »Verschönerungsarbeiten« geschuldet waren, und von den neuen zart rosaorten Fliesen klebte bisher nur die oberste Reihe, während die anderen, in mehreren Stapeln aufgeschichtet, noch auf ihre Verarbeitung warteten. Das Waschbecken und das Fenster waren dick mit Plastikfolie verhüllt, sodass Alex sich unwillkürlich fragte, wie es Leo und seine Gefährtin schafften, unter diesen Umständen auch nur die notwendigste Körperhygiene zu betreiben.
Alex schaute und schaute, als hätte er ein real gewordenes Wimmelbild vor sich.
»Tja, dann begleiten Sie uns wohl am besten erst einmal zum Rettungswagen, Herr Wemding«, hörte er nach einer Weile wie in einen Traum hinein Dr. Rudolf sagen, der Leos Hand untersucht hatte.
Schuldbewusst wandte Alex sich sofort wieder Dr. Rudolf und Leo Wemding zu, der sich ächzend erhob, um, gestützt von Dr. Rudolf, die Wohnung zu verlassen.
»Können Sie meine Hand denn nicht gleich hier an Ort und Stelle fertig verarzten?«, bat er, als er an der Wohnungstür angekommen war. »Müssen Sie mich unbedingt in die Behnisch-Klinik bringen?«
»Ich fürchte, ja«, gab Dr. Rudolf zurück. »Wie soll ich hier an Ort und Stelle entscheiden, ob ein Knochen gebrochen oder angeknackst ist? Oder ob ein Gelenk verletzt ist? Und selbst wenn ich den berühmten Röntgenblick hätte, könnte ich die Verletzung hier mit ziemlicher Sicherheit nicht endgültig versorgen.«
Leo Wemding machte ein unglückliches Gesicht, nickte jedoch schicksalsergeben.
»Aber ich kann gleich wieder nach Hause? Ich muss nicht in der Klinik bleiben, oder?«, begann er von Neuem, als er über die Schwelle der Wohnungstür trat.
»Wenn kein oder zumindest kein komplizierter Bruch vorliegt, bekommen Sie einen Verband oder Leichtgips und dürfen wieder nach Hause, Herr Wemding«, versicherte Dr. Rudolf. »Die Klinik bestellt Ihnen in diesem Fall ein Taxi und eine Viertelstunde nach der Behandlung sind Sie bereits wieder …«
»Ich fahre nur Taxi, wenn die Fahrt von der Krankenkasse bezahlt wird«, machte Leo Wemding Miene aufzubegehren. »Andernfalls nehme ich U-Bahn und Bus.«
»Über die Kosten irgendwelcher Fahrten oder Transporte machen wir uns im Moment keine Gedanken, schlage ich vor«, mischte sich Alex ins Gespräch. »Das wird sich finden.« Er blinzelte Leo Wemding schelmisch zu. »Wichtig ist doch in erster Linie, dass Sie bald wieder Ihr handwerkliches Geschick spielen lassen können, um sich und ihrer Lebensgefährtin ein angenehmes Wohnumfeld zu schaffen. Solange Ihre rechte Hand nicht wieder in Ordnung ist, können Sie schließlich nicht einmal das Badezimmer fertig machen. Und das wollen Sie doch auf alle Fälle, oder?«
Leo Wemding nickte.
Er fand Alex sympathisch, sodass er spontan Vertrauen zu ihm fasste.
»Und was ist, wenn ich in der Klinik bleiben muss, weil … meine Hand operiert werden muss?«, wandte er sich diesmal an Alex statt an Dr. Rudolf. »Wer kümmert sich dann um Martha? Wer wechselt für sie Glühbirnen aus oder reinigt verstopfte Leitungen? Wer setzt neue Staubsaugertüten ein? Martha kann solche Sachen nicht alleine.«
»Das werde ich schon irgendwie schaffen, Leo. Im Zweifelsfall muss ich eben einen Handwerker rufen«, wurde, noch ehe Alex das Wort hätte ergreifen können, Leo von Martha getröstet.
»Handwerker kosten eine Menge Geld«, gab Leo zu bedenken.
»Du musst ja nicht für die Ewigkeit im Krankenhaus bleiben, Schatz. Es wird bestimmt nur für kurze Zeit sein.«
Leo Wemding machte ein leicht skeptisches Gesicht, aber Marthas Worte schienen ihn dennoch zu beruhigen.
Gesenkten Kopfes rang er sich ein paar Schritte in Richtung Treppenhaus ab, drehte sich aber, noch ehe er seinen Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, erneut um und lächelte trotz seiner Schmerzen Martha zu, die winkend in der Wohnungstür stand.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er in einem zärtlichen, liebevollen Ton. »Ich bin bald wieder da. Mit ein bisschen Glück schon heute Abend.«
»Darauf freue ich mich schon. Ich bleibe jedenfalls hier in deiner Wohnung und warte auf dich. Und … bitte fang, wenn du heimkommst, nicht gleich wieder an, irgendetwas zu renovieren, Leo. Lieber schauen wir uns zusammen einen richtig schönen Film im Fernsehen an, trinken ein Glas Wein und essen jede Menge Käsecracker.«
»Das machen wir, versprochen«, erwiderte Leo.
»Oder … oder soll ich doch lieber mit in die Klinik kommen?«, erkundigte sich Martha plötzlich.
Leo schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Das ist nicht nötig«, wehrte er ab. »Du würdest dort nur herumsitzen und warten und dir möglicherweise noch einen dieser gefährlichen Krankenhauskeime einfangen.«
Dr. Rudolf verdrehte hinter Leos Rücken die Augen, doch Leo schenkte ihm ohnehin keine Aufmerksamkeit.
Er hatte beschlossen, sich lieber an Alex zu halten.
»Wissen Sie, Herr Doktor, ich renoviere meine Wohnung nur für Martha«, erklärte er Alex auf dem Weg die Treppe hinunter. »Martha und ich, wir kennen uns zwar erst seit eineinhalb Jahren, aber, obwohl wir beide nicht mehr die Jüngsten sind, war es Liebe auf den ersten Blick. Ich werde im kommenden Herbst schon siebzig und ich war nie verheiratet, weil … weil mir erst mit Martha die Richtige begegnet ist. Wenn man noch so jung ist wie Sie, Herr Doktor, hört sich das alles vielleicht ein bisschen lächerlich an, doch …«
»Das hört sich kein bisschen lächerlich an«, widersprach Alex mit Entschiedenheit. »Die Liebe bleibt sich immer gleich, egal in welchem Alter man ihr begegnet.« Er kaute einen Moment auf seine Unterlippe herum und fügte dann hinzu: »Aber nun etwas anderes: Ich bin leider noch lange kein Herr Doktor, müssen Sie wissen. Ich habe gerade erst das erste Semester meines Medizinstudiums hinter mich gebracht. Nennen Sie mich deshalb ganz einfach Alex. So heiße ich nämlich mit Vornamen.«
Leo Wemding stutzte einen Moment.
Er blieb stehen und schaute Alex unverwandt an.
»Wenn Sie das möchten, nenne ich Sie natürlich gerne Alex«, sagte er. »Aber ein Arzt, eben ein Herr Doktor, ist in meinen Augen einfach jemand, der etwas von Krankheit und Gesundheit versteht und Verständnis und Mitgefühl hat für die Menschen, denen er hilft. So gesehen sind Sie für mich ein Herr Doktor, auch wenn Sie erst Student sind, Alex. Manchmal habe ich bei Ärzten sowieso den Eindruck, dass sie, je länger sie studieren und je tiefer sie in die Wissenschaft eindringen, immer mehr nur noch ihre wissenschaftlichen Fakten sehen. Und der Mensch wird dann zu einem Objekt, an dem sie diese Fakten und das ganze Wissen anwenden und erproben können und …«
»Dürfte ich Sie jetzt bitten, Ihre Ausführungen zu unterbrechen und stattdessen mit mir und mit Herrn Doktor Alex zum Rettungswagen zu kommen, Herr Wemding?«, fiel Dr. Rudolf Leo ins Wort. Obwohl der Notarzt sich Mühe gab, sachlich und ruhig zu bleiben, konnte man seiner spröden, leicht spöttisch klingenden Stimme den mit aller Macht unterdrückten Ärger deutlich anhören. »Im Übrigen würde ich Ihnen gerne mehr Zeit widmen, Herr Wemding, aber leider gibt es außer Ihnen noch eine ganze Reihe interessanter Notfälle, an denen ich mein in langen Jahren erlerntes Wissen austesten möchte.«
Leo Wemding schaute auf seine Schuhspitzen und wurde puterrot. »Ich … ich wollte Sie nicht kränken oder beleidigen. Ich wollte nur Ihrem jungen Kollegen … Ihrem angehenden jungen Kollegen ein Kompliment machen und ihn ermutigen, auf dem eingeschrittenen Weg weiterzugehen. Wenn ich Ihnen mit meinen Worten zu nahe getreten bin …«
Dr. Rudolf verdrehte ungeduldig die Augen. »Ich nehme Ihre Entschuldigung an, Herr Wemding.« Er legte seine Hand auf Leos Rücken und schob Leo vorsichtig, aber bestimmt in Richtung Rettungswagen. »Ehe Sie sich bei Ihrem nächsten handwerklichen Missgeschick mit Verletzungsfolge in der Beurteilung von uns Ärzten allzu sehr von ihrem Bedürfnis nach Verständnis und menschlicher Nähe leiten lassen«, setzte er schließlich hinzu, »sollten Sie vielleicht einmal bedenken, dass wir Ärzte auch nur Menschen sind. Selbst unsere Leistungsfähigkeit hat Grenzen, sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht. Und die Wissenschaft, die Sie so vorschnell als kalt und beinahe unmenschlich abtun, hat ermöglicht, dass sehr vielen Menschen geholfen werden kann und dass sehr viel Leid gelindert wird.«
Leo Wemding gab keine Antwort, aber er wirkte sehr nachdenklich, während er den restlichen Weg zum Rettungswagen zurücklegte.
Als Dr. Rudolf ihm schließlich beim Einsteigen behilflich war, konnte er sich angesichts der offensichtlichen Wirkung seiner Worte ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Mit einem Augenzwinkern wandte er sich an Alex: »Da Herr Wemding kein schwerer Fall ist, kannst du dich während der Fahrt zur Behnisch-Klinik um ihn kümmern, Alex. Ich übernehme für dich das Steuer des Rettungswagens.«
Leo Wemdings Augen leuchteten auf, als er seinen Blick auf Alex richtete, der sich zu ihm in den hinteren Teil des Rettungswagens gesellte. »Das ist großartig, dass Sie mir Gesellschaft leisten, Alex. Ich werde Ihnen unterwegs erzählen, welche anderen Verletzungen ich mir beim Renovieren meiner Wohnung für Martha bereits zugezogen habe, Herr Dok… O Gott, jetzt hätte ich beinahe schon wieder ›Herr Doktor‹ zu Ihnen gesagt, Alex.«
*
»Hi, Alex! Wohin fährt der Wäsche-Express?« Chris, der junge Krankenpfleger, der Alex auf dem Klinikflur entgegenkam, lachte, machte auf dem Absatz kehrt und half Alex, den Wagen mit der frischen Wäsche zu schieben.
»Der Wäsche-Express fährt in die Privatstation«, gab Alex zurück. »Spezialauftrag der gestrengen Oberschwester.«
»Verstehe. Sie hatte heute anscheinend einen besonders guten Tag. Andernfalls hätte sie dich wahrscheinlich zum Leeren der Bettpfannen abkommandiert.«
Alex bedachte Chris mit einem vielsagenden Seitenblick und lenkte den Wäschewagen dabei scherzhaft in Richtung von Chris’ Schienbein, doch Chris sprang flink zur Seite. »Wann hast du eigentlich Mittagspause, Alex?«, wollte er wissen.
»Sobald ich mit dem Beziehen der Betten fertig bin«, seufzte Alex. »Also in circa zwei oder drei Stunden. Dann muss ich noch die Schmutzwäsche in der Wäscherei abliefern, aber irgendwann am Spätnachmittag wird es mit der Mittagspause sicherlich klappen.«
»Sorry. Solange kann ich leider nicht warten. Bis dahin bin ich verhungert«, antwortete Chris.
»Du musst mit dem Mittagessen auch nicht ausgerechnet heute auf mich warten, Chris. Wirklich nicht«, entgegnete Alex. »Dann sehen wir uns eben ein anderes Mal zu einer gemeinsamen Mahlzeit.«
»Okay«, meinte Chris, »soll mir recht sein. Ich wünsche dir noch viel Spaß beim Wechseln der Wäsche.« Er gab dem Wäschewagen einen kräftigen Schubs, sodass Alex beinahe vornübergefallen wäre, und rannte dann mit der schelmischen Miene eines Schuljungen, dem ein perfekter Streich gelungen ist, davon.
Alex begab sich kopfschüttelnd in den Personalaufzug.
Wenig später stand er samt seinem Wäschewagen auf dem Flur der Privatstation zwischen einer Reihe von Krankenzimmertüren, die samt und sonders zu Einzelzimmern mit einem Bad, einem Fernseh- und Internetanschluss sowie einem kleinen Balkon führten.
Die Balkone waren bei den Patienten sehr beliebt.
Sie nahmen gerne ihre Mahlzeiten dort ein oder genossen zusammen mit ihren Besuchern ganz einfach die Sonne, die frische Luft und den Ausblick auf den Park der Behnisch-Klinik.
Karin Walser nützte ihren Balkon zum Arbeiten.
Alex hatte sie dort bei guter Witterung bereits ein paarmal mit ihrem Laptop auf dem Schoß, einem Stapel Aktenordner neben sich und ihrem Handy am Ohr gesehen.
Karin Walser …
Sollte er mit dem Beziehen der Betten im Zimmer von Karin Walser beginnen?
Der Gedanke kam Alex völlig spontan in den Sinn und veranlasste ihn, seinen Wäschewagen wie von einer unsichtbaren Macht ferngesteuert in die entsprechende Richtung zu manövrieren.
Zwar wollte ihn sein Ordnungssinn daran hindern und flüsterte ihm ein, dass es besser wäre, die normale Reihenfolge einzuhalten, um nicht eines der Zimmer zu vergessen, doch Alex schlug die Warnung seines inneren Kritikers in den Wind.
Stattdessen klopfte er kurz darauf an der Tür von Karin Walsers Krankenzimmer.
Er wartete auf das übliche »Herein«, aber alles blieb still.
Ob Frau Walser bei einer Untersuchung war?
Alex öffnete die Tür vorsichtig einen Spalt breit und sah Karin Walser regungslos auf ihrem Bett sitzen. Zu Alex’ Überraschung arbeitete sie nicht, sondern starrte vor sich hin in eine leere Ecke des Zimmers, als liefe dort ein überaus spannender Film.
Unwillkürlich runzelte Alex verwundert die Stirn.
Dass Karin Walser auch einmal gar nichts tun und einfach faul sein konnte, wollte einfach nicht zu dem Bild passen, das er von ihr hatte.
»Hallo, Frau Walser. Ich bin’s, Alex«, machte er sich bemerkbar. »Ich störe nicht lange, versprochen. Ich muss nur rasch die Bettwäsche und die Handtücher wechseln, dann bin ich wieder weg.«
Es dauerte eine Weile, bis Karin Walser auf Alex’ Worte reagierte und sich langsam umwandte. Ihre Augen blickten so erstaunt, als wäre sie mit ihren Gedanken in unermesslichen Fernen gewesen und müsste sich erst allmählich wieder an die Vorstellung gewöhnen, sich in ihrem Krankenzimmer in der Behnisch-Klinik wiederzufinden.
»Sie stören mich nicht Alex. Wirklich nicht«, versicherte sie schließlich, wobei sie Alex mit immer noch seltsam leeren Augen anschaute.
In Alex’ Magengrube machte sich ein mulmiges Gefühl breit.
Irgendetwas schien ihm hier ganz und gar nicht in Ordnung zu sein.
»Wie geht es Ihnen, Frau Walser?«, fragte er höflich.
Die Anwältin lächelte matt und zuckte die Schultern. »Es geht so. Wenn Sie möchten, nehme ich einstweilen in einem der Besuchersessel Platz, dann können Sie sich um mein Bett kümmern.«
Alex hatte den Eindruck, dass er sich eher mit der Patientin als mit ihrem Bett beschäftigen sollte, wollte aber nicht aufdringlich sein und machte sich pflichtbewusst mit dem Laken zu schaffen.
»Ich habe heute mein Untersuchungsergebnis bekommen«, sagte Karin Walser plötzlich in die Stille hinein.
Alex hielt unwillkürlich den Atem an.
So wie es aussah, musste das Untersuchungsergebnis ein Schock für Karin Walser gewesen sein. Und offenbar war sie mit der Diagnose und ihren Konsequenzen noch keineswegs im Reinen, was ihr seltsames Verhalten erklärte.
»Darf ich fragen, was die Ärzte festgestellt haben und wie es mit Ihrer Behandlung nun weitergehen …«
»Natürlich dürfen Sie fragen, Alex«, fiel Karin Walser Alex ins Wort, als habe sie nur auf seine Frage gewartet. »Schließlich habe ich Ihnen schon einmal gesagt, dass mir das große Interesse und der Eifer, mit dem Sie an Ihr Medizinstudium herangehen, sehr gefällt. Es … es erinnert mich an die Zeit, in der ich mein Jurastudium begonnen habe. Auch ich konnte es damals kaum erwarten, immer mehr und mehr Wissen aus allen Gebieten des Rechts anzusammeln.«
Alex stopfte das benutzte Bettlaken sowie den Bezug des Deckbetts und des Kissens in den Sack für die Schmutzwäsche.
»Und wie lautet also die Diagnose?«, fragte er endlich, wobei er, ohne sich dessen bewusst zu werden, mit seiner Arbeit innehielt und sich auf das Bett setzte.
»Es wurde ein Tumor in meiner Herzarterie gefunden. Der Tumor liegt in unmittelbarer Nähe der Mitralklappe«, antwortete Karin Walser.
Zu Alex’ Erstaunen klang ihre Stimme so sachlich und nüchtern, als beträfe die Diagnose nicht sie selbst, sondern einen ihr völlig fremden Menschen.
»Solche Tumoren sind in der Regel gutartig«, gab Alex trotzdem wie aus der Pistole geschossen zurück.
Karin Walser zog anerkennend die Augenbrauen hoch.
»Sie wissen wirklich sehr viel, Alex«, meinte sie. »Genau dasselbe hat Dr. Norden, als er mir das Untersuchungsergebnis mitgeteilt hat, auch gesagt. Er hat mir aufs Genaueste erklärt, dass Tumore, die sich in Arterien bilden, äußerst selten vorkommen, dafür aber mit 98prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht bösartig sind.«
»Allerdings ist eine konservative Behandlung solcher Tumore leider nicht möglich«, fügte Alex hinzu. »Es kommt nur eine chirurgische Entfernung infrage.« Er lächelte Karin Walser aufmunternd zu. »Sie brauchen vor der Operation jedoch keine Angst zu haben. Zumal mein Onkel hier in der Behnisch-Klinik einen der besten Herzchirurgen Deutschlands beschäftigt.«
»Eins zu eins Dr. Nordens Worte. Als hätten Sie und Ihr Onkel sich in einer Vorbesprechung auf dieses Statement geeinigt«, bemerkte die Anwältin, und für einen Moment huschte ein feines Schmunzeln über ihre Züge. »Sie sind nicht nur ein kluger Kopf, Alex, Sie haben auch ein gutes Herz. Genau wie ihr Onkel. Dr. Norden hat in einem mehr als halbstündigen Gespräch sein Bestes gegeben, um mich zu beruhigen und um mich positiv einzustimmen auf das, was auf mich zukommt. Er hat mir sogar psychologische Hilfe angeboten. Aber ich … ich habe ohnehin keine Angst.«
Der letzte Satz klang durchaus glaubhaft, trotzdem konnte Alex sich nicht so recht vorstellen, dass Karin Walser einer Herzoperation völlig angstfrei gegenüberstand. Außerdem schien ihm die seltsame Geistesabwesenheit, als er ihr Zimmer betreten hatte, ihre Behauptung nur allzu deutlich Lügen zu strafen.
Da Alex fürs Erste nicht so recht wusste, wie er sich unter den gegebenen Umständen verhalten sollte, machte er sich wieder an seine Arbeit. Er holte ein Laken aus seinem Wäschewagen, breitete es über Karin Walsers Bett und stopfte es an den Rändern gewissenhaft fest.
»Wussten Sie, dass ich geschieden bin?«, kam es nach einer Weile, als Alex sich gerade daranmachte, das Kissen neu zu beziehen, von Karin Walser.
Verwirrt schüttelte Alex den Kopf.
»Mein Mann, also mein Ex-Mann, ist ebenfalls Anwalt«, redete Karin weiter. »Wolfgang Binder. Er heißt Wolfgang Binder. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass Ihnen der Name etwas sagt. Wolfgang ist nicht einmal in Juristenkreisen besonders bekannt.«
Alex schluckte verlegen angesichts dieser wenig schmeichelhaften Bemerkung und schüttelte hastig das fast fertig bezogene Kissen auf.
Das Gespräch begann, ihm unangenehm zu werden, was Karin Walser jedoch in keinster Weise auffiel.
»Wolfgang und ich, wir haben uns im Studium kennengelernt«, fuhr sie ungerührt fort. »Wir waren Studienkollegen an der Augsburger Uni. Ich hatte mich dort eingeschrieben, weil die Augsburger juristische Fakultät einen ausgezeichneten Ruf hat. Für Wolfgang war eher die Bequemlichkeit ausschlaggebend gewesen. Er stammt aus Fischach, einem kleinen Ort in der Nähe Augsburgs, und ist deshalb in Augsburg ins Gymnasium gegangen. Also war es der mit Abstand einfachste Weg für ihn, seine Ausbildung einfach an dem Ort fortzusetzen, den er sozusagen von Kindesbeinen an kannte.«
»Diesen Weg gehen viele Studenten«, wandte Alex ein. »Und … warum im Grunde auch nicht? Letztendlich kommt es meiner Meinung nach nicht so sehr auf den Ruf der Universität an, an der man studiert, sondern vor allem auf die eigene Wissbegierde und auf das eigene Engagement.«
»Beides ist bei Ihnen in hohem Maße vorhanden«, stellte Karin Walser beinahe bewundernd fest.
Alex tat, als überhörte er das Lob, und zuckte die Schultern. »Was meine Studienortwahl betrifft, bin übrigens auch ich nicht aus rein medizinischen Gründen in München gelandet. Ich bin – zumindest zur Hälfte – Spanier«, sagte er. »Ich bin auf Gran Canaria aufgewachsen und dort zur Schule gegangen. Auf Gran Canaria habe ich auch Abitur gemacht. München habe ich mir in erster Linie deshalb als Studienort ausgesucht, weil ich fürs Erste bei meinem Onkel günstig wohnen konnte und weil ich das Land und die Verwandtschaft meines Vaters, also sozusagen einen Teil meiner Wurzeln, besser kennenlernen wollte.«
»Und? Gefällt es Ihnen in der Heimat Ihres Vaters?«, hakte Karin Walser nach.
Alex nickte. »Es gefällt mir hier sogar sehr gut«, erwiderte er. »Was das Wohnen betrifft, habe ich mich allerdings sehr rasch auf eigene Füße gestellt. Ich war bei meinem Onkel zwar durchaus willkommen und wurde aufs Freundlichste aufgenommen, wollte aber dennoch nicht allzu lange zur Last fallen.«
»Und vor allem wollten Sie mit Ihrer kleinen Freundin und jetzigen Verlobten zusammenziehen«, ergänzte Karin Walser mit einem spitzbübischen Grinsen.
»Ja, das wollte ich natürlich auch«, räumte Alex ein. »Sina und ich leben mittlerweile zusammen in einer Wohngemeinschaft.«
Karin Walser seufzte. »Es ist ein wunderbares Gefühl, frisch verliebt zu sein«, sagte sie. »Diese erste Phase einer Zweierbeziehung ist mit Abstand die Schönste und Wertvollste. Zumindest ich habe es so erlebt.«
Sie schaute Alex einen Moment lang versonnen zu, wie er mit dem Deckbett zu hantieren begann.
»Als wir uns kurz kennengelernt hatten, hing der Himmel für mich und Wolfgang voller Geigen«, setzte sie schließlich ihren Bericht fort. »So kitschig das im Nachhinein auch klingen mag. Wir hatten vom ersten Augenblick unserer Begegnung an das Gefühl, füreinander bestimmt zu sein. Es … es war eine verzauberte Zeit, die mir für immer im Gedächtnis bleiben wird.«
Mit einem Mal trat auf Karin Walsers Gesicht erneut der abwesende Ausdruck, der Alex bei seinem Eintreten so sehr in Erstaunen versetzt hatte, nur dass ihre Miene diesmal nicht wie versteinert war, sondern von einem Lächeln erhellt wurde.
»Wolfgang war schon immer ganz anders als ich«, begann Karin nach einer Weile wieder. »Er nahm die Dinge viel lockerer. Und vor allem lernte er nicht so viel. Wenn ich über meinen Büchern saß, konnte es vorkommen, dass ich die Zeit vergaß und erst lange nach Mitternacht merkte, dass ich noch immer am Pauken und Arbeiten war. Bei Wolfgang war so etwas undenkbar. Spätestens nach zwei Stunden hatte er genug und suchte sich einen Ausgleich.« Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf. »Im Vergleich zu Wolfgang litt ich an regelrechter Arbeitswut. Trotzdem ließ ich mich, wenn es klingelte und er vor meiner Wohnungstür stand, liebend gern zu allerlei Freizeitaktivitäten überreden. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich so gerne mit Wolfgang zusammen war und seine Nähe so sehr genoss.«
Karin Walser richtete ihren Blick auf Alex, der inzwischen mit dem Beziehen des Deckbetts fertig war und die gebrauchten Handtücher und Waschlappen aus der Dusche holte, um sie durch neue zu ersetzen.
»Wolfgang und ich sind oft zusammen in den Wäldern rund um Augsburg gewandert«, erzählte Karin weiter, als würde ihr gar nicht auffallen, dass Alex sich eigentlich verabschieden wollte, um seine weiteren Aufgaben in den anderen Krankenzimmern zu erledigen. »Es gab in diesen im Grunde sehr gepflegten Wäldern einen kleinen See. Er lag sehr idyllisch und war von hohen Tannen und Fichten umgeben, die sich auf seiner stillen, dunklen Oberfläche spiegelten. An Wolfgangs 23. Geburtstag haben wir an diesem See ein abendliches Picknick veranstaltet. Mit kleinen bunten Lampions, die wir in die unteren Äste der Bäume hängten. Wir aßen Sandwiches, verschiedene Salate und am Schluss noch Kuchen. Anschließend tranken wir Wein, der mir sofort in den Kopf stieg. Immerhin hatte ich in meinem jungen Leben noch kaum Bekanntschaft mit Alkohol gemacht. Kein Wunder also, dass ich mich mit einem Mal so leicht und frei wie noch nie zuvor fühlte. Mir war, als müsste ich tanzen. Und als könnte ich wie ein Engel oder wie eine Fee durch die Lüfte schweben.« Karin schloss die Augen, als wollte sie auf diese Weise noch einmal voll in die Stimmung von damals eintauchen und sie erneut durchleben. »Als es schon tiefe Nacht war, sind Wolfgang und ich vollkommen nackt in dem kleinen See geschwommen. Es war natürlich Wolfgangs Idee gewesen, aber es war wunderschön. Als wir wieder am Ufer ankamen und ich von der Kühle der Nacht fröstelte, nahm Wolfgang mich zärtlich in seine Arme und wärmte mich. Und trocknete meine Haut mit seinen Küssen. Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Wolfgang war der erste Mann, mit dem ich …«
Karin unterbrach sich und hüstelte verlegen.
»Sie haben nach dem Abschluss Ihres Studiums geheiratet?«, erkundigte sich Alex. »Das haben Sina und ich auch vor. Wenn wir erst unseren Doktor geschafft haben …«
Karin Walser unterbrach Alex mit einem harten, kalten Lachen, das in krassem Gegensatz zu der beinahe schwärmerischen Stimmung stand, der sie sich kurz zuvor noch hingegeben hatte.
»Wolfgang hat es nie bis zur Promotion geschafft«, erklärte sie herablassend. »Wie denn auch? Dazu hätte er Ausdauer und Ehrgeiz an den Tag legen müssen, und das sind zwei Eigenschaften, die ihm von jeher völlig fremd waren. Er hat es nur bis zum Staatsexamen gebracht. Zur gleichen Zeit, als ich meine Doktorarbeit fertiggestellt habe, hat auch er seine letzte Prüfung abgelegt.« Karin Walser warf ihren Kopf zurück. »Unsere Hochzeit war ein Fehler. Wir hätten es bei einer netten Affäre belassen sollen, um dann, jeder für sich, seiner Wege zu gehen.«
»Sie haben sich schon sehr bald getrennt?«, mutmaßte Alex.
»Wie man es nimmt«, erwiderte Karin. »Unsere Ehe hat nicht allzu lange gedauert, das stimmt. Fünf Jahre sind für eine Ehe eigentlich eine eher kurze Zeit. Obwohl mir die Jahre als Ehefrau im Rückblick dann doch ziemlich lange erscheinen.« Sie nahm eine der Wasserflaschen, die auf dem Besuchertischchen standen, griff nach einem Glas und schenkte sich ein. »Als wir mit der Uni fertig waren, haben Wolfgang und ich in Augsburg unsere gemeinsame Kanzlei eröffnet. ›Walser und Binder‹. An den wunderschönen Frühlingstag, an dem wir zusammen unser Kanzleischild an der Eingangstür angebracht haben, erinnere ich mich noch, als wäre es gestern gewesen. Obwohl wir sehr wenig Geld hatten, haben wir den Anfang unseres gemeinsamen beruflichen Wegs mit einer Flasche Champagner gefeiert. Es war natürlich nur billiger Champagner, aber ich fand ihn damals köstlich. Immerhin blickte ich hoffnungsvoll in eine Zukunft, in der wir teuren Champagner trinken, eine größere Kanzlei eröffnen und uns ein schönes, luxuriöses Haus bauen würden.«
Alex konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Und wie viel von all dem, was Sie sich damals erträumt haben, ist wahr geworden?«, wollte er wissen.
»Nichts«, erwiderte Karin Walser trocken. »Wolfgang war es egal, ob er Bier, Wein oder Champagner trank. Die größere Kanzlei habe ich später allein eröffnet, aber nicht in Augsburg, sondern hier in München. Und was das Haus angeht, ist es bis dato bei einer Parterre-Eigentumswohnung mit kleinem Garten geblieben.«
Alex ordnete die Wäsche in seinem Wäschewagen, damit er Karin Walsers Blick ausweichen konnte.
Ließ sich das Glück einer Ehe an einer bestimmten Champagnermarke, an einem feudalen gemeinsamen Arbeitsumfeld und an einer Villa festmachen?
Zumindest was ihn, Alex, betraf, waren diese Dinge mit Sicherheit nicht das, was er sich als höchste Erfüllung von einem gemeinsamen Leben mit einer geliebten Frau erträumte.
Würden er und Sina in zehn oder fünfzehn Jahren eine genauso nüchterne und ernüchternde Bilanz ziehen wie Karin Walser?
Unwillkürlich dachte Alex an Fee und Daniel Norden.
Natürlich waren beide sehr erfolgreich und verdienten gut, aber waren Erfolg und Geld für das Gelingen ihrer Beziehung wirklich unabdingbar wichtig?
Alex war sich sicher, dass der Löwenanteil von Daniels und Fees Glück auf ihrer gegenseitigen Liebe und Wertschätzung und auf ihrem harmonischen Familienleben basierte und nicht auf materiellen Dingen.
Er fragte sich allerdings auch, ob man die Ehe seines Onkels noch als maßgeblich für die moderne Zeit betrachten konnte.
Waren heutzutage Scheidungen nicht an der Tagesordnung? Und wurden materielle Werte nicht generell weit überschätzt?
»Wolfgang war zwar intelligent, aber irgendwie auch faul«, unterbrach Karin Walser Alex’ Gedanken. »Schon im Studium war er nicht bereit, Lebensfreude und Lebensgenuss dem Ehrgeiz und dem Streben nach Credits und guten Noten unterzuordnen.« Sie trank einen Schluck aus ihrem Wasserglas und fuhr fort: »Wolfgang kannte, auch während wir die gemeinsame Kanzlei betrieben, kaum Ehrgeiz. Das Streben nach Reichtum und Erfolg, das doch das Spiel des Lebens ausmacht und allem erst die richtige Würze verleiht, war ihm vollkommen fremd. Ich habe das bis zu einem gewissen Grad toleriert und in der Kanzlei sozusagen für ihn mitgearbeitet. Doch plötzlich wollte er, dass ich mich aus der Kanzlei zurückziehe, um Kinder zu haben. Kinder seien das Schönste, was es gibt, sagte er. Nur für Kinder würde es sich lohnen zu leben. Ich wollte aber keine Kinder und ging deshalb auf sein lächerliches Ansinnen erst gar nicht ein. Trotzdem ließ Wolfgang einfach nicht locker. Obwohl er wusste, dass ich eine überzeugte Feministin bin, versuchte er immer wieder, mich zumindest teilweise in eine Rolle als ›Heimchen am Herd‹ zu drängen. Über dieses Thema kam es schließlich immer öfter zum Streit. Bis ich einfach nicht mehr konnte und die Scheidung eingereicht habe.«
»Und … und Sie haben diesen Entschluss nie bereut?«, fragte Alex.
Karin Walser zögerte einen Augenblick, dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Nie«, stieß sie im Brustton der Überzeugung hervor, wenn auch vielleicht eine winzige Spur zu laut.
»Dann ist ja zumindest jetzt alles gut«, meinte Alex, doch auch in dieser Hinsicht konnte und wollte Karin Walser ihm nicht zustimmen.
»Nichts ist gut. Garnichts«, hielt sie dagegen. »Auch wenn ich keinerlei Angst vor der Herzoperation habe, ist mir doch klar, dass sie mich von meiner Arbeit abhalten wird. Ich werde mindestens zwei Wochen flach liegen, wenn nicht sogar länger. Und selbst nach meiner Entlassung aus der Behnisch-Klinik werde ich mit Sicherheit nicht sofort wieder mit voller Kraft arbeiten können. Ihr Onkel hat sogar irgendetwas von Reha gesagt. Und von einem Kuraufenthalt, der mir guttun würde.«
»Das kann ich mir in der Tat vorstellen«, meinte Alex. »Ein Kuraufenthalt wäre bestimmt zu empfehlen.«
Karin Walser machte eine so unwirsche Bewegung, dass sie fast ihr Wasserglas umgestoßen hätte. »Haben Sie denn gar nichts verstanden von all dem, was ich Ihnen erzählt habe?«, fuhr sie den erschrockenen Alex an. »Seit meiner Scheidung habe ich alles, aber auch wirklich alles getan, um meinem Ex-Mann zu beweisen, wie sehr ich meine Intelligenz und Begabung mit dem Gebären und Erziehen von Kindern verplempert hätte. Mittlerweile bin ich fast auf dem Gipfel meines Erfolgs angekommen und muss mich nun von einer dummen Krankheit ausbremsen lassen, die mir nichts, dir nichts meine Pläne auf Eis legt. Und mich Tag für Tag ein Stück weiter von meinem schon fast erreichten Ziel, auf das ich so hart hingearbeitet habe, fortträgt. Meine Kanzlei wird irreparablen Schaden erleiden. Die Konkurrenz schläft schließlich nicht. Mandanten werden abwandern, mit ihren neuen Anwälten genauso zufrieden sein wie mit mir …«
Sie verstummte mitten im Satz und richtete ihren Blick wieder starr in eine Zimmerecke wie am Anfang.
Alex trat unruhig von einem Bein aufs andere.
»Ich … muss dann mal weiter«, sagte er schließlich. »Immerhin habe ich noch die ganzen restlichen Betten hier auf der Privatstation neu zu beziehen. Ich … ich wünsche Ihnen, falls wir uns in den nächsten Tagen nicht mehr sehen, alles Gute für Ihre Operation, Frau Dr. Walser. Und dass Sie sich so schnell wie möglich erholen. Aber … bitte überfordern Sie sich nicht. Ihre Gesundheit ist vorerst wichtiger als Ihr Ehrgeiz, glauben Sie mir. Denn Ihre Gesundheit ist die Voraussetzung dafür, dass Sie Ihre Träume letztendlich doch noch wahr machen können.«
Karin Walser antwortete nicht. Sie wandte sich nicht einmal mehr zu Alex um, als er, seinen Wäschewagen hinter sich herziehend, ihr Krankenzimmer verließ.
Mit einem Seufzer zog Alex die Tür hinter sich zu.
Und stellte mit einem Blick auf seine Armbanduhr frustriert fest, dass er zum Beziehen von Frau Walsers Bett dank ihres Redebedürfnisses fast eine Stunde gebraucht hatte.
Wie gut, dass er sich wenigstens nicht mit Chris, dem jungen Krankenpfleger, zum Mittagessen verabredet hatte!
Eine ganze Stunde Verspätung wäre denn doch zu viel gewesen!
Unwillkürlich fragte sich Alex, warum Karin Walser ausgerechnet ihm die Geschichte ihrer Ehe erzählt hatte.
War sonst niemand bereit gewesen, ihr zuzuhören?
Hatte sie geglaubt, in ihm so etwas wie eine verwandte Seele zu finden?
Oder war es eher so, dass in Karin Walsers Brust zwei Seelen miteinander kämpften? Dass die Seele der harten Karrierefrau Karin sich mit der Seele der ganz normalen Karin angelegt hatte, die lieben und geliebt werden wollte und die sich beglückt an die schönen Momente mit ihrem Wolfgang erinnerte?
Hatte Karin sich von ihm, Alex, Rat oder Hilfestellung erhofft, und er hatte sie enttäuscht?
Alex schob die Grübeleien energisch zur Seite.
Er musste sich mit seiner Arbeit tummeln, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.
Schließlich gab es Wichtigeres in seinem Leben als die verdammte Wäsche, die ihm die Oberschwester nur allzu gerne aufbrummte. Und Wichtigeres als die Scheidungsgeschichte und die Karrierepläne einer ehrgeizigen Anwältin, die es nicht ertragen konnte, dass das Schicksal ihr die Kontrolle über ihr Leben zumindest für eine Weile aus der Hand genommen hatte.
*
»Hi, Alex. Hi und ciao!« Alissa kam Alex so rasch entgegen und stürmte in solcher Eile an ihm vorbei die Treppe hinunter, dass er regelrecht den »Fahrtwind« spüren konnte.
»Hi, Alissa!« Alex wandte sich um und folgte Alissa ein paar Stufen abwärts. »Wohin noch so eilig heute Nacht?«, erkundigte er sich. »Es ist immerhin schon fast neun Uhr. Hast du wieder einmal einen Einsatz mit den ›Animal Warriors‹, der nicht so ganz legal ist und deshalb das Tageslicht scheut?«
»Tageslicht scheut«, äffte Alissa Alex nach. »Von wegen. Ich bin auf der Flucht. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ich gehe jetzt in die Kneipe am Eck und schlage mir den Rest der Nacht um die Ohren, bis ich zurück in unsere Wohnung kann. Im Moment ist es leider keine Wohnung, sondern ein Irrenhaus.«
Alex runzelte die Stirn. »Was meinst du mit Irrenhaus?«
»Geh einfach nach oben und schau dich um, dann kannst du dir deine Frage selbst beantworten«, konterte Alissa und schob Elvis auf ihre Schulter zurück, von der er immer wieder abrutschte.
»Willst du Elvis etwa mit in die Kneipe nehmen?«, wunderte sich Alex. »Sind dort Katzen überhaupt erlaubt?«
»Ob dort Katzen erlaubt sind, ist mir schnurzpiepegal. Oben in der Wohnung kann Elvis jedenfalls nicht bleiben. Sonst wird er ein Fall für den Tierpsychologen.«
Alissa legte sich Elvis, der erneut in bedenklicher Schieflage auf ihrer Schulter balancierte, wie einen Pelzkragen um den Hals und setzte ihren Weg fort, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.
Alex klomm mit gemischten Gefühlen die Treppe weiter empor.
Wovon hatte Alissa eigentlich geredet?
Was hatte sie gemeint?
Was mochte ihn oben in der Wohnung erwarten?
War Sina doch nicht zu Tonio und Julia gefahren und stattdessen im Begriff eine Überraschungsparty zu schmeißen, oder …
»Nein, in diese Ecke kann dein Schreibtisch auf keinen Fall«, hörte Alex, als er den nächsten Treppenabsatz erreicht hatte, eine Frauenstimme, die er nach kurzer Überlegung eindeutig Mona zuordnete.
»Aber genau in dieser Ecke habe ich das beste Licht«, ließ sich eine Sekunde später Bernd vernehmen.
»Wozu brauchst du überhaupt einen Schreibtisch?«, begehrte Mona ziemlich lautstark auf.
»Wozu wohl? Zum Studieren natürlich. Ich werde hier übernachten, wenn meine Vorlesungen zeitlich so liegen, dass es umständlich wäre, heim nach Fürstenfeldbruck zu fahren. So war es abgemacht. Schon vergessen? Und da ich den Abend ohne dich … den Abend, an dem ich allein bin, zum Lernen nutzen will …«
Der Rest von Bernds Satz ging in Monas Gelächter unter.
»Hast du gerade ›allein‹ gesagt, oder stimmt irgendetwas nicht mit meinen Ohren?«, gluckste Mona. »Du bist doch hier nie und nimmer allein. Wie ich dich kenne, wirst du, anstatt zu lernen, abends mit Alex, Sina und Alissa abfeiern bis in die Puppen. Ich frage mich also vollkommen zu Recht, wozu du hier in diesem Zimmer einen Schreibtisch brauchst. In die betreffende Ecke stellen wir also besser einen Schrank, in dem wir ein paar Klamotten aufbewahren.«
»Verstehe. Absolut grenzgeniale Idee. Wenn wir bei Schneetreiben in Fürstenfeldbruck losfahren und dann hier in München in eine brüllende Hitzewelle geraten, könnten wir ohne deinen sperrigen Schrank ein ernstes Problem haben, den Winterparka schnell genug mit den Shorts zu vertauschen.«
»Darum geht es nicht. Wir brauchen Ersatzschuhe, Ersatzunterwäsche …«
»Und dein Blümchenvorhang? Ich dachte, der soll ans Fenster? Willst du ihn etwa an der Stelle, an der dein sperriger Schrank stehen soll, auf die halbe Länge einkürzen?«
Nein, natürlich nicht, aber …«
»Aber?«
Beim Klang von Alex’ Stimme fuhren Mona und Bernd gleichzeitig herum. »Hi, Alex«, sagten sie wie aus einem Munde.
»Hi, ihr beiden«, gab Alex den Gruß zurück. »Freut mich, euch zu sehen. Aber ist euch eigentlich schon aufgefallen, dass die Wohnungstür sperrangelweit offensteht? Und dass man euch im Treppenhaus hören kann, als würdet ihr in ein Megaphon sprechen? Ich fürchte, es wird nicht mehr lange dauern, bis einer unserer Nachbarn angetanzt kommt und seine wohlverdiente Nachtruhe einfordert.«
»Wie bitte? Die Wohnungstür steht offen? Das wussten wir nicht. In dieser Hinsicht sind wir absolut unschuldig. Großes Ehrenwort«, antwortete Mona. »Vermutlich hat Alissa die Wohnungstür offengelassen. Alissa und ihr Kater haben nämlich vor ein paar Minuten fluchtartig das Weite gesucht.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Bernd. »Sie sind abgezischt wie vom wilden Affen gebissen. Alissa hat behauptet, wir würden uns aufführen wie die Irren. Dabei richten wir doch nur unser ›Stadtzimmer‹ ein. Wenn du mich fragst, Alissas Nervenkostüm war auch schon einmal besser. Sie scheint ernste psychische Probleme zu haben.«
»Das sehe ich genauso«, pflichtete Mona Bernd bei und wandte sich dann wieder an Alex. »Gut, dass du endlich kommst. Es ist dir doch nach wie vor recht, Alex, wenn wir uns jetzt, nachdem José endgültig abgereist ist, hier breitmachen, oder?«
»Klar ist es mir recht. Wir haben das doch schon vor Wochen beschlossen und festgemacht«, nickte Alex.
»Prima. Ich habe übrigens vor ein paar Tagen einen Vorhang für das Fenster unseres Zimmers genäht«, fuhr Mona, sichtlich stolz auf ihre hausfrauliche Leistung, fort. »Willst du ihn sehen, Alex?«
Alex fühlte sich verpflichtet, höflich zu nicken, auch wenn er sich für Vorhänge und dergleichen Dinge alles andere als zuständig fühlte.
Sofort breitete Mona ihren Blümchenvorhang vor Alex aus. »Fenster ohne Vorhänge wirken einfach kahl und kalt, finde ich«, erklärte sie. »Ein Vorhang dagegen lässt sie freundlich und gepflegt aussehen.«
»Der Vorhang ist wirklich sehr hübsch«, bemerkte Alex und ließ den Stoff prüfend durch seine Finger gleiten.
Mona strahlte. »Schön, dass er dir gefällt. Soll ich auch für die anderen Fenster Vorhänge nähen? Vielleicht für die Küche? Oder zuerst für dein Zimmer, Alex? Oder lieber erst für das Zimmer von Sina?« Sie unterbrach sich. »Wo ist Sina überhaupt? Wir haben uns so darauf gefreut, sie zu treffen, und waren ganz enttäuscht, als Alissa uns gesagt hat, dass Sina nicht zuhause ist und wohl auch nicht vor morgen Vormittag heimkommt. Habt ihr … Streit?«
Alex schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben keinen Streit. Julia und Tonio haben Sina zu einem gemeinsamen Abendessen mit anschließendem gemütlichen Beisammensein eingeladen. Das ist alles. Der Grund für die Einladung ist, dass Julias Mutter, die bei den beiden zu Besuch ist, Sina unbedingt persönlich kennenlernen wollte.«
Mona nickte. »Hmm, ich verstehe. Aber es ist trotzdem schade«, meinte sie. »Andererseits werden wir Sina schließlich noch oft sehen, wenn wir hierher in unser ›Stadtzimmer‹ kommen. Wie geht es übrigens Tonio? Ich vermute, es geht ihm gut, sonst hätte er wohl keine Lust zum Feiern, aber …«
»Es geht ihm in der Tat gut«, antwortete Alex. »Ob das so bleibt und wie lange, steht allerdings in den Sternen. Trotzdem – im Moment sieht es wirklich erfreulich aus. Jeder, der nichts von seiner Erkrankung weiß, würde ihn für vollkommen gesund halten.«
»Drücken wir ihm die Daumen, dass es bis zu seinem 100. Geburtstag so bleibt«, sagte Bernd.
»Ja, drücken wir ihm ganz fest die Daumen«, erwiderte Alex und hob seine beiden, zu Fäusten geballten Hände empor. Er überlegte einen Moment und warf dann einen Blick auf die Kaffeemaschine. »Wollt ihr euch eine kleine Pause gönnen, ehe ihr mit dem Einrichten eures Zimmers weitermacht?«
Als Mona und Bernd eifrig nickten, warf Alex sofort den Kaffeeautomaten an.
Er beschloss, eine Tasse Kaffee mit den beiden zu trinken und sich dann, wenn Bernd und Mona sich wieder an die Arbeit machten, in sein Zimmer zurückzuziehen.
Schließlich hatte auch er sich für den Abend ohne Sina einiges an Arbeit vorgenommen.
Er wollte sich unbedingt noch einmal mit den Skripten für die kommenden Treffen der Herrenbach-Forschungsgruppe befassen.
Zwar hatte er seinen Anteil im Wesentlichen schon ausgearbeitet, war aber der Ansicht, dass es nicht schaden konnte, seine Folien einer weiteren Prüfung und gegebenenfalls einer Korrektur zu unterziehen.
Nachdem Professor Herrenbach ihn, Britt Gäbel und Andreas Hofstetter, einen Studenten aus dem sechsten Semester, für würdig befunden hatte, während seiner Reha gemeinsam die Forschungsgruppe zu leiten, wollte Alex auf alle Fälle beweisen, dass er die Wertschätzung des sonst so kritischen Professors verdiente. Zumal er überzeugt war, dass Britt Gäbel sich mit all ihrem Ehrgeiz ins Zeug legen würde, und Andreas Hofstetter mit Sicherheit zu den beinahe Allwissenden gehörte, da der Professor ihn wohl nicht umsonst zum »Chef« des Dreigestirns bestimmt hatte. Es galt also, sein absolut Bestes zu geben und …
»Warum essen wir, wenn es ohnehin keinen Sinn macht, auf Sina zu warten, eigentlich nicht jetzt gleich gemeinsam zu Abend?«, riss Monas Stimme Alex aus seinen Gedanken. »Den Kaffee können wir ja trotzdem trinken. Zum Beispiel nach dem Essen.«
Verwirrt und ein wenig verlegen wanderten Alex’ Blicke zwischen Mona und Bernd hin und her. »Ich … ich glaube nicht, dass unser Kühlschrank allzu gut bestückt ist«, stotterte er. »Alissa ist, wie ihr wisst, Veganerin, und ich selbst wollte eigentlich nur einen kleinen Imbiss …«
Mona bedachte Alex mit einem tadelnden Blick. »Denkst du allen Ernstes, dass wir uns vorgenommen haben, euren Kühlschrank zu plündern?«, entrüstete sie sich.
»Ja … das heißt, natürlich nein … aber …«
Wortlos zog Mona einen riesigen Picknickkorb unter dem Küchentisch hervor. »Wir wollten eigentlich unseren Einstand mit euch feiern«, sagte sie schulterzuckend. »Das kleine Fest war als Überraschung für dich, Sina und Alissa geplant. Aber es sollte wohl nicht sein, was mir, ehrlich gesagt, ziemlich leidtut. Sogar Leberwurst für Elvis haben wir mitgebracht, weil wir ja nicht wissen konnten, dass Alissa bei unserem Anblick sofort mit ihm davonrauschen würde.«
Neugierig warf Alex einen Blick in den Picknickkorb, als Mona ihn öffnete.
Er enthielt selbstgemachten Kartoffelsalat in einer großen Glasschüssel, dazu eine weitere Glasschüssel, in der eine ganze Menge Frikadellen darauf warteten, verspeist zu werden.
»Ein Teil davon sind Gemüsefrikadellen, eigens für Alissa«, bedauerte Mona. »Auch den Salat habe ich ihretwegen mit Sprossen angereichert, weil sie die doch so sehr liebt.« Sie fasste noch ein wenig tiefer in den Picknickkorb und förderte eine nostalgische Blechdose zutage. »Selbstgebackene Heidesandkekse«, erklärte sie. »Die können wir dann zum Kaffee essen. Oder zu der Flasche Wein, die wir mitgebracht haben.«
Alex schluckte.
So wie es aussah, lag ein langer Abend mit guten Freunden vor ihm, was ihn zwar angenehm berührte und ihm regelrecht das Herz wärmte, der Arbeit für die Herrenbach-Forschungsgruppe allerdings alles andere als zuträglich war.
Alex beschloss, den Abend trotzdem zu genießen.
Spätestens um Mitternacht würden Bernd und Mona sich ohnehin auf den Heimweg nach Fürstenfeldbruck machen.
Dann würde er sich einen weiteren Kaffee aufbrühen und sich noch zwei oder drei Stunden für die ausführliche Besprechung mit Professor Herrenbach vorbereiten, bei der er, Britt und Andreas dem Professor das Ergebnis ihrer Vorbereitungsarbeit vorlegen würden.
Gut gelaunt half er Mona und Bernd, den Tisch zu decken.
»Ach ja, fast hätte ich es vergessen«, sagte Mona, als sie die Speisen aus dem Picknickkorb auf die Teller häufte. »Den Joghurt und den Käse für das Frühstück morgen bewahren wir vielleicht lieber im Kühlschrank auf. Und auch die Eier. Wir haben übrigens sogar einen Eierkocher dabei, weil eure altmodische Sanduhr zwar hübsch, aber doch ein bisschen ungenau ist.«
Entgeistert schaute Alex Mona zu, wie sie die Lebensmittel für das Frühstück im Kühlschrank verstaute.
Mona, die sich Alex’ konsternierten Blick auf ihre Weise deutete, lachte. »Du fragst dich mit Sicherheit, wo wir schlafen wollen, wenn wir noch nicht einmal ein Bett aufgestellt haben. Aber keine Bange, das ist für eingefleischte Outdoor-Fans kein Problem. Wir haben unsere Schlafsäcke mitgebracht.«
Alex öffnete den Mund und schloss ihn wieder, wie ein Fisch, der das Wasser nach Nahrung durchkämmt.
»Und wenn wir heute noch sehr lange feiern und quatschen und deshalb morgen nicht aus den Federn kommen«, fuhr Mona ungerührt fort, »haben wir vielleicht sogar das Glück, Sina doch noch zu treffen.«
»Ja, gut möglich«, stimmte Alex zu.
Er würde seine Pläne ändern müssen, so viel stand fest.
Wenn Bernd und Mona irgendwann gegen zwei Uhr morgens in ihre Schlafsäcke krochen, war er mit Sicherheit nicht mehr munter genug, um sich noch an seinen Laptop zu setzen. Da würde auch ein weiterer starker Kaffee nicht helfen.
Die einzig sinnvolle Lösung war, sich dann ebenfalls für drei oder vier Stunden aufs Ohr zu legen. Im Morgengrauen, wenn Mona und Bernd mit Sicherheit noch im komatösen Tiefschlaf lagen, würde er aufstehen und die aufgeschobene Arbeit erledigen.
Er musste sich lediglich den Wecker stellen, dann würde es klappen.
Alex setzte sich an den gedeckten Küchentisch, leckte sich die Lippen und rieb erwartungsvoll seine Handflächen an seinen Oberschenkeln.
»Guten Appetit«, sagte Bernd und schob sich grinsend eine ganze Frikadelle in den Mund.
Mona verdrehte die Augen, machte aber keinerlei Anstalten, ihn zurechtzuweisen.
»Guten Appetit«, wünschte stattdessen auch sie, biss von ihrer Frikadelle ab und öffnete zischend drei Bierdosen. »Stoßen wir auf unsere gemeinsame Zeit hier in der Glockenbachstraße an. »Auf ein gutes, friedliches Zusammenleben und auf viele schöne gemeinsame Abende.«
*
Alex war sich sicher, auf den Einschaltknopf für das Martinshorn gedrückt zu haben, aber statt des üblichen Heulens war nur ein penetrantes, schrilles Klingeln zu hören.
Irgendetwas musste er falsch gemacht haben, aber er konnte den Fehler nicht finden.
Außerdem ließ sich der Motor des Rettungswagens nur mit größter Mühe starten und gab, als er endlich lief, statt des normalen Fahrgeräusches ebenfalls nichts weiter als ein schrilles Klingeln von sich.
Alex wandte sich zum Beifahrersitz des Sanitätswagens, um Dr. Rudolf um Rat zu fragen, aber an Dr. Rudolfs Stelle saß Professor Herrenbach neben ihm und grinste ihn hämisch und überheblich an.
Alex verstand die Welt nicht mehr.
Wie zum Teufel kam Professor Herrenbach in den Sanitätswagen?
Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen!
Als das Klingeln immer stärker wurde, hielt Alex sich die Ohren zu, aber es nützte nichts, ganz im Gegenteil. Das Gefühl, ihm würde jeden Moment der Kopf platzen, verstärkte sich eher noch.
Er musste diesen verdammten Sanitätswagen verlassen, er musste herausspringen und fortlaufen. Möglichst weit und immer weiter, bis dieses schreckliche Klingeln endlich nicht mehr zu hören sein würde.
Mit fliegenden Fingern öffnete Alex die Fahrertür des Sanitätswagens, doch in diesem Augenblick löste sich das Fahrzeug in Luft auf, während das schrille Klingeln unerbittlich fortdauerte.
Verwirrt und schlaftrunken öffnete Alex die Augen und begriff endlich, dass der ohrenbetäubende Lärm von dem Wecker auf seinem Nachttischchen kam.
Mit einem energischen Schlag seiner Hand brachte er das Folterinstrument zum Schweigen.
Es war gerade einmal halb sechs Uhr morgens und fast noch dunkel. Wieso sollte er schon aufstehen, wenn er wegen der spontanen Feier mit Mona und Bernd erst kurz vor drei Uhr zu Bett gegangen war! Immerhin hatte er weder Sanitätsdienst noch Frühschicht in der Behnisch-Klinik.
Brummend ließ Alex sich wieder auf sein Kissen zurücksinken, fuhr aber im nächsten Moment wie von der Tarantel gestochen hoch.
Die Herrenbach-Forschungsgruppe!
Er hatte für die Herrenbach-Forschungsgruppe arbeiten wollen!
Sofort war er auf den Beinen.
Entgeistert stellte er fest, dass er in Jeans und T-Shirt geschlafen hatte.
Als er sich prüfend über die Wangen fuhr, fühlte er Stoppeln, beschloss aber, dass Dusche und Rasur warten mussten.
Er würde sich so leise, dass er weder Mona noch Bernd noch die inzwischen mit Sicherheit heimgekehrte Alissa weckte, in die Küche schleichen, sich eine Tasse Kaffee holen und sich dann unverzüglich an seinen Laptop setzen und mit der Arbeit beginnen.
Um keine Zeit mehr zu verlieren, drückte er im Vorbeigehen schon einmal den Startknopf seines Laptops, damit der Rechner bei seiner Rückkehr bereits hochgefahren war.
Auf dem Flur stolperte Alex, als er den Lichtschalter anknipsen wollte, über Elvis, was seine ohnehin bescheidene Laune nicht gerade hob.
Zumal der Kater seine durchaus ernst gemeinte Entschuldigung hochnäsig verschmähte, ihn stattdessen laut maunzend zurechtwies und sich dann gekränkt durch seine Katzenklappe in Alissas Zimmer zurückzog.
Herzhaft gähnend betrat Alex die Küche, während er mit den Fingern seine vom Schlaf zerzausten Haare entwirrte, und schlurfte im Schein der Flurlampe Richtung Kaffeemaschine.
In diesem Moment sah er aus dem Augenwinkel, dass jemand am Küchentisch saß.
Erschrocken für Alex herum und stand vor Sina, die ihn ebenso verblüfft anschaute wie er sie.
»Seit wann sitzt du denn in aller Morgenfrühe im Dunkeln in der Küche, Sina?«, wunderte er sich. »Ich … ich dachte, du übernachtest bei Julia und Tonio und kommst auf keinen Fall vor neun oder zehn Uhr vormittags nach Hause.«
»Das dachte ich auch. Aber seit wann schleichst du denn in aller Morgenfrühe in die Küche, ohne Licht zu machen?«, antwortete Sina mit einer Gegenfrage.
»Der Schein des Flurlichts war mir hell genug«, erwiderte Alex. »Ich habe in meiner Eile gar nicht daran gedacht, den Lichtschalter anzuknipsen und …«
Er brach mitten im Satz ab.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Sina hatte seltsam geklungen, fast als hätte sie geweint.
Mit ein paar Riesenschritten war Alex am Lichtschalter und drückte ihn.
Als er sich wieder Sina zuwandte, sah er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Sinas Augen und ihr ganzes Gesicht waren gerötet und verquollen von ihren Tränen.
»Himmel, Sina! Was ist los?«, fragte er und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. »Ich … ich dachte, du hast einen schönen Abend und stattdessen … Ist irgendetwas passiert?«
Sina nickte stumm.
Alex spürte, wie ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunterrieselte.
»Tonio?«, fragte er.
Wieder nickte Sina.
»Ist … hatte er einen neuen MS-Schub?«
Auch diesmal konnte Sina nur wortlos nicken.
»Während eurer Feier? Wie damals, als wir die Videos von der Hochzeitsreise angeschaut haben?«
»Aus der Feier ist erst gar nichts geworden«, berichtete Sina mit dünner Stimme. »Als ich ankam, waren Julia und Tonio bereits in der Behnisch-Klinik. Julias Mutter hat auf mich gewartet und mir von der Verschlimmerung von Tonios Krankheit erzählt. Schließlich haben Ana und ich uns ein Taxi bestellt und sind ebenfalls zur Behnisch-Klinik gefahren.«
»Und?«
»Was und?«
»Wie geht es Tonio jetzt? Hat er sich schon wieder ein bisschen erholt?«, präzisierte Alex.
Sina zuckte die Schultern, während ihre Tränen von neuem zu fließen begannen.
»Ich … ich weiß es nicht«, erwiderte sie schniefend. »Im Moment schläft er. Dein Onkel hat ihm eine Menge Medizin gegeben, hat Julia gesagt. Wahrscheinlich waren auch Beruhigungsmittel und Schlafmittel darunter.« Sina schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie fort: »Als Julia und Tonio in der Behnisch-Klinik angekommen sind, hatte Dr. Norden bereits Feierabend. Man hat ihn aber unverzüglich angerufen, und er war glücklicherweise zuhause und ist auch sofort gekommen. Er hat augenblicklich eine ganze Reihe von Untersuchungen und Tests angeordnet, die ergeben haben, dass es sich tatsächlich um einen neuen MS-Schub handelt. Tonio … er war am Boden zerstört. Ich … ich habe ihn noch nie so aufgelöst und so verzweifelt gesehen. Er hat Julia sogar gebeten, sich von ihm zu trennen.«
Sina schob Alex’ Hände weg, legte ihre Arme und ihren Kopf auf den Küchentisch und begann haltlos zu weinen.
Eine Weile stand Alex hilflos daneben, dann streichelte er so lange sanft über Sinas Haar und über ihren Rücken, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte Alex schließlich. Er setzte sich dicht neben Sina, nahm sie in seine Arme und hielt sie fest. »Sollen wir gemeinsam in die Behnisch-Klinik fahren und sehen, inwieweit sich Tonio inzwischen erholt hat? Wollen wir noch einmal gemeinsam mit meinem Onkel sprechen?«
Sina versuchte ein zaghaftes Lächeln, während Alex sein Taschentuch hervorholte und ihr sanft und liebevoll die Tränen von den Wangen tupfte.
»Tonio hat Tabletten, eine Spritze und eine Infusion bekommen«, sagte sie. »Aber ich weiß nicht, was genau. Also ich weiß nicht, wie die verabreichten Medikamente heißen. Als Ana und ich kamen, war Dr. Norden nämlich bereits wieder gegangen, und Julia hatte selbstverständlich keine Ahnung bezüglich der Medikation. Wie sollte sie auch.«
»Natürlich«, erwiderte Alex. »Hast du eigentlich deine Eltern schon verständigt, Sina? Oder hat mein Onkel das bereits für dich erledigt?«
»Weder noch. Meine Eltern wissen vorerst von nichts. Julia hat gesagt, dass Dr. Norden meine Eltern erst verständigen würde, wenn es Tonio wieder besser geht. Tonio hat es so gewollt. Und ich glaube, er hat recht. Also habe auch ich seinen Wunsch respektiert und erst einmal abgewartet.«
»Gute Entscheidung«, lobte Alex.
»Dich wollte ich selbstverständlich anrufen«, sagte Sina, »aber du bist nicht an dein Handy gegangen. Ich bin andauernd auf deiner Mailbox gelandet, also habe ich es aufgegeben.«
Alex seufzte. »Tut mir leid, dass du nur meine Mailbox erreicht hast. Aber als ich nach Hause gekommen bin, waren völlig überraschend Mona und Bernd da, um sich ihr ›Stadtzimmer‹ einzurichten. Sie haben einen riesigen Picknickkorb voll Essen mitgebracht, und wir haben ein bisschen zusammen gefeiert. Da habe ich mein Handy abgeschaltet. Zumal ich dachte, dass du, in fröhlicher Runde bei Tonio, Julia und Ana, ebenfalls nicht telefonieren würdest.«
»Unter normalen Umständen wäre das wohl auch der Fall gewesen«, stellte Sina klar.
Sie lehnte sich eine Weile schweigend an Alex, um einfach nur seine tröstliche Nähe zu fühlen.
»Ich wollte eigentlich bei Tonio in der Behnisch-Klinik bleiben«, ergriff sie schließlich wieder das Wort. »Aber als Tonio dann ganz fest geschlafen hat, sind Julia und Ana nach Hause gefahren. Ana hat Julia dazu gedrängt, weil sie sich große Sorgen gemacht hat wegen Julias Schwangerschaft. Das habe ich ganz deutlich gespürt. Die beiden haben letztendlich auch mich überredet heim zu fahren, etwas zu essen und mich ein bisschen auszuruhen. Aber ich kann beim besten Willen nichts essen. Und ich kann auch nicht schlafen.«
Wieder verstummte Sina eine Zeitlang, dann richtete sie sich auf und schaute Alex fragend an. »Du hast vorhin gesagt, du würdest mit mir zu Tonio in die Behnisch-Klinik fahren. Und du hast vorgeschlagen, mit deinem Onkel zu sprechen.«
Alex nickte. »Ja natürlich, wenn du das möchtest, Sina.«
»Und ob ich es möchte. Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir jetzt gleich losfahren, Alex?«, bat Sina. »Dieses Herumsitzen ohne zu wissen, wie es Tonio geht, macht mich ganz krank.«
»Das kann ich verstehen.« Alex warf einen Blick auf das Küchenfenster, das von den ersten Sonnenstrahlen getroffen wurde, und schaute dann auf die Wanduhr, deren Zeiger bereits gegen halb acht vorrückten. »Eigentlich spricht nichts dagegen, dass wir uns auf den Weg machen. Mein Onkel ist Frühaufsteher. Spätestens um acht Uhr beginnt er seinen Dienst in der Behnisch-Klinik. Ich denke, wir sollten zuerst mit Daniel sprechen und dann Tonio besuchen.«
Sina schüttelte entsetzt den Kopf. »Ich kann nicht mit Dr. Norden … mit deinem Onkel sprechen, Alex. Du weißt, wie nervös ich war, als wir zu ihm gegangen sind nur wegen meines Praktikums. Und jetzt, wenn es um Tonio geht … Nein, das kann ich nicht. Das … das musst du für mich übernehmen. Bitte, bitte. Sprich du alleine mit ihm, Alex. Und dann erzählst du mir, was er gesagt hat.«
»Okay. Machen wir es, wie es dir am angenehmsten ist, Sina. Wir fahren also zur Behnisch-Klinik, und du besuchst Tonio. Ich spreche zuerst mit meinem Onkel und komme dann nach. Ist das für dich in Ordnung?«
»Mehr als in Ordnung. Danke, Alex. Du bist der wunderbarste Mensch, der mir je begegnet ist.«
»Das hast du schön gesagt, Sina. Wenn wir uns das nächste Mal streiten, werde ich dich an deine Worte erinnern«, neckte Alex.
Er erhob sich, knipste das überflüssig gewordene Licht aus und holte Zettel und Kugelschreiber aus der Tischschublade, um Mona und Bernd eine Nachricht zu hinterlassen.
*
»Und wie geht es dir, Tonio?« Alex trat an Tonios Krankenbett und nahm auf dem Stuhl Platz, den Sina ihm hinschob.
»Doppeltes B«, antwortete Tonio. »Bescheiden, aber besser.«
Dass Tonio, so wie es aussah, seinen Humor bereits wiedergefunden hatte, beruhigte Alex ein wenig, auch wenn er trotz allem erschrocken über Tonios blasses, blutleeres Gesicht war. Und über das Gemisch aus Angst, Wut und Trauer in seinen Augen, das seine flapsigen Worte Lügen strafte.
»Kommst du gerade vom ›großen Medizinmann‹, Alex?«, erkundigte Tonio sich. »Sina hat jedenfalls so etwas angedeutet.«
Alex nickte.
»Und was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt, dass ein neuer Schub bei MS im Anfangsstadium der Krankheit nichts Besonderes ist. Und nicht viel zu bedeuten hat. Er hat mir erklärt, dass es vor allem darum geht, die Dauermedikation richtig einzustellen. So ähnlich wie bei Diabetikern oder Menschen mit einer Blutgerinnungsstörung.«
»Verstehe. Die Dosis macht in diesem Fall also nicht das Gift, sondern die Heilwirkung.«
»So ungefähr«, bestätigte Alex. »Du hast gestern jedenfalls eine sehr hohe Dosis erhalten, um den neuen Schub einzudämmen, aber sie wird Schritt für Schritt wieder heruntergefahren, sobald du dich erholt hast.«
»Und wann wird das sein? Wann werde ich dieses luxuriöse Sterne-Hotel wieder verlassen können?«
»Mein Onkel ist zuversichtlich, dass du nicht länger als zehn Tage in der Klinik bleiben musst«, versicherte Alex.
»Zehn Tage werde ich überstehen. Mit ein bisschen Glück können wir den Klinikaufenthalt, wenn er wirklich in zehn Tagen abzuhaken ist, sogar vor den Eltern verheimlichen. Was meinst du, Sina? Es täte mir jedenfalls schrecklich leid, wenn die beiden sich noch einmal derart aufregen würden, wie sie es nach meinem ersten Schub getan haben. Ich sehe noch immer Mamas entsetztes, vergrämtes Gesicht vor mir. Wenn es irgend geht, müssen wir ihr neuerliche Sorgen um meine Gesundheit ersparen.«
»Da stimme ich dir voll zu, Tonio«, sagte Sina. »Trotzdem fürchte ich, dass das Verheimlichen nicht ganz einfach werden wird.«
»Wahrscheinlich nicht«, seufzte Tonio. »Aber dir wird schon etwas einfallen, Sina.«
»Ich werde mein Möglichstes tun«, versprach sie. »Ich will schließlich, genau wie du, Mama und Papa nicht noch einmal so verzweifelt sehen müssen wie beim ersten Mal.« Sie ließ ihre Finger über Tonios Hand gleiten, in der noch immer die Infusionsnadel steckte. »Wie und wann ist das Ganze denn überhaupt passiert?«, fragte sie schließlich. »Wie hat der Schub sich diesmal bemerkbar gemacht? Ana hat nur gesagt, du hättest plötzlich deine Beine kaum mehr bewegen können.«
»Das stimmt«, erklärte Tonio. »Ich kam gerade von einer geschäftlichen Besprechung nach Hause. Zuerst war mir nur ein bisschen schwindlig. Ich habe es auf die anstrengenden Verhandlungen geschoben. Und auf das Wetter. Immerhin hatten wir wieder einmal den für München so typischen, kräftigen Föhn. Ich bat Julia, mir einen Kaffee aufzubrühen, um für den Abend mit dir und Ana wieder fit zu sein. Aber dann hatte ich plötzlich das Gefühl, die Bewegung meiner Beine nicht mehr koordinieren zu können. Ich bin gestürzt, weil ich sozusagen über meine eigenen Füße gestolpert bin. Da … da ist mir mit einem Schlag klar geworden, dass die Krankheit zurück war. Es war schrecklich, wieder so hilflos zu sein. Wenn Ana und Julia nicht bei mir gewesen wären …«
»Sie waren aber bei dir«, gab Sina tröstend zurück. »Und alles wird wieder gut werden. Was Alex gerade über die Einstellung der Medikamente gesagt hat, hat mir total eingeleuchtet. Dir doch auch, oder?«
Tonios Mundwinkel verzogen sich zu einem bitteren Lächeln.
»Absolut. Ich habe die Wahrheit zwischen den Worten nur allzu deutlich gehört. Wenn ich hier entlassen werde, wird sich die Krankheit wieder für eine Weile zurückziehen. Solange, bis ich mich in Sicherheit wiege. Dann schlägt sie erneut zu. Ich komme wieder in die Klinik, es folgen gefühlte hundert Untersuchungen und Tests und ich bekomme eine höhere Dosis meines Medikaments. Damit ziehe ich sozusagen in der Schicksals-Tombola ein Los, das darüber entscheidet, wie ich darauf ansprechen werde. Auf dem Los kann zum Beispiel eine drei stehen. Das bedeutet dann drei Tage, drei Wochen, drei Monate oder drei Jahre. Es kann aber auch eine vier oder eine fünf sein. Oder nur eine zwei. Niemand weiß es, weil niemand das Los öffnen kann. Nicht einmal ich, der es gezogen hat. Nur das Schicksal weiß Bescheid und macht sich seinen Spaß aus der Sache.«
»So ist das nicht«, widersprach Alex sofort.
»Und wie ist es dann?«, konterte Tonio.
Alex schluckte. »Es ist so … so wie mein Onkel gesagt hat. Wenn erst die richtige Dosierung gefunden ist, kehrt auch eine gewisse Stabilität ein. Du musst dann einfach deine Medikamente regelmäßig nehmen und möglichst gesund leben. Damit kannst du die Krankheit vielleicht nicht besiegen, aber auf alle Fälle gut in Schach halten.«
»Du wirst einmal ein ausgezeichneter Arzt werden, Alex«, gab Tonio zurück. »Du bist schon jetzt hervorragend darin, Dinge zu erklären, die nicht zu erklären sind. Und Sicherheiten zu versprechen, wo es keine Sicherheiten gibt.«
In Alex’ Augen blitzte es für einen Moment zornig auf, doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt.
War es ein Wunder, dass Tonio verbittert und frustriert war?
Würde er selbst nicht genauso empfinden, wenn er an Tonios Stelle wäre?
»Ich glaube, in deiner momentanen Verzweiflung verwechselst du etwas, Tonio«, sagte er, so ruhig er konnte. »Die Krankheit ist tückisch, nicht die Ärzte, die dich behandeln. Mein Onkel will dir doch nur helfen. Das Ziel der behandelnden Ärzte ist einzig und allein, gemeinsam mit dem Patienten die Krankheit zu bekämpfen. Arzt und Patient stehen auf der gleichen Seite, Tonio. Vergiss das nicht.«
»Du hast ja recht. Sorry. Ich wollte dich nicht kränken«, entschuldigte sich Tonio.
»Das hast du auch nicht. Alex ist nicht so empfindlich«, mischte sich Sina ins Gespräch. »Außerdem finde ich, dass wir allmählich aufhören sollten, über Leid und Krankheit zu sprechen. Auch wenn wir uns in einem Krankenzimmer befinden. Weil aus medizinischer Sicht im Grunde doch alles gesagt ist. Wir sollten stattdessen anfangen, positiv zu denken. Positive Schwingungen fördern die Gesundheit.« Sie machte eine kleine Pause, dann setzte sie hinzu: »Sag mir etwas, was dir Freude macht, Tonio.«
Tonio überlegte einen Moment. »Das Baby«, sagte er dann. »Julia und unser Kind. Julia und das Kind unserer Liebe.«
»Sehr gut«, lobte Sina. »Dann denk bitte immer, wenn dich Angst und Verzweiflung übermannen wollen, an Julia und an den neuen Erdenbürger. Die Krankheit ist nun einmal da, aber du musst sie austricksen. Du musst ihr so viel Lebensglück abtrotzen, wie du nur irgend kannst. Ich bin mir sicher, dass das helfen kann, etwaige Schübe zumindest zu verzögern.«
Tonio lächelte. »Meine kleine Schwester, die immer an das Gute, Wahre und Schöne glaubt, an die Macht der Liebe und an das Glück. So warst du schon immer, Sina. Aber manchmal gibt es eben Dinge …«
»Du freust dich über Julia und das Baby. Fügen wir noch etwas hinzu. Womit kann ich dir persönlich eine Freude machen, Tonio?«, unterbrach Sina ihren Bruder.
Tonio dachte einen Augenblick über Sinas Frage nach, dann blinzelte er ihr schelmisch zu. »Indem du glücklich wirst, kleine Schwester. Indem du mit Alex zusammenbleibst, denn ihr seid füreinander geschaffen. Indem du mich, wenn du heiratest, zu deinem Trauzeugen machst. Und zum Taufpaten deiner Kinder.«
»Schön. Ich vergesse keinen einzigen deiner Wünsche, Tonio. Aber … hast du mir denn nicht auch etwas für die nähere Zukunft? Etwas Konkreteres?«
Tonio überlegte erneut, während seine Blicke mit einem Hauch von Spott, aber zugleich unendlich liebevoll auf Sina ruhten.
Mit einem Mal lachte er leise auf, wurde aber sofort wieder ernst. »Vielleicht klingt das, was ich jetzt sagen möchte, schrecklich kindisch, aber ich … freue mich so sehr auf unser Familientreffen in der Toskana. Als wir zum letzten Mal auf dem Weingut unseres Onkels waren, hatte ich gerade das Abitur hinter mir. Und die beiden Mal vorher … war ich noch ein Junge. Aber es war jedes Mal unvergesslich schön in Fiesole: die zauberhaften Sonnenuntergänge hinter den Rebhügeln, die Wärme, die uns umgab, wenn wir abends auf der Veranda saßen, das Zirpen der Grillen und die fröhlichen Menschen auf dem Weingut, die, vom Verwalter bis zum geringsten Arbeiter, alle wie eine große Familie waren.« Tonio schwieg einen Moment. »Ich möchte noch einmal eines dieser Familientreffen in völliger Unbeschwertheit erleben. Ohne die Angst, dass der nächste Schub meiner Krankheit mir einen Strich durch die Rechnung macht. Wenn ich aus der Behnisch-Klinik entlassen werde und ›stabil‹ bin, wie Dr. Norden das nennt … Könnten wir das Familientreffen nicht vorverlegen? Egal wie lange ich ›stabil‹ bleibe, denke ich doch, dass kurz nach meiner Entlassung die Chancen gutstehen, mich nicht jeden Tag vor einem neuen Schub fürchten zu müssen und deshalb …«
»Dein Wunsch ist mir Befehl, Tonio«, erklärte Sina im Brustton der Überzeugung. »Sobald wir genau wissen, wann du entlassen wirst, planen wir die Vorverlegung des Familientreffens.« Sina strahlte übers ganze Gesicht. »Weißt du eigentlich noch, wie ungerecht wir es als Kinder fanden, dass wir Traubensaft trinken mussten anstatt Wein?«
»Natürlich«, antwortete Tonio. »Deshalb haben wir ja auch eines Tages heimlich eine Flasche Wein geklaut und uns hinter der kleinen Kirche von Fiesole versteckt, um den Wein zu kosten. Allerdings hatten wir Riesenprobleme, die Flasche aufzubekommen, obwohl ich sogar daran gedacht hatte, einen Flaschenöffner mitzunehmen.«
»Wir haben ewig gebraucht, bis der Korken endlich aus dem Flaschenhals war, und haben dabei den größten Teil des Flascheninhalts verschüttet. Es blieb uns leider nur noch ein kleiner Rest, den wir uns aber geschwisterlich geteilt haben.«
»Dabei hat uns der Wein überhaupt nicht geschmeckt«, ergänzte Tonio. »Im Vergleich zu unserem Traubensaft kam er uns furchtbar säuerlich und bitter vor. Du hast den ersten Schluck sofort wieder ausgespuckt.«
»Ja, aber nur den ersten. Ein paar Schlucke habe ich anschließend wirklich getrunken. Immerhin hast du es auch getan, und ich wollte dir in nichts nachstehen.«
»Der Alkohol ist dir mächtig zu Kopf gestiegen. Du warst ja erst sechs Jahre alt. Du hast gelacht und gelacht und konntest gar nicht mehr damit aufhören.«
»Mag sein, aber du warst kein Jota besser. Du warst nur noch am Kichern. Oder hast du das etwa vergessen, Tonio?«
»Natürlich nicht. Gemeinsam haben herumgekreischt und so viel Lärm gemacht, dass sie uns zu guter Letzt gefunden haben.«
»Und sie haben uns nicht einmal ausgeschimpft«, erinnerte sich Sina. »Weil sie schon stundenlang nach uns gesucht hatten und heilfroh waren, dass sie uns gesund und munter wieder in die Arme schließen konnten.« Fast übermütig setzte Sina sich zu Tonio aufs Bett. »Weißt du was?«, schlug sie vor. »Wenn wir erst auf dem Weingut sind, schnappen wir uns ein paar Flaschen Wein und jede Menge Oliven und Ciabattas und stoßen an einem der lauen Abende voller Grillengezirp hinter der Kirche von Fiesole auf alte Zeiten an: du, Julia, Alex und ich.« Sina kam regelrecht ins Schwärmen. »Schade, dass wir damals keine Zeitkapsel mit unseren Zukunftsträumen vergraben haben, Tonio. Bestimmt hätten wir jetzt beim Ausbuddeln jede Menge Spaß.«
Einen Moment lang hielten sich Tonio und Sina an der Hand, als wären sie wieder zu Kindern geworden.
»Du kommst doch mit zu unserem Umtrunk, Alex? Oder?«, wandte sich Sina schließlich an Alex.
»Aber ja«, meinte Alex gutmütig, auch wenn er sich bei seiner Antwort ein wenig unbehaglich fühlte.
Als er und Sina sich schließlich von Tonio verabschiedet hatten und sich anschickten, die Behnisch-Klinik wieder zu verlassen, nahm er Sina beiseite.
»Findest du die Idee mit dem vorverlegten Familientreffen wirklich so gut, Sina?«, fragte er.
Sina schaute ihn erstaunt an. »Es war nicht meine Idee. Tonio hat sich das gewünscht.« Sie verhoffte einen Moment. »Und ja, ich finde es gut, das Familientreffen vorzuziehen. Weil es Tonio Auftrieb gibt. Du hast doch gesehen, wie er sich gefreut hat. Eine Weile hat er nicht einmal mehr an seine Krankheit gedacht.«
»Und wie stellst du dir die plötzliche Terminänderung praktisch vor?«, hakte Alex nach. »Wie willst du das Ganze euren Eltern verklickern, wenn sie doch nichts von Tonios neuerlichen gesundheitlichen Problemen erfahren sollen?«
Sina dachte angestrengt nach. »Das dürfte nicht weiter schwierig sein«, meinte sie dann. »Wir sagen einfach, dass es für Julia besser ist, zu einem Zeitpunkt zu reisen, an dem ihre Schwangerschaft noch nicht so weit fortgeschritten ist.«
»Aha.« Alex stieß zischend die Luft aus. »Deine ›Positive-Gedanken-Therapie‹ in allen Ehren«, sagte er schließlich, »aber einen Garantieschein, dass Tonio den Aufenthalt in der Toskana ohne weiteren Schub erleben kann, nur weil wir vier Wochen früher fahren als geplant, gibt es nicht. Diesen Garantieschein kann kein Arzt ausstellen, auch mein Onkel nicht. Tonio macht sich da eine Rechnung auf, die zwar aufgehen kann, aber deshalb noch lange nicht aufgehen muss.«
Sinas Miene verdüsterte sich zusehends.
»Die Termine sämtlicher Familienmitglieder müssen neu abgestimmt werden«, gab Alex weiter zu bedenken. »Die Familie besteht schließlich nicht nur aus Studenten. Und selbst wenn – in meinem Fall zum Beispiel …«
»Worauf willst du eigentlich hinaus?«, fuhr Sina Alex in die Parade.
Alex kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, während er an Sinas Seite durch die Eingangspforte der Behnisch-Klinik ins Freie trat.
»Du weißt doch, dass ich Professor Herrenbach versprochen habe, zusammen mit Andreas Hofstetter und Britt Gäbel die Leitung der Forschungsgruppe zu übernehmen, während der Professor auf Reha ist. Ich habe bereits eine Menge Arbeit investiert. Und ich habe mich über den Vertrauensvorschuss, den Professor Herrenbach mir entgegengebracht hat, wirklich gefreut. Jetzt einen Rückzieher zu machen, nur weil wir früher als geplant in die Toskana reisen, wäre ein sehr unkluger Schachzug. Auch im Hinblick auf meinen weiteren Studienerfolg in Professor Herrenbachs Seminaren. Das musst du doch einsehen.«
Sina war sprachlos.
Es dauerte ein paar Minuten, bis sie sich wieder gefasst hatte.
»Soll das heißen, du willst nicht mit zu meinem Onkel in die Toskana kommen?«, fragte sie mit vor Erregung schriller Stimme.
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Alex. »Es geht nicht um die Reise generell, sondern um den früheren Zeitpunkt. Wobei ich mir absolut sicher bin, dass ich nicht das einzige ›Familienmitglied‹ bin, das Schwierigkeiten mit der plötzlichen Terminänderung hat.«
»Familienmitglied? Wie bitte? Hast du wirklich gerade Familienmitglied gesagt?«, brach es aus Sina heraus. »Du … du bezeichnest dich allen Ernstes als Familienmitglied?« Sie lachte bellend auf. »Tolles Familienmitglied, dem die Wertschätzung eines Professor Herrenbach wichtiger ist, als der zukünftige Schwager! Glaubst du im Ernst, dass du dich mit der Teilnahme an der Leitung der Forschungsgruppe bei Professor Herrenbach einschmeicheln kannst? Wenn du das wirklich glaubst, muss ich dich fragen, in welcher Welt du eigentlich lebst, Alex. Ich mag zwar naiv sein, aber dass ein von Missgunst und Neid zerfressener Mensch sich mir nichts, dir nichts ändert, ist so unwahrscheinlich wie eine Überschwemmung in der Sahara. Wenn dir ein derartiger Mensch wichtiger ist als meine Familie, kannst du dich nie und nimmer als Mitglied meiner Familie bezeichnen.«
Alex hob beschwörend beide Hände. »Bitte reg dich wieder ab und sei vernünftig, Sina«, bat er. »Betrachte die Angelegenheit doch bitte auch einmal von meiner Warte aus. Ich soll eine berufliche Chance einfach sausen lassen, nur weil Tonio, noch geschockt von dem neuen MS-Schub, von etwas träumt, das ihm morgen vielleicht schon gar nicht mehr so wichtig ist. Willst du das wirklich von mir verlangen?«
Er griff nach Sinas Hand, doch Sina entzog sie ihm mit einem energischen Ruck.
»Sina, wir befinden uns im Moment alle in einem seelischen Ausnahmezustand: du, Tonio, ich, Ana, Julia. Und deshalb ist jetzt auch nicht die Zeit, sich gegenseitig etwas vorzuwerfen und über den anderen ein Urteil zu fällen. Aufgrund unserer angespannten Nerven neigen wir augenblicklich alle dazu, übers Ziel hinauszuschießen.«
»Wir befinden uns nicht alle in einem Ausnahmezustand«, widersprach Sina. »Du behältst durchaus einen kühlen Kopf. Und warum? Weil du kein Herz hast. Hätte ich gewusst, wie hart und kalt du sein kannst …« Sina sprach nicht weiter, weil ihre Unterlippe verdächtig zu zittern begann. »Nur noch eine letzte Frage, Alex.« Sie rang sich die Worte regelrecht ab. »Warum in aller Welt hast du mir in Tonios Krankenzimmer zugestimmt, als ich dich gefragt habe, ob du mitkommst hinter die Kirche von Fiesole, wo Tonio und ich als Kinder waren? Wie konntest du zustimmen, wenn du bereits gewusst hast, dass du …«
»Sina, sei doch vernünftig«, unterbrach Alex ihre heftigen Vorwürfe. »Natürlich komme ich mit an euren Erinnerungsort, aber nicht schon übernächste Woche. Wenn wir zur vereinbarten Zeit reisen, ist die Leitung der Forschungsgruppe …«
Alex verstummte mitten im Satz, weil ihm plötzlich klar wurde, dass er, wollte er Professor Herrenbach nicht enttäuschen, Sina auch zum ursprünglich vereinbarten Termin nicht würde begleiten können.
Hatten nicht sowohl Professor Herrenbach als auch Dr. Norden gesagt, dass sich Professor Herrenbachs Reha-Aufenthalt bis zur Mitte des kommenden Semesters hinziehen würde?
Britt, Andreas und er würden also noch eine ganze Weile für die Leitung der Forschungsgruppe verantwortlich sein.
Der Zeitraum umspannte mehrere zusätzliche Wochen.
Wie hatte er diese Tatsache einfach ausblenden können?
Weil er sich im Grunde gefreut hatte, die Tätigkeit, die ihm so sehr schmeichelte, noch ein wenig länger ausüben zu können?
»Deine vermaledeite Forschungsgruppe ist mir schnurzpiepegal. Und zwar sowas von. Das kannst du dir gar nicht vorstellen«, riss ihn Sinas bebende Stimme aus seinen Gedanken.
»Sina …«
»Lass mich zufrieden mit deinem Gefasel«, fuhr Sina Alex in die Parade. »Ich werde alles daransetzen, das Familientreffen vorzuverlegen, um Tonio Auftrieb zu geben und ihm eine Freude zu machen. Darauf kannst du Gift nehmen«, erklärte sie. »Was dich betrifft, kannst du dich entscheiden. Für Professor Herrenbach oder für mich und meine Familie. Die Wahl steht dir frei. Wenn du dich für Professor Herrenbach und deinen krankhaften Ehrgeiz entscheidest, werde ich mich von dir trennen. Das ist mein letztes Wort. Mein allerletztes Wort.«
Mit einem Ruck wandte sich Sina von Alex ab und lief in Richtung Parkplatz.
Alex setzte ihr nach. »Warte! Wir sind doch zusammen mit dem Auto gekommen. Du kannst nicht einfach davonfahren und mich …«
»Und ob ich das kann«, erwiderte Sina, deren Gesicht mittlerweile tränenüberströmt war. »Der Wagen gehört schließlich mir. Aber mach dir nichts draus: Vielleicht … vielleicht stellt dir Professor Herrenbach für deine Verdienste um ihn und seine Forschungsarbeit ja in absehbarer Zeit einen Dienstwagen zur Verfügung!«
*
Wie belämmert kehrte Alex zur Behnisch-Klinik zurück.
Er wusste zwar nicht so recht, was er dort sollte, denn er hatte den ganzen Tag über keinen Dienst, aber mit Bus und U-Bahn nach Hause fahren wollte er im Moment erst recht nicht.
Er wollte bei seiner Rückkunft weder Mona und Bernd, sollten sie noch immer in der Wohnung sein, irgendetwas erklären müssen, noch wollte er Sina das Gefühl geben, ihr wie ein schuldbewusstes Schoßhündchen zu folgen.
Und auch auf die Arbeit für die Forschungsgruppe, die ihm noch vor ein paar Stunden so wichtig erschienen war, verspürte er vorerst nicht die geringste Lust.
Er erwog, sich einfach in die Cafeteria zu setzen, verwarf aber auch diesen Gedanken wieder.
Was sollte er in der Cafeteria, wenn er keinen Hunger hatte!
Nicht einmal die Aussicht auf einen Kaffee konnte ihn reizen.
Wozu brauchte er Kaffee, wenn er ohnehin hellwach war, weil seine Nerven blank lagen!
Unschlüssig lief Alex ein paar Mal vor der Eingangspforte der Behnisch-Klinik hin und her und setzte sich schließlich auf die nächstgelegene Parkbank.
Seine Gedanken kehrten zu Professor Herrenbach zurück.
Das Problem hatte sich verlagert, und zwar gewaltig.
Es ging, auch wenn Sina nichts davon ahnte, inzwischen um die grundsätzliche Frage, ob er an dem Familientreffen der Manolos teilnehmen sollte oder nicht.
Sollte er sich von Sina regelrecht erpressen lassen?
Bei all seinen zärtlichen Gefühlen für Sina, sein Studium war ihm immens wichtig.
Wenn er erst anfing, sich von einer Frau, die dafür kein oder zu wenig Verständnis hatte …
»Alex? Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich? Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?«
Verblüfft, aber auch ein wenig unwillig, wandte Alex sich zur Seite. Er wollte in Ruhe gelassen werden, weiter nichts.
»Ich bin’s, Karin Walser. Erkennen Sie mich noch?«
Alex schloss für einen Moment die Augen.
Karin Walser hatte ihm gerade noch gefehlt.
In seiner momentanen Stimmung verspürte er nicht die geringste Lust, sich ihre ellenlangen Berichte über ihre gemeinsame Zeit mit Wolfgang Binder, über ihre nachfolgende Scheidung und über ihre ehrgeizigen beruflichen Pläne anzuhören.
Hatte er fürs Erste nicht mit sich selbst und mit seinem Leben genug zu tun?
Er tat einen tiefen Atemzug.
»Natürlich erkenne ich Sie noch«, antwortete er gepresst. »Leider habe ich im Moment wirklich nicht viel Zeit. Vielleicht …«
»Es geht nur um eine Minute, Alex«, insistierte Karin Walser und nahm neben ihm Platz, obwohl Alex sie in keinster Weise dazu aufgefordert hatte.
»Also gut. Wie kann ich Ihnen helfen?«, gab Alex sich endlich einen Ruck.
»Zuerst einmal möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen dafür, dass ich Sie nach dem Wechseln der Wäsche so unfreundlich verabschiedet habe. Sie haben sich fast eine ganze Stunde lang meine Erinnerungen, meine Probleme und mein Jammern angehört, und ich …«
»Vergessen und vergeben«, versicherte Alex. »Sie hatten, kurz bevor ich in ihr Zimmer gekommen bin, eine schlimme Diagnose erhalten, Frau Dr. Walser. Das erklärt vieles. Wir sind schließlich alle nur Menschen.«
»Danke«, erwiderte Karin Walser. Sie verschränkte die Hände in ihrem Schoß und fuhr sich mit der Zunge wieder und wieder über ihre Lippen, als müsste sie sie erst befeuchten, ehe sie weitersprechen konnte. »Morgen ist mein OP-Termin«, platzte sie schließlich unvermittelt heraus.
»Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute«, gab Alex zurück.
»Die OP hätte auch schon vor ein paar Tagen stattfinden können, aber der Chirurg hat auf einer Feinnadelbiopsie bestanden, um im Vorfeld abzuklären, ob der Tumor wirklich gutartig ist. 98 Prozent Sicherheit waren ihm offenbar nicht sicher genug.«
»Aber der Tumor ist doch gutartig, oder?«, erkundigte sich Alex.
Karin Walser nickte. »Ja, die Gutartigkeit steht nun mit 100prozentiger Sicherheit fest.«
»Na, dann ist ja alles in trockenen Tüchern«, meinte Alex.
Karin Walser schwieg eine Weile, ehe sie es schaffte, das zu sagen, was ihr eigentlich auf dem Herzen lag. »Kommt es eigentlich vor, dass Patienten aus der Narkose nicht mehr erwachen?«, fragte sie unvermittelt.
»Das ist äußerst selten«, beruhigte Alex die Anwältin.
Dass Karin Walser nun, da der Termin unmittelbar bevorstand, doch Angst vor der Operation zeigte, überraschte ihn nicht. Die meisten Patienten hatten vor einem Eingriff Angst, sogar Mediziner.
»Wie selten?«, hakte Karin Walser denn auch prompt nach.
»Ein Prozent? Zwei Prozent?«, mutmaßte Alex. »Ehrlich gesagt, habe ich mich mit der genauen Zahl noch nie befasst. Aber Probleme mit der Narkose treten in der Regel nur bei extrem lang andauernden Operationen auf. Oder bei einer Vorschädigung des Patienten, sei es durch eine Erkrankung oder durch einen Unfall mit erheblichen Verletzungen.«
»In meinem Fall ist es also eher unwahrscheinlich, dass ich im Jenseits erwache, falls es so etwas wie ein Jenseits überhaupt gibt.«
»Eher unwahrscheinlich«, bestätigte Alex mit einem Augenzwinkern.
Wieder herrschte eine Weile Schweigen, sodass Alex hoffte, das Gespräch überstanden zu haben.
Aber er sah sich getäuscht.
»Trotzdem habe ich in den letzten beiden Tagen und Nächten sehr viel nachgedacht«, redete Karin Walser weiter. »Ich habe mir zum Beispiel überlegt, in welchen Phasen meines Lebens ich am glücklichsten war. Aber vom Beginn meiner Liebe zu Wolfgang habe ich Ihnen ja bereits erzählt, Alex. Und von meinem Studium und dem brennenden Interesse für mein Fach. Und von meinem Wunsch, Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen.«
»Ja, das haben Sie«, lächelte Alex.
»Ich habe mir natürlich auch überlegt, was von meinem Leben bleibt, sollte ich wirklich zu den Patienten gehören, die …«
Alex legte seinen Arm auf die Lehne der Parkbank und wandte sich, während er seine langen Beine übereinanderschlug, gänzlich Karin Walser zu. So unangenehm ihm ihre Gegenwart anfangs gewesen war, fing er allmählich sogar an, froh über Karins Anwesenheit zu sein.
Die Probleme anderer Menschen zu sehen und diesen Menschen bei der Lösung zu helfen, war, so schien es ihm zumindest, um einiges leichter, als die Baustellen im eigenen Leben in den Griff zu bekommen.
»Was bliebe?«, griff Alex Karins Worte auf. »Die Frage wird sich nicht stellen. Aber wenn Sie trotzdem auf einer Antwort bestehen: Auf jeden Fall eine Menge dankbare Mandanten, die durch Ihre Hilfe Gerechtigkeit erfahren durften.«
Karin Walser strich wieder und wieder über den Daumennagel ihrer linken Hand, als wollte sie ihn polieren. »Dankbare Mandanten, Alex? Nein, das glaube ich nicht. Mandanten, für die ich einen Prozess gewonnen habe, bedanken sich bei mir. Das ist richtig. Aber dankbar? Nein, wirklich dankbar sind sie nicht. Für sie bin ich nur Mittel zum Zweck. Als Mensch nehmen sie mich kaum wahr.«
Alex verstand nicht recht, was Karin meinte.
»Nicht dass ich mir im Nachhinein Kinder wünschen würde«, fuhr sie, als er schwieg, nach ein paar Minuten des Innehaltens fort. »Trotzdem habe ich mich, als ich gestern mein Testament aufgesetzt habe, dafür entschieden, meine Vermögenswerte einer Organisation für bedürftige Kinder zu vermachen. Es hat mich irgendwie befriedigt, weil ich das Gefühl hatte, auf diese Weise den Stab weiterzugeben.«
»Sie … Sie haben Ihr Testament aufgesetzt?« Es hätte nicht viel gefehlt, und Alex hätte sich an seinen eigenen Worten verschluckt.
Er hatte Mühe, sich ein Schmunzeln zu verkneifen.
»Ja, das habe ich. Man muss schließlich seine Dinge regeln und in Ordnung bringen. Aber da … da ist noch etwas. Es handelt sich um eine Bitte, die ich an Sie habe, Alex.«
»Eine Bitte?«
Karin Walser nickte und zog einen Zettel mit einer Telefonnummer aus ihrer Handtasche. »Das ist die Rufnummer meines Mannes … meines Ex-Mannes, sollte ich wohl sagen. Falls mir etwas zustoßen sollte, verständigen Sie ihn bitte. Ich habe für ihn in meinem Krankenzimmer einen Brief hinterlegt. In meinem Schrank. Keine Ahnung, ob Wolfgang ihn lesen will, aber für den Fall, dass …«
Alex griff nach dem Zettel, um ihn zu sich zu stecken, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Behalten Sie den Zettel. Sie werden die Operation gut überstehen, da bin ich mir ganz sicher.«
»Wenn Sie das sagen? Aus Ihrem Mund klingt es fast noch glaubhafter, als wenn Ihr Onkel und der Chirurg, der mich operieren wird, es mir versichern.«
»Na also. Das hört sich doch schon ein bisschen zuversichtlicher an«, meinte Alex und reichte Karin Walser den Zettel zurück.
Zu seiner Überraschung schüttelte sie den Kopf. »Behalten Sie ihn, Alex. Und danke, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben.«
Sie lächelte Alex freundlich zu, erhob sich und kehrte ins Klinikgebäude zurück.
Alex drehte nachdenklich den Zettel in seinen Händen hin und her.
Und plötzlich kam ihm eine Idee.
Er zog sein Handy aus der Gesäßtasche seiner Jeans und wählte die Nummer von Wolfgang Binder.
*
Alex schaltete seinen Laptop aus und rieb seine brennenden Augen.
Da Sina vorübergehend aus der Wohngemeinschaft in der Glockenbachstraße ausgezogen war und bei einer Schulfreundin aus ihrer Gymnasialzeitwohnte, hatte er inzwischen genügend Zeit gefunden, die Skripten und Folien für die Herrenbach-Forschungsgruppe nicht nur zu überarbeiten und zu verbessern, sondern sogar noch einiges an Neuem hinzuzufügen.
Er war sich sicher, Professor Herrenbachs Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern sogar noch übertroffen und damit die Skepsis des Professors ihm gegenüber endgültig ausgeräumt zu haben.
Siegessicher beschloss er, den Abschluss seiner Arbeit mit einem Glas Wein zu begießen.
»Na, immer noch Zoff mit Sina?«, begrüßte ihn Alissa, als er die Küche betrat. Sie kauerte auf dem Boden neben Elvis und war im Begriff, eine der Haarbürsten, die Sina zurückgelassen hatte, für die Fellpflege ihres Katers zu verwenden.
»Und wenn schon. Schließlich ist es nicht meine Schuld«, knurrte Alex, dessen gute Laune sich von einer Sekunde auf die andere verflüchtigte.
Hastig griff er nach der Weinflasche auf der Anrichte und schenkte sich ein Glas ein.
»Mir auch eins«, verlangte Alissa.
»Der Wein der Manolos ist aber nicht vegan«, merkte Alex an. »Er wird mit tierischen Proteinen geklärt, also mit Eiklar, mit Proteinen aus der Fischblase, mit Schweinegelatine oder mit Casein. Was genau zum Einsatz kommt, kann ich dir leider nicht sagen.«
»Eklig ist eklig«, konstatierte Alissa. »Aber ich trinke trotzdem ein Glas. Vielleicht kannst du mir ja nach deinem Aufenthalt auf dem Weingut der Manolos mitteilen, welches Gruselprodukt sie dort zur Klärung verwenden. Und ob sie vorhaben, in absehbarer Zeit auch veganen Wein zu produzieren, was ich im Übrigen sehr empfehlenswert fände.«
Alex hätte sein Glas Wein am liebsten mit in sein Zimmer genommen, doch als Alissa von Elvis’ Pflege abließ, sich stattdessen demonstrativ an den Küchentisch setzte und Alex einen Stuhl zurechtrückte, brachte er es nicht über sich, sie einfach alleine zu lassen.
Wenn sie ihm vielleicht etwas sagen wollte …
»Na, was macht das Forschungsprojekt? Schon jetzt reif für den Nobelpreis oder dauert es noch ein Weilchen?«, begann sie schon eine Sekunde später und bewirkte damit, dass Alex seine Höflichkeit sofort bereute.
»Es geht voran«, beschied er kurz und knapp.
»Wie schön für dich. Aber schließlich muss sich die viele Zeit, die du investierst, auch lohnen. Wenn schon keinerlei finanzieller Segen ins Haus steht.«
»Es geht mir nicht um Geld«, wehrte sich Alex. »Es geht mir darum, meinen Beitrag zu einem wichtigen medizinischen Projekt zu leisten. Und zwar nicht halbherzig, sondern so gut es mir bei meinem derzeitigen Wissensstand möglich ist.«
Alissa klatschte in die Hände und lachte. »Gut gebrüllt, Löwe. Und mindestens ebenso gut gelogen.«
Alex erhob sich wortlos, nahm Sinas Haarbürste vom Boden auf und reinigte sie sorgfältig von den Katzenhaaren, während Alissa ihm grinsend dabei zuschaute.
»Was soll das heißen: gut gelogen?«, begehrte er auf.
Alissa schüttelte ungläubig den Kopf. »Mehr und mehr beschleicht mich das Gefühl, dass du es wirklich nicht weißt, Alex. Aber dass es dir mit deinem Einsatz für diese Forschungsgruppe ausschließlich um dein Medizinstudium oder gar um die hehre Wissenschaft geht, stimmt doch schlicht und ergreifend nicht. Du redest dir deine Motivation doch nur schön, um die Wahrheit nicht sehen zu müssen.«
Alex trank sein Weinglas in einem Zug leer, ohne sich dessen bewusst zu werden. »Und worum geht es mir dann? Und was für eine Wahrheit rede ich mir schön? Sag es mir doch, wenn du dir schon so sicher bist, dass du mich besser kennst als ich mich selbst.«
»Es geht dir um deine Eitelkeit, mein lieber Alex«, antwortete Alissa. »Oder um deinen Gerechtigkeitssinn. Wie man es nimmt. Beide ertragen es jedenfalls nicht, dass Professor Herrenbach im Gegensatz zu deinen anderen Professoren und Dozenten ohne viel Federlesens über deine herausragenden Fähigkeiten hinwegsieht. Deshalb willst du ihm mit aller Macht beweisen, dass du ein kluger Kopf bist.«
»Unsinn. Wie kommst du nur auf derartigen Unsinn?«, hielt Alex dagegen und schenkte sein Weinglas wieder voll. »Und ich höre mir das alles auch noch geduldig an und …«
»Das ist kein Unsinn. Und im Grunde deines Herzens ist dir das längst sonnenklar.«
»Ist es nicht. Wenn ein Prof mir eine verantwortungsvolle Aufgabe zuweist, darf ich mich doch freuen. Was hat das mit Eitelkeit zu tun? Oder mit dem, was du Gerechtigkeitssinn nennst?«
»Sehr viel, mein lieber Alex«, gab Alissa zurück. »Aber deine diesbezügliche Rechnung wird nicht aufgehen. Ich fürchte, dass du stattdessen eine herbe Enttäuschung erleben wirst.« Sie grinste süffisant. »Das Herrenbächlein hat nämlich längst erkannt, dass du ihm an Intelligenz gleich, wenn nicht sogar überlegen bist. Von deiner Charakterstärke, die in einem medizinischen Beruf ebenfalls wichtig ist, einmal ganz zu schweigen. Natürlich will Professor Herrenbach nicht, dass du das auch erkennst. Und deshalb tut er alles, was in seiner Macht steht, um dich klein zu halten. So einfach ist das. Und anscheinend doch so kompliziert.«
Alex hatte das Gefühl, auf diese Eröffnung hin erst einmal einen weiteren Schluck Wein nötig zu haben, stellte aber fest, dass der Wein aus irgendwelchen Gründen plötzlich schal schmeckte. Angewidert schob er das Glas zur Seite.
»Aber das … das kann doch im Grunde gar nicht sein. Du reimst dir da etwas zusammen, Alissa, das …«
»Ich reime mir gar nichts zusammen. Ich beobachte Tatsachen und bringe sie in einen Zusammenhang. Das ist ein großer Unterschied.« Sie stützte ihren Kopf in ihre Hände und schaute Alex tief in die Augen. »Du kannst das Herrenbächlein nicht überzeugen, Alex. Auch dann nicht, wenn du dich, um ihm zu gefallen, auf den Kopf stellst und gleichzeitig mit den Ohren wackelst. Der Prof will nämlich gar nicht überzeugt werden. Eher würde er sich in die eigene Pobacke beißen, als deine Überlegenheit anzuerkennen.«
Alex scharrte nervös mit den Füßen, was Elvis, der es sich mittlerweile unter dem Küchentisch bequem gemacht hatte, zu einem abwehrenden Krallenhieb veranlasste.
»Autsch, du Mistvieh«, schimpfte Alex und rieb seinen Knöchel, worauf Alissa ihren Kater hochhob und ihn zärtlich an sich drückte. »Er ist kein Mistvieh. Er musste sich nur verteidigen«, erklärte sie.
Alex Laune hatte mittlerweile abgründige Tiefen erreicht.
Alissas Ausführungen, die ihm anfangs vollkommen abstrus erschienen waren, kamen ihm, je mehr er darüber nachdachte, immer weniger abwegig vor.
Was, wenn Alissa wirklich Recht hatte?
»Es gibt Situationen, in denen man selbst den offensichtlichsten Tatsachen gegenüber blind ist, Alex. So etwas passiert irgendwann jedem von uns«, fing Alissa nach einer kleinen Pause wieder an, als hätte sie Alex’ geheimste Gedanken erraten. Doch schon im nächsten Augenblick nahmen ihre Ausführungen eine für Alex völlig unerwartete Wendung. »Sina und du – ihr habt euch gestritten. Weil du dich geweigert hast, schon in zwei Wochen mit ihr und dem Rest der in Deutschland lebenden Familie Manolo nach Italien zu reisen«, sagte sie. »Sina hat mir des Langen und Breiten davon erzählt und eine Menge Tränen vergossen. Sie hat mir richtig leidgetan. Vor allem, weil …« Alissa unterbrach sich, als Elvis sich mit Lichtgeschwindigkeit am Kopf kratzte und dabei immer wieder mit dem neuen Tischtuch, einem Geschenk von Mona, in Berührung kam. »Offen gestanden bin ich mir ziemlich sicher, dass diese vorgezogene Reise ohnehin nie zustande kommen wird«, fuhr Alissa, als Elvis sich beruhigt hatte, fort. »Denk doch einmal nach, Alex: Würdest du an Dr. Nordens Stelle einen chronisch kranken Patienten wie Tonio verreisen lassen? Oder hättest du ihn, kurz nach einem neuen Schub und einer dadurch notwendig gewordenen Veränderung der Medikation, nicht lieber in deiner Nähe, um ihn zu beobachten?«
Alex stand auf, kippte den Rest seines Weinglases in die Spüle und ließ das Glas mit Leitungswasser volllaufen.
So weit, so logisch.
Warum war er auf diese Idee eigentlich nicht selbst gekommen?
»Hast du … hast du das auch Sina gesagt?«, wollte Alex wissen.
»Ja, natürlich. Ich glaube, sie hat meine Argumentation durchaus eingesehen und ihr, wenn auch nur im Stillen, sogar zugestimmt. Trotzdem blieb sie verärgert über dich.«
Der Hoffnungsfunke, der in Alex’ Augen aufgeleuchtet hatte, sank von einer Sekunde auf die andere in Nichts zusammen.
»Sina lässt es also darauf ankommen«, murrte Alex. »Sie will die absolute Nummer eins in meinem Leben sein. Erst Sina, dann wieder Sina und dann nochmal Sina. Die nächstfolgenden Posten bleiben, des gebührenden hoheitlichen Abstands wegen, unbesetzt. Und irgendwo, weit abgeschlagen an 104. oder 105. Stelle, kommt dann mein Studium. Aber so geht das nicht. Zumindest nicht bei mir. Diese Reihenfolge kann sie sich abschminken. Und zwar gründlich.«
»Punkt«, ergänzte Alissa.
»Wie bitte?«
»Ich habe Punkt gesagt. Klar und verständlich.«
Alex trank das Wasser, das er sich eingegossen hatte, in einem Zug aus und holte sich doppelten Nachschub, den er ebenso rasch in sich hineinschüttete.
Nach einer Weile war es ihm, als würde die Klarheit des Wassers auch seine Gedanken reinigen.
Hatte Sina nicht immer großes Verständnis gezeigt, wenn er wieder einmal eine zusätzliche Schicht im Sanitätsdienst oder in der Behnisch-Klinik übernommen hatte? Hatte sie nicht bereitwillig die kleine Leni Friedmann aufgenommen und ihn wegen seines Engagements für das Mädchen sogar noch gelobt? Hatte sie nicht klaglos Josés Launen ertragen und immer wieder Verständnis für seine schwierige Situation an den Tag gelegt?
Nur wenn es um Professor Herrenbach und namentlich um die Forschungsgruppe ging …
»Ich hüpfe jetzt ins Bett«, verabschiedete Alex sich schließlich von Alissa. »Schlaf wird zwar im Allgemeinen sehr überschätzt, aber hin und wieder eine Mütze davon ist durchaus erholsam. Gute Nacht dann.«
»Gute Nacht, Alex«, erwiderte Alissa, während sie die Weinflasche einer gründlichen Inspektion unterzog und offenbar zu dem Schluss kam, dass es sich nicht mehr lohnte, den letzten Rest ihres Inhalts noch aufzubewahren.
Kurz entschlossen setzte sie die Flasche an ihre Lippen und leerte sie.
Alex nahm keine Notiz davon, weil er unbeirrt auf seine Zimmertür zusteuerte.
Als er sie hinter sich geschlossen hatte, fiel sein Blick zuerst auf sein Bett, saugte sich dann aber an seinem Laptop fest.
Würde Professor Herrenbach sich wirklich viel weniger begeistert von all den in mühevoller Kleinarbeit zusammengestellten Skripten und Folien zeigen, als er es sich erhoffte und erträumte?
Sahen Alissa und offenbar auch Sina klarer, als er es tat?
Unsicher kaute Alex auf seiner Unterlippe herum.
Erst gestern hatte er sich noch einmal mit Andreas Hofstetter über einige Fragen ausgetauscht, die ihnen strittig erschienen waren. Andreas war über die Vorschläge, die er, Alex, ihm unterbreitet hatte, sehr angenehm überrascht gewesen und hatte ihm versichert, dass Professor Herrenbach angesichts dessen, was sie in der kurzen Zeit geleistet hatten, garantiert durch die Decke gehen würde.
Warum in aller Welt sollte Andreas nicht Recht behalten?
Er kannte Professor Herrenbach schließlich besser als Sina und Alissa zusammen.
Und überhaupt – so viel Arbeitseinsatz, so viel Engagement und so viel ehrliche und saubere Leistung mussten sich einfach lohnen!
Und doch …
Alex wandte sich von seinem Laptop ab, schüttelte sein Bett auf und verscheuchte die Zweifel.
In ein paar Tagen war das erste Treffen mit Professor Herrenbach anberaumt. Er würde sich mit Britt Gäbel und Andreas Hofstetter gegen zwei Uhr nachmittags in dem kleinen Café hinter der Uni zusammenfinden, alles noch einmal durchgehen und sich anschließend in Professor Herrenbachs Büro begeben, wo die Besprechung stattfinden sollte.
Bei diesem Meeting würde sich herausstellen, wie Professor Herrenbach ihrer aller und vor allem seine Leistung beurteilte.
Erst dann konnte man sagen, ob Alissas und Sinas Misstrauen dem Professor gegenüber begründet war oder ob sie sich täuschten. Und wirklich erst dann und keinesfalls eher konnte eine Entscheidung getroffen werden, wie es weitergehen sollte.
*
Als Karin Walser die Augen aufschlug, wusste sie fürs Erste nicht, wo sie war.
Irgendwie schien ihr Kopf nicht richtig zu funktionieren. Sie fühlte sich benommen und ein bisschen schwindlig. Und sie war so müde wie noch nie in ihrem Leben.
Noch ehe sie einen klaren Gedanken fassen konnte, fielen ihr die Augen wieder zu, und sie ließ sich willig in ein gestaltloses Nichts sinken.
Erst als Karin erneut wach wurde, kehrten ihre Erinnerung und ihre Denkfähigkeit zurück.
Sie lag seit einiger Zeit in der Behnisch-Klinik, und man hatte ihr gesagt, sie müsste sich einer Herzoperation unterziehen.
War die Operation schon vorbei?
Karin zwang sich, ihre schweren Augenlider offen zu halten und sich umzusehen.
Sie befand sich nicht in ihrem Krankenzimmer, sondern in einem Raum mit schneeweißen Wänden, der von einem hellen Licht erleuchtet war. Hinter einem weißen Vorhang huschten Gestalten herum, deren Konturen allerdings immer wieder vor ihren Augen verschwammen.
Und irgendjemand hielt warm und liebevoll ihre Hand.
War sie überhaupt noch auf dieser Welt?
Wenn es nicht der Fall war, war das Sterben jedenfalls nicht schlimm gewesen. Und solange sie diese kräftige und doch sanfte Hand spürte, die sich um ihre Finger schloss, konnte sie problemlos eine ganze Ewigkeit so liegen und diese Berührung genießen, von der so unendlich viel Glück ausging …
»Karin? Bist du wach, Karin?«
Diese Stimme … diese Stimme kannte sie doch!
»Wolfgang! Wie kommst du hierher, wie …«
»Karin, wie geht es dir? Wie fühlst du dich? Hast du Schmerzen?«
Ganz langsam schüttelte Karin den Kopf.
Er ließ sich so unendlich schwer bewegen.
»Was machst du bloß für Sachen, Karin? Mich hätte fast der Schlag getroffen, als ich erfahren habe, dass du im Krankenhaus bist. Und dann auch noch eine so gefährliche Operation! Ich bin so grenzenlos erleichtert, dass du sie gut überstanden hast.«
»Überstanden?«, fragte sie. »Ist … ist denn alles schon vorbei?«
Karin Walser versuchte, sich aufzusetzen, wurde aber von ihrem Ex-Mann sachte wieder auf ihr Kissen zurückgelegt.
Seine Hände umfassten jetzt ihre Schultern.
Karin hatte das Gefühl, von diesen Händen ginge ein Kraftstrom aus, der ihrem Körper neues Leben und neue Energie einflößte.
»Ja, halt mich fest«, sagte sie. »Halt mich ganz fest. Und lass mich nie wieder los. Es ist so schön, dich zu spüren. Es … es macht so unendlich glücklich.«
»Mich macht es auch glücklich, wieder bei dir zu sein«, antwortete Wolfgangs Stimme so dicht an ihrem Ohr, dass Karin den leisen Lufthauch seines Atems wie ein zärtliches Streicheln spüren konnte. »Aber du sollst nicht so viel sprechen, Liebes. Du sollst dich nicht unnötig anstrengen. Du sollst stattdessen lieber schlafen. Damit du so bald wie möglich wieder gesund wirst.«
»Ja, schlafen«, seufzte Karin, als die bleierne Müdigkeit sich erneut bemerkbar machte. »Ich … ich kann aber nur schlafen, wenn du mir versprichst, dass du bei mir bleibst. Du darfst nicht weggehen, hörst du? Du darfst mich nicht allein lassen.«
»Ich habe dich nie allein gelassen und ich werde auch jetzt solange bei dir bleiben, wie du möchtest«, versicherte Wolfgang. »Ich gebe dir mein Wort …«
Den Rest des Satzes hörte Karin Walser nur noch in ihren Träumen.
Sie hielten sie über Stunden gefangen, bis sie endlich wieder aufwachte und feststellte, dass sie diesmal in ihrem ganz normalen Krankenzimmer lag.
Es war heller Tag, und die Sonne ließ auf der Bettdecke Lichtmale tanzen.
Die Müdigkeit war so gut wie verflogen, und Karin fühlte sich überraschend frisch und ausgeruht.
Ihre Augen suchten Wolfgang.
War nicht, als sie eingeschlafen war, Wolfgang bei ihr gewesen?
Karin richtete sich auf, doch der Mann, der an ihrem Bett saß, war nicht Wolfgang, sondern Dr. Norden.
Hatte sie sich Wolfgangs Nähe nur eingebildet? War all das Glück, das sie gespürt hatte und im Grunde noch immer ganz deutlich fühlen konnte, nur eine Wunschvorstellung gewesen? Ausgelöst durch irgendeine chemische Reaktion in ihrem Gehirn, die die Narkose bewirkt hatte?
»Wie fühlen Sie sich, Frau Dr. Walser?«, fragte Dr. Norden freundlich. »Wir haben Sie heute Morgen von der Intensivstation wieder zurück in ihr normales Krankenzimmer verlegt, weil alle Ihre Werte stabil und im grünen Bereich waren.
»Ich fühle mich gut, wirklich gut.«
»Die Operation ist in der Tat gut gelaufen«, erklärte Dr. Norden. »Wenn es auch einige unerwartete Schwierigkeiten zu überwinden galt. Der Tumor war schwerer zu entfernen, als es aufgrund des Röntgenbilds und der Ultraschallaufnahmen den Anschein hatte, da er sich bereits tief in die Zellschicht gefressen hatte, die die Arterie von innen ummantelt und auskleidet. Wir mussten also notgedrungen ein kleines Stück der Herzarterie entfernen und durch eine Art Bypass ersetzen.«
Karin Walser nickte.
Sie verstand nicht ganz, was Dr. Norden ihr erklärte hatte, fand aber, dass das keine Rolle spielte. Hauptsache war, dass der Eingriff gelungen war und sie in absehbarer Zeit ihr altes Leben wieder zurückhaben würde.
Ihr altes Leben?
Karins Blicke glitten über ihren Laptop und die vielen Aktenordner, die in ihrem Krankenzimmer herumlagen.
Sie lösten keinerlei Gefühle in ihr aus.
Wenn sie dagegen an den warmen, leuchtenden Glücksstrom dachte, der von Wolfgangs Berührungen ausgegangen war …
»Und dann gab es noch ein weiteres Problem«, vernahm Karin plötzlich wieder Dr. Nordens Stimme, die sie aus ihrer Gedankenwelt zurück in die Realität holte. »Durch den Widerstand, den der Tumor dem Blutstrom entgegengesetzt hat, mussten Ihre Mitralklappen sozusagen doppelte Arbeit leisten. Sie haben dieser Belastung leider nicht unbeschadet standgehalten. Wir mussten sie im Zuge der Operation entfernen und durch neue, künstliche Klappen ersetzen.«
Karin Walser legte unwillkürlich eine Hand auf ihren Brustkorb, doch es war nur ein dicker Verband zu spüren.
Verwirrt fragte sie sich, was sie eigentlich erwartet hatte.
»Und … werden die künstlichen Klappen genauso arbeiten wie zuvor meine eigenen?«, fragte sie. »Oder müssen sie … möglicherweise in absehbarer Zeit wieder erneuert werden, sodass mir in etlichen Jahren eine weitere Operation bevorsteht?«
Dr. Norden schüttelte den Kopf und lächelte Karin Walser beruhigend zu. »Nein, die künstlichen Mitralklappen müssen nicht noch einmal ausgetauscht werden. Sie werden Sie für den Rest Ihres Lebens begleiten, Frau Dr. Walser. Selbst wenn Sie das Glück haben sollten, hundert Jahre alt zu werden.«
Karin atmete erleichtert auf. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Herr Dr. Norden. Für Ihre freundlichen, aufmunternden Worte und dafür, dass Sie und Ihre Kollegen mein Herz wiederhergestellt haben, sodass ich die Klinik als vollkommen Genesene verlassen werde.«
»Sie brauchen uns nicht zu danken. Wir haben nur unsere Arbeit getan«, erwiderte Dr. Norden. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen an mich?«
»Nicht dass ich wüsste«, meinte Karin und schüttelte den Kopf.
»Gut. Dann werde ich mich jetzt verabschieden und Ihren Ex-Mann, Herrn Binder, wieder hereinbitten. Er wartet bereits vor der Tür.«
Karins Augen begannen zu leuchten.
Wolfgang war also keine Einbildung, keine überirdische Erscheinung und auch keine Fata Morgana gewesen. Er war wirklich und echt neben ihrem Bett gesessen, hatte ihre Hand gehalten und mit ihr gesprochen.
»Ja, bitte lassen Sie ihn herein«, bat Karin und schaute erwartungsvoll zur Tür, bis Wolfgang erschien.
Erst jetzt konnte sie ihn genauer in Augenschein nehmen.
Er war in den Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten, gealtert, aber das tat seinem attraktiven Äußeren keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Seine Gesichtszüge waren herber geworden, was ihm einen gewissen Ausdruck von Stärke und Überlegenheit verlieh.
Seine Augen allerdings waren sich gleichgeblieben.
Sie blitzten noch immer voller Humor und Lebensfreude, und ihr liebevoller Blick wärmte das Herz.
»Karin!«
»Wolfgang!«
Mit Riesenschritten eilte Wolfgang an Karins Bett und beugte sich über sie, bis sein Gesicht dicht über ihrem war. Er hielt zögernd inne, als wollte er Karin die Möglichkeit geben, seinem Kuss auszuweichen. Als sie stattdessen bewegungslos verharrte, umfassten seine Lippen die ihren voller Zärtlichkeit und verhaltener Leidenschaft.
Es war ein Kuss wie in den Zeiten ihrer jungen Liebe.
Als sie sich wieder voneinander lösten, wollte Wolfgang sich einen Stuhl an Karins Bett ziehen, doch Karin bedeutete ihm, sich so nahe wie möglich zu ihr zu setzen.
»Woher hast du gewusst, dass ich hier in der Behnisch-Klinik liege?«, war die erste Frage, die sie Wolfgang stellte.
»Ein junger Mann namens Alex Norden hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass du krank bist und eine größere Operation vor dir hast. Er hat mir auch gesagt, dass er meine Telefonnummer von dir bekommen hat. Und er hat mir von dem Brief erzählt, den du in deinem Schränkchen für mich hinterlegt hast, weil du, wenn ich komme, vielleicht bereits im Operationssaal liegen würdest.«
Karin lächelte.
Was für ein feiner, einfühlsamer Mensch dieser Alex doch war! Insgeheim hatte sie gehofft, dass er Wolfgang schon vor der Operation verständigen würde, und er hatte offenbar ihre Gedanken erraten und die Schwingungen ihres Herzens gespürt.
»Und … hast du den Brief gelesen?«, erkundigte sich Karin.
Wolfgang nickte. »Jedes Wort, jede Zeile, jede Silbe, jeden Buchstaben«, versicherte er. »Der Brief war die erste Botschaft von dir, die ich seit Jahren bekommen habe, und sie war für mich so unendlich wertvoll. Sie hat meine Seele gewärmt. Und sie hat mich den Zank und die Streitigkeiten, die unserer Scheidung vorausgegangen sind, als völlig unwirklich und bedeutungslos empfinden lassen.«
»Wolfgang, ich …«
»Ich werde mich während deines restlichen Krankenhausaufenthalts und während der Zeit deiner Rekonvaleszenz so gut es geht auch um deine Münchner Kanzlei kümmern«, versprach Wolfgang. »Ich hoffe, dass ich dir damit einiges an Sorgen abnehme. Wenn ich es auch nie und nimmer schaffen werde, die Kanzlei mit deiner Tatkraft und deinem Geschick zu leiten.«
»Ich danke dir für deine Hilfe«, sagte Karin. »Dass du dafür sorgst, dass meine Kanzlei die Zeit meiner Krankheit einigermaßen unbeschadet übersteht, ist mehr als ich erwarten durfte, aber …«
»Aber?«
»Aber wirst du dann überhaupt noch Zeit haben, mich hin und wieder zu besuchen? Es wäre so schön, wenn du ab und an hier bei mir sein könntest. Als ich auf der Intensivstation deine Nähe gefühlt habe, war es wieder wie früher. Nein, eigentlich war es noch schöner.«
»Wirklich?«, gab Wolfgang zurück. »Dann … hast du das Gleiche empfunden wie ich.« Er ließ sich zurücksinken, sodass er halb auf Karin Walsers Bett saß und halb neben ihr lag.
Karin schmiegte ihren Kopf in seine Armbeuge, wie sie es früher immer getan hatte.
»Du hast in deinem Brief sehr viel von den Zeiten unserer ersten Liebe geschrieben«, meinte Wolfgang nach einer Weile. »Und alles war so lebendig, so nahe. Weißt du, ich habe dich, auch nachdem du die Scheidung durchgeboxt hattest, nie vergessen. Ich konnte es einfach nicht. Aber dass es dir offenbar genauso ergangen ist, hätte ich, ehrlich gesagt, nie für möglich gehalten. Umso glücklicher hat mich diese Entdeckung gemacht.«
»Ich habe in den letzten Tagen vor meiner Operation so vieles erkannt, was ich zuvor einfach verdrängt habe, was ich nicht begriffen habe und auch nicht begreifen wollte. Ich glaube, ich würde es inzwischen schaffen, die meisten meiner damaligen Fehler zu vermeiden. Nur frage ich mich, ob es jetzt nicht zu spät ist für uns beide.«
Wolfgang richtete sich wieder auf. »Du hast deinen Beruf und deinen Erfolg. Du hast deinen Weg gewählt. Das weiß ich, Karin. Das ist mir klar. Wenn es kein Zurück mehr gibt, muss ich das akzeptieren, und doch dachte ich bei der Lektüre deines Briefs, dass es einen Neuanfang geben könnte.«
»Es geht nicht um meinen Beruf. Es ist nur …« Karin druckste ein bisschen herum, dann sprach sie aus, was ihr mit einem Mal nicht mehr aus dem Kopf wollte. »Wenn es inzwischen eine andere Frau in deinem Leben gibt, Wolfgang, will ich mich nicht in eure Beziehung drängen.«
»Eine andere Frau?« Die Frage klang so erstaunt, als hätte Karin Wolfgang gefragt, ob er sich inzwischen eine Mondrakete gekauft habe.
Wolfgang musste lachen, er konnte einfach nicht anders.
»Wie sollte es eine andere Frau in meinem Leben geben, wenn ich immerzu an dich denken musste«, erwiderte er. »Und wenn ich in einem dunklen, staubigen Winkel meines Herzens nie aufgehört habe, darauf zu hoffen, dass wir irgendwann den Faden wiederaufnehmen und genau an der Stelle erneut zusammenknoten könnten, an der wir ihn zerrissen haben. Falls also auch du noch frei bist und die Worte deines Briefs wirklich ernst gemeint waren, bitte ich dich, es noch einmal mit mir zu versuchen. Möchtest du das?«
»Ja, ich möchte. Es kann doch nicht sein, dass eine große, himmelstürmende Liebe sich einfach im Sande verläuft.«
*
»Ist das nicht dieser junge Doktor? Dieser Alex, der zusammen mit dem unfreundlichen Dr. Rudolf mit dem Rettungswagen gekommen ist, als ich beim Fliesenlegen vom Badewannenrand gestürzt bin?« Leo Wemding zupfte Martha am Ärmel ihrer Jacke und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die andere Straßenseite.
Martha Weiß kniff die Augenlider zusammen. »Ja, ich glaube, das ist er«, antwortete sie. »Sollen wir uns bemerkbar machen und nach ihm rufen? Glaubst du, dass er uns noch erkennt?«
Leo Wemding zuckte die Schultern. »Einen Versuch ist es allemal wert«, meinte er und hielt seine zu einem Trichter geformten Hände vor seinen Mund. »Aalex! Herr Doktor Aalex!«
Alex schaute in die Runde, um herauszufinden, wer nach ihm rief.
Und ihm obendrein noch einen unverdienten Doktortitel verpasste, genau wie dieser Heimwerker, den er und Dr. Rudolf vor noch nicht allzu langer Zeit mit dem Rettungswagen abgeholt und in die Behnisch-Klinik gebracht hatten.
»Aalex! Herr Doktor Aalex!«
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Alex herausgefunden hatte, dass der Ruf von der gegenüberliegenden Straßenseite kam. Etliche weitere Augenblicke vergingen, ehe sich ihm endlich Gelegenheit bot, durch eine Verkehrslücke hinüber zu spähen.
»Herr Wemding! Frau Weiß!«, grüßte er zurück und wedelte mit den Armen.
Flink bahnte er sich zwischen Autos, Radfahrern und Fußgängern einen Weg zu den älteren Herrschaften.
»Das ist aber eine Überraschung, Sie ausgerechnet hier im Univiertel wiederzusehen«, begrüßte er die beiden. »Wie geht es Ihnen? Ist Ihre Hand schon wieder heil, Herr Wemding?«
»Noch nicht ganz«, antwortete Leo Wemding und zeigte Alex seine Rechte, die immer noch von einem leichten Verband bedeckt war. »Aber es geht schon wieder. Unkraut ist bekanntlich unkaputtbar.«
Alex musste lachen.
»Das Essen funktioniert auch schon wieder bestens. Die Handfütterung konnte ich bereits einstellen«, stimmte Martha Weiß in Alex’ Lachen ein. »Sogar das Autofahren ist mittlerweile wieder möglich. Nur mit dem Heimwerkern klappt es noch nicht so recht. Aber das ist nicht so tragisch.«
»Und ich dachte immer, du wärst stolz auf meine handwerklichen Fähigkeiten. Eigens dir zuliebe habe ich sie immer weiter ausgebaut«, tat Leo Wemding gekränkt.
»Ich bin in der Tat sehr stolz auf dein praktisches Talent«, räumte Martha ein, wobei sie Leo schelmisch zublinzelte. »In Anbetracht der Tatsache, dass du vor deiner Verrentung Buchhalter von Beruf warst, sind deine praktischen Fähigkeiten wirklich außerordentlich hoch entwickelt. Aber es gibt nicht umsonst dieses Sprichwort, das da besagt, dass allzu viel ungesund ist.« Sie wandte sich Alex zu. »Seit Leo seine Hand schonen muss, haben wir viel mehr Zeit füreinander. Und das finde ich absolut wunderbar.«
»Wir sehen zusammen fern, wir bummeln gemeinsam durch die Münchner City oder durch den Englischen Garten, wir lesen uns gegenseitig aus unseren Lieblingsbüchern vor und dergleichen Dinge mehr«, berichtete Leo. »Wir führen das Dasein professioneller Müßiggänger.«
»Dazu ist die Rente nun einmal da«, erklärte Martha und zupfte beinahe zärtlich Leos Krawatte zurecht.
»Trotzdem werde ich das Badezimmer auf alle Fälle noch heuer fertigmachen«, beharrte Leo. »Damit wir es endlich wieder benutzen können und nicht ständig unsere Zuflucht zu irgendwelchen unbequemen Notlösungen nehmen müssen. Wir sind in dieser Hinsicht mittlerweile zwar schon sehr erfinderisch geworden, aber …«
»Vorerst brauchen wir das Badezimmer nicht«, erklärte Martha. Sie drehte ihr Gesicht wieder Alex zu und rückte ihren Hut zurecht: »Wir verreisen nämlich. Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass Leo mich einmal auf einer Reise begleiten würde, aber er kommt tatsächlich mit. Ich kann es noch immer kaum fassen, doch die Flugtickets sind bereits gekauft, und das Hotel ist gebucht. In vierzehn Tagen starten wir.«
»Und was ist das Reiseziel?«, fragte Alex, mehr um Leo und Martha eine Freude zu machen, als aus wirklichem Interesse.
»Gran Canaria«, antworteten die beiden Senioren wie aus einem Munde.
»Gran … Gran Canaria?«, stotterte Alex. Unwillkürlich begannen seine dunklen Augen zu leuchten.
»Kennen Sie Gran Canaria, Alex?«, fragte Martha Weiß.
»Und ob«, erwiderte Alex. »Ich bin auf Gran Canaria geboren. Und habe dort meine Kindheit verbracht.«
»Dann kennen Sie wohl auch Maspalomas?«, vermutete Leo.
»Ja, natürlich. Der Strand ist wirklich wunderschön.«
»Wir reisen nach Maspalomas«, berichtete Martha stolz. »Ich habe von der Lebensversicherung meines verstorbenen Mannes ein wenig Geld auf dem Sparbuch. Und davon habe ich für mich und Leo ein exklusives Hotel gebucht. Dort braucht Leo nirgends Hand anzulegen. Wir schnippen mit dem Finger und schon bekommen wir, was wir brauchen.«
Leo seufzte. »Ich hoffe nur, dass uns in diesem Hotel nicht langweilig wird.«
»Nie im Leben. Es gibt einen Pool, in dem wir schwimmen können. Und es gibt Tanzabende.«
»Ich kann allerdings gar nicht tanzen, liebe Martha«, wandte Leo ein.
»Keine große Sache. Dann lerne ich es dir eben. Und du wirst sehen, dass es mindestens genauso viel Spaß macht wie Heimwerkern. Vielleicht sogar noch mehr.«
Leo legte seinen Arm um Marthas Schultern und zog sie an sich.
»Im Grunde gefällt mir alles, womit ich dir eine Freude machen kann, Martha«, versicherte er treuherzig.
»Ja, das stimmt«, pflichtete Martha ihm bei und fügte, zu Alex gewandt, hinzu: »Mit meinem Leo habe ich das große Los gezogen. Nach meiner glücklichen ersten Ehe habe ich nun einen zweiten Haupttreffer gelandet.«
Die beiden Senioren schauten sich verliebt in die Augen.
Fast wurde Alex ein wenig neidisch, als er daran dachte, dass Sina immer noch bei ihrer Schulfreundin wohnte.
Sina konnte ihn nicht wirklich lieben. Zumindest nicht so sehr, wie Martha ihren Leo liebte.
Sonst wäre sie längst in die Glockenbachstraße zurückgekommen.
»Tja, wir müssen dann wohl wieder weiter«, unterbrach Martha Weiß Alex’ schwarze Gedanken. »Wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihre Zukunft, Alex. Leben Sie wohl.«
»Ja, leben Sie wohl. Und bleiben Sie so, wie Sie sind«, fügte Leo hinzu. »Genauso herzlich und genauso sympathisch.«
»Ich werde mir redlich Mühe geben«, grinste Alex.
Versonnen schaute er den beiden älteren Herrschaften noch eine Weile nach.
Wer Leo und Martha nicht kannte, hätte sie für ein altes Ehepaar halten können, das geradewegs auf die Goldene Hochzeit zusteuerte.
Dabei kannten sie sich gerade einmal so lange wie er und Sina sich kannten.
Alex atmete ein paar Mal tief durch und griff dann in die Seitentasche seiner Jeans, wo er seinen Bibliotheksausweis verstaut hatte.
Er würde sich als erstes die Bücher abholen, die er in der Staatsbibliothek bestellt hatte, und sich dann mit Britt Gäbel und Andreas Hofstetter treffen. Immerhin war heute der große Tag, an dem er erfahren würde, was Professor Herrenbach von den Plänen hielt, die sie für die kommenden Sitzungen der Forschungsgruppe gemacht hatten.
Wenn der Professor ihnen die Leitung wirklich und endgültig anvertraute, würde das für sie alle ein Riesenerfolg sein.
Natürlich war es bereits beschlossene Sache, diesen Erfolg gehörig zu feiern.
Sogar Britt Gäbel hatte nach einigem Zögern zugesagt.
Im Geiste sah Alex sich schon mit ihr und Andreas bei Bier und einer Pizza sitzen, stolz auf das, was sie erreicht hatten.
*
Mit Riesenschritten eilte Alex zu seinem Spind in der Behnisch-Klinik, um sich umzuziehen.
»Schalt mal einen Gang herunter«, mahnte Chris, der junge Krankenpfleger. »Oder trainierst du neuerdings für Olympia?«
»Quatsch«, antwortete Alex. »Ich will nur so schnell wie möglich aus diesen Klamotten schlüpfen und mir wieder mein normales Outfit überziehen. Ich komme mir wie ein Lackaffe vor mit dem gebügelten und gestärkten Hemd. Fehlt nur noch die Krawatte.«
»Na, dann viel Spaß beim Umziehen«, lachte Chris, gab Alex High Five und ging seiner Wege.
Alex ließ sich, als er den Umkleideraum erreicht hatte und ihn zu seiner Erleichterung leer fand, dann aber doch erst einmal auf den in der Mitte stehenden Stuhl fallen.
Er konnte noch immer kaum glauben, dass er schon wieder als Trauzeuge fungiert hatte.
Und zwar diesmal bei der Hochzeit von Wolfgang Binder und Karin Walser.
Die beiden hatten nicht einmal Karins Entlassung aus dem Krankenhaus abwarten wollen, sondern den Standesbeamten kurzerhand in Karins Krankenzimmer in der Behnisch-Klinik bestellt, um sich dort ein zweites Mal das Jawort zu geben.
Sie hatten während der Zeremonie überaus glücklich gewirkt und sich nicht einmal darüber geärgert, dass der zweite Trauzeuge, ein Praktikant aus Karins Kanzlei, kurzfristig abgesagt hatte. Stattdessen hatten sie sich darüber gefreut, dass Chris, der Krankenpfleger, spontan eingesprungen war, sodass alles wieder seine Richtigkeit gehabt hatte.
In den Tagen vor der zweiten Hochzeit hatte das Paar bereits eifrig Zukunftspläne geschmiedet.
Aus Karins Münchner Kanzlei, so hatten die beiden beschlossen, sollte eine neue Kanzlei »Walser und Binder« werden, die sie wieder gemeinsam führen wollten. Wie in ihren Anfangsjahren in Augsburg.
Auf die Ausübung ihres Berufs hatte Karin nicht verzichten wollen, aber sie hatte sich Wolfgang gegenüber kompromissbereit gezeigt und angekündigt, in Zukunft das Privatleben nicht mehr ständig zugunsten der Arbeit zu vernachlässigen.
Auch eigenen Kindern schien Karin nicht mehr abgeneigt.
Dass Alex einen entscheidenden Beitrag zu Wolfgangs und Karins wiedergefundenem Glück hatte leisten können, erfüllte ihn mit Stolz und Genugtuung.
Und versüßte ihm zumindest ein klein wenig die bittere Enttäuschung, die er mit Professor Herrenbach erlebt hatte.
Der Professor hatte ihn, Britt und Andreas in seinem Büro mit aller Freundlichkeit zu der vereinbarten Besprechung empfangen. Sogar Kaffee und Kekse hatte er ihnen angeboten und ihnen damit das Gefühl gegeben, schon fast so etwas wie privilegiert zu sein.
Doch der Paukenschlag war auf den Fuß gefolgt.
Mit gerunzelter Stirn hatte Professor Herrenbach sich wortlos die Ausführungen der drei Studenten angehört. Er hatte keinen von ihnen auch nur mit einem einzigen Wort unterbrochen, was zumindest Alex, der sich über ein wenig mehr Rückmeldung gefreut hätte, nervös und unruhig gemacht hatte.
Selbst als Britt, die ihren Anteil an der gemeinsamen Arbeit als Letzte vorgetragen hatte, am Ende ihrer Berichterstattung angekommen war und verstummte, hatte der Professor noch eine Weile geschwiegen.
Dann hatte er nach ihren Folien und Skripten gegriffen und sie mit mehr als skeptischer Miene durchgeblättert.
»Sind Sie mit unserer Arbeit zufrieden, Herr Professor?«, hatte Andreas Hofstetter schließlich gefragt, als das Schweigen allzu drückend geworden war.
Professor Herrenbach hatte lange nachgedacht, dann hatte er mit Entschiedenheit den Kopf geschüttelt.
»Wie ich sehe, haben Sie sich sehr viel Mühe gegeben und sehr viel Arbeit investiert«, hatte er, ein zynisches Lächeln auf den Lippen, gesagt. »Trotzdem stehen die Ergebnisse, die Sie erzielt haben, leider in keinem Verhältnis zu dem von Ihnen betriebenen Aufwand. Besonders die Arbeit von Herrn Norden zeichnet sich durch Dürftigkeit aus und hat meine Erwartungen in keinster Weise erfüllt. Herr Hofstetter hat sich halbwegs wacker geschlagen, Frau Gäbel ebenfalls, auch wenn bei beiden trotz allem noch einiges im Argen liegt.«
»Und das bedeutet?«, hatte Andreas sich weiter erkundigt.
»Das bedeutet, dass ich Ihnen die Leitung der Forschungsgruppe leider nicht anvertrauen kann. Kein einziger von Ihnen hat eine Leistung erbracht, die ein derart hohes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten rechtfertigen würde.«
Alex sah vor seinem geistigen Auge noch einmal die völlig konsternierten Gesichter seiner Studienkollegen auf der einen, und die spöttisch zugespitzten Lippen Professor Herrenbachs auf der anderen Seite.
»Da ich in meiner vorausschauenden Art die Möglichkeit einer Fehlleistung Ihrerseits von Anfang an in Betracht gezogen habe, habe ich aber vorgesorgt«, hatte Professor Herrenbach gesagt. »Professor Dr. Sonntag von der Universität Freiburg, ein guter Freund von mir, wird ab nächster Woche die Leitung der Forschungsgruppe übernehmen. Ich bedanke mich bei Ihnen allen für Ihre Mühen und wünsche Ihnen weiterhin viel Spaß und guten Erfolg in meiner Forschungsgruppe.«
Mit diesen Worten hatte Professor Herrenbach sie entlassen.
Auf dem Vorplatz der Universität waren sie dann noch eine Weile beieinandergestanden und hatten ihrer Wut und ihrer Enttäuschung Luft gemacht.
»Dein Beitrag war meiner Ansicht nach der beste, Alex«, hatte Britt Gäbel gesagt. »Deshalb hat dieses Monster von einem Professor dich auch am härtesten kritisiert.
Andreas Hofstetter hatte Britt beigepflichtet, aber die Unterstützung der Studienkollegen, so gut gemeint sie auch gewesen war, war für Alex nur ein schwacher Trost gewesen.
Er hatte Tage gebraucht, bis er die Enttäuschung verdaut hatte.
Selbst jetzt fiel es ihm noch schwer, sich damit abzufinden, dass all seine Arbeit und all seine Hoffnungen in den Wind geschrieben waren.
Mit einem Seufzer erhob Alex sich, knöpfte das elegante schwarze Hemd auf und zog es aus. Erleichtert streifte er sich wenige Sekunden später sein hellgraues T-Shirt über den Kopf und warf sich seinen Rucksack über die Schulter.
Alissa hatte vollkommen recht gehabt.
Und auch Sina hatte mehr Gespür für Professor Herrenbachs tatsächliche Intentionen gehabt als er selbst.
Wenn Sina spätestens in der nächsten Sitzung der Forschungsgruppe unter der Leitung von Professor Sonntag von seiner Niederlage erfuhr, würde sie ihn auslachen und sich über ihn amüsieren.
Und es war ihr nicht einmal zu verdenken.
Fast mit Gewalt lenkte Alex seinen Gedanken zurück zu Wolfgang Binders und Karin Walsers Krankenhaushochzeit und zu dem Glück und der Liebe, die den beiden regelrecht aus dem Gesicht gestrahlt hatte.
Er beschloss, sich unverzüglich auf sein Motorrad zu schwingen und nach Hause zu fahren. Er würde dort alles, was er in jüngster Zeit noch für Professor Herrenbach gearbeitet hatte, rigoros von seinem Laptop löschen und anschließend für eine Stunde in der Parkanlage am Glockenbach joggen gehen.
Den Spätnachmittag und den Abend würde er dann mit den Büchern verbringen, die er sich aus der Staatsbibliothek ausgeliehen hatte.
Als Alex die Behnisch-Klinik verließ, warf er noch einen kurzen Blick zum Fenster von Karin Walsers Krankenzimmer empor. Zu seiner Überraschung sah er Karin und Wolfgang Arm in Arm dort stehen und winkte ihnen zu.
Allerdings hätte er dadurch um ein Haar seinen Onkel übersehen, der, Sina im Schlepptau, direkt auf ihn zukam.
Am liebsten hätte Alex sich unsichtbar gemacht oder in irgendeinem Winkel gewartet, bis die beiden außer Sichtweite waren, doch sie hatten ihn schon entdeckt.
»Hallo, Alex, gut dass ich dich treffe«, rief sein Onkel und kam mit schnellen Schritten näher. »Gerade habe ich Sina aus Tonios Krankenzimmer geholt, um mit ihr zu sprechen. Es geht um Tonio. Sinas Idee, ihm eine Freude zu machen und die Reise in die Toskana vorzuziehen, kann ich leider nicht gutheißen. Das Risiko wäre zu groß. Es muss sich schließlich im Laufe der nächsten Wochen erst herausstellen, ob die Medikamentendosis bis auf Weiteres die richtige ist. Ich habe Tonio, als er mir von der geplanten Reise erzählt hat, meinen Standpunkt bereits erläutert. Er war enttäuscht, aber sehr einsichtig. Vielleicht könntet ihr statt der Reise in die Toskana ein paar Ausflüge, Feste oder dergleichen organisieren, die Tonio in den nächsten Wochen von den Gedanken an seine Krankheit ablenken. Vom Prinzip her war die ›Therapie‹, die Sina sich ausgedacht hatte, nämlich durchaus lobenswert und erfolgversprechend.«
Sina und Alex tauschten verlegene Blicke.
Als Dr. Norden sich verabschiedet hatte und in der Behnisch-Klinik verschwand, blieben sie eine Weile regungslos voreinander stehen.
»Du hast gehört, was Dr. Norden gesagt hat«, begann Sina schließlich. »Es tut mir leid, dass ich damals, nach dem Besuch bei Tonio, so heftig geworden bin. Aber ich war einfach am Ende meiner Kraft. Und dass ich mich von dir trennen will, wenn du uns nicht zum Familientreffen begleitest … ist nicht wahr. Ich habe das nicht so schlimm gemeint, wie es möglicherweise geklungen hat. Wirklich nicht. Aber nun hat sich das Treffen fürs Erste ja ohnehin erledigt. Du kannst also zusammen mit Britt Gäbel und Andreas Hofstetter …«
Sina verstummte, als Alex den Kopf schüttelte.
»Du hast das Vorhaben aufgegeben?«, fragte sie erschrocken. »Obwohl du schon so viel gearbeitet hast? Und obwohl du, völlig zu Recht, so stolz darauf warst? Du … du hast das doch nicht meinetwegen getan, oder?«
Wieder schüttelte Alex den Kopf.
Auch wenn Sina nun vielleicht von Neuem enttäuscht war, konnte und wollte er ihr nicht einfach ein Lügenmärchen auftischen.
Stattdessen berichtete er wahrheitsgemäß, was aus seinen offenbar allzu ehrgeizigen Plänen geworden war.
Sina hörte ihm erst eine Weile nur schweigend zu, dann griff sie zaghaft, fast als fürchtete sie Gegenwehr, nach seiner Hand.
»Das … das tut mir so leid für dich, Alex«, sagte sie voll ehrlichen Mitgefühls. »Obwohl ich ein bisschen eifersüchtig auf deine neue Arbeit für die Forschungsgruppe war, weil du dadurch noch weniger Zeit für mich hattest, habe ich mir die ganzen Skripten und Vorlagen an deinem Laptop durchgelesen. Zwar habe ich die Hälfte davon nicht verstanden, aber das, was ich begriffen habe, fand ich große Klasse. Der Prof hat dich ungerecht behandelt, Alex. Vor allem dich, aber auch Britt und Andreas. Lasst euch von soviel Gemeinheit nicht beeindrucken und glaubt weiter an euch.«
Alex war gerührt über Sinas Worte.
»Du bist ein Schatz, Sina«, sagte er. »Ich werde mir genügend Zeit nehmen für die ›Ablenkungsmanöver‹«, die Dr. Norden für Tonio in der Zeit nach seiner Entlassung vorgeschlagen hat. Ich verspreche es dir. Ich will Tonio doch auch helfen. Immerhin ist er dein Bruder und der Mann meiner Cousine. Und … und im Sommer, spätestens aber im Herbst, fahren wir allen Ernstes zusammen mit Tonio, Julia und deinen Eltern in die Toskana. Aufgeschoben ist schließlich nicht aufgehoben.«
Sina nickte, trat dann einen Schritt auf Alex zu und legte ihre Arme um seinen Hals und ihren Kopf an seine Schulter.
»Magst du mich überhaupt noch, nach allem, was ich zu dir gesagt und nicht gehalten habe?«, fragte sie leise.
Alex gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. »Hmm. Da bin ich mir leider gar nicht sicher. Ich fürchte, das muss ich mir erst noch überlegen«, flüsterte er, während seine Lippen sanft über Sinas Gesicht zärtelten. »Aber wenn mich nicht alles täuscht, wird meine Überlegung ein positives Ergebnis erbringen. Vielleicht bin ich ein ziemlicher Idiot, aber ich … ich liebe dich einfach über alles. Egal, was du tust.«
»Das ist schön«, sagte Sina. »Ich liebe dich nämlich auch. Außerdem fürchte ich, dass ich meiner Schulfreundin von früher, seit ich bei ihr wohne, ganz schön auf die Nerven gegangen bin. Vor allem, weil ich andauernd von dir geredet habe. Zuerst hab ich gegen dich gewettert, und meine Freundin hat eingestimmt. Aber dieser Zustand hat nicht lange gedauert. Dann hab ich angefangen, ihr zu erzählen, wie viel du mir bedeutest. Sie hat mir geduldig zugehört. Und schließlich hat sie auch noch meine Selbstvorwürfe, ich hätte mich dir gegenüber unmöglich benommen, klaglos über sich ergehen lassen. Sie ist wirklich eine gute Freundin, findest du nicht auch?«
»Könnte man so sehen«, pflichtete Alex Sina bei.
»Allerdings habe ich keine Ahnung, wie lange sie das alles noch aushält«, fuhr Sina fort.
»Du nimmst an, dass sie dich bald an die Luft setzt?«, fragte Alex.
Sina zuckte die Schultern. »Nicht dass sie mir damit gedroht hätte, aber … ich habe in letzter Zeit einfach dauernd das ungute Gefühl, dass es trotzdem nicht mehr sehr lange dauern wird, bis ihr der Kragen platzt.«
Alex legte in gespielter Nachdenklichkeit den Kopf schief. »Dann solltest du dir vielleicht in absehbarer Zeit eine andere Bleibe suchen. Hast du noch mehr Freundinnen aus deiner Schulzeit, die dir vorübergehend Obdach bieten könnten?«
Sina bedachte Alex mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Keine einzige«, sagte sie. »Keine, die in Frage käme.«
Alex grinste. »Das ist allerdings eine sehr prekäre Situation, in der du dich da befindest«, stellte er fest. »Du könntest wieder zu deinen Eltern ziehen. Oder in ein Hotel. Zumindest solange, bis dein Geld aufgebraucht ist. Die Brücken von Paris – pardon, die Brücken von München – wären natürlich auch eine praktikable Lösung. Besonders im Sommer.«
Sina fuhr sachte mit dem Zeigefinger die Konturen von Alex’ Lippen nach.
»Und wie wäre es mit der hübschen kleinen Dachwohnung in der Glockenbachstraße?«, schlug sie vor. »Es ist dort wirklich sehr gemütlich. Ich glaube, dort könnte es mir gefallen.«
»Ach ja?«, neckte Alex. »Leider weiß ich nicht, ob dort noch ein Zimmer frei ist.
»Wir könnten einfach zusammen hinfahren und nachsehen«, sagte Sina. »Und wenn etwas frei ist, dann … dann könnte ich ja dortbleiben.«
Alex konnte sich das Lachen kaum noch verkneifen. »Das könntest du sehr wohl, aber es wird nur funktionieren, wenn wir zusammen hinfahren.«
»Nichts lieber als das«, lächelte Sina.
»Allerdings«, wandte Alex ein, »taucht in diesem Zusammenhang leider schon wieder ein neues Problem auf.
»Ach ja?«
»Ach ja. Ich kann dich nämlich nur mitnehmen, wenn du zu mir auf mein Motorrad steigst.«
Sina schluckte.
Der bloße Gedanke an eine Fahrt auf dem Rücksitz von Alex’ knatternder Maschine bewirkte, dass ihr Magen sich anfühlte, als hätte sie einen Felsbrocken verschluckt.
»Geht es denn nicht auch anders?«, versuchte sie, den gefürchteten Höllentrip in letzter Minute noch abzuwenden.
»Nein, das Motorrad ist die einzige Möglichkeit«, beharrte Alex mit einem süffisanten Grinsen.
Sina schluckte und überlegte fieberhaft, welche Strategien ihre Gegenwehr stärken könnten, gab es dann aber auf. Schließlich hatte auch sie Alex nach dem Besuch bei Tonio sozusagen das Messer auf die Brust gesetzt. Es war also sein gutes Recht, sich zu revanchieren.
»Dann nehmen wir also das Motorrad«, gab sie nach.
Wenig später saß sie bereits auf dem Rücksitz von Alex’ Honda, den Ersatzhelm auf dem Kopf und die Hände ganz fest um Alex’ Hüften geschlungen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Alex, der sein rigoroses Vorgehen schon fast wieder bereute.
»Ich hab keine Angst«, kam es zu seiner Überraschung von Sina. »Weil wir zusammengehören. Und deshalb würde ich dir sowieso überallhin folgen. Selbst wenn ich, um mit dir zusammen zu sein, auf einem Löwen durch die Wüste reiten müsste.«