Читать книгу Kelter Media Adventskalender 1 - Michaela Dornberg - Страница 6
ОглавлениеSpäter konnte Scheich Ahmed nicht mehr sagen, wie er in seine Privatklinik gekommen war. Er kam erst wieder zu sich, als er im Laufschritt hinter Dr. Daniel Norden her durch die Klinikflure eilte. Schließlich erreichten sie die Gynäkologie, wo Leila, die Frau des Scheichs, auf einen Notkaiserschnitt vorbereitet wurde.
»Da sind Sie ja!« Eine Schwester begrüßte die beiden atemlosen Männer und wandte sich direkt an Dr. Norden. »Professor Masud erwartet Sie schon im OP.«
»Ich will auch bei der Operation dabei sein!«, hörte sich Ahmed zu seiner Verwunderung sagen.
Auf der Fahrt hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, wie es in der Klinik weitergehen würde.
Die Schwester wollte schon entsetzt widersprechen, als Dr. Norden ihr ein stummes Zeichen gab, ehe er sich selbst an den Scheich wandte.
»Ich würde Ihnen empfehlen, hier zu warten«, erklärte er sehr sanft, um Ahmed nicht noch mehr aufzuregen. »So ein Kaiserschnitt ist etwas anderes als eine normale Geburt. Noch dazu, wenn es sich um eine Notoperation handelt. Es könnte sein, dass es zu dramatischen Szenen kommt, die Sie nicht richtig einordnen können, zumal Ihr Kind viele Wochen zu früh auf die Welt kommt«, versuchte er, den Scheich so behutsam wie möglich von diesem Plan abzubringen.
Der Scheich überlegte nicht lange.
»Einverstanden!« Insgeheim war er dem deutschen Arzt dankbar für diesen Einwand. »Aber bitte informieren Sie mich sofort, sobald Sie Gewissheit haben, wie es Leila und meiner Tochter geht«, bat er inständig und vor Sorge bleich wie seine weiße Dischdascha, das traditionelle Gewand orientalischer Männer.
»Sie können sich auf mich verlassen«, versprach Daniel und nickte der sichtlich ungeduldigen Schwester zu.
Sie hatte dem Professor versprochen, den deutschen Arzt sofort in den Operationssaal zu bringen, sobald er in der Klinik angekommen war.
Während Dr. Norden ihr in den Vorraum zum OP folgte, wo er seine Straßenkleidung gegen eine sterile grüne Hose und ein ebensolches Hemd tauschte, lehnte sich der Scheich gegen die kühle Wand und schloss die Augen. Schwer atmend versuchte er, einen klaren Gedanken zu fassen. Das, was seine schöne junge Frau aushalten musste, war nur schwer zu ertragen für ihn. Und wieder einmal überkamen ihn entsetzliche Schuldgefühle.
»Warum konnte ich ihre unendliche, bedingungslose Liebe nicht würdigen?«, fragte er sich zum wohl tausendsten Mal verzweifelt. »Warum musste sie so furchtbar krank werden, ehe ich erkannte, was ich besitze?«
Zutiefst bereute er, dass er die Anwesenheit der wunderschönen jungen Frau in seinem Leben als Selbstverständlichkeit angesehen und sich nicht davor gescheut hatte, anderen Frauen den Hof zu machen und sie nach allen Regeln der Kunst zu verführen. Nicht umsonst war der Scheich des reichen Sultanats weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt als Frauenheld.
»Wie konnte ich nur?«, fragte er sich immer und immer wieder. Und obwohl Dr. Norden ihm mehrfach versichert hatte, dass keinesfalls psychische Gründe für den Zusammenbruch seiner schönen, klugen Leila verantwortlich gewesen waren, so fühlte er sich dennoch tief in ihrer Schuld. »Das ist die gerechte Strafe des Himmels dafür, dass ich mich so schändlich verhalten habe«, wiederholte er auch im Klinikflur seine tiefste Überzeugung. »Aber warum lässt der Himmel meine Leila leiden und nicht mich? Sie hat doch nichts verbrochen.« So sehr sich Ahmed dagegen sträubte, konnte er die bitteren Tränen doch nicht zurückhalten.
Obwohl er sich seit dem Ausbruch von Leilas Krankheit unermüdlich um seine Frau kümmerte, kaum von ihrem Krankenbett wich und alles Menschenmögliche tat, um ihr zu helfen, fühlte er sich schäbig und schlecht.
»Kommen Sie!« Als er spürte, wie sich eine Hand sanft auf seine Schulter legte, zuckte er zusammen und fuhr herum. Gleichzeitig wischte er sich rasch mit dem Ärmel der Dischdascha über die Augen. Schwester Indra lächelte ihn verständnisvoll an und tat so, als hätte sie seine Tränen nicht gesehen. Sie wusste, wie stolz der Scheich war, und wollte ihn in dieser angespannten Lage nicht auch noch blamieren. »Im Augenblick können Sie nichts für Ihre Frau tun. Warum machen Sie es sich nicht im Wartezimmer bequem? Von dort haben Sie den Operationssaal direkt im Blick und sehen sofort, wenn sich etwas tut.«
Mit diesem Vorschlag war der Scheich mehr als einverstanden. Erst als er sich in einen der bequemen Sessel setzte, fühlte er die Schwäche in den Gliedern und legte die zitternden Hände auf die Knie. Gebäck und heiße und kalte Getränke standen bereit. Doch er hatte keinen Hunger.
*
Über dem Operationssaal blinkte ein Schild »Nicht eintreten! Operation!« Dahinter herrschte die von Daniel Norden prophezeite Hektik.
Die Geburt des Kindes stand unmittelbar bevor. Mit sicheren, geübten Handgriffen setzte Professor Masud die Schnitte. Dann war es so weit.
»Fruchtwasser absaugen!«, verlangte er, als er die Fruchtblase öffnete.
Mit einem Griff fasste er in die Bauchhöhle der schlafenden Leila und holte ein winzig kleines Baby hervor.
»Herzlich Willkommen, kleine Prinzessin!« Dr. Daniel Norden, der Professor Masud assistierte, begrüßte den neuen Erdenbürger gerührt.
Das Gesichtchen des kleinen Mädchens war krebsrot und verzerrt. Es wand sich in den großen Händen des Arztes und öffnete den Mund. Doch es kam nur ein leiser, krächzender Ton heraus.
Ein Kinderarzt stand schon an seiner Seite bereit, um das Frühchen in einem angewärmten Tuch in Empfang zu nehmen.
»Schleim absaugen«, wies er die Krankenschwester an, die neben ihm stand, und legte den Säugling auf einen Tisch unter eine Wärmelampe.
Eine andere Schwester hielt eine Sauerstoffmaske über das kleine Gesichtchen, während der Arzt die Vitalwerte des Kindes überprüfte. Um die nötigen Medikamente zu verabreichen, musste er eine Nadel in eine feine Vene im Fuß des kleinen Mädchens legen. Nachdem das Kind stabilisiert war, bettete er es behutsam in einen bereitstehenden Brutkasten. Die richtige Lagerung des Säuglings war dabei unerlässlich, um einer drohenden Hirnblutung vorzubeugen.
»Das wäre geschafft«, seufzte er erleichtert, als Sauerstoffzufuhr, Luftfeuchtigkeit und Temperatur geregelt waren.
Das gesamte Ärzteteam hatte unter Hochdruck gearbeitet. Die Tatsache, dass es sich bei dem Frühgeborenen um eine kleine Prinzessin handelte, die möglicherweise einmal die Geschicke des Landes lenkte, hatte den Druck noch zusätzlich erhöht. Dr. Norden und Professor Masud tauschten erleichterte Blicke.
»Die Prinzessin muss sofort auf die Pädiatrie verlegt und dort intensiv überwacht werden«, erklärte der Kinderarzt in Richtung der Kollegen, die sich inzwischen um die Versorgung der schlafenden Sheikah gekümmert hatten.
Jetzt handelte es sich nur noch um Routinearbeiten, die den Ärzten und Schwestern gut von der Hand gingen. Als die Last von ihren Seelen genommen war, machte sich fast so etwas wie Übermut im Operationssaal breit, der sich positiv auf den Zustand der Sheikah auswirkte.
*
Scheich Ahmed sprang im selben Moment auf, in dem das rote Licht erlosch. Gleich darauf öffnete sich die Tür zum Operationssaal, und Ärzte und Schwestern, allen voran Professor Masud und Dr. Daniel Norden, kamen mit besorgten Gesichtern heraus. Sie schienen in großer Eile zu sein.
Mit wenigen Schritten war der Scheich bei den Ärzten.
»Alles in Ordnung?«, fragte er bangen Herzens.
»Das können wir noch nicht so genau sagen«, erwiderte Professor Masud geistesabwesend.
Er war so konzentriert, dass er nur am Rande wahrnahm, mit wem er es zu tun hatte.
Es war Dr. Daniel Norden, der sich des besorgten Ehemanns annahm.
»Leila liegt noch in Narkose. Ihre Vitalfunktionen sind stabil, und ganz offensichtlich hat sie den Eingriff gut überstanden«, versuchte er, den Scheich wenigstens für den Moment zu beruhigen. »Sie wird gerade noch versorgt und dann auf die Intensivstation zur engmaschigen Kontrolle und Überwachung gebracht.«
»Und das Baby?«, stellte Ahmed die Frage, die ihm am meisten auf der Seele brannte.
»Ihre Tochter wird gleich gebracht.« Daniel war stehen geblieben und wartete gemeinsam mit Ahmed auf den Kinderarzt, der den Inkubator begleitete. »Hier!«
Noch vor kurzer Zeit war der Scheich bitter enttäuscht gewesen, als er erfahren hatte, dass er statt des ersehnten Sohnes eine Tochter bekommen würde. Doch inzwischen hatte sich alles geändert. Aufgeregt wie selten zuvor in seinem Leben beugte er sich über den Inkubator, der ein wenig aussah wie ein Aquarium, und hieß sein Kind willkommen. Und erschrak zu Tode.
»Aber …, aber …« Ahmeds Herz raste, als er Daniel einen panischen Blick schickte. »Sie ist ganz blau …, und was sind das für Haare auf ihrem Körper?« Entgeistert starrte er auf den Winzling mit bläulich verfärbter Haut, der zwischen den Schläuchen und medizinischen Geräten kaum auszumachen war. »Sie sieht ja aus wie ein Affe.«
Daniel Norden ahnte, dass der Scheich grenzenlos überfordert war, möglicherweise sogar unter Schock stand.
»Die sogenannte Lanugobehaarung trägt dazu bei, dass die Käseschmiere am Körper des Säuglings haften bleibt. Beides schützt die empfindliche Haut davor, im Fruchtwasser aufzuweichen«, klärte er den frisch gebackenen Vater über den Nutzen dieser Behaarung auf, die von selbst verschwinden würde. »Außerdem dient sie zum Schutz vor Vibrationen, vor Schall und Druck.«
Ahmed nickte, ohne den Blick vom Brutkasten zu wenden. Wie gebannt starrte er auf seine kleine Tochter. In diesem Augenblick geschah das große Wunder: Das Mädchen öffnete die Augen. Und obwohl Neugeborene ihre Umgebung nur schemenhaft und undeutlich wahrnehmen, da die Sehschärfe noch nicht komplett ausgebildet ist, blieb sein Blick endlich an dem seines Vaters hängen.
»Sie sieht mich an! Schauen Sie sich das an!«, rief Ahmed wie vom Donner gerührt. »Meine Tochter sieht mich an.« Er hatte Daniel Norden am Arm gepackt und schüttelte ihn.
»Wir müssen weiter!«, unterbrach der Kinderarzt den Herrscher ungeduldig und trieb seine Mitarbeiter zur Eile an.
Trotz seiner Aufregung blieb Ahmed nichts anderes übrig, als gemeinsam mit Dr. Norden zur Seite zu treten und der kleinen Prozession nachzusehen, bis sie um die Ecke verschwunden war.
Erst dann besann er sich auf das Wesentliche.
»Ist meine Tochter krank? Ich meine, behindert?«, fragte er fast scheu, so sehr fürchtete er sich vor der Wahrheit.
Erschöpft fuhr sich Daniel Norden über die Augen. Die Tage im Sultanat waren lang und anstrengend, und auch dieser Notfall forderte seinen Tribut. Er fühlte sich müde und ausgelaugt.
»Soweit die Kollegen die Sachlage bisher beurteilen konnten, scheint die kleine Prinzessin gesund zu sein.« Dr. Norden drehte sich langsam zu Scheich Ahmed um und sah ihm ernst ins Gesicht. »Ihre Frau hat eine großartige Leistung vollbracht und in ihrem Zustand ein offenbar gesundes Kind zur Welt gebracht. Meines Wissens ist das ein bisher einzigartiger Fall in der Geschichte der Medizin.«
»Sie meinen …«, der Scheich konnte es nicht fassen und rang mit den Worten, »dass meine Tochter eines Tages ein ganz normales Leben führen wird? Dass sie nicht behindert sein wird?« Noch immer klangen ihm die Worte des Neurologen Dr. Fahim im Ohr, der weder der jungen Sheikah noch dem Baby eine Chance hatte geben wollen. Es war nur Dr. Nordens hartnäckigem und unermüdlichem Einsatz zu verdanken, dass alles Menschenmögliche für Leila und das Ungeborene getan worden war. Mit Erfolg, hatte doch die junge Frau nach und nach ein paar ihrer Fähigkeiten zurückgewonnen. Erst kurz vor dem dramatischen Notkaiserschnitt hatte der Scheich alles in die Wege geleitet, damit seine Frau nach Hause zurückkehren konnte. Doch nun stand es in den Sternen, wie es mit Leila weitergehen würde. Welche Folgen der Eingriff auf ihre Gesundheit und ihre körperlichen Fähigkeiten hatte.
»Ich bin sicher, dass die Geburt und die Tatsache, dass ihr Kind gesund ist, Leila anspornen wird.« Dr. Daniel Norden schien die Gedanken des Scheichs lesen zu können und nickte dem Mann, mit dem ihn inzwischen eine stille, aber nicht minder tiefe Freundschaft verband, innig zu.
Seit der mächtige orientalische Herrscher den deutschen Arzt und seine Familie in sein Reich eingeladen hatte mit der Bitte, seinen an einer geheimnisvollen Krankheit leidenden Sohn Hasher zu behandeln, war eine enorme Veränderung mit Ahmed vor sich gegangen, die Daniel niemals für möglich gehalten hätte und die ihn zutiefst beeindruckte.
»Ich glaube, dass wir bis jetzt die richtigen Entscheidungen getroffen haben.« Während der deutsche Arzt sprach, öffnete sich erneut die Tür zum Operationssaal.
Eine Schwester sah sich suchend um. Als sie die beiden Männer auf dem Flur beieinander stehen sah, erhellte sich ihre Miene.
»Ihre Frau wacht gerade auf«, informierte sie den Scheich. »Die Anästhesistin meinte, Sie können die Sheikah jetzt sehen. Das tut ihr sicher gut und beruhigt sie.«
Ahmed schickte seinem Freund Daniel einen unsicheren Blick. Der nickte auffordernd.
»Worauf warten Sie noch?«
*
Vorsichtig, fast ein bisschen ängstlich, trat Scheich Ahmed ans Bett seiner Frau. Und erschrak. Obwohl Leila in der Zwischenzeit wieder gelernt hatte zu lächeln, sich ein wenig zu bewegen, rührte sie sich in diesem Augenblick nicht. Statt dessen lag sie stocksteif auf dem Bett und starrte mit weit aufgerissenen Augen an die Decke.
Ahmed schluckte. Ein Glück, dass Daniel Norden hinter ihm stand. Den Freund in der Nähe zu wissen, gab ihm Kraft. Er beugte sich weit über seine Frau, damit sie ihn sehen konnte.
»Meine Gazelle, du Fixstern an meinem Firmament«, raunte er ihr heiser zu. »Wie geht es dir?«
Doch Leila reagierte nicht, und der Scheich bekam es mit der Angst zu tun. Unsicher sah er sich nach Daniel um.
»Warum antwortet sie nicht?«
»Sie sollten eine Frage stellen, auf die sie mit Ja oder Nein antworten kann«, erinnerte Daniel Norden seinen Freund.
Vor Erleichterung hätte Ahmed am liebsten laut aufgelacht. Doch er beherrschte sich, um seine Frau nicht zu erschrecken.
»Natürlich. Sie kann ja nur mit Blinzeln antworten.« Aufgrund der kompletten Lähmung, die ein Locked-In-Syndrom mit sich brachte, konnte sich Leila im Augenblick nur über Wimpernschläge mit ihrer Umwelt in Verbindung setzen.
In den vergangenen Wochen hatte sie gelernt, sich mit Hilfe einer Buchstabentafel zu äußern. Ein mühsamer, erschöpfender Prozess, der nach der anstrengenden Operation natürlich viel zu viel verlangt war.
»Geht es dir gut?«, besann sich Ahmed deshalb auf eine einfache Frage.
Ein Blinzeln und ein schwaches Lächeln, das wie der Flügelschlag eines Schmetterlings über ihr Gesicht huschte, war die Antwort.
Der Scheich wollte die Welt umarmen vor Glück und drückte die Hand seiner schönen jungen in ihrem Körper wie in einem Gefängnis eingeschlossenen Frau.
»Du hast ein gesundes Mädchen geboren, Leila, meine Wüstenblume!« Seine Stimme bebte, und er schämte sich noch nicht einmal dafür.
Gerührt bemerkte er die Tränen, die sich in Leilas Augenwinkeln sammelten. Sie blieben in den langen gebogenen Wimpern hängen, bevor sie über ihre Wangen liefen und vom Kinn auf das Operationshemd tropften. Es folgten immer mehr, bis schließlich das ganze Operationshemd am oberen Rand durchnässt war.
»Sind das Freudentränen?«, fragte Ahmed gerührt und konnte nicht verhindern, dass auch er anfing zu weinen, als Leila ein Mal blinzelte.
»Ja!«
Doch dieses eine Mal schämte er sich seiner Tränen nicht, und Daniel freut sich an dem Anblick des weinenden Ehepaares, das wie fast alle Eltern auf dieser Welt die Ankunft ihres Kindes gebührend würdigte. Und das, obwohl die Situation eine völlig andere war als bei normalen Paaren.
»Ich habe unser Mädchen schon gesehen. Und stell dir vor, sie hat mich auch angeschaut!« Ahmed ahnte, welche Fragen seiner geliebten Frau auf der Seele brannten. »Sie wird einmal eine Schönheit werden. Ganz wie ihre Mutter«, versicherte er innig.
Und in der Tat war Ahmed in diesem Augenblick zutiefst davon überzeugt, egal, wie schockiert er gewesen war, als er seine neugeborene Tochter, das kleine blaue Würmchen, zum ersten Mal gesehen hatte.
»Ich glaube, Leila will Ihnen etwas sagen«, machte Daniel den Scheich aufmerksam.
Tatsächlich blinzelte die junge Sheikah mehrmals hinter einander, wie immer, wenn sie sich bemerkbar machen wollte.
»Was ist, meine Blume? Was möchtest du mir sagen?«, fragte Ahmed beflissen.
Wenn es in seiner Macht stand, würde er seiner Frau jeden Wunsch erfüllen.
Leila blinzelte weiter heftig und sichtlich hilflos, bis Daniel Norden die rettende Idee hatte.
»Eine Buchstabentafel! Wir brauchen eine Buchstabentafel!«, rief er und eilte aus dem Operationssaal, um gleich darauf mit dem unerlässlichen Hilfsmittel zurückzukehren.
Schnell hielt Ahmed seiner Frau die Tafel vor die Augen.
»Geh zu Nasya!«, buchstabierte sie ihm unter Aufbietung all ihrer Kraft.
»Nasya?«, wiederholte der Scheich ehrfürchtig. »So soll sie heißen, unsere Tochter? Wunder?«
Leila blinzelte. Und diesmal gelang ihr auch ein vages Nicken.
»Ja!«
»Wie passend.« Wieder musste sich Ahmed über die Augen wischen. »Ein Wunder! Das ist unsere Tochter fürwahr!«
Ein paar Minuten blieb der Scheich noch am Bett seiner Frau, streichelte unablässig ihre Hand und redete leise mit ihr, bis Leila müde wurde. Ihre Augenlider flatterten vor Anstrengung, immer wieder kippte ihr Blick weg, und die Augen wollten ihr zufallen.
»Ihre Frau wird jetzt auf die Intensivstation verlegt.« Daniel Norden machte den Scheich auf die Schwestern und Pfleger aufmerksam, die sich dezent im Hintergrund gehalten hatten und darauf warteten, die Sheikah abzuholen.
»Und ich besuche unsere Tochter Nasya«, versprach Scheich Ahmed.
Doch da waren Leila die Augen schon zugefallen. Sie schlief tief und fest und träumte von einem glücklichen, gesunden Leben mit ihrem Mann. Mit ihrer Tochter. Angefüllt mit Liebe. Mehr brauchte sie nicht.
*
»Ich habe wirklich alles ausprobiert, was Sie mir ans Herz gelegt haben.« Kalila, Tochter des Scheichs Ishfan, der wiederum ein enger Freund von Scheich Ahmed war, starrte blicklos durch die Psychotherapeutin der Privatklinik hindurch.
Bis vor wenigen Tagen war Kalila die erfolgreiche Absolventin einer amerikanischen Universität gewesen. Hatte ihren Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften in der Tasche und sollte, wenn es nach den Plänen der beiden Scheichs gegangen wäre, inzwischen Verlobte von Ahmeds Sohn Prinz Hasher sein. Modern erzogen, wie sie war, hatte sie sich diesem Arrangement widersetzt, ohne den Prinzen überhaupt kennenzulernen. Und als sie sich dann doch in ihn verliebt hatte –, ohne zu wissen, wer er war – zerstörte ein Missverständnis die zarten Bande zwischen ihnen.
»Was genau haben Sie denn schon alles versucht?«, hakte die Therapeutin Shiva nach.
»Ich treibe Sport, ich ernähre mich gesund, ich lenke mich mit Arbeit ab. Ich achte auf mein Äußeres und bin sogar zum Friseur gegangen.« Gedankenlos strich sie sich durch die weich gelockte schwarz glänzende Haarpracht. »Außerdem versuche ich, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen zu sein. Tagsüber gelingt mir auch ab und zu, die Gedanken an Hasher zurückzudrängen. Aber gegen diese Träume bin ich machtlos. Ich wache jede Nacht auf und schwimme in Tränen.« Auch jetzt brannten Kalilas Augen wieder, und sie betupfte die geschwollenen Lider vorsichtig mit einem Taschentuch. Da half selbst das sorgfältige Make-up wenig. Im Augenblick war von ihrer betörenden Schönheit nicht viel übrig. Doch selbst das kümmerte Kalila nicht sehr. »Der Gedanke daran, durch meinen dummen Fehler Hasher für immer verloren zu haben, lässt mich verzweifeln.«
»Sie müssen Geduld mit sich haben«, erklärte die Psychotherapeutin mit weicher Stimme. Dabei stand ihr die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. »So ein gebrochenes Herz heilt nicht von heute auf morgen.« Einen derart schwierigen Fall hatte sie bisher noch nicht erlebt, zumal die beiden noch nicht einmal ein Paar gewesen waren.
»Aber ich bin mir so sicher, dass ich meine große Chance auf die eine, große, immer währende Liebe für immer verspielt habe«, jammerte die sonst so ehrgeizige, zielorientierte Kalila und erkannte sich selbst nicht mehr.
Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie etwas nicht aus eigener Kraft erreichen. War sie auf das Wohlwollen eines anderen Menschen angewiesen. Doch seit der kranke Prinz zutiefst enttäuscht aus ihrem Krankenzimmer geflohen war, hatte sie ihn nicht wiedergesehen. Und wollte schier daran verzweifeln. Ihr Anblick war so erbärmlich, dass sich selbst die Psychologin keinen Rat mehr wusste.
»Hier liegt der gravierende Fehler.« Froh, überhaupt einen Ansatzpunkt gefunden zu haben, hakte Shiva an dieser Stelle ein. »Sie müssen sich von dem Gedanken lösen, dass Liebe Schicksal ist.« In diesem Moment erinnerte sie sich an einen Artikel, den sie in einer Fachzeitschrift gelesen hatte. »Nüchtern betrachtet ist dieses Gefühl nicht mehr als das Resultat einer gut gemachten Inszenierung«, erläuterte sie, obwohl ihr Kalilas schockierter Blick durch und durch ging.
Aber wenn sie diese Patientin vor Schlimmerem bewahren wollte, musste sie zu harten Maßnahmen greifen. Sie erhob sich von ihrem Sessel und ging hinüber zum Bücherregal hinter der Tür. Mit gezieltem Griff nahm sie eine der Zeitschriften, die dort sorgfältig sortiert standen. Ein paar Mal blätterte sie hin und her, dann hatte sie gefunden, wonach sie suchte, und kehrte mit dem Heft in der Hand zu Kalila zurück. »Laut dem Direktor eines namhaften Forschungsinstituts ist Liebe mitnichten die Naturgewalt, für die wir sie halten. Dieses Ammenmärchen gehört ins Reich der Fantasie. In der Wirklichkeit reichen oft nur wenige Symbole aus, um dieses intensive Gefühl zu erzeugen«, las sie die entsprechende Passage aus dem mehrseitigen Artikel vor. »Ein romantisches Abendessen bei Kerzenschein, ein Sonnenuntergang am Strand, ein gefühlvolles Gespräch, ein tiefer Blick in die Augen bei langsamer Musik genügen meist, um das vielgerühmte Gefühl der Liebe zu erzeugen.«
»Wer sagt das?«, fuhr Kalila trotz ihrer tiefen Depression empört dazwischen. »Und diesen Unsinn glauben Sie auch noch? Dieser Mensch hat doch keine Ahnung von Liebe!« Sie ließ Dr. Shiva gar nicht zu Wort kommen. »Der hat dieses Gefühl der Vertrautheit noch nicht erlebt, das sich schon nach ganz kurzer Zeit einstellt.« Wehmütig und mit schmerzendem Herzen erinnerte sich Kalila an die wenigen Stunden, die sie mit Hasher verbracht hatte, und unwillkürlich wurde ihr Gesicht weich. Ihre strengen Züge entspannten sich. »Kennen Sie dieses unglaubliche Gefühl, wenn man sich erst kurz kennt, aber weiß, dass da eine geheimnisvolle Verbindung ist? Ein Band, das vielleicht schon über Zeit und Raum hinaus besteht?«, geriet die sonst so vernünftige und realistische Kalila unvermittelt ins Schwärmen.
»Das könnte daran liegen, dass Sie die Art des Prinzen an das vertraute Verhältnis erinnert, das Sie zu anderen, Ihnen wohlgesonnenen Menschen pflegen.«
»Schon möglich«, räumte Kalila unwillig ein. Sie wollte an eine höhere Macht, an Schicksal glauben. »Hasher hat mich von Anfang an an das liebevolle Verhältnis erinnert, das ich zu meinem Vater habe«, fühlte sie sich genötigt, der Therapeutin recht zu geben. »Mein Vater war für mich da, wann immer ich ihn brauchte. Er hat mich immer verstanden, egal, mit welchen Sorgen ich zu ihm gekommen bin. Dieses Gefühl hat mir Hasher auch gegeben wie kein Mann vor ihm. Und es wird auch keinen nach ihm geben.« Während ihrer leidenschaftlichen Rede waren ihre bleichen Wangen rot geworden.
Schweigend und fast ein wenig neidisch hatte Shiva gelauscht. Ein solches Liebesglück hatte sie selbst noch nie erfahren dürfen und daher bisher ins Reich der Fantasie verbannt.
»Wenn Sie so überzeugt davon sind, dass der Prinz der Mann Ihres Lebens ist, dann kann ich Ihnen leider auch nicht helfen«, gestand sie sichtlich ratlos und klappte die Zeitschrift zu, die noch auf ihrem Schoß lag. »Dann müssen Sie ihn entweder davon überzeugen, dass auch Sie die einzig Richtige für ihn sind. Oder damit leben lernen, dass sie ihn nicht haben können.«
Diese ernüchternden Worte ließ sich Kalila durch den Kopf gehen und nickte dann langsam.
»Wahrscheinlich haben Sie recht«, gab sie zu und stand auf, um sich von Shiva zu verabschieden.
Versonnen trat sie durch die Tür hinaus auf den Flur und wanderte den langen Gang hinunter. Hier und da wurde sie ehrerbietig begrüßt und nickte geistesabwesend zurück. Viele Menschen kannten die junge Prinzessin aus der Zeitung. Die Freundschaft zwischen ihrem Vater, Scheich Ishfan, und Scheich Ahmed war legendär.
Vor dem Aufzug blieb Kalila stehen und wartete darauf, dass sich die Türen öffneten.
»Prinzessin!« Eine bekannte, freundliche Stimme riss sie aus ihren Gedanken, die unablässig um Hasher und ihre verlorene Liebe kreisten. Sie drehte sich nach der Stimme um.
»Herr Dr. Norden, was machen Sie denn hier?«, fragte sie verwundert und rang sich mühsam ein Lächeln ab. »Ich dachte, Sie sind bei Prinz Hasher.«
Trotz seiner Euphorie nach der geglückten Entbindung der Prinzessin entging Daniel Kalilas depressive Verstimmung nicht.
»Geht es Ihrem Vater wieder schlechter?«, erkundigte er sich fürsorglich nach dem Gesundheitszustand von Scheich Ishfan.
Auf dem Weg in den Palast von Scheich Ahmed war das Taxi mit Vater und Tochter verunglückt, Ishfan und Kalila hatten in die Privatklinik eingeliefert werden müssen. Während Ishfan schwere Verletzungen erlitten hatte, war Kalila mit einem verletzten Arm davongekommen. Noch auf der Krankenliege auf dem Weg Richtung Notaufnahme hatte sie Prinz Hasher kennengelernt. Ohne zu wissen, wen sie vor sich hatte, hatte sie sich unsterblich in ihn verliebt. Und das, obwohl sie sich zuvor strikt dem Wunsch ihres Vaters verweigert hatte, den Prinzen zu heiraten.
»Meinem Vater geht es schon viel besser«, antwortete Kalila endlich auf die Frage des deutschen Arztes.
Dabei wollten ihr schon wieder die Tränen in die Augen steigen, und erschrocken legte Daniel die Hand auf ihren Arm.
»Alles in Ordnung?«
Wie aus einem Traum erwacht, zuckte sie zusammen.
»Meinem Vater geht es wirklich gut«, beeilte sie sich zu versichern, um dem fürsorglichen Arzt die Sorgen zu nehmen. »Die Ärzte meinen, dass Papa die Klinik morgen oder übermorgen verlassen kann.«
»Das ist wirklich eine gute Nachricht. Ahmed wird froh sein. Wie er überhaupt Grund zur Freude haben kann.« Daniel Norden wählte seine Worte mit Bedacht. Obwohl er den Grund für Kalilas Trauer nicht kannte, hoffte er, sie mit der Nachricht über die Geburt der kleinen Prinzessin aufmuntern zu können. Er lächelte warm, als er sagte: »Heute wurde Nasya geboren, seine kleine Tochter.«
»Nasya?«, wiederholte Kalila andächtig. »Das bedeutet ›Wunder‹!«
»Ich weiß. Und das, was heute in dieser Klinik geschehen ist, grenzt wirklich an ein Wunder«, fuhr er tief bewegt fort. »Als eine der ersten Frauen mit Locked-In-Syndrom in der Geschichte der Medizin ist Leila heute Mutter eines gesunden Mädchens geworden. Natürlich ist Nasya noch nicht über den Berg und braucht noch intensive Behandlung auf der Kinderstation. Aber die Chancen stehen nicht schlecht, dass sie zu einem gesunden Kind heranwachsen kann.« Daniel Nordens Stimme bebte leicht vor Freude über das Ereignis, der sich auch Kalila nicht länger entziehen konnte.
Eine tiefe Ergriffenheit erfüllte sie, als sie in Dr. Nordens leuchtende Augen blickte. Obwohl er schon zahllose Kinder auf ihrem Weg in diese Welt begleitet hatte, stand ihm die Dankbarkeit dafür, dieses Wunder wieder einmal erlebt zu haben, ins Gesicht geschrieben. Gleichzeitig musste Kalila daran denken, dass es sich bei dem Kind um die Halbschwester ihrer großen Liebe handelte.
»Kann ich die Kleine sehen?«, gab sie ihrem spontanen Wunsch nach einer Begegnung mit diesem kleinen Wunder nach.
Nachdenklich wiegte Daniel den Kopf.
»Das müssen die Kollegen von der Pädiatrie entscheiden.« Er überlegte einen Moment lang, sann über die Situation des Scheichs nach, die sich mit der Geburt des Kindes durchaus verschärfte, und hatte plötzlich eine Idee. »Aber vielleicht sprechen Sie zuerst mit Scheich Ahmed«, machte er, seiner Intuition folgend, einen spontanen Vorschlag. »Für ihn wird es in den kommenden Wochen und Monaten nicht leichter werden. Schließlich hat er jetzt eine kranke Frau und ein Kind, um die er sich nach Kräften kümmern will. Das wird ein anstrengender Weg, auf dem Sie ihn bestimmt begleiten können.«
Augenblicklich fühlte Kalila, wie die dunklen Schatten ein wenig von ihrer Seele zurückwichen. Daniel Nordens Begeisterung, sein Enthusiasmus waren ansteckend.
»Woran haben Sie dabei gedacht?«, fragte sie und fühlte erleichtert, wie sie eine neue Welle der gewohnten Energie – noch vage zwar, aber immerhin – durchflutete.
»Sie könnten bei der Betreuung der kleinen Nasya helfen. Aber wie gesagt, das müssten Sie zunächst mit Scheich Ahmed besprechen.«
»Ich glaube nicht, dass er etwas dagegen hätte. Schließlich wünschte er sich, dass ich seine Schwiegertochter werden sollte.« Dieser Gedanke durchzuckte Kalila erneut wie ein Dolchstoß. Doch diesmal ließ sie den Schmerz nicht zu und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf Dr. Norden. »Welche Aufgaben würden auf mich zukommen?«, fragte sie interessiert.
»In der Regel werden die Bezugspersonen von Frühchen so schnell wie möglich in die Pflege und Betreuung der Kleinen einbezogen«, erinnerte sich Daniel an seine Erfahrungen auf der Frühgeborenen-Station in der Behnisch-Klinik. »Besonders wichtig für die gesunde Entwicklung der Frühchen ist zum Beispiel Körperkontakt. Mehrmals täglich sollte das nackte Baby Hautkontakt mit den Bezugspersonen haben. Da Leila diese Aufgabe im Augenblick nicht erfüllen kann, ist Ahmed Ihnen sicher dankbar, wenn Sie das übernehmen.«
»Also Körperkontakt«, wiederholte Kalila, begierig darauf, mehr zu erfahren. »Und was kann ich sonst noch tun?« Der Gedanke daran, in ihrer hilflosen Situation einem anderen Menschen helfen zu können, noch dazu Hashers kleiner Halbschwester, machte sie stolz, verlieh ihr neue Kraft.
»Am besten wäre es natürlich, wenn Sie so viel Zeit wie möglich bei der Kleinen in der Klinik verbringen und mit ihr sprechen könnten. Singen Sie dem kleinen Wunder Lieder vor, erzählen Sie ihm Geschichten. Und für den Fall, dass Sie einmal nicht bei Nasya sein können, sollten Sie Ihre Stimme auf einen Tonträger aufnehmen. Ab der 26. Lebenswoche reagieren diese Kinder deutlich auf vertraute Stimmen. Sie hören aufmerksam zu und wenden das Köpfchen in Richtung der Stimme«, teilte Daniel der wissbegierigen Prinzessin alles mit, was er zu diesem Thema zu sagen hatte. »Außerdem hat die Erfahrung gezeigt, dass frühgeborene Kinder, deren Sinne auf diese Weise stimuliert werden, weniger lang beatmet werden und generell nicht so lange in der Klinik bleiben müssen.«
Mit immer lebhafterem Gesichtsausdruck hatte Kalila den Ausführungen von Dr. Daniel Norden gelauscht. Als er geendet hatte, seufzte sie tief.
»Das werde ich machen«, versprach sie innig. »Ich werde zu Ahmed gehen und ihm sagen, dass ich für sein Kind da sein werde. Wenn es sein muss, Tag und Nacht.« Sie lauschte dem Nachhall ihrer Worte. Wie um sie noch einmal zu bestätigen, nickte sie. Dann reichte sie Daniel Norden die Hand, um sich zu verabschieden. Plötzlich hatte sie es eilig.
»Sie haben mir soeben das Leben gerettet«, erklärte sie innig. »Vielen Dank dafür.«
Und ehe Daniel wusste, wie ihm geschah, drehte sich Prinzessin Kalila um und ging entschiedenen Schrittes davon. Endlich hatte sie wieder einen Plan, eine Aufgabe, und ehrgeizig, wie sie war, war sie wild entschlossen, alles dafür zu tun, dass sich die kleine Nasya gesund entwickeln konnte. Sie wollte es für Ahmed und Leila tun. Sie wollte es für das Baby tun. Und sie tat es für sich und Hasher.
*
Seit dem Aufbruch der Eltern in den Orient führte Danny Norden die Praxis seines Vaters mit großem Ernst und Verantwortungsbewusstsein. Seine beiden Geschwister Anneka und Felix gingen zur Schule und unterstützten ihren Bruder zumindest moralisch nach Kräften. Zu Hause sorgte wie immer die Haushälterin und gute Fee des Hauses Lenni für das leibliche Wohl der drei großen Kinder Anneka, Felix und Danny. Sie gestaltete das Haus warm und wohnlich und erfüllte es mit Geborgenheit und Liebe. Trotzdem konnte die Behaglichkeit die Kinder nicht ganz darüber hinwegtrösten, dass sie ihre Eltern vermissten. So suchten und fanden sie die fehlende Elternliebe bei den Großeltern, die sie immer öfter auf der Insel der Hoffnung besuchten.
»Meine Lieben, schön, dass ihr wieder hier seid!« Als Anne Cornelius, die zweite Frau von Johannes und Fees geliebte Stiefmutter, den Wagen ihres Enkelsohnes durchs Fenster gesehen hatte, war sie hinaus auf den gekiesten Vorplatz des Sanatoriums geeilt. Einen nach dem anderen umarmte sie ihre Enkel, die sie allesamt überragten. Sogar Anneka war inzwischen ein paar Zentimeter größer als die zierliche Frau. »Ich könnte mich glatt dran gewöhnen, dass ihr immer hier seid.« Liebevoll tätschelte sie hier eine Wange und streichelte dort über einen Kopf, als eine dunkle, ein wenig heisere Stimme erklang.
»Na, na, nur nicht unersättlich werden«, mahnte ihr Mann Johannes mit gutmütigem Spott.
Er hatte sich draußen von einem Gast verabschiedet und Dannys Wagen schon von Weitem gesehen.
»Wie läuft es in der Praxis, mein Junge?«, fragte er seinen ältesten Enkel, nachdem er auch Anneka und Felix begrüßt hatte.
Seite an Seite gingen sie durch den Empfang hinüber ins Restaurant, wo sich das Ehepaar Cornelius in einer Ecke ein privates und mit Pflanzen gemütlich abgeschirmtes Refugium geschaffen hatte.
Danny freute sich sichtlich über das Interesse an seiner Arbeit. Die große Verantwortung, die er viel eher als erwartet auf sich genommen hatte, belastete ihn immer wieder, und er vermisste seinen Vater auch als kompetenten Ratgeber.
»Neulich hatte ich einen vertrackten Fall«, berichtete er daher bereitwillig und machte es sich in einem der breiten Sessel bequem. Sein Großvater nahm ihm gegenüber Platz und lauschte andächtig und mit großem Interesse den Erlebnissen seines Enkelsohnes. »Ein älterer Patient kam zu mir, weil er unter ständigem Durst litt. Ein Blutbild hat ergeben, dass die Hormonregulation nicht mehr richtig funktionierte.«
»Hmm, das könnte auf eine Erkrankung der Hypophyse hinweisen«, dachte Johannes laut nach.
»Dass das Problem mit der Hirnanhangdrüse zusammenhängen könnte, war auch mein erster Verdacht«, nickte Danny Norden und dankte der jungen Bedienung, die Kaffee und Kuchen brachte, mit einem Lächeln.
»Ich wusste, dass du einmal ein guter Arzt werden wirst«, erklärte Johannes und strahlte seinen ältesten Enkel voller Stolz an.
»Leider genügt es offenbar nicht, den richtigen Verdacht zu haben.« Zur großen Verwunderung seines Großvaters seufzte Danny schwer und löffelte Zucker in seinen Kaffee. »Man muss auch genügend Überzeugungskraft besitzen, um die Patienten von den nötigen Untersuchungsmaßnahmen zu überzeugen.«
Sofort wusste Johannes, worauf er hinauswollte.
»Oh, war das einer von den Menschen, die niemand anderem als sich selbst glauben?«, mutmaßte er spontan.
Danny war sichtlich erstaunt. »Du kennst dieses Phänomen?«
Der Sanatoriumsleiter lachte laut auf.
»Und ob! Das ist ein besonderer Typus Mensch, den man schon von Weitem erkennt.« Er schüttelte den Kopf, wenn er an die zahllosen Diskussionen dachte, die er im Laufe seiner Tätigkeit als Arzt mit uneinsichtigen Patienten geführt hatte. »Diese Leute muss man förmlich zu ihrem Glück zwingen.«
»Das kannst du laut sagen!« Danny freute sich über das Verständnis, das ihm von Seiten seines erfahrenen Großvaters entgegenschlug. »Ich glaube, ich habe eine halbe Stunde auf den guten Mann eingeredet, um ihn von der Notwendigkeit eines MRTs zu überzeugen. Die ganze Zeit hat er mir widersprochen und dagegengehalten, dass früher auch kein solcher Aufwand betrieben wurde. Da haben die meisten Ärzte einfach ein paar Tabletten verschrieben und gut war’s.« Er trank einen Schluck Kaffee und schob eine große Gabel voll sahniger Schokoladentorte in den Mund. Genüsslich schloss er die Augen und seufzte glücklich.
»Ja, dieser Balanceakt ist nicht immer ganz einfach«, wusste Johannes aus seinem eigenen, reichen Erfahrungsschatz zu berichten. »Manche Patienten sind beleidigt, wenn man ihnen lediglich Tabletten verschreibt. Sie fühlen sich nicht ernst genommen, wenn kein großer Aufwand nötig ist, um ihre Krankheiten zu behandeln. Und andere wollen am liebsten nur ein Rezept zur Beruhigung.«
»Ich bin gespannt, ob ich lerne zu erkennen, in welche Kategorie ein Patient gehört und wie ich ihm ein gutes Gefühl gebe, angemessen behandelt zu werden«, erklärte Danny aus tiefstem Herzen.
Johannes lächelte innig.
»Allein dein Wunsch, die Menschen zu verstehen und dich in sie einzufühlen, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung«, lobte er zufrieden. »Eines Tages wirst du ein sehr empathischer und beliebter Arzt sein. Wenn dein Vater das hören könnte, wäre er sehr stolz auf dich.«
»Das wird er ja mit Sicherheit bald«, mischte sich Anne in das Gespräch zwischen Enkel und Großvater. »Wie ich gehört habe, kommt Daniel demnächst nach Deutschland zurück.«
Ihrer Ansicht nach hatten die beiden Männer genug gefachsimpelt. Schließlich waren ihre Enkel nicht gekommen, um sich mit ihrer Arbeit zu beschäftigen, sondern um sich von ihrem Alltag zu erholen und die Sorgen für ein paar Stunden zu vergessen.
Als ihre Großmutter dieses Thema anschnitt, leuchteten Annekas Augen auf.
»Dann habt ihr es also auch schon gehört. Prinz Hasher soll bei euch auf der Roseninsel behandelt werden.« Doch sofort erlosch das Strahlen wieder, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. »Leider bleiben Mami, Jan und Dési noch länger im Sultanat«, bedauerte das Mädchen zutiefst.
»Warum eigentlich?«, erkundigte sich Felix, der bis jetzt noch keine Gelegenheit gehabt hatte, sich darüber Gedanken zu machen. »Mum und Dad sind doch wegen des Prinzen in den Orient gereist. Dann könnte sie doch eigentlich mit zurückkommen.«
»Da ist doch noch die kranke Sheikah, mit der Mami Freundschaft geschlossen hat«, wusste Anneka auch auf diese Frage eine Antwort. »Ich glaube, sie will Leila nicht das Gefühl geben, sie im Stich zu lassen. Schon gar nicht, solange es ihr nicht besser geht.«
»Außerdem sollen die Zwillinge nicht schon wieder aus dem Unterricht gerissen werden«, fügte Danny ein weiteres Argument hinzu und kratzte den letzten Rest Schokosahne von seinem Teller.
Traurig lehnte sich Anneka an ihre Großmutter und suchte Trost in der liebevollen Umarmung. Sie lauschte auf das leise Stimmengewirr im Hintergrund, auf Tellerklappern und Gelächter von den Patienten des Sanatoriums. All diese vertrauten Geräusche verstärkten die ziehende Sehnsucht in ihr.
»Ich wünschte trotzdem, dass sie bald alle wieder da sind und wir endlich wieder ein ganz normales Familienleben haben können«, murmelte sie. »Zusammen am Tisch sitzen, essen, erzählen und Spaß haben.«
Zärtlich strich ihr Anne über den Kopf. Ein paar Haare verfingen sich in ihren faltigen Händen.
»Nicht traurig sein, meine Kleine«, versuchte sie, Anneka mit zärtlichen Worten über die Sehnsucht hinweg zu trösten. Ein Gedanke kam ihr in den Sinn, eine Idee, die dem Mädchen Spaß machen konnte. »Hast du Lust, dir unser neues Tiergehege anzusehen?«, machte sie einen Versuch, ihre Enkelin abzulenken.
Der Plan ging auf. Tatsächlich wurde Anneka hellhörig.
»Ihr habt Tiere angeschafft?«
Anne schickte ihrem Mann einen triumphierenden Blick und fuhr zu dem Mädchen gewandt fort: »Wir haben Hasen und Meerschweinchen angeschafft, um die sich unsere Gäste kümmern, die sie füttern und streicheln können.«
An dieser Stelle wurde Felix hellhörig. Interessiert an allem, was mit Psychologie zu tun hatte, lieferte er seiner Schwester eine druckreife Erklärung für diese therapeutisch sinnvolle Maßnahme.
»Der Umgang mit Tieren dient nachweislich der Steigerung der Lebensfreude, einer Stabilisierung des Immunsystems und der Linderung von psychischen und psychosomatischen Krankheiten«, zitierte er das, was er im Internet über diesen neuen Therapieansatz gelesen hatte.
Obwohl Anneka sich des Öfteren mit ihrem zweitältesten Bruder kabbelte, war sie diesmal sichtlich beeindruckt über sein Wissen auf diesem Gebiet. Sie lächelte ihm dankbar zu, bevor sie Anne auf dem Weg zum Gehege begleitete.
»Was ihr euch für Arbeit macht!«, staunte sie unterwegs, während Felix und Danny beschlossen hatten, Johannes bei der täglichen Visite zu assistieren. »Und alles nur für die Patienten!«
»Das ist unser Leben, mein Liebes, eine Herzensangelegenheit«, erwiderte Anne Cornelius innig. »Wenn unsere Patienten von dem Aufenthalt auf der Roseninsel profitieren, haben wir unser Ziel erreicht. Dafür nehmen wir vieles in Kauf.«
Die Wolken hatten sich inzwischen verzogen, und die Sonne lachte von einem fast makellosen Himmel herab, strahlte Anneka direkt ins Gesicht und kitzelte sie an der Nase, dass sie lachen musste. Fürs Erste waren die traurigen Gedanken und Gefühle verflogen, und Anne tat alles dafür, dass sie nicht so schnell zurückkehrten. Die süßen Hasenkinder und kleinen Meerschweinchen, die Anneka zutraulich um die Beine hoppelten und an ihrer Hose knabberten, unterstützten sie erfolgreich in ihren Bemühungen.
*
Während Anneka ihre Unbeschwertheit auf der Insel der Hoffnung wiederfand, ging auch das Leben im Orient weiter.
»Das ist deine Halbschwester, Prinzessin Nasya!« Stolz präsentierte Scheich Ahmed seinem Sohn das neugeborene Baby.
Seitdem Hasher herausgefunden hatte, dass Ahmed und Scheich Ishfan hinter seinem Rücken eine Verbindung zwischen Kalila und ihm geplant hatten, war das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nicht mehr so vertrauensvoll und offen wie bisher. Trotzdem bemühte sich der Scheich hartnäckig um ein gutes Verhältnis und deutete lächelnd auf das Frühchen.
Inzwischen hatte er sich an den Anblick gewöhnt. Doch für den Prinzen war die Begegnung mit dem Frühchen ein Schock.
»Sie ist ja so winzig!«, entfuhr es Hasher. Ergriffen starrte er in den Brutkasten, in dem das kleine Mädchen zwischen Kabeln und Schläuchen lag. Sogar die Windel war viel zu groß und bedeckte das halbe Kind. »Tut ihr das nicht weh?«, fragte er sichtlich schockiert und deutete auf den dünnen Schlauch, der in die Nase des Kindes führte und über Stirn und Wange mit einem riesenhaft erscheinenden Pflaster befestigt war.
»Ehrlich gesagt weiß ich es nicht.« Ratlos zuckte Ahmed mit den Schultern. Glücklicherweise lag das Baby mit friedlichem Gesichtsausdruck in seinem Brutkasten. Zumindest im Augenblick machte es nicht den Eindruck zu leiden. »Diese Maßnahmen sind leider nötig. Ohne medizinische Hilfe würde Nasya nicht überleben.« Ahmeds verliebter Blick ruhte auf seinem Kind, während Hasher nichts als Mitgefühl empfand für dieses Wesen, das viel zu früh und unter dramatischen Umständen das Licht der Welt erblickt hatte.
Nasyas Gefahr, ein Leben lang behindert zu sein, erinnerte ihn an seine eigenen Schmerzen, und er sah sich nach einem Stuhl um. Der neuerliche Krankheitsschub ließ jede Bewegung zur Qual werden. Und auch Kalilas unwissentliche Bemerkung über seinen Gesundheitszustand klang ihm noch in den Ohren und trug seinen Teil zu den auch psychisch bedingten Schmerzen bei. Die Prinzessin hatte ihn für einen Arzt gehalten. Doch das machte die Sache nicht besser.
»Natürlich würde ich den Mann an meiner Seite im Krankheitsfall unterstützen … Aber einen von vornherein kranken Mann zu heiraten mit dem Wissen, dass ihm nicht geholfen werden kann … Das ist nicht gerade das, wovon eine junge Frau mit so ehrgeizigen Plänen träumt«, hatte sie zu Hasher gesagt, als er nach ihrem Unfall verliebt wie nie zuvor an ihrem Krankenbett gesessen war.
Diese Worte hatten sein in Flammen stehendes Herz gebrochen. Zutiefst verletzt war er aus dem Krankenzimmer geflohen. Seither mied er jeden Kontakt zu der Prinzessin und ging ihr aus dem Weg, widerstand jedem ihrer zahlreichen Annäherungsversuche hartnäckig.
»Wie geht es Leila?«, fragte Hasher seinen Vater, um sich von den Gedanken an Kalila abzulenken.
Ahmed schickte einen liebenden Gedanken zu seiner über alles geliebten Frau. Sofort spielte ein Lächeln um seinen Mund.
»Stell dir vor: Dr. Norden hat recht behalten«, konnte der Scheich auch von der Sheikah Positives berichten. »Die Geburt von Nasya hat einen neuen Energieschub bei ihr ausgelöst«, fuhr er überglücklich fort. »Heute Morgen hat Leila zum ersten Mal die ganze Hand gehoben. Ganz langsam, aber immerhin.« Seine Augen leuchteten vor Freude, als er von diesem neuerlichen Wunder berichtete. »Wenn die Wunde des Kaiserschnitts verheilt ist, spricht nichts dagegen, dass sie nach Hause kommt. Ganz so, wie wir es vor dem Notkaiserschnitt geplant hatten.« Der Gedanke daran, seine junge unglückliche Ehefrau endlich nach Hause holen zu dürfen, ließ Scheich Ahmeds scharf geschnittene Gesichtszüge weicher wirken. Schon längst war alles vorbereitet, sämtliches medizinisches Gerät vorhanden, und Therapeuten, Schwestern und Pfleger standen bereit. Der ganze Palast wartete nur auf Leila.
Hasher konnte seinem Vater die Ungeduld nachfühlen. Auch er sehnte sich nach nichts mehr als nach einer Frau, die er lieben und auf Händen tragen, mit der er sein Leben teilen konnte. Doch die einzige Frau, mit der er sich all das vorstellen konnte, hatte ihm eine klare Absage erteilt. Mit ihren wenigen Worten hatte Kalila dem Prinzen zu verstehen gegeben, dass er in diesem Gesundheitszustand eine Zumutung für jeden anderen Menschen darstellte.
Unwillig schob Hasher diese Gedanken beiseite und dachte über den Plan seines Vaters nach.
»Nach Hause?« Er teilte den Enthusiasmus des Scheichs keineswegs. »Wie stellst du dir das vor?« Wieder glitt sein Blick hinüber zu dem winzigen Bündel Mensch, dessen Fingerchen im Schlaf zuckten. »Wer soll sich um Nasya kümmern, wenn du bei Leila im Palast bist? Du kannst sie nicht die ganze Zeit der Obhut der Schwestern überlassen. Sie braucht mindestens eine Bezugsperson, die sich intensiv um sie kümmert.«
Ahmed sah seinen Sohn erstaunt an.
»Wie meinst du das?«, fragte er sichtlich verwirrt. »Ich dachte, zu früh geborene Kinder brauchen nur Ruhe und Schlaf, damit sie in Ruhe weiterwachsen können. Und natürlich die medizinische Versorgung. Mal abgesehen davon, dass genügend Personal zur Verfügung steht«, fuhr er entschieden fort. »Zur Not stelle ich eine weitere Schwester ein.«
Angesichts der altmodischen Vorstellungen seines Vaters schüttelte Hasher unwillig den Kopf.
»Besonders diese Frühchen brauchen eine sehr liebevolle Betreuung, die im Idealfall natürlich eine der Bezugspersonen übernehmen sollte.«
»Woher weißt du denn das?«, platzte Ahmed überrascht heraus.
Zum ersten Mal, seit Kalila ihn so sehr verletzt hatte, huschte ein vages Lächeln über das schmale Gesicht des Prinzen, das durch die Krankheit nur interessanter geworden war.
»Ich habe mich vorhin ausführlich mit Felicitas Norden über dieses Thema unterhalten. Das solltest du vielleicht auch mal tun«, empfahl er seinem Vater. »Ich würde mich wirklich gern um Leila kümmern«, fuhr er bedauernd fort. »Leider kann ich dir in dieser Situation nicht zur Seite stehen. Die Planung für meinen Aufenthalt in dem deutschen Sanatorium ist so gut wie abgeschlossen. Ich denke, Dr. Norden und ich werden demnächst aufbrechen.«
Scheich Ahmed nickte versonnen.
»Ein Glück, dass Fee noch bei uns bleibt.« Er liebte es, die Arztfrau bei ihrem Kosenamen zu nennen. Damit brachte er seine besondere Bewunderung für die Frau zum Ausdruck, die seinen anfänglichen Avancen so hartnäckig widerstanden und ihm auf diese Weise eindrücklich den Wert wahrer Liebe demonstriert hatte. Auch Felicitas Norden war es zu verdanken, dass der Scheich sich endlich seiner grenzenlosen Liebe zu seiner wunderschönen jungen Frau bewusst geworden war, die er lange Zeit als weitere Selbstverständlichkeit in seinem Leben betrachtet hatte. »Fee ist inzwischen zu einer Art Vertrauter für Leila geworden und wird mich in ihrer Betreuung unterstützen«, erklärte er, was sie gemeinsam besprochen hatten. »Vielleicht kann sie mir auch bei Nasya helfen.«
»Ausgeschlossen«, widersprach Hasher entschieden. »Auch Felicitas Nordens Tag hat nur vierundzwanzig Stunden. Ich halte es für ungemein wichtig, sie nicht zu überfordern. Mal abgesehen davon, dass auch sie zwei Kinder hat, um die sie sich kümmern muss«, gab er vorausschauend zu bedenken. »Wann sollte da noch viel Zeit für Leila oder das Baby bleiben?«
Diesem Argument hatte Ahmed wenig entgegenzusetzen, und er betrachtete seinen Sohn ratlos.
»Ich könnte bei der Betreuung von Nasya helfen.«
Wie von der Tarantel gebissen fuhr der Prinz herum und starrte die Frau an, der die Stimme gehörte.
Getroffen von der unverhohlenen Feindseligkeit im Blick des Prinzen senkte Kalila rasch den Kopf. Sie war gerade auf die Kinderintensivstation gekommen und hatte die letzten Worte der beiden Männer aufgeschnappt.
»Es tut mir leid, ich wollte euch nicht belauschen«, entschuldigte sie sich leise. »Ich habe von Dr. Norden erfahren, dass Nasya geboren worden ist, und wollte sie willkommen heißen.«
Wie jedes Mal, wenn Hasher der Prinzessin begegnete, war er aufgeregt. Doch er war wild entschlossen, sich keine Blöße zu geben. Solange er nicht in der Lage war, ein normales Leben zu führen, konnte und wollte er sich Kalila nicht zumuten. Egal, in welcher Form.
Mit zusammengebissenen Zähnen, um sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen, erhob Hasher sich von seinem Stuhl.
»Ich muss zurück in den Palast«, behauptete er an seinen Vater gewandt. »In einer halben Stunde treffen sich die Berater. Es geht um unsere Außenhandelsbedingungen. Ein wichtiges Thema für die Zukunft des Sultanats.«
Ahmed war so beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken, dass er die Not, den inneren Aufruhr seines Sohnes nicht bemerkte. Kalilas Angebot beschäftigte den Scheich, und abwesend verabschiedete er sich von Hasher.
»Du wirst schon alles zu meiner Zufriedenheit regeln«, erklärte Ahmed lapidar, während er Kalila freundlich zulächelte.
Sie lächelte tapfer zurück und ignorierte so gut es ging den Prinzen, der die Zähne zusammenbiss und hoch erhobenen Hauptes und mit kaltem Stolz in den Augen an ihr vorbei in Richtung Ausgang strebte. Auch Kalila bebte innerlich, als sie ihre große Liebe durch die Tür verschwinden sah. Noch wusste sie nicht, dass Hasher im Begriff war, das Sultanat auf unbestimmte Zeit zu verlassen. So galten ihre einzigen Gedanken dem Weg, wie sie das, was geschehen war, wieder gut machen konnte. Instinktiv wusste sie, dass dieser Weg gleichbedeutend war mit Geduld. Viel Geduld.
*
»Du würdest dich wirklich um Nasya kümmern?«, fragte Ahmed in die Gedanken der Prinzessin hinein, nachdem sich die Türen lautlos hinter Hasher geschlossen hatten.
Kalila reagierte zunächst nicht. Erst als er ihr die Hand sanft auf den Arm legte, zuckte sie zusammen und wandte den Kopf zu ihm. Mit waidwundem Blick sah sie ihn an, und plötzlich erinnerte sich Ahmed an das, was geschehen war.
»Du liebst ihn, nicht wahr?« Gleichzeitig wurde sein Herz schwer, als er an die Vorwürfe dachte, die sein Sohn ihm zu Recht gemacht hatte.
»Kannst du nicht versuchen, ein gutes Wort für mich einzulegen?«, bat Kalila ihn, obwohl sie sich der Sinnlosigkeit dieses Unterfangens bewusst war.
»Ich hab alles versucht«, erwiderte Ahmed sichtlich geknickt. Auch für ihn war ein Traum geplatzt, und es fiel ihm nicht leicht, die Tatsachen zu akzeptieren. »Aber sobald die Sprache auf dieses Thema kommt, blockt er völlig ab. Mal abgesehen davon, dass er wegen meiner Heimlichkeiten ohnehin ein Problem mit mir hat«, gestand er zerknirscht. »Es wird noch eine Weile dauern, bis sich unser Verhältnis wieder normalisiert hat und er mir wieder vertraut.«
Um nicht in Tränen auszubrechen, presste Kalila die Lippen aufeinander und nickte tapfer. Zum Glück kam in diesem Augenblick die Schwester und lenkte sie von ihrem herzzerreißenden Kummer ab.
»Zeit, die Windel zu wechseln«, erklärte sie betont fröhlich, und Ahmed und Kalila traten einen Schritt zurück.
Gebannt sahen sie der Intensivschwester dabei zu, wie sie in aller Selbstverständlichkeit eines der runden Fenster im Inkubator öffnete. Sie redete leise und ununterbrochen mit dem Baby und streichelte es vorsichtig, um es nicht zu erschrecken. Trotzdem verzog Nasya unwillig das kleine Gesicht, und aus ihrem kleinen Mund kam ein abgehacktes, klägliches Schreien.
Sofort zog sich Kalilas Herz vor Mitgefühl zusammen.
»Das macht sie immer, wenn wir sie stören müssen«, erklärte die Schwester unbeeindruckt von dem Protest und erledigte geschickt die nötigen Handgriffe.
»Kein Wunder, dass sie sich wehrt. Schließlich musste sie in ihrem kleinen Leben schon unglaublich viel Stress aushalten«, bemerkte Kalila mit weicher Stimme und klang dabei so versiert, dass die Schwester ihr einen verwunderten Blick schickte. Besonders deshalb, weil sie wusste, mit wem sie es zu tun hatte. Dass Kalila eine Prinzessin und Tochter von Scheich Ishfan war.
»Kennen Sie sich aus mit Frühgeborenen? Mussten Sie so etwas womöglich selbst schon durchmachen?«
»Nein, glücklicherweise nicht«, entgegnete die Prinzessin schnell. »Ich habe noch keine eigenen Kinder. Aber ich engagiere mich ehrenamtlich, um Spenden für Kinderstationen zu sammeln. In Amerika habe ich auch schon bei der Einrichtung einer Pädiatrie in einer Klinik mitgewirkt«, fuhr Kalila fort, ohne den zärtlichen Blick von dem kleinen Mädchen wenden zu können, das immer noch unzufrieden, aber jetzt ohne einen Laut von sich zu geben, das Mündchen aufriss. »Dabei bin ich viel in Kontakt mit Müttern frühgeborener oder kranker Kinder gekommen. Ich habe zahllose Gespräche geführt und einiges von dem Leid erfahren, das so viele kleine Menschen tragen müssen. Deshalb kenne ich mich ein bisschen aus.«
Die Schwester hatte ihre Arbeit beendet und zeigte sich – genauso wie Ahmed – sichtlich beeindruckt von Kalilas Erzählung.
»Ich kenne keine junge Frau, die sich freiwillig mit so einer schwierigen Thematik auseinandersetzt«, lobte sie bewundernd, als ein durchdringender Piepton aus einem anderen Inkubator ein Problem ankündigte. »Ich muss weitermachen. Es war sehr interessant, sich mit Ihnen zu unterhalten.« Sie lächelte der Prinzessin noch einmal anerkennend zu und wandte sich ab, um sich um die anderen kleinen Patienten zu kümmern, die ihrer Hilfe bedurften.
Scheich Ahmed hatte die Unterhaltung der beiden Frauen mit wachsendem Interesse verfolgt.
»Dann ist es dir mit deinem Angebot, dich um Nasya zu kümmern, wirklich ernst?«, wandte er sich hoffnungsvoll an Kalila.
Die eindringlichen Worte seines Sohnes hatten ihn nachdenklich gestimmt. Der Gedanke an die Doppelbelastung, die ihn erwartete, sobald Leila zu Hause sein würde, machte ihm durchaus zu schaffen, auch wenn er sich den Anschein gab, über den Dingen zu stehen.
Sein Stolz verbot es ihm, um Hilfe zu bitten. Doch wenn ihm Hilfe angeboten wurde, noch dazu von der Frau, die er so gern zur Schwiegertochter gehabt hätte, konnte er nicht nein sagen.
»Ich liebe sie schon jetzt!«, antwortete Kalila innig.
Noch immer betrachtete sie Nasya mit unendlicher Zärtlichkeit. Beim Anblick dieses hilflosen, winzigen Menschen war ihr Herz weit geworden vor Liebe und Verantwortungsgefühl. Für einen Augenblick verdrängte dieses Gefühl sogar Hasher aus ihrem Herzen. »Ich könnte mir nichts Schöneres, nichts Sinnvolleres vorstellen, als meine Zeit in den Dienst von Nasya zu stellen«, murmelte sie ergeben. »Ich möchte für sie da sein und mich um sie kümmern, solange sie in der Klinik sein muss. Und darüber hinaus. Ich möchte ihr eine lebenslange Freundin werden, wie eine Schwester, die ihr mit Rat und Tat zur Seite steht. Auf die sie sich immer verlassen kann.« Während sie sprach, war ihre Stimme immer energischer und fester, sicherer geworden. Wenn sie schon Hasher nicht haben konnte, wollte sie wenigstens für seine Schwester da sein! Kalila riss sich vom Anblick des Kindes los und wandte sich an Ahmed.
Der Scheich sah, dass ihre Augen vor Rührung und Ergriffenheit feucht schimmerten, und konnte dem Impuls, sie in die Arme zu schließen, nicht widerstehen.
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir für deine Freundschaft danken soll!«, raunte er ihr heiser ins Ohr.
Und so hinreißend Kalila auch war, so umarmte Scheich Ahmed doch nicht die Frau in ihr, sondern die Schwiegertochter, die Mutter, die Schwester, die Tochter. Alles Weibliche, das er in diesem Augenblick verehrte wie nichts anderes auf dieser Welt.
*
Als Daniel Norden an diesem Abend aus der Klinik nach Hause kam, fühlte er sich müde und ausgelaugt. Es war schon spät, und er freute sich darauf, endlich heim in das Sommerhaus des Palastes zu kommen. Als er den gepflasterten Weg vom Parkplatz durch den herrlich angelegten Park hinabwanderte, genoss er trotz seiner Erschöpfung die warme Luft, die über seine Haut streichelte.
»Um diese Tageszeit ist es angenehm und nicht mehr so heiß, nicht wahr?« Fee hatte den Wagen ihres Mannes gehört und war zur Tür gekommen.
Sie lehnte im Türrahmen, die Arme vor dem schmalen Körper verschränkt. Wie sie so dastand und lächelte, erschien sie Daniel in diesem Moment wie ein Traumbild.
»Du kannst meine Gedanken immer noch lesen«, begrüßte er seine Frau und legte den freien Arm um ihre schlanke Hüfte, um sie an sich zu ziehen.
Einen Moment lang sah sich das Paar tief in die Augen. Dann küsste Daniel seine Fee. Lange. Zärtlich. Innig.
»Schön, dass du endlich zu Hause bist«, raunte sie, als sie sich voneinander gelöst hatten. Ihr liebevoller Blick streichelte sein Gesicht. »Du siehst müde aus.«
»Ich sehe nicht nur so aus, ich bin es auch«, gestand Daniel und wehrte sich nicht, als Felicitas ihn an der Hand nahm und hinter sich ins Haus zog.
Mit leisem Klicken fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss.
»Möchtest du gleich schlafen gehen?«, fragte sie verständnisvoll und machte im Flur Halt, wo die mit Cottofliesen belegte Treppe nach oben führte.
»Nein.« Daniel schüttelte entschieden den Kopf. »Wenn ich nicht noch eine Weile mit dir auf der Terrasse sitzen und plaudern kann, finde ich keine Ruhe. Dann ist der Tag einfach nicht abgeschlossen.« Er sah sich suchend um. »Die Kinder sind schon im Bett?«
Fee, die auf dem Weg in die Küche war, um eine Flasche Wein zu holen, drehte sich noch einmal um.
»Besonders Dési hat lange auf dich gewartet. Sie wollte dir unbedingt von dem geplanten Schulausflug erzählen. Als es zu spät wurde, hab ich sie aber ins Bett geschickt.«
»Hoffentlich gehen sie nicht zum Reiten!«, bemerkte Daniel mit einem Anflug von Sorge.
Mit Schrecken erinnerte er sich an die Reitstunde in der Schule, in der Janni durch die Schuld eines Mitschülers vom Pferd gefallen war. Dabei hatte er noch Glück im Unglück gehabt und sich lediglich eine Gehirnerschütterung und ein paar Prellungen zugezogen. Sie war folgenlos ausgeheilt, und die beiden Jungen waren schließlich sogar beste Freunde geworden.
In seine Gedanken hinein lachte Fee.
»Nein. Zum Glück nicht. Sie wollen den berühmten Botanischen Garten des Sultanats besuchen. Aber ich bin sicher, dass sie dir das morgen beim Frühstück in epischer Breite selbst erzählen wird.«
»Gut.« Damit war Daniel einverstanden. Um diese Uhrzeit und nach diesem anstrengenden Tag war seine Aufnahmefähigkeit ohnehin begrenzt. »Hast du was dagegen, wenn ich schon in den Garten vorgehe? Oder kann ich dir was helfen?«
»Es ist alles fertig. Geh nur!«, versicherte Felicitas. »Ich bin gleich bei dir.«
Tatsächlich hatte Dr. Norden noch nicht richtig Platz genommen, als sich seine Frau schon zu ihm gesellte. Sie trug ein Tablett mit einer bereits entkorkten Weinflasche und zwei Gläsern darauf. In einem Korb lagen ein paar Scheiben des landestypische Fladenbrots. Außerdem brachte Fee drei verschiedene, selbst gemachte Dips mit. Eine Schale mit eingelegten Oliven komplettierte den abendlichen Snack.
»Du weißt einfach, wonach mir der Sinn steht«, lobte Daniel die Bemühungen seiner Frau, ihm den Feierabend so angenehm wie möglich zu machen.
Er schenkte den Wein ein. Dunkelrot und verheißungsvoll schimmerte er im Kerzenschein im Glas.
»Nun ja, nach all den Jahren habe ich dich ein bisschen kennengelernt«, lächelte Felicitas amüsiert.
Sie stieß mit Daniel an. Die Gläser klangen hell, und das Paar lauschte dem Geräusch nach, bis es verweht war.
Allmählich entspannte sich Daniel Norden. Sein Blick wanderte hinüber in den herrlichen Garten. Er streifte durch Orangen- und Jasminbäume, blieb an den blühenden Bougainvilleas hängen, die durch unsichtbar in den Beeten verborgene Lampen beleuchtet wurden und wirkten wie märchenhafte Zauberpflanzen. Allein dieser Anblick war erholsam, und fast sofort fühlte er sich noch besser.
»Ist das hier nicht wie im Paradies?«, fragte er und nippte zufrieden an seinem Glas.
»Es ist wirklich herrlich«, stimmte Fee ihm aus vollstem Herzen zu. »Ich wünschte nur, dass Anneka, Felix und Danny auch hier sein könnten. Sie wären genauso begeistert wie wir. Da bin ich mir sicher.«
»Ich mir auch.« Daniel bemerkte den wehmütigen Blick seiner Frau und legte seine Hand auf die ihre. »Möchtest du nicht doch mit mir zurück nach Deutschland kommen?«, fragte er sie zum wiederholten Male.
Sie allein mit den Kindern im Orient zurückzulassen, behagte ihm ganz und gar nicht. Obwohl er sich sicher sein konnte, dass Scheich Ahmed sie mit seinem Leben beschützen würde.
Doch wie auch die Male zuvor schüttelte Felicitas zwar traurig, aber entschieden den Kopf.
»Du weißt, dass das nicht geht. Die Kinder sollen wenigstens das Schuljahr hier zu Ende machen. So lange ist es ja nicht mehr«, versuchte sie, sich selbst zu trösten. Dabei wusste sie selbst nicht so genau, wie sie die Wochen ohne ihren Mann überstehen sollte. Noch nie waren sie so lange voneinander getrennt gewesen. Um nicht melancholisch zu werden, dachte sie schnell weiter. »Außerdem braucht Leila mich. Gerade jetzt, da sie solche Fortschritte macht, will ich den Genesungsprozess nicht durch meine Abreise gefährden. Möglicherweise fühlt sie sich dadurch gekränkt.« Nachdenklich nippte sie an ihrem Wein. »Wenn ich mir vorstelle, dass sie dann einen Rückfall erleidet und vielleicht nie mehr wieder gesund wird … Nein! Das kann ich nicht machen.«
Zutiefst bewegt hatte Daniel den Worten seiner Frau gelauscht. Ihre Selbstlosigkeit verblüffte ihn immer wieder. Spontan beugte er sich zu ihr, nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie innig.
Als sie sich voneinander gelöst hatten, sah er ihr tief in die Augen.
»Du bist der edelste, selbstloseste Mensch, der mir je begegnet ist«, raunte er ihr zu, und Fee traten Tränen in die Augen.
Sie schlang die Arme um seinen Hals und drückte sich an ihn.
»Bitte, sag so was nicht«, bat sie ihn leise. »Damit machst du es mir nur noch schwerer.«
Sanft streichelte Daniel über ihren Rücken.
»Es tut mir leid. Das wollte ich nicht. Und glaub mir, mir fällt es mindestens genauso schwer wie dir. Aber ich muss Hasher einfach nach Deutschland begleiten und die Einzelheiten des Therapieplans mit Johannes besprechen. Der Prinz soll endlich ohne Beschwerden leben können.«
»Das verstehe ich doch«, versicherte Fee und löste sich tapfer lächelnd aus der Umarmung. »Weißt du was? Wir sollten die letzten Tage, die wir gemeinsam in diesem Paradies haben, so gut es geht genießen. Und am besten fangen wir sofort damit an.« Sie hob den Zeigefinger ans Ohr, um ihren Mann auf das Abendkonzert der Grillen aufmerksam zu machen, das inzwischen eingesetzt hatte. Dieses Geräusch zusammen mit der warmen Luft auf der Haut und den exotischen Gerüchen zauberte eine einmalige Stimmung, die es nur im Orient gab. Dessen war sich auch Daniel bewusst. Er hob sein Glas und sah seiner Frau tief in die Augen.
»Auf dich, mein Schatz!« Er stieß mit ihr an. »Ohne dein Einverständnis und deinen Mut wäre das alles hier nicht möglich gewesen. Das ist einer der Gründe, warum ich dich so unendlich liebe. Aber beileibe nicht der einzige.«
Fee lächelte gerührt, und der helle Klang der Gläser mischte sich mit dem Zirpen der Grillen. Es war die perfekte Kulisse für ein perfektes Liebespaar, wie Daniel und Fee es waren. Und auch, wenn der Abschied nicht weit entfernt war, gelang es ihnen, den Moment zu genießen und ganz im Augenblick aufzugehen.
*
Auch am nächsten Tag führte Ahmeds erster Weg in die Klinik zu seiner Frau Leila. Doch als er an ihr Bett trat, fand er sie trotz der Fortschritte, die sie gemacht hatte, sichtlich deprimiert und niedergeschlagen vor. Das konnte er inzwischen auf den ersten Blick an ihrem Gesichtsausdruck erkennen.
»Leila, meine Wüstenblume, was ist passiert?«, fragte er sie zutiefst besorgt. »Hast du Schmerzen?«
Langsam drehte Leila den Kopf hin und her. Selbst diese einfache Bewegung war vor ein paar Wochen noch undenkbar gewesen und bedeutete einen grandiosen Fortschritt. Da ihr Kehlkopf aber immer noch gelähmt war, konnte sie nicht sprechen, und so griff ihr Mann nach der Buchstabentafel, die stets griffbereit neben dem Bett lag. »Sag mir, was dich bedrückt«, bat er weich und hielt ihr die Tafel vor die Augen.
»Unsere Tochter«, diktierte Leila ihm sichtlich verzweifelt. »Kann ich sie sehen?«
Angesichts dieser völlig normalen Bitte erstarrte Ahmed. Natürlich! Wie hatte er vergessen können, dass Leila zwar wie lebendig eingemauert war in ihrem Körper, ihr Verstand aber zu jeder Sekunde genauso wach war wie eh und je. Diese Tatsache sprengte sein Vorstellungsvermögen.
Er war so sehr mit diesem immer wieder erschreckenden Gedanken beschäftigt, dass er Dr. Reza nicht bemerkte, die ins Zimmer gekommen war, um die tägliche Physiotherapiestunde abzuhalten.
»Ich denke, Ihre Frau braucht weitere Motivation«, erklärte die Physiotherapeutin.
Sie wollte in den nächsten Tagen damit beginnen, Leilas Zunge und Kehlkopf zu trainieren, damit sie bald wieder selbst essen und sich nach und nach endlich wieder verständlich machen konnte. »Wir dürfen jetzt nicht riskieren, dass es zu einem Stillstand kommt.«
Ahmed haderte mit sich. Er fürchtete, dass Leila beim Anblick ihres ersten Kindes zutiefst erschrecken und völlig aus der Bahn geworfen werden könnte. Zu gut erinnerte er sich an seine eigenen Gefühle, als er seine Tochter zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte.
Er schickte der Physiotherapeutin einen vielsagenden Blick, den Leila nicht sehen sollte. Auf keinen Fall wollte er seine Bedenken laut äußern.
»Glauben Sie, dass es meiner Frau hilft, wenn sie Nasya sieht?«, fragte er so unverfänglich wie möglich.
Dr. Reza überlegte keine Sekunde.
»Ich glaube, dass das eine ausgezeichnete Idee ist.«
Und doch hatte Ahmed Zweifel.
»Was ist mit der Kaiserschnitt-Narbe?«, fragte er skeptisch. »Und wie sollte Leila in die Kinderstation kommen? Wir können sie doch schlecht im Bett dorthinschieben.«
»Die Wunde ist inzwischen gut verheilt. Außerdem hat Ihre Frau so viele Fortschritte gemacht, dass wir es wagen können, sie aufrecht in einen Spezialrollstuhl zu setzen.«
»Ist das Ihr Ernst?«, fragte der Scheich so verblüfft zurück, dass Reza lächelte.
»Natürlich. Kommen Sie! Ich habe diesen Rollstuhl extra für solche Zwecke bestellen lassen. Und was gäbe es für einen schöneren Anlass, als ihn mit einem Besuch bei dem Baby einzuweihen!«, sagte die Physiotherapeutin warm.
Dieser Ansicht konnte der Scheich kaum widersprechen.
»Hast du das gehört, Leila?«, fragte er seine Frau, die trotz der Lähmung plötzlich nervös und fahrig wirkte. Es kostete sie alle Beherrschung, nur ein Mal zu blinzeln, was ein Ja bedeutete.
»Dann sind Sie also damit einverstanden, dass wir Sie in diesen Rollstuhl setzen?«, fragte Dr. Reza vorsichtshalber noch einmal nach.
»Ja!«, blinzelte Leila noch ein Mal.
Seit sie in ihrem Körper gefangen war, konnte sie ihre Emotionen nur auf eine einzige Art und Weise äußern: Mit Tränen! Wie so oft in letzter Zeit, wenn sie bewegt war, glänzten ihre Augen schon wieder von Tränen, hing ein Tropfen in ihren schönen langen Wimpern. Doch sie beherrschte sich und kämpfte tapfer gegen die überschäumenden Gefühle an, die sie zu übermannen drohten.
»Aber ich muss Sie warnen. Diese Prozedur ist sehr anstrengend. Besonders beim ersten Mal«, machte die Physiotherapeutin keinen Hehl aus den Strapazen, die Leila erwarteten.
Doch die junge Mutter war wild entschlossen, auch das durchzustehen. Sie hatte schon so viel geschafft. Das machte ihr Mut, und so kam es, dass Scheich Ahmed höchstpersönlich eine Stunde später den sperrigen Spezialrollstuhl durch die Klinikflure schob.
Die Kollegen auf der Pädiatrie waren informiert und erwarteten die junge Mutter bereits. Auch Kalila war da. Wie versprochen hatte sie sich den ganzen Vormittag aufopfernd um die kleine Nasya gekümmert, hatte ihr vorgesungen und Geschichten erzählt, durch die runde Öffnung unaufhörlich den kleinen Körper gestreichelt. Denn bisher war Nasyas Zustand zu instabil gewesen, hatten die Ärzte kein Risiko eingehen wollen, indem Kalila sie aus dem Inkubator hätte nehmen dürfen.
Nicht nur Leila, Kalila und die Ärzte warteten gespannt auf das, was passieren würde. Auch Ahmed war nervös angesichts der ersten Begegnung von Mutter und Kind.
»Hier ist deine Tochter, meine Wüstenblume«, erklärte er mit zitternder, rauer Stimme.
Jetzt war auch der Zeitpunkt gekommen, zu dem die kleine Prinzessin zum ersten Mal aus dem Brutkasten genommen wurde. Sehr vorsichtig und bedacht darauf, dass der Schlauch, mit dem Nasya künstlich beatmet wurde, nicht verrutschte, hob eine Schwester das winzige Baby aus dem Brutkasten und legte es Ahmed in die Arme.
Erschrocken starrte er auf das Bündel Mensch, das unwillig das Gesicht verzog. Tiefe Falten standen auf seiner Stirn, und aus seinem Mund kam ein klägliches Krähen.
»Keine Angst. Es wird schon nichts abbrechen«, machte die Schwester ihm lächelnd Mut.
Den Blick starr auf den winzigen Menschen in seinen Armen gerichtet, nickte der Scheich. Es dauerte ein paar Minuten, ehe er sich sicherer fühlte. Das Baby wirkte immer noch angespannt und unglücklich, doch wenigstens weinte Nasya nicht mehr. Schließlich wagte der Scheich es, seine Tochter hochzuheben, sodass Leila sie zum ersten Mal sehen konnte.
Ihr sehnsüchtiger Blick tastete das kleine Mädchen innig und zärtlich ab.
»Als würde sie es streicheln«, flüsterte eine Schwester ergriffen einer anderen zu.
Doch als der Scheich die Sehnsucht in den Augen seiner Frau entdeckte, sah, wie Leila sich mühte, die Hand zu heben, zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Leila konnte ihr Kind nicht liebkosen, es nicht halten und beschützen, wie jede Mutter dieser Welt es instinktiv tun würde. Sie konnte es nicht küssen und in den Armen wiegen. Der Schmerz darüber war so groß, dass wieder Tränen in ihren Augen glänzten.
»Komm, ich lege dir Nasya auf den Schoß«, beschloss Ahmed in diesem Moment. Er kniete nieder und legte das Bündel vorsichtig auf ihre Hände, die in ihrem Schoß ruhten. »Keine Angst, ich halte unsere Tochter«, versprach er feierlich. »Spürst du sie? Sie ist leicht wie eine Feder.«
Leila nickte unter Tränen, und der Scheich stand wieder auf, um ihr das Baby an die Wange zu halten. Ihr Atem streichelte die Wange des Kindes.
»Sieh doch nur«, machte die Intensiv-Schwester ihre Kollegin verblüfft aufmerksam und deutete auf Nasyas Gesicht, das sich nach und nach entspannte. Sie wirkte fast, als hielte sie die Luft an, um diesen Moment der Nähe zu ihrer Mutter zu genießen und für immer in ihrem Gedächtnis zu bannen. »Ist das nicht wunderschön?« Obwohl sie einiges gewohnt war, wischte sich die Schwester verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.
Und auch Ahmed hätte am liebsten mit seiner Frau geweint, so erhaben war dieser Augenblick. So ergreifend und rührend. Er musste sich räuspern, um weitersprechen zu können.
»Die Ärzte sind selbst erstaunt, wie gut es Nasya geht. Dabei hast du dir so große Sorgen um sie gemacht. Du hattest Angst, dass sie in deinem Leib sterben könnte. Wir alle haben gefürchtet, dass sie schwerbehindert sein würde«, versuchte er, seine Frau zu trösten. »Aber Nasya hat alle Zweifler eines Besseren belehrt: Sie ist zwar klein und zart. Aber sie lebt. Bis jetzt ist sie gesund. Und wenn wir alle nur fest genug daran glauben, dann wird sie es auch bleiben.« Ahmeds Blick wanderte hinüber zu Kalila, die wie gebannt dastand und die Szene mit derselben Ergriffenheit beobachtete wie alle anderen auch. »Und die Tochter meines Freundes, Scheich Ishfan, wird uns dabei unterstützen«, erklärte er feierlich.
Er nickte Kalila zu. Sie verstand die stumme Bitte in seinen Augen und kam auf Leila zu.
»Wenn Sie damit einverstanden sind, werde ich mich um Nasya kümmern, bis sie aus der Klinik zu Ihnen nach Hause entlassen werden kann. Und darüber hinaus, wenn Sie es nur wollen«, erklärte sie weich. »Ich liebe sie schon jetzt wie eine Schwester«, fügte sie hinzu.
Ahmeds besorgter Blick ruhte auf seiner Frau.
»Ich habe diese Entscheidung gemeinsam mit Kalila getroffen, weil ich dachte, dass das die beste Lösung ist. Aber natürlich werden wir das nur so machen, wenn es dir recht ist«, sagte er liebevoll.
Unaufhörlich musste er daran denken, wie grausam es für die junge Mutter sein musste, ihr Kind nicht selbst in den Armen halten und versorgen zu können. Es nicht an sich drücken, ihm all die Liebe geben zu können, die Leila mit Sicherheit im Herzen hatte. Wie entsetzlich sie sich fühlen musste, konnte er nur an dem nicht enden wollenden Tränenstrom erkennen, der ihr über die Wangen rann.
»Ist das eine gute Lösung für dich?«, fragte er vorsichtshalber noch einmal nach.
Und in diesem Augenblick geschah ein weiteres Wunder.
»Ja!« Leilas Stimme klang rau und ungewohnt. Aber es war ihre eigene Stimme gewesen, mit der sie geantwortet hatte. Zum ersten Mal seit dem Unglück, seit ihrem Zusammenbruch in ihrem Gemächern im Palast, sprach sie ein Wort.
Vor Schreck hätte Ahmed um ein Haar das Baby fallen gelassen. Nasya bemerkte das Zucken. Der heilige Augenblick war vorbei. Sie verzog zornig das Gesicht und fing an zu krähen. Hektik kam auf. Die besorgte Schwester eilte herbei und nahm Ahmed das Kind ab, um es behutsam zurück in den Inkubator zu legen. Doch der Scheich bemerkte es nicht. Fassungslos vor Freude starrte er seine Frau an.
»Hast du gerade Ja gesagt?«, fragte er ungläubig und konnte es immer noch nicht fassen.
»Ja!« Diesmal war ihre Stimme schon ein wenig klarer. Obwohl Leila die Tränen immer noch über die Wangen strömten, verzog ein stolzes Lächeln ihre Lippen.
»Haben Sie das gehört?« Überwältigt drehte sich der Scheich von links nach rechts zu Kalila und den Schwestern um, die die ergreifende Szene mit verfolgten.
Alle Gesichter strahlten, und als Kalila vor Begeisterung spontan anfing zu applaudieren, fielen alle mit ein.
»Das ist einfach großartig!«
»Oh, Leila, du weißt gar nicht, wie glücklich du mich machst«, raunte Ahmed seiner über alles geliebten, tapferen Frau ins Ohr.
Dann tupfte er ihr fürsorglich die Tränen von den Wangen – eine Geste, die noch vor ein paar Wochen, vor ihrer Krankheit, undenkbar für ihn gewesen wäre – und schob sie in ihrem sperrigen Rollstuhl höchstpersönlich durch die Klinikflure zurück in ihr Zimmer. Obwohl Leila erschöpft war wie lange nicht und sofort einschlief, kaum dass sie wieder in ihrem Bett lag, war ihr erster Ausflug doch ein voller Erfolg gewesen. Er machte Mut auf mehr und gab große Hoffnung, dass alles gut werden konnte.
*
Nicht nur Leila hatte der Besuch bei ihrer Tochter gut getan. Vor Erschöpfung schlief die kleine Nasya ein, gleich nachdem ihre Eltern gegangen waren. Sie schlief noch immer, als Kalila am nächsten Morgen auf die Station kam.
»Was ist denn mit der Kleinen?«, wandte sie sich zutiefst besorgt an Schwester Aisha, als Nasya auch nach einer weiteren Stunde nicht aufgewacht war. »Warum wacht sie nicht auf?«
Rasch kam die Schwester herbei und warf einen prüfenden Blick auf die Überwachungsgeräte.
»Wie kann das sein?« Unglauben stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Das ist ja nicht möglich!«
Kalila bekam es mit der Angst zu tun.
»Was ist passiert? Stimmt was nicht?« Die Sorge um Nasya war allgegenwärtig.
»Ganz im Gegenteil«, kam die erlösende Nachricht von Aisha, und ihre strahlende Miene unterstrich ihre Worte. »Die Sauerstoffsättigung im Blut ist so gut wie nie. Ihr Kreislauf ist stabil und der Herzschlag regelmäßig und kräftig«, fuhr die Schwester fast euphorisch fort. »Wenn Dr. Wedat in einer halben Stunde vorbeikommt, könnten wir versuchen, von der Beatmung auf eine Atemunterstützung umzusteigen.«
»Das wäre großartig!«, seufzte die Prinzessin.
Ein Stein war ihr vom Herzen gefallen.
Nasya schien das zu spüren, denn in diesem Augenblick schlug sie die Augen auf und blinzelte verschlafen in den noch jungen Morgen.
Durch das gekippte Fenster drang gedämpftes Vogelgezwitscher aus dem prächtigen Park der Klinik ins Zimmer. Um die Herzen der Patienten zu erfreuen und ihre Genesung zu befördern, hatte der Scheich einen beeindruckenden Garten mit Palmen, allerlei exotischen Pflanzen und Wasserfällen anlegen lassen. Die Strahlen der Sonne spiegelten sich darin und fielen in breiten Streifen ins Krankenzimmer, beschienen den bunten Wandteppich in leuchtenden Farben. Das alles nahm der Station den Schrecken und verbreitete besonders an diesem Morgen eine heitere, hoffnungsvolle Atmosphäre.
»Sehen Sie nur!« Verzückt blickte Kalila hinab in den Brutkasten. »Die Kleine lächelt.« Das Herz ging ihr auf vor Freude, und am liebsten hätte sie den Kinderarzt umarmt, der in diesem Augenblick durch die Tür trat. »Dr. Wedat, sehen Sie nur! Nasya lächelt.«
Überrascht trat der Arzt neben Kalila.
»Tatsächlich«, bemerkte er und versuchte vergeblich, seine Ergriffenheit zu überspielen. »Dieses kleine Mädchen ist genauso erstaunlich wie seine Mutter. Und wie seine Betreuerin«, fügte er mit einem wohlwollenden Blick auf Kalila hinzu.
»Ich glaube, es war Leilas Besuch, der das Wunder bewirkte«, erklärte die Prinzessin bescheiden.
Doch Dr. Wedat war anderer Meinung.
»Es ist die Liebe, die dieses Kind spürt und die es stark macht«, erklärte er innig. »Die ihm die Kraft gibt, um sein Leben zu kämpfen.«
»Glauben Sie wirklich, dass sie das spürt?«, fragte Kalila ungläubig.
Dr. Wedat schmunzelte leise. Das Lächeln kräuselte die Fältchen um seine Augen.
»Ich bin felsenfest überzeugt davon, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als wir sehen und begreifen können. Die Macht der Liebe gehört dazu. Sie kann Herzen brechen. Warum sollte sie dann nicht auch Leben retten?«
Diesem Argument hatte Kalila wenig entgegenzusetzen. Unwillkürlich musste sie an Hasher denken, daran, ob ihre Liebe auch bei ihm Wunder bewirken konnte. Bis jetzt hatte sie nicht den Eindruck.
»Kommen Sie«, weckte Dr. Wedat sie aus ihren Gedanken. »Wir wollen ein Experiment wagen und die Kleine vom Beatmungsgerät befreien.«
»Oh«, stammelte Kalila. Vor Verlegenheit färbten sich ihre Wangen tiefrot. »Natürlich.« Sie schämte sich, an ihre Liebe zu dem Prinzen gedacht zu haben, während Nasyas Leben immer noch nicht ganz außer Gefahr war.
Doch der Kinderarzt tat ihr den Gefallen und überspielte ihre Verlegenheit. Ein großer Moment in Nasyas Leben war gekommen, dem er sich mit aller Konzentration und mit aller Aufmerksamkeit widmete.
*
»Haben Sie nicht schon genug Unheil angerichtet?« Mit vor Wut funkelnden Augen stand Dr. Fahim vor Daniel Norden und machte keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen den deutschen Arzt.
Seit sich die beiden zum ersten Mal begegnet waren, kämpfte Daniel gegen die Vorurteile, die der Neurologe gegen ihn und seine Arbeit hegte. Dabei stand für Fahim ganz offensichtlich die Furcht vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes an erster Stelle. Erst der zweite Gedanke galt seinen Patienten.
Das war auch der Grund, dass er Leila und dem Baby nach dem Gehirninfarkt keine Chance geben wollte. Er hatte dem Scheich keine unnötigen Hoffnungen machen wollen, die er später möglicherweise enttäuschen musste. Dass die Tatsachen ihn Lügen straften und Daniel Nordens unermüdlicher Einsatz Früchte trug, versöhnte ihn nicht.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen!«, sagte Daniel kühl in seine Gedanken hinein.
Nachdem er endlich eingesehen hatte, dass eine Freundschaft mit Fahim unmöglich war, ging er nicht mehr auf seine Attacken ein. Ungerührt saß er daher an seinem Schreibtisch. Er dachte gar nicht daran, seine Arbeit für den Neurologen zu unterbrechen, und tippte einen Befund in den Computer ein.
»Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie sich für unschuldig halten an dem Notkaiserschnitt der Sheikah«, fauchte Dr. Fahim erbittert. »Der Gedanke daran, endlich aus der Klinik in den Palast heimkehren zu können, hat die Sheikah so aufgeregt, dass die Wehentätigkeit einsetzte und schließlich nicht mehr zu stoppen war«, tat er seine Sicht der Dinge kund.
In aller Seelenruhe beendete Daniel den Satz, den er gerade schrieb. Schließlich lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Er musterte den Kollegen lange und nachdenklich.
»Im Gegensatz zu Ihnen glaube ich fest daran, dass Leila die Aussicht auf eine Rückkehr in den Palast nicht geschadet hat«, erklärte er gelassen. »Angesichts der Umstände ist es ohnehin ein Wunder, dass es gelungen ist, die Schwangerschaft so lange aufrechtzuerhalten.«
»Das können Sie jetzt leicht behaupten.«
»Die Vergangenheit hat gezeigt, dass alles, was sich Leila gewünscht hat, ihr auch gutgetan hat. Sie braucht diese Motivationsschübe, um Kraft für die unglaublichen körperlichen Fortschritte zu haben, die sie in letzter Zeit gemacht hat.« Es fiel Daniel leicht, diese Behauptung aufzustellen.
Nachdem sich Leila einen Besuch im Palast gewünscht und vom Scheich mit einem klassischen Konzert überrascht worden war, war es ihr zum ersten Mal gelungen, einen Finger zu bewegen. Ein sanftes Lächeln und Kopfbewegungen waren gefolgt.
»Sie haben keine Beweise, dass Leilas Fortschritte damit zusammenhängen«, beharrte Fahim auf seiner Meinung.
Daniel lächelte betont freundlich. Auf keinen Fall wollte er sich so kurz vor Ende seines Aufenthalts im Sultanat noch aus der Reserve locken lassen.
»Und Sie können das Gegenteil nicht beweisen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht: Leila wird morgen in den Palast zurückkehren. Sämtliche Vorbereitungen sind getroffen. Übrigens ist das auch der Wunsch des Scheichs.« Er fasste Fahim ins Auge und hielt seinen Blick fest. »Ich bitte Sie inständig, mit Ahmed und Leila zusammenzuarbeiten. Die beiden brauchen Sie. Sie sind der beste Neurologe, der im Sultanat zu finden ist«, appellierte Daniel an das Ehrgefühl seines Kollegen.
Sein Plan ging tatsächlich auf.
Ein geschmeicheltes Lächeln spielte um die Lippen des stolzen Arztes, als er nach kurzem Zögern antwortete: »Solange ich nicht für den Gesundheitszustand der Sheikah verantwortlich gemacht werde und für auftretende Probleme geradestehen muss, soll es mir recht sein.«
Das war genau die Antwort, die Daniel hatte hören wollen. Er wusste, dass dieses Zugeständnis das Äußerste war, was er Dr. Fahim abringen konnte.
»Das wird nicht geschehen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer«, versprach er hoch und heilig und nahm sich in der Tat vor, für den Kollegen ein gutes Wort bei Scheich Ahmed einzulegen.
*
»Fahim auf meine Seite zu ziehen ist ein Teil dessen, was ich mir vorgenommen habe, bevor ich nach Deutschland zurückkehre«, erklärte Dr. Daniel Norden seiner Frau Felicitas wenig später am Telefon. »Nicht, dass er die erstbeste Gelegenheit nutzt und dafür sorgt, dass Leila wieder in die Klinik zurückgebracht wird.«
Fee stand im Flur des Sommerhauses und blickte gedankenverloren hinaus in den prächtigen Garten, der um diese Tageszeit in der Hitze flimmerte und flirrte. Der Abschied von ihrem Mann rückte unerbittlich näher, und ihr Herz wurde mit jedem Tag schwerer. Trotzdem suchte und fand sie immer wieder Gründe, die ihr das Verweilen im Sultanat einfacher machten.
»Ein Glück, dass ich noch eine Weile hier bin«, sprach sie das aus, was Daniel eben gedacht hatte. »Immerhin weiß Fahim, dass ich ausgebildete Ärztin und mit dem Fall so vertraut bin wie du. Bestimmt wagt er es nicht, sich über meine Meinung hinwegzusetzen.«
»Schon gar nicht, weil uns mit dem Scheich und Leila inzwischen eine Freundschaft verbindet«, erinnerte sich Dr. Norden erleichtert an die Bande, die in den vergangenen, teilweise sehr dramatischen Wochen zwischen ihnen gewachsen waren.
Dem konnte Fee nur zustimmen.
»Und wer weiß, vielleicht bessert sich Leilas Zustand bis zu meiner Rückkehr nach Deutschland so entscheidend, dass wir uns keine Sorgen mehr über Fahim machen müssen«, fuhr sie zuversichtlich fort.
Diese Hoffnung teilte auch Daniel und ließ sich nur zu gern von seiner Frau beruhigen.
Mit dem Gespräch mit dem Neurologen war ein weiterer Punkt auf seiner Liste der Dinge erledigt, die er vor seiner Rückkehr nach Deutschland noch im Sultanat erledigen musste. Nachdem Dr. Norden das Telefonat mit seiner Frau beendet hatte, wendete er sich wieder den Untersuchungsberichten von Prinz Hasher zu, um seinem Schwiegervater auf der Insel der Hoffnung vorab so viele Informationen wie möglich liefern zu können.
*
Nachdem sich Leila unter Tränen von ihrem Baby verabschiedet hatte, trat sie am kommenden Morgen ihren Heimweg in den Palast an. Doch zuvor kamen Ärzte, Schwestern und Pfleger zusammen, um sich von ihrer prominenten Patientin zu verabschieden. Zu diesem Anlass hatte sich ihre persönliche Dienerin besonders viel Mühe beim Schminken gegeben.
»Sieht sie nicht wunderschön aus?«, raunte Schwester Dalida ihrer Kollegin bewundernd zu. »Und das trotz der schweren Krankheit.«
Das gesamte Personal der Intensivstation und der Neurologie war zusammengekommen, um sich von der tapferen Sheikah zu verabschieden. Auch das Ehepaar Norden und Kalila hatten sich Zeit genommen. Sie standen am Rand des Geschehens und beobachteten die rührenden Abschiedsszenen, als Prinz Hasher unvermutet auftauchte. Er wollte seine Stiefmutter auf dem Heimweg begleiten und hatte nicht mit so einem Auflauf gerechnet, und das Herz ging ihm auf.
»Wie schön für Leila! Darüber freut sie sich bestimmt«, sagte er zufrieden zur Physiotherapeutin Dr. Reza, die sich in die Schlange eingereiht hatte.
»Ich glaube, sie ist überwältigt«, kommentierte sie den Tränenstrom, der wie immer, wenn Leila emotional berührt war, über ihre Wangen lief.
Hashers Blick glitt indes über die Anwesenden. Als er Kalila entdeckte, erstarrte sein Innerstes zu Eis. Im ersten Augenblick wollte er fliehen. Doch eine solch kindische Reaktion verbot ihm schon sein Stolz. Nach kurzem Zögern gab er sich einen Ruck und schlenderte zu ihr hinüber.
»Kalila, das ist ja eine Überraschung!«, erklärte er und reichte ihr förmlich die Hand. »Wie geht es deinem Arm?«, erkundigte er sich nach der Verletzung, die sie sich bei einem Autounfall zugezogen und wegen der sie in die Privatklinik des Scheichs eingeliefert worden war. Dort hatten sich die beiden kennen- und liebengelernt, aufgrund eines tragischen Missverständnisses aber sofort wieder verloren. Die zarte Pflanze der Liebe war schwer verletzt. Egal, was Kalila versucht hatte, um sie zu retten, es war vergeblich gewesen. Deshalb setzte ihr Herzschlag aus, als der begehrte Prinz das Wort an sie richtete.
»Wie bitte?«, fragte sie verwirrt und konnte nicht anders, als ihn anzustarren.
»Dein Arm!«, wiederholte Hasher ein wenig ungeduldig. »Bist du wieder gesund?«
Ohne den Blick von Hasher zu wenden, griff sich Kalila an den Ellenbogen.
»Ja, danke, es geht schon wieder. Dein Vater hat ganz ausgezeichnete Ärzte.«
»Das hier ist die beste Klinik im ganzen Sultanat«, erwiderte Hasher nicht ohne Stolz.
Geschickt überspielte er den inneren Aufruhr, den Kalilas Anblick, ihre Verlegenheit in ihm verursachte. Die sonst so selbstbewusste Prinzessin stand wie ein schüchternes, ängstliches Mädchen vor ihm, und er sehnte sich danach, sie in die Arme zu schließen und vor allen Unbilden des Lebens zu beschützen. Allein sein Stolz verbot es ihm. Sie hatte ihn gedemütigt und gekränkt. Niemals würde er ihr zumuten, sich mit einem kranken Mann abzugeben.
Kalilas flehender Blick hing noch an ihm, als er sich abrupt von ihr verabschiedete.
»Wie auch immer. Es freut mich, dass es dir besser geht. Ich wünsche dir auch weiterhin alles Gute«, erklärte er ruppig und wandte sich ab, noch ehe sie eine Antwort gefunden hatte.
Sich der sehnsüchtigen Blicke in seinem Rücken schmerzlich bewusst, gesellte sich der Prinz zu seinem Vater, der auf der anderen Seite des Raums ungeduldig darauf wartete, seine Frau endlich in den Palast bringen zu können. Seite an Seite standen sie da und beobachteten die rührenden Abschiedsszenen.
»Wir werden Sie vermissen!«, erklärte Schwester Dalida zutiefst gerührt und beugte sich über Leila, um ehrfürchtig ihre Hand zu küssen.
Einer nach dem anderen machte es ihr nach und reihte sich in die Schlange ein, um der jungen Sheikah Glück zu wünschen.
»Ihr Mut, Ihre Stärke und Entschlossenheit werden uns immer ein Vorbild sein«, sagte Professor Masud, der Gynäkologe, der die kleine Nasya auf die Welt geholt hatte. Sogar er kämpfte mit den Tränen und fuhr sich verstohlen mit der Hand über die Augen. »Sie haben eine fabelhafte Leistung vollbracht.«
Schließlich war nur noch Dr. Fahim übrig. Er war ganz hinten gestanden und trat zuletzt vor. Jeder wusste von dem schwierigen Verhältnis zu dem deutschen Arzt, den Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten, und alle warteten gespannt auf das, was er der Sheikah zum Abschied zu sagen hatte.
»Sie und Ihre Gesundheit liegen mir sehr am Herzen«, musste Fahim schon allein wegen der vielen Zuhörer bekennen. »Ich werde Ihnen auch in Zukunft mit Rat und Tat zur Seite stehen und in den Palast kommen, wann immer Sie mich brauchen.«
»So ein Heuchler!«, flüsterte Kalila Fee, die neben ihr stand, verächtlich zu.
Dabei gab sie sich die größte Mühe, nicht zu Hasher hinüberzusehen. Sie ignorierte ihn, so gut es ging. Doch allein seine Anwesenheit genügte, um ihr Herz in Aufruhr zu versetzen.
Währenddessen konnte sich Felicitas nur mit Mühe ein amüsiertes Lachen verkneifen.
»Zumindest haben wir jetzt viele Zeugen, falls seine Worte nicht seinen Taten entsprechen sollten«, gab sie leise zurück, als sie den verbissenen Ausdruck in Kalilas Gesicht bemerkte.
Fee verstand sofort und sah hinüber zu Hasher, der genauso wie die Prinzessin krampfhaft in eine andere Richtung starrte und sich bemühte, so unbeschwert wie möglich zu wirken. Glücklicherweise kamen in diesem Augenblick die Sanitäter, um Leila zu holen und endlich in den Palast zu fahren.
»Jetzt geht es los!«, stellte Felicitas erleichtert fest, und auch Kalila atmete auf.
Selbst wenn sie in der Betreuung der kleinen Nasya eine erfüllende Aufgabe gefunden hatte, so eilten ihre Gedanken doch immer wieder zu Hasher. Zu dem unseligen Missverständnis, zu ihrer Liebe, die trotz allem oder gerade deshalb in ihrem Herzen schwelte wie eine heimtückische, lauernde Glut, die nur darauf wartete, einen Großbrand zu entfachen. Ihn zu sehen, ihm so nah zu sein, überstieg fast ihre Kräfte.
»Dann werde ich mal wieder zu Nasya gehen«, erklärte sie hastig, erleichtert und tieftraurig zugleich, als sie zusehen musste, wie der Prinz an der Seite seines Vaters hinter Leilas Bett durch die Glastür verschwand.
Spontan legte Fee die Hand auf Kalilas Arm. Feinfühlig, wie sie war, ahnte sie, was in der unglücklichen Prinzessin vor sich ging.
»Alles wird gut«, raunte sie ihr tröstend zu. »Du musst nur Vertrauen haben in das Leben, das Schicksal. Manche Dinge brauchen einfach ihre Zeit.«
»Und manche bekommen nie eine Chance!«, entfuhr es Kalila bitter.
Der verzweifelte Blick, den sie Fee schickte, war herzzerreißend, ehe sie sich umdrehte und mit weit ausgreifenden Schritten in die andere Richtung davon ging.
Mitfühlend sah Fee ihr nach.
»Kommst du?« Ohne dass sie es gemerkt hatte, war Daniel zu ihr getreten und sah sie fragend an. »Ich möchte noch vor Leila im Palast sein, um sicherzustellen, dass alles gut läuft.«
»Natürlich!«, nickte Felicitas und riss sich aus ihren Gedanken los, um ihrem Mann zu folgen.
Wieder einmal war sie dem Schicksal mehr als dankbar dafür, dass ihr solche komplizierten Liebesverwicklungen erspart geblieben waren. Dass sie schon so viele Jahre an der Seite des Mannes verbringen durfte, den sie so sehr liebte wie ihr Leben. Schon immer geliebt hatte. Und den sie immer lieben würde.
*
»Herzlich willkommen zu Hause, Leila, meine Wüstenblume!« Scheich Ahmeds Stimme war heiser, als er endlich mit seiner Frau in ihren Gemächern allein war. Der anstrengende Transport von der Klinik in den Palast war endlich geschafft, und Leila war mit allem, was sie an medizinischen Hilfsmitteln benötigte, versorgt. Nach und nach war Ruhe im Palast eingekehrt, was Leila sichtlich erleichterte. »Wie lange ist es her, dass wir das zusammen erleben durften?«, fragte Ahmed mehr sich denn die Sheikah, die nach dem anstrengenden Abschied von der Klinik und der Fahrt in den Palast völlig geschafft in dem Pflegebett lag, das Ahmed extra hatte anschaffen lassen. Es stand direkt am Fenster. Von hier aus hatte Leila einen wunderschönen Blick hinaus in den märchenhaften Park des Palastes. Gemeinsam mit ihr sah der Scheich hinaus.
»Wenn die Lehne des Bettes etwas hochgestellt ist, hast du einen herrlichen Ausblick auf die Orangenplantage, die du so sehr liebst. Dahinter sind die Oase mit den Dattelpalmen und der Pavillon, den ich nach deinen Wünschen nach englischem Vorbild bauen ließ. Erinnerst du dich?«, redete er beruhigend auf sie ein, während er nervös hin und er her ging, unfähig, auch nur eine Minute ruhig an Leilas Bett sitzen zu bleiben. Er zupfte hier an der Bettdecke und rückte dort eines der neuen Möbelstücke zurecht, die zur Pflege der kranken Sheikah nötig waren und ihr das Leben im Palast mit demselben Komfort ermöglichen sollten, wie es in der Klinik der Fall war.
Plötzlich hielt Ahmed inne. Er hatte ein Geräusch gehört, das er nicht sofort einordnen konnte, das er aber schon einmal gehört hatte.
»Da-he.«
Überrascht drehte er sich zu seiner Frau um, die mit geschlossenen Augen im Bett lag. Der Scheich trat an ihre Seite und musterte sie eingehend. Sie sah aus, als ob sie schliefe.
»Leila?«, fragte er leise.
»Da-he.« Langsam und kaum merklich bewegte sie ihre Lippen. Aber das Wort, das die Sheikah mit seltsam fremder Stimme aussprach, war klar zu verstehen. Jetzt blinzelte sie, und ihr dankbarer Blick traf ihren Mann.
Gegen diese Gefühle, die ihm mit diesem einen Blick entgegen schlugen, war Ahmed machtlos. Es gelang ihm nicht, die Tränen zurückzudrängen, die mit aller Gewalt in seine Augen drängten.
»Aber du musst dich doch nicht bedanken«, schluchzte er auf und sank an Leilas Bett auf die Knie. »Das ist doch das Mindeste, was ich für dich tun kann. Nach allem, was ich dir angetan habe.« Wenn er an all die anderen Frauen dachte, denen er den Hof gemacht hatte, schämte er sich immer noch zutiefst. Und das, obwohl diese wunderschöne intelligente Frau zu Hause auf ihn wartete. Ihn selbstlos liebte, während er nur Augen für andere gehabt hatte. »Eigentlich muss ich dir doch danken. Du hast mir die Augen geöffnet für das, was wirklich wichtig ist im Leben«, gestand Ahmed heiser und wischte sich mit dem Ärmel seiner Dischdascha über die feuchten Augen. »Nämlich das Leben zu teilen mit den Menschen, die man wirklich liebt. Mit denen man sich etwas aufbauen kann, auf das man später stolz zurückblicken kann.« Er sann über seine Worte nach, die noch nicht einmal ansatzweise das ausdrückten, was in ihm war. Aber er fand keine besseren und legte die Wange neben Leila aufs Bett. So lag er da und hing seinen Gedanken nach, genoss die neue Nähe und Zweisamkeit mit seiner Frau, als er plötzlich spürte, wie sich etwas Sanftes wie eine Feder auf seinen Kopf legte.
»Dahe!«, wiederholte Leila, und im spiegelnden Fenster erkannte Ahmed, dass es ihre Hand war, die sie unter unendlichen Mühen gehoben und auf seinen Kopf gelegt haben musste.
»Danke, dass du mich nach Hause geholt hast. Danke, dass du für mich da bist. Danke, dass ich deine liebevolle Fürsorge spüren, deine Stimme hören, deinen Duft riechen darf. Danke dafür, dass du mich endlich liebst, meine unendliche Liebe endlich erwiderst.« All diese Worte hörte Ahmed seine Frau mit ihrer klaren, wunderschönen, melodischen Stimme sagen. Verwirrt öffnete er die Augen und versuchte, sich zurechtzufinden.
Im Zimmer war es inzwischen dunkel geworden. Das Fenster stand immer noch offen. Ein leiser Lufthauch bewegte die weißen, fast durchsichtigen Vorhänge und gab immer wieder den Blick frei auf den gigantischen Sternenhimmel.
Überrascht richtete sich Ahmed auf und bewegte den steif gewordenen Hals, die schmerzenden Schultern. Gleichzeitig starrte er hinaus auf das faszinierende Schauspiel.
»Ich habe diesen Himmel noch nie so strahlend gesehen«, murmelte er ergriffen. »So viele Sterne! So hell, so dicht, so klein und andere wiederum so groß. Manche scheinen ganz nah zu sein. Andere wirken, als kämen sie aus den tiefsten Tiefen von Jahrmillionen zu uns.« Dieser atemberaubende Sternenhimmel schien ihm wie ein Zeichen. Denn obwohl er wusste, dass er nur geträumt hatte, erfasste ihn plötzlich ein tiefes Gefühl der Sicherheit. Auf einmal wusste er, dass alles gut werden würde. Leila würde gesund werden, Nasya zu einem kräftigen Mädchen heranwachsen. Glücklich und zufrieden würden sie das Leben führen, von dem Leila immer geträumt hatte und das sich inzwischen auch der Scheich so sehr wünschte wie nichts anderes in seinem Leben. Leilas friedliches Gesicht, das vom Sternenlicht erhellt wurde, bestärkte ihn in seiner Überzeugung, dass die Erlösung nicht mehr weit war.
*
Dési Norden musste sich ein wenig gedulden, ehe sie ihrem Vater von dem geplanten Ausflug in den Botanischen Garten erzählen konnte. Doch beim Mittagessen war es endlich so weit. Wie sie es auch in Deutschland so oft wie möglich versuchten, saß die Familie auch an diesem Tag am Tisch im Sommerhaus des Palastes zusammen. Doch anders als zu Hause, wo die treue Haushälterin Lenni allein über ihr Reich, die Küche, herrschte, betätigte sich Felicitas im Orient selbst als Köchin, versuchte sich an unbekannten Rezepten und zauberte die leckersten Gerichte.
»Was gibt es denn heute Feines?« Schnuppernd hob Daniel die Nase.
Ein köstlicher Duft nach fremden Kräutern, Gewürzen und Knoblauch zog durch das Esszimmer, wo sich die Familie zusammengefunden hatte. Im Gegensatz zur flirrenden Hitze draußen herrschten hier angenehme Temperaturen.
»Ich tippe auf Hühnchen mit Tomaten und Paprika«, riet Janni und schickte seiner Mutter einen erwartungsvollen Blick.
»Nein«, erwiderte Felicitas und rang sich ein Lächeln ab. Mit jedem Tag, den der Abschied von ihrem Mann näher rückte, wurde die Wolke über ihrem sonst so heiteren Gemüt dunkler. Sie gab sich große Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, und nur Daniel bemerkte, dass das Lächeln ihre Augen nicht mehr erreichte.
»Dann gibt es Fischragout«, nahm Dési die Herausforderung unbeschwert wie immer an.
»Fisch ist schon mal richtig. Aber kein Ragout«, erwiderte Felicitas, und Dési grinste ihren Bruder herablassend an. »Tja, das ist mal wieder der Beweis dafür, dass Frauen evolutionsbedingt über einen besseren Geruchssinn verfügen als Männer«, erklärte sie triumphierend.
»Ein Glück.« Janni dachte gar nicht daran, sich von dieser wissenschaftlich nachgewiesenen Tatsache beeindrucken zu lassen. »Ich bin froh, dass ich nicht alles riechen muss.« Dabei streckte er seiner Schwester die Zunge heraus. »Vor allen Dingen nicht das komische Öl, das du von Lisa geschenkt bekommen hast.«
»Das ist nicht komisch. Das ist echtes, kostbares Rosenöl vom Markt«, verteidigte Dési das Geschenk ihrer Freundin und Schulkameradin energisch. »Eine richtige Rarität.«
Bevor die geschwisterliche Neckerei in einen handfesten Streit ausarten konnte, rief Daniel das Gericht seiner Frau wieder in Erinnerung.
»Was hast du uns denn jetzt Tolles gezaubert?«, wandte er sich neugierig und sichtlich hungrig an Felicitas.
»Fisch in Salzkruste mit Frühlingsgemüse«, verkündete sie stolz und servierte ihre verführerische Kreation. »Durch das Salz bleibt der Fisch schön saftig und bekommt ein ganz spezielles Aroma«, erklärte sie, als sie den Fisch von der steinharten weißen Kruste befreit hatte. Sie verteilte das zarte Fleisch und buntes Gemüse auf den Tellern.
»Auf jeden Fall sieht es schon mal toll aus«, lobte Daniel begeistert. »Die Farben erinnern wirklich an einen Garten im Frühling.«
Das war das Stichwort für Dési, das zu berichten, was ihr schon die ganze Zeit auf dem Herzen lag.
»Apropos Garten«, begann sie aufgeregt, »hast du schon gehört, dass die Kunstlehrerin mit uns in den Botanischen Garten fahren will? Wir sollen dort die verschiedenen Formen von Blüten und Blättern studieren und abzeichnen.«
»Das ist ja mal eine tolle Idee«, freute sich Daniel über die sichtliche Begeisterung seiner Tochter. »Ich finde es wesentlich sinnvoller, wenn Lehrer den Unterricht lebendig und praxisbezogen gestalten, als wenn ausschließlich graue Theorie vermittelt wird.«
Und auch Janni schien mit seinem Schicksal zufrieden zu sein.
»Vor allen Dingen soll dieser Botanische Garten richtig schön sein. Ein richtiger Natur-Erlebnis-Park«, erzählte er mit strahlenden Augen.
Darüber freute sich sein Vater besonders, weil ausgerechnet Jan anfangs Probleme gehabt hatte, sich an den Gedanken, eine fremde Klasse zu besuchen, zu gewöhnen. Und wie um seine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen, hatte ihm ein Klassenkamerad – der Diplomatensohn Konstantin – das Leben zunächst schwer gemacht. Er hatte einen Reitunfall provoziert und Jan einen weiteren Streich gespielt, der jedoch zur Folge hatte, dass sie schließlich doch noch beste Freunde wurden.
»Du gehst ja jetzt auch richtig gern zur Schule, nicht wahr?«, fragte Daniel Norden seinen jüngsten Sohn.
Jan nickte mit vollem Mund. Gut erzogen, wie er war, dauerte es einen Moment, bis er antworten konnte.
»Sehr gern. Manchmal denke ich sogar, dass mir die Schule hier viel mehr Spaß macht als zu Hause in Deutschland«, erklärte er zufrieden. »Die vielen Freunde aus unterschiedlichen Kulturkreisen, die Ausflüge, die wir machen, der Reitunterricht. Sogar der Englischunterricht ist hier viel spannender, weil wir an Laptops arbeiten dürfen.«
»Das freut mich wirklich«, erwiderte Daniel und war sichtlich stolz auf seine beiden Kinder, die diese nicht unerheblichen Schwierigkeiten wie das Eingewöhnen in einem fremden Land, einer neuen Klasse, so bravourös gemeistert hatten. »Und beweist wieder einmal, dass man den Mut nicht verlieren darf, auch wenn es am Anfang noch so schwer scheint.«
»Dem Mutigen wachsen Flügel, mit denen er schließlich alle Hindernisse überwinden kann«, fügte Felicitas liebevoll hinzu und musterte ihre beiden jüngsten Kinder zärtlich. »Wir sind so unglaublich stolz auf euch, dass ihr das geschafft habt«, sprach sie wieder einmal das aus, woran ihr Mann eben gedacht hatte.
»Deshalb wollten wir euch noch vor meiner Abreise nach Deutschland fragen, ob es einen Wunsch gibt, den wir euch erfüllen können.« Daniel musterte seine Kinder aufmerksam.
Jan und Dési tauschten einen vielsagenden Blick. Wie immer, wenn es ernst wurde, waren sich die Zwillinge einig.
»Es wäre toll, wenn du nicht nach Deutschland fliegen müsstest und wenn stattdessen Anneka, Felix und Danny herkommen könnten«, übernahm Dési die Antwort.
Daniel Norden seufzte betreten.
»Ihr wisst, dass das nicht möglich ist. Ich kann euch nur anbieten, dass wir alle zusammen nach Hause fliegen. Allerdings wird das dann mit dem Unterricht in Deutschland schwierig werden. Eure Klasse hat mit Sicherheit in den vergangenen Monaten ganz anderen Stoff durchgenommen.«
In seine Worte hinein schüttelte Jan den Kopf.
»Wenn du nicht böse oder enttäuscht bist, möchten wir das Schuljahr wirklich noch wie besprochen mit unseren Freunden beenden«, bat er seinen Vater um Verständnis. »Danach gehen sowieso viele zurück in ihre Heimat. Oder die Väter oder Mütter werden in ein anderes Land versetzt.«
Daniel lächelte beruhigend.
»Natürlich bin ich nicht böse. Und auch nicht enttäuscht«, versicherte er lächelnd. »Wie gesagt, ich finde es toll, dass ihr euch so gut eingelebt habt, und verstehe, dass ihr dieses einmalige Abenteuer bis zur Neige genießen wollt.« Er hatte kaum ausgesprochen, als Dési vom Stuhl aufsprang. Sie stürzte sich auf ihren Vater und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Du bist der beste Papi der Welt!«
Janni tat dasselbe mit Fee.
»Und du die beste Mami!«, erklärte er innig.
»Danke dafür, dass ihr uns immer ermutigt und für uns da seid«, fand Dési die richtigen Worte, um das auszudrücken, was auch ihrem Bruder so sehr am Herzen lag.
Und als ob die Katze Schneeweißchen – Dési hatte sie auf dem Markt von einem Gaukler geschenkt bekommen – sie verstehen konnte, strich sie abwechselnd schnurrend um Fees und Daniels Beine. Das schöne, elegante Tier vervollkommnete das Bild von Glück und Harmonie, das die Familie nach außen und innen darstellte und das bis in die Tiefen mit wahren, echten Gefühlen erfüllt war.
*
Zur selben Zeit, als Daniel Norden mit seiner Familie diesen innigen Moment des Glücks erlebte, saß Prinz Hasher in der Klinik auf einem Sessel gegenüber der Psychotherapeutin Shiva. Sie war eine aparte Frau und obendrein intelligent und gebildet, sodass sie Hasher in manchen Momenten an Kalila erinnerte.
»Dann steht der Aufbruch nach Deutschland also unmittelbar bevor?«, fragte sie weich. »Ich hoffe sehr, dass Sie dort endlich effektiv behandelt werden können.«
Hasher, der bereits seit einigen Wochen mit der Therapeutin arbeitete, teilte ihre Ansicht.
»Das hoffe ich auch. Allerdings tut es mir leid, dass wir unsere Sitzungen nicht fortsetzen können. Ich hatte das Gefühl, dass mir unsere Gespräche sehr geholfen haben«, lächelte er dankbar. »Ihnen habe ich es zu verdanken, dass der letzte Krankheitsschub im Gegensatz zu den anderen kürzer und nicht ganz so schmerzhaft und gravierend verlaufen ist.«
»Schön, das zu hören.« Doch die offensichtliche Sorge im Gesicht des Prinzen dämpfte Shivas Freude. »Trotzdem machen Sie keinen sehr glücklichen Eindruck«, sagte sie ihm auf den Kopf zu.
»Es mag etwas seltsam klingen«, gestand Hasher nach einigem Zögern. »Aber ehrlich gesagt würde ich Sie am liebsten mitnehmen. Wer weiß, wie die Kollegen in Deutschland arbeiten. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie satt ich es habe, das Versuchskaninchen zu sein.« Eine unwillige Falte teilte seine edle Stirn und ließ ihn düster und fast böse wirken.
Doch zumindest in dieser Hinsicht konnte die Psychotherapeutin den Prinzen beruhigen.
»Die Verfahren der Verhaltenstherapie sind sehr standardisiert. Sie zielen allesamt vor allen Dingen darauf ab, menschliches Leiden zu lindern und die Handlungsfähigkeit zu erweitern. Das ist in Deutschland mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht anders«, versicherte sie ernst.
Angesichts dieser frohen Botschaft fiel Hasher ein Stein vom Herzen.
»Offenbar steht meine Reise zur Insel der Hoffnung unter einem guten Stern«, erklärte er halbwegs beruhigt. »Dr. Cornelius hat schon einige Therapie-Vorschläge gemacht, die neu und vielversprechend sind.«
»Außerdem gebe ich Dr. Norden sämtliches Material aus unseren Sitzungen mit, damit sich die Psychologen in Deutschland ein Bild von Ihnen und Ihrem Leiden machen können«, versprach Shiva. »Auf diese Weise bleiben Ihnen die gefürchteten Wiederholungen, die immer gleichen Gespräche und Erklärungen und nutzlosen Behandlungen erspart.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Hasher sah auf die Uhr und stand auf.
Es wurde Zeit, in den Palast zurückzukehren, wo er bereits erwartet wurde. Nachdem sich sein Vater seit der Rückkehr seiner kranken Frau nur noch um Leila kümmerte, oblag es dem Prinzen, die Regierungsgeschäfte zu ordnen und an den Vertreter zu übergeben, so lange er noch im Sultanat weilte.
Shiva begleitete ihn zur Tür und hinaus auf den Flur.
»Nichts zu danken. Dafür bin ich doch da«, versicherte sie und lächelte geschmeichelt.
Eine feine Röte überzog ihre Wangen, so sehr freute sie sich über das Kompliment. Ihre Freude wirkte ansteckend, und plötzlich packte Hasher der Übermut.
»Haben Sie etwa nur Ihre Pflicht getan?«, flirtete er ganz offensichtlich mit ihr und brachte Shiva – sich seiner Wirkung auf Frauen wohlbewusst – wissentlich in Verlegenheit.
»Nein, natürlich nicht«, versicherte die Therapeutin schnell und schickte ihm einen schmelzenden Blick. »Ich denke, Sie haben auch gespürt, dass da eine besondere Verbindung zwischen uns ist. Aber auch, dass es mir mein Status als Ihre Therapeutin unmöglich macht, eine private Beziehung zu Ihnen aufzubauen«, zog sie – wenn auch schweren Herzens – klar ihre Grenzen.
»Ich weiß«, versicherte Hasher und sah sie aus schmalen Augen an. »Aber eine Umarmung zum Abschied werden Sie mir doch nicht verwehren?«, fragte er mit verführerisch rauer Stimme. Nicht, dass er ein tiefergehendes Interesse an der Psychotherapeutin gehabt hätte. Doch Kalilas Worte schmerzten noch immer wie ein Giftpfeil in seiner Seele, hatten sein ohnehin angeknackstes Selbstbewusstsein zutiefst getroffen. Das Wissen darum, eine schöne Frau wie Shiva betören zu können, war Balsam auf den Wunden des Prinzen.
Und Shiva war nicht nur schön, sondern auch klug. Sie ahnte, wie es in Hashers Seele aussah, und erfüllte ihm seinen Wunsch. Lächelnd öffnete sie weit die Arme, und der Prinz zog sie an seine Brust. So standen die beiden in inniger Umarmung und flüsterten sich Dankesworte ins Ohr, als Kalila um die Ecke kam, auf der Suche nach Trost und Zuspruch.
Als sie ihre große Liebe Hasher und die Psychotherapeutin eng umschlungen auf dem Klinikflur entdeckte, blieb sie wie vom Donner gerührt stehen. Das Herz wollte ihr stehen bleiben, als Hasher Shiva etwas ins Ohr flüsterte und sie geschmeichelt kicherte.
»So ist das also!«, platzte sie laut und wütend heraus. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sich die Prinzessin derart gedemütigt gefühlt. Ihr geliebter Hasher … Ausgerechnet mit der Frau, der sie ihr Herz ausgeschüttet hatte, die um ihre geheimsten Gedanken und Gefühle wusste!
Wie von der Tarantel gebissen fuhren die beiden auseinander und starrten die Prinzessin an, deren Augen vor Wut und verletztem Stolz Funken sprühten.
In diesem Augenblick drehte sich Kalila um und lief davon. Shiva wollte ihr folgen. Doch der Prinz hielt sie am Arm fest. Ein grimmiges Lächeln spielte um seine Lippen, während er Kalila nachsah. Auch wenn es kindisch war, fühlte er eine gewisse Genugtuung darüber, dass die stolze Prinzessin ihn mit Shiva gesehen hatte. Es war der beste Beweis, dass Kalila sich geirrt hatte. Dass es durchaus noch intelligente, schöne, junge Frauen gab, die ihn trotz seiner Krankheit begehrenswert fanden. In diesem Augenblick hatte Kalila vielleicht eine Ahnung davon bekommen, wie weh sie ihm getan, wie sehr sie ihn verletzt, wie sehr sie sich getäuscht hatte.
*
Die kleine Nasya schaffte es tatsächlich, ohne Beatmungsgerät, nur mit Hilfe der Beatmungshilfe zu atmen. Von Tag zu Tag verbesserte sich ihr Allgemeinzustand.
»Sie hat so großes Glück gehabt«, erläuterte Schwester Aisha stolz, als Kalila wie jeden Morgen in die Klinik kam. »Je weniger ein Frühchen beatmet werden muss, umso besser.«
»Warum ist das schlimm?« Als Studentin hatte sie Spenden für Kinderstationen gesammelt und interessierte sich immer noch für die medizinischen Fakten. Sie stand vor dem Brutkasten und betrachtete Nasya. Der Blick der Kleinen schien aus weiter Ferne zu kommen und war von einer unerhörten Weisheit, die Kalila zutiefst beeindruckte.
»Eine hohe Sauerstoffkonzentration in der Atemluft kann auf die Zellen toxisch, also giftig, wirken und die Lunge nachhaltig schädigen«, erläuterte Aisha geduldig wie immer alles, was Kalila wissen wollte. »Untersuchungen haben gezeigt, dass frühgeborene Kinder auch im Schulalter teilweise noch unter verengten Atemwegen und Schäden an der Lunge leiden. Das trifft insbesondere auf die Kinder zu, die nach der Geburt länger und auch mit einer höheren Sauerstoffkonzentration beatmet werden mussten.«
»Die armen Kleinen!« Kalilas Mitgefühl kannte keine Grenzen. »Ein Glück, kleine Nasya, dass du es so schnell geschafft hast, selbstständig zu atmen.«
Schwester Aisha brachte noch einen weiteren Aspekt ins Spiel, über den die Prinzessin bis jetzt noch nicht nachgedacht hatte.
»Eines dürfen Sie niemals vergessen«, erklärte sie demütig. »Wenn alles normal verlaufen wäre, würde Nasya heute noch gar nicht atmen müssen. Sie müsste weder selbst essen noch verdauen«, erinnerte sie daran, dass das Baby viel zu früh geboren war. Ihr zärtlicher Blick wanderte hinüber zum Inkubator. »Wir dürfen nicht zu viel von diesen Würmchen erwarten und müssen stattdessen stolz auf alles sein, was sie leisten. Das ist ein enormer Kraftakt.« Obwohl sie als Intensivschwester auf der Frühgeborenen-Station viel gesehen und erlebt hatte, war ihr die Rührung deutlich anzusehen. »Ich bewundere diese Geschöpfe, die mit so viel Willensstärke und Kraft um ihr Leben kämpfen.«
Diese Bewunderung konnte Kalila nur teilen.
»Sie haben recht«, bestärkte sie Schwester Aisha in ihrer Ansicht. »Eines Tages werde ich Nasya davon erzählen, was für eine Heldin sie von Anfang an war.«
Einen Augenblick lang hing Aisha noch ihren Gedanken nach. Dann holte sie tief Luft und lächelte entschlossen. Es wurde Zeit, zum Tagesgeschäft zurückzukehren und sich nicht von Sentimentalitäten ablenken zu lassen.
»Wie sieht es aus? Sind Sie bereit, die Kleine zu halten?«
Kalila hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dieser Frage.
»Geht das denn schon?«, fragte sie ungläubig.
»Nun, stabil genug dafür ist Nasya. Und ich denke, dass ihr der Körperkontakt ganz guttun wird, wie die Begegnung mit ihrer Mutter bewiesen hat.« Schwester Aisha deutete auf einen bequemen Sessel, der schon vor ein paar Tagen bereitgestellt worden war.
Plötzlich war Kalila ganz aufgeregt. Endlich durfte sie dem kleinen Wesen, das sie bereits tief in ihr Herz geschlossen hatte und wie eine Schwester liebte, ganz nah sein.
»Natürlich möchte ich sie halten!«
Nach Anweisung der Schwester machte es sich die Prinzessin in halb liegender Position im Sessel bequem. Sie öffnete die Bluse, damit Nasya ihre Haut, die menschliche Wärme, den Herzschlag spüren konnte, und nahm das winzige Baby, eingewickelt in eine Decke, in Empfang.
»Was für ein wundervolles Gefühl!« Vor Ergriffenheit standen Kalila Tränen in den Augen. »Aber sie scheint so zerbrechlich zu sein.«
Schwester Aisha stand vor dem Sessel und blickte auf die beiden hinab.
»Keine Angst, beim Känguruhen ist noch nie ein Kind zu Schaden gekommen«, versicherte sie glaubwürdig.
»Stecke ich sie denn nicht mit meiner Aufregung an?«, fragte die Prinzessin unsicher weiter und spürte ihr wild schlagendes Herz in der Brust.
Aisha sah hinüber zu den Überwachungsgeräten, die ständig sämtliche lebenswichtigen Werte aufzeichneten.
»Die Sauerstoffsättigung im Blut steigt. Das ist ein gutes Zeichen. Und Nasyas Atemfrequenz wird ruhiger.« Die Schwester nickte zufrieden. Ihre Ahnung hatte sich bestätigt. »Der Kleinen tut der Kontakt gut.«
»Nicht nur der Kleinen«, seufzte Kalila und wagte es kaum, über das winzige Köpfchen zu streicheln.
Während sie das Kind auf ihrer Brust betrachtete, das wirkte wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen, wanderten ihre Gedanken unwillkürlich zu Hasher. Wie gern hätte sie ihn jetzt an ihrer Seite. Sie könnten sich zusammen um Nasya kümmern, als wäre sie ihr gemeinsames Kind. »Ein Kind der Liebe!«, seufzte sie und spürte, wie die Freude über Nasya einer tiefen Melancholie weichen wollte. Schnell schickte sie ihre Gedanken weiter zu Leila, die im Palast in ihrem Bett lag und sich sicherlich nach ihrer kleinen Tochter verzehrte. Sich nichts sehnlicher wünschte, als an Kalilas Stelle zu sein. Fast sofort hatte die Prinzessin ein schlechtes Gewissen. »Ich bin wirklich undankbar«, tadelte sie sich selbst und konzentrierte sich endlich ganz auf das Baby auf ihrer Brust, dem inzwischen die Augen zugefallen waren und dessen bewegtes Mienenspiel im Schlaf von dem schweren Kampf und den erleichternden Momenten zeugte, die es abwechselnd durchlitt und erlebte.
*
Obwohl Leila ihre kleine Tochter in der Tat schmerzlich vermisste, fühlte sie sich im Palast, in ihren eigenen Gemächern, viel wohler als in der Klinik. Seit ihrer Rückkehr bemühte sich eine Schar Therapeuten unermüdlich um sie. Tag für Tag, Stunde für Stunde, übte sie die kleinsten Bewegungen und machte erstaunliche Fortschritte.
Ahmed wich dabei kaum von ihrer Seite. Trotzdem stockte ihm der Atem, als er eines Morgens in Leilas Gemächer kam und sie aufrecht sitzend, angeschnallt im Spezialrollstuhl, beim Frühstück vorfand.
»Was machen Sie da?« Entsetzt stürzte er auf Schwester Dalida zu, die vor Leilas Bett auf einem Stuhl saß.
Sie hatte die Lehne hochgestellt und hielt eine Schüssel mit weißem cremigem Inhalt in der einen Hand. Mit der anderen schob sie der Sheikah eben einen winzigen Löffel Joghurt in den Mund.
Aufgeschreckt von dem ängstlichen Ehemann hob Dalida den Kopf. Gleich darauf verwandelte sich der Schreck in ein triumphierendes Lächeln.
»Ihre Frau kann schlucken! Sehen Sie sich das an!«
Fassungslos stand Ahmed vor seiner Frau, in deren Augen ein glückliches Leuchten stand.
»Es-sen!«, formulierte Leila stolz das Wort mit fast unbewegten Lippen. Sie klang dabei wie ein Roboter.
Doch Ahmed verstand sie trotzdem und wollte schreien vor Glück.
»Aber das ist ja ganz fantastisch!«, rief er.
Er nahm Leilas Gesicht in beide Hände und übersäte es mit kleinen Küssen, wie sie es so sehr liebte. Seine dunklen Augen, tiefgründig wie zwei tiefe Seen, strahlten wie zwei funkelnde Sterne.
»Langsam!«, mahnte Schwester Dalida besorgt zur Besonnenheit. »Nicht, dass Sie Ihre Frau aus Versehen ersticken.«
»Keine Angst, das wird nicht passieren«, versicherte Ahmed. Trotzdem nahm er sich die Mahnung der Schwester zu Herzen und rückte ein Stück ab von Leila. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen. »Stell dir vor, wir beide wären auf der Terrasse eines wunderschönen Hotels in der Südsee. Im Hintergrund dirigiert Richard Menza das Klarinettenquintett von Mozart für dich. Die Ober servieren feinen weißen Fisch, wie du ihn so sehr liebst. Wir stoßen mit Champagner auf unser neues Glück an, während Nasya selig im Hotelzimmer, behütet von einer Nanny, schläft«, zeichnete er ein wunderschönes Bild in die Luft.
Schwester Dalida lächelte gerührt.
»Was für eine schöne Vorstellung. Aber bis dahin wird es noch eine kleine Weile dauern«, bremste sie die Begeisterung des Scheichs ein wenig aus.
Auf keinen Fall durfte Leila ungeduldig werden.
»Das macht nichts.« Ahmed bemerkte mit neuem Zartgefühl, dass er übers Ziel hinausgeschossen war.
Wie immer, wenn Leila eine Gefühlsregung hatte, tropften Tränen wie Perlen über ihre zarten Wangen. Ob sie aus Freude über die wunderschöne Fata Morgana weinte, die ihr liebender Mann an den Horizont gezaubert hatte, ob vor Anstrengung, Verzweiflung oder Trauer, konnte sie noch nicht äußern.
»Nicht weinen, meine Mondgöttin!«, raunte Ahmed ihr liebevoll zu und tupfte zärtlich die Tränen fort. »Bald haben wir nur noch Grund zu lachen.« Er streichelte mit dem Finger über ihre Wange.
»In der Ruhe liegt die Kraft«, wiederholte Dalida ihre Mahnung. »Sie dürfen nichts überstürzen.« Und zur Sheikah gewandt fuhr sie fort: »Sie müssen niemandem etwas beweisen und haben alle Zeit der Welt, um wieder gesund zu werden. Das, was Sie bisher geschafft haben, grenzt ohnehin an ein Wunder.«
»Wem sagen Sie das?«, fragte Ahmed so innig und voller Stolz, dass Leila schon wieder Tränen in die Augen traten. Doch diesmal lächelte sie dabei und Dalida mit ihr.
*
Endlich war der große Tag gekommen, auf den Dési schon eine Weile hin fieberte. Gleich nach dem Mittagessen brachte Felicitas die Zwillinge zur Schule. Alle beide trugen einen Zeichenblock unter dem Arm. In einem Rucksack befanden sich die Bleistifte in unterschiedlicher Stärke, die Fee auf Wunsch ihrer Tochter extra angeschafft hatte.
»Wir brauchen noch ein paar Bilder fürs Esszimmer«, sagte sie zum Abschied. »Zeichnungen von exotischen Pflanzen machen sich bestimmt gut an der Wand neben dem Fenster«, feuerte sie ihre Kinder an.
Désis Wangen leuchteten vor Eifer. Auch sie hatte die Trauer in den ungewöhnlich violetten Augen ihrer Mutter bemerkt, die immer dunkler wurden, je näher der Abschied von Daniel rückte. Schon in zwei Tagen sollte es so weit sein. Dann wollte Dr. Daniel Norden gemeinsam mit Prinz Hasher nach Deutschland fliegen.
Und wenn es in Désis Macht lag, ihrer Mutter den Abschied wenigstens ein bisschen zu erleichtern, dann wollte sie es tun.
»Ich gebe mein Bestes!«, versprach sie und umarmte Fee hastig, nachdem sich auch Janni von ihr verabschiedet hatte.
Nach und nach hatten sich die Klassenkameraden vor dem Schulhaus versammelt und warteten darauf, in den bereitstehenden Bus einsteigen zu dürfen.
»Bitte einmal alle durchzählen!«, verlangte die Kunstlehrerin Frau Ishaq mit energischer Stimme.
Nachdem sichergestellt war, dass keiner fehlte, konnte die Reise endlich losgehen. Dési saß neben ihrer Freundin Lisa und sah aus dem Fenster. Noch immer faszinierte sie die fremde Umgebung, fühlte sie sich im Orient wie eine Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht.
»Findest du nicht auch, dass es hier aussieht wie in einem Märchen von Scheherazade?«, fragte sie ihre Freundin, ohne den Blick von den Häusern zu wenden, die draußen vorüberzogen.
Die grün emaillierten Dachziegel der verspielten Villen schimmerten und schillerten im Sonnenlicht. Zwischen Türmen, Erkern und schmiedeeisernen Zäunen blitzte das verführerische Blau der Swimmingpools. Üppige Hibiskus-Büsche blühten zwischen Pinien und sich leise im Wind wiegenden Palmen.
Lisa hatte sich zu Dési hinübergebeugt und betrachtete gemeinsam mit ihr die Umgebung.
»Ich mag gar nicht dran denken, dass wir im nächsten Schuljahr woanders hinziehen«, murmelte sie ein wenig bedrückt. »Der einzige Trost ist, dass du auch nicht hierbleibst.« Im selben Moment hielt der Bus auf einem weitläufigen Parkplatz, und schlagartig waren die traurigen Gedanken, die aufkeimende Melancholie vergessen.
»Bitte geht in einer Reihe hinüber zum Eingang«, rief Frau Ishaq ihren Schülern mit lauter Stimme zu. »Ich kaufe ein Gruppenticket, und dann gehen wir gemeinsam in den Garten.«
Kurz darauf begann das Abenteuer.
»Der Botanische Garten ist einmalig auf der ganzen Welt«, erklärte die Lehrerin ihren Schülern, während sie über die gekiesten Wege wanderten. »Scheich Ahmed hat ihn nach eigenen Ideen anlegen lassen. Sämtliche Kontinente der Welt sind hier mit Flora und Fauna vertreten. Neben den Pflanzen und Tieren sind Brücken in diesem Park eine besondere Attraktion.« Sie deutete auf eine Hängebrücke aus Seilen, die über einen künstlich angelegten Bachlauf führte. »Es gibt Schaukelbrücken, Bastbrücken, Hängebrücken und Holzbrücken, über die man von Kontinent zu Kontinent gelangt.«
»Hier sind wir in Afrika!«, rief Jannis Freund, der Diplomatensohn Konstantin, vorlaut in die Runde.
Doch diesmal tadelte Frau Ishaq ihn nicht. Bei diesem Ausflug ging es nicht so streng zu wie im normalen Unterricht, und sie nickte zustimmend.
»Richtig. Das ist unschwer an den Bananenstauden zu erkennen.«
»Und da drüben ist Asien«, rief ein anderer Schüler.
»Da gehen wir jetzt hin.« Frau Ishaq winkte ihre Klasse mit sich über eine schwankende Seilbrücke.
Alle lachten und kreischten, bis sie sicher das andere Ufer erreicht hatten und zwischen Reis- und Teepflanzen im Dschungel von Vietnam standen. Und weiter ging die Reise nach Amerika und Europa. Über allem tönte das Gezwitscher aus unzähligen kleinen Kehlen.
»Wo sind denn nur die ganzen Vögel?«, fragte Dési und sah sich staunend um.
»Die wirst du gleich sehen«, versprach Lisa, die den Garten schon einmal mit ihren Eltern besucht hatte. »Hinter den Rosen sind gigantische Käfige, in denen Vögel aus aller Welt leben.«
Tatsächlich standen sie wenig später vor einer riesigen Voliere und bestaunten die bunte, flatternde, schimpfende, zwitschernde Pracht.
»So, nachdem wir alles gesehen haben, können wir uns jetzt an die Arbeit machen«, forderte Frau Ishaq ihre Schüler schließlich auf. »Das Motiv dürft ihr frei wählen. Es kann ein Blick zu der baumbewachsenen Grotte sein oder aber eine Hängebrücke. Vielleicht wollt ihr euch aber lieber mit Blattstrukturen und Blütenformen beschäftigen. Lasst euch einfach von der herrlichen Umgebung inspirieren.«
Das ließen sich die Schüler nicht zweimal sagen und sahen sich nach dem besten Platz, dem schönsten Motiv um. Dési hatte die Qual der Wahl und konnte sich nicht entscheiden.
»Was meinst du? Mag Mami lieber Seerosen im Teich oder die Kaffeebäume mit dem Zuckerrohr im Hintergrund?«, zog sie ihren Bruder zu Rate.
»Hmm!« Nachdenklich sah Jan hinüber nach Südamerika. »Seerosen haben wir daheim ja auch. Ich denke, wir zeichnen was Exotisches.«
Damit war Dési einverstanden.
»Gut. Dann nehme ich den Kaffee«, beschloss sie.
Nachdem sie der Kunstlehrerin Bescheid gesagt hatte, machte sie sich auf den Weg in Richtung der Seilbrücke, über die sich eben die Schüler einer anderen Klasse hangelten.
»Darf ich mal?«, bat sie einen entgegenkommenden Jungen, sie vorbeizulassen.
Sie hatte es eilig, ans andere Ufer zu kommen, als die Brücke plötzlich gefährlich zu schwanken begann. Ein paar der Schüler hielten sich an den Seilen fest und machten sich einen Spaß daraus, die ganze Brücke hin und her schwingen zu lassen. Wie in einem starken Sturm schwankte sie hin und her und bog sich plötzlich nach unten. Dési, die mitten auf der Brücke stand, verlor den Halt.
»Hilfeee!« Verzweifelt versuchte sie, sich irgendwo festzuhalten. Doch ihre Hände griffen ins Leere. Mit einem Aufschrei stürzte sie in den Teich, der die beiden Kontinente voneinander trennte.
Jan hörte den Schrei seiner Zwillingsschwester.
»Das war doch Dési!«, stellte er irritiert fest und sah sich um.
Doch da war sein Freund Konstantin schon losgelaufen.
Der Tümpel war nicht sehr tief, aber voller Algen und Schlingpflanzen. Dési war so in Panik, dass sie kämpfte und strampelte. Dadurch zogen sich die Pflanzen immer enger um ihre Beine und fesselten sie wie Seile. Sie schlug mit den Armen um sich, Wasser spritzte ihr ins Gesicht. Sie schluckte, hustete, spuckte.
»Keine Angst, ich bin gleich bei dir!«, rief Konstantin dem panischen Mädchen zu. Ungeachtet seiner hellen Hose und der neuen Sandalen schob er sich durch den schlammigen Grund vorwärts und bekam schließlich ihre Hände zu fassen. »Ganz ruhig. Das Wasser ist nicht tief. Du kannst drin stehen. Versuch das mal!«, erinnerte er sie.
Konstantins ruhige Stimme brachte Dési schließlich wieder zur Vernunft. Sie klammerte sich an seinen Händen fest und tastete nach dem Boden unter ihren Füßen. Gemeinsam gelang es ihnen, ihre Beine von den Fesseln zu befreien, und schließlich brachte Konstantin die hustende, keuchende Désirée zurück ans sichere Ufer.
»Vielen, vielen Dank für deine Hilfe«, sagte sie kläglich zu Konstantin.
Inzwischen hatte die ganze Klasse mitbekommen, was geschehen war. Frau Ishaq rang verzweifelt die Hände.
»Warum muss in dieser Klasse eigentlich immer etwas passieren?« Mit Schaudern dachte sie an jenen Tag vor Wochen zurück, als Jan und Konstantin verschwunden waren. Nach einer großangelegten Suchaktion hatte man die beiden Jungen schließlich eingeschlossen im Kunstraum unversehrt wiedergefunden. Es war nie herausgekommen, wer für diesen Streich verantwortlich war, aber der Gedanke daran ließ ihr immer noch den Angstschweiß auf die Stirn treten.
»Ich kann nichts dafür«, versicherte Dési kleinlaut und schämte sich schon jetzt dafür, so ein Theater veranstaltet zu haben.
Ratlos und kopfschüttelnd betrachtete Frau Ishaq das vor Schlamm und Wasser triefende Mädchen.
»Zum Glück kannst du dich bei dieser Hitze nicht erkälten.« Sie sah sich um.
In einer Ecke entdeckte sie einen zusammengerollten Wasserschlauch.
»Damit können wir dich abspritzen. Dann bist du zwar noch nass, aber wenigstens nicht mehr so schmutzig«, beschloss sie, und sofort lief Janni los, um diesen Plan in die Tat umzusetzen.
Ein paar Minuten später war der Schreck vergessen, und alle kehrten an ihre Arbeit zurück. Sogar Dési brachte noch ein hübsches Bild zustande, und kichernd und vergnügt plaudernd machte sich die Klasse eine Stunde später auf den Rückweg.
*
Als der Bus schließlich wieder vor der Schule hielt, waren Désirées Kleider wieder halbwegs trocken. Trotzdem hielt Felicitas, die schon zum Abholen bereit stand, vor Schreck die Luft an, als sie ihre jüngste Tochter zu Gesicht bekam.
»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte sie und starrte auf die ehemals hübsche weiße Bluse, die helle Hose, die inzwischen eher wie Putzlappen aussahen. Auch Désis blondes Haar war strähnig und schmutzig.
»Wie siehst du denn aus?«, fragte sie ungläubig.
Schnell kam Frau Ishaq herbei. Sie fühlte sich ein wenig mitschuldig an dem, was passiert war.
»Es tut mir sehr leid, Frau Dr. Norden«, entschuldigte sie sich peinlich berührt. »Dieser Nachmittag ist ganz anders verlaufen als geplant. Aber glücklicherweise ist Dési nichts passiert.«
»Konstantin hat mich nämlich gerettet!« Dési zog ihren Retter am Ärmel zu Fee.
»Das war nicht weiter schwer«, grinste er verlegen. »Das Wasser war nur oberschenkeltief.«
»Trotzdem hab ich wahnsinnig Angst gehabt«, fuhr Dési aufgeregt fort und schickte ihrem Retter einen bewundernden Blick. »Diese ganzen furchtbaren Schlingpflanzen haben sich um meine Beine gewickelt. Ich dachte schon, ich komm da nie mehr wieder raus. Und ich hab Unmengen Wasser geschluckt. Obwohl es nicht richtig tief war.« Sie schilderte den Vorfall so bildhaft, dass Fee fast meinte, selbst dabei gewesen zu sein.
»Ach, das war doch halb so wild«, winkte Konstantin verlegen ab, als Dési mit ihrem Bericht am Ende angelangt war.
Doch auch Fee lächelte dankbar und trat auf ihn zu, um ihm die Hand zu reichen.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dafür bin, dass du Dési so selbstlos geholfen hast«, sagte sie so warm, dass Konstantins Wangen feuerrot wurden.
Zeit für eine Antwort blieb ihm dennoch nicht, denn in diesem Augenblick ertönte ein Hupen hinter ihm. Der Fahrer seiner Eltern war gekommen, um ihn nach Hause zu bringen.
»Ich muss los!«, entschuldigte er sich hastig bei Fee, winkte Janni und Dési schnell zu und lief über die Straße.
Diese Gelegenheit packte Felicitas Norden beim Schopf.
»Dann fahren wir auch mal nach Hause und stecken euch in die Badewanne.«
»Lieber in den Pool«, antwortete Jan keck und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.
Diesmal war er an der Reihe, vorn zu sitzen, nachdem seine Schwester das Privileg auf der Hinfahrt genossen hatte.
Doch Dési hatte auch nichts dagegen. Nachdem die Spannung von ihr abgefallen war, fühlte sie sich nach diesem aufregenden Abenteuer müde und erschöpft. Ihr war sogar ein bisschen schlecht, und sie freute sich auf ihr Bett.
*
Dank Kalila konnte Scheich Ahmed viel Zeit mit seiner Frau verbringen. Leila machte jeden Tag neue Fortschritte. Schließlich bat sie ihn mit ihrer eigenen Stimme darum, ihr Kind besuchen zu dürfen.
»Nasya sehen«, sagte sie mit ihrer Roboterstimme.
Noch immer wollten sich ihre Lippen nicht recht bewegen. Und doch war Ahmed jedes Mal wieder der glücklichste Mann der Welt, wenn er seine Frau sprechen hörte.
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach er innig.
Noch am selben Tag – Leila machte gerade ihren obligatorischen Mittagsschlaf, um sich von ihren anstrengenden Therapien zu erholen – eilte er in die Klinik. Dort wollte er sich wie jeden Tag nach seiner kleinen Tochter erkundigen.
Zu seinem großen Entsetzen traf er Kalila weinend vor der Station vor. Sofort schnürte ihm die Angst die Kehle zu.
»Kalila, Prinzessin, was ist passiert?«, fragte er atemlos.
Von Tränen verschleiert, erkannte die Prinzessin den Vater ihrer großen Liebe zunächst nicht. Es dauerte eine Weile, bis sich der Schleier lichtete.
»Ahmed, ein Glück, dass du da bist!«, rief sie und stürzte erleichtert in seine Arme.
Wie eine Ertrinkende schmiegte sie sich an seine Brust und suchte dort Schutz und Halt.
»Kindchen, ist ja gut. Alles wird gut«, sprach Ahmed beruhigend auf sie ein, obwohl er selbst entsetzliche Angst hatte. Glücklicherweise hatten seine Bemühungen schließlich Erfolg, und Kalilas schneller Atem wurde langsam ruhiger, das Zittern ihres schmalen Körpers weniger. »Was ist los?«, wiederholte er seine Frage sehr sanft.
Der Umgang mit seiner kranken Frau Leila hatten ihn Demut und Geduld gelehrt, und der Erfolg dieser Lehre ließ nicht lange auf sich warten.
»Nasya, irgendwas stimmt nicht mit ihr …«, presste Kalila endlich mit Mühe durch die Lippen.
Behutsam löste sich Ahmed aus der Umarmung und führte sie zu einer Bank im Flur. Mit sanfter Gewalt drückte er die junge Prinzessin hinunter und setzte sich neben sie.
»Ich verstehe nicht«, sagte er dann heiser. »Gestern hast du doch noch stolz berichtet, wie gut ihr das Känguruhen tut«, erinnerte er sich an ihre ausführlichen und immer begeisterten und überaus liebevollen Berichte, die sie Tag für Tag im Palast ablieferte.
»Ich weiß auch nicht, was los ist.« Statt wie sonst sicher und kraftvoll, war ihre Stimme kaum mehr als ein tonloses Flüstern. Kalila kannte sich selbst nicht wieder.
Seit dem furchtbaren Missverständnis mit Hasher fühlte sie sich ihrer Energie beraubt, hatten ihr Selbstbewusstsein, ihre Selbstbeherrschung deutlich gelitten. Daran konnte auch die kleine Nasya nichts ändern. Und schon gar nicht, wenn ihr Zustand so beunruhigend war wie im Augenblick.
»Sie ist furchtbar unruhig und liegt keinen Augenblick still in ihrem Inkubator«, berichtete die Prinzessin mit brennenden Augen. »Heute mussten wir das Känguruhen abbrechen, weil es ihr gar nicht gefallen hat.« Sie holte tief Luft, um überhaupt weitersprechen zu können. »Sogar Schwester Aisha war heute gereizt und hat mich rausgeschickt. Das ist noch nie zuvor passiert.« Schon wieder zitterten die Hände in ihrem Schoß so sehr, dass Ahmed fürsorglich nach ihnen griff.
»Ganz ruhig«, versuchte er erneut, Kalila zu beschwichtigen. Gleichzeitig dachte er fieberhaft darüber nach, was jetzt zu tun war. Natürlich sorgte er sich um seine kleine Tochter. Aber er dachte auch an Leila und daran, was er der jungen Mutter erzählen sollte. »Ich gehe jetzt zu Schwester Aisha und versuche herauszufinden, wie es Nasya geht. Vielleicht vermisst sie einfach nur ihre Mutter«, tat er seine Hoffnung kund. »Du wartest am besten so lange im Aufenthaltsraum.« Mit einem Kopfnicken deutete er auf eine geschlossene Tür, hinter der bequeme Stühle und Erfrischungen auf erschöpfte Angehörige von Patienten warteten.
Dankbar, keine eigenen Entscheidungen mehr treffen zu müssen, fügte sich Kalila in die Anweisungen.
»Danke!«, sagte sie leise, ehe sie aufstand und mechanisch hinüberging.
Mitfühlend sah Ahmed ihr nach. Dann stand er auf, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Die Sorge um seine Tochter Nasya beugte seinen Rücken, und einen kurzen Augenblick lang fühlte er sich wie ein alter Mann. Doch dann riss er sich zusammen, straffte die Schultern und ging entschlossenen Schrittes auf die Tür der Frühchen-Station zu.
*
»Das ist alles.« Melancholisch strich Felicitas das letzte Hemd glatt, das sie in den Koffer auf all die anderen Dinge gelegt hatte, die bereits gepackt waren. Wehmütig dachte sie an den Tag ihrer Ankunft, als das Abenteuer Orient noch verheißungsvoll und aufregend wie ein geschlossenes Buch vor ihnen gelegen hatte. Nun waren die Seiten gefüllt mit den gemeinsam bestandenen Abenteuern, kannte sie den Inhalt und wünschte sich noch einmal an den Anfang zurück. Oder aber, dass sie das Ende umschreiben könnte. »Oder haben wir noch etwas vergessen?« Tränen brannten in ihren Augen, die vom wenigen Schlaf der vergangenen Tage dunkel umschattet waren. Ihre Stimme war heiser, sodass sie sich räuspern musste.
Daniel, der mit seiner Frau litt, drehte sie an den Schultern zu sich herum und schloss sie in die Arme.
»Nicht traurig sein, meine Liebste«, raunte er ihr ins Ohr und küsste sie sanft. »Unser Abschied ist ja nicht für lange. Wenn alles gut geht und sich Leilas Gesundheitszustand weiterhin so bessert, sind wir bald wieder glücklich vereint.«
»Ein paar Wochen werden es trotzdem sein«, erwiderte Fee und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.
Sie ärgerte sich darüber, nicht stärker zu sein und ihrem Mann zusätzliche Sorgen zu bereiten.
»Aber noch bin ich ja da.« Daniel nahm ihr Gesicht in die Hände und betrachtete sie forschend und eindringlich. »Noch kannst du dich entscheiden, ob du nicht doch mit nach Deutschland kommen willst.«
Die Versuchung war groß und mit jedem Tag, mit dem der Abschied ihres geliebten Mannes näher rückte, größer geworden.
Doch Felicitas widerstand auch diesmal. Sie nahm Haltung an, holte tief Luft und lächelte tapfer.
»Ändere niemals ohne guten Grund eine einmal getroffene Entscheidung!«, erklärte sie aus tiefster Überzeugung. »Auch wenn es mir schwer fällt, gibt es im Augenblick keinen Grund, meine Pläne zu ändern«, versicherte sie mit Nachdruck. »Sicher, Leila macht große Fortschritte. Doch solange Nasya nicht völlig über den Berg ist, ist auch die Gesundheit ihrer Mutter in ständiger Gefahr. Ich glaube, ich würde in Deutschland verrückt werden vor Sorge um all die Menschen, mit denen wir hier so innige Freundschaft geschlossen haben.«
Daniel lächelte voller Stolz auf seine entschlossene Frau.
»Na, siehst du! Daran musst du immer denken, wenn du in der Zeit unserer Trennung ein Tief hast.« Auch ihm fiel es nicht leicht, seine Frau und seine beiden Kinder im Orient zurückzulassen. Auch deshalb, weil seine Tochter Dési seit dem Ausflug ein wenig kränkelte. Da aber eine gründliche Untersuchung kein Ergebnis gebracht hatte und sie sich schon wieder besser fühlte, war er optimistisch. »Außerdem können wir jeden Tag telefonieren und E-Mails schreiben. Du wirst sehen, dass die Zeit wie im Flug vergehen wird«, sprach Daniel nicht nur seiner Frau, sondern auch sich selbst Mut zu.
Felicitas lächelte tapfer und fühlte sich wirklich ein bisschen besser.
»Manchmal führe ich mich auf wie ein liebeskranker Teenager«, schalt sie sich selbst und klappte entschieden den Deckel des Koffers zu. Dann sah sie auf die Uhr. »Euer Flugzeug geht in fünf Stunden.«
»Gut.« Daniel nickte und dachte kurz darüber nach, was noch zu tun war. »Ich möchte mich auf jeden Fall persönlich von Leila verabschieden. Und natürlich von den Kollegen, Schwestern und Pflegern in der Klinik. Im Anschluss werde ich mit Ahmed und Hasher direkt zum Flughafen fahren.«
»Gut!«, stimmte Fee diesem Plan zu, den sie vorab schon ein paar Mal besprochen hatten. »Wir sehen uns dann am Flughafen. Ich bringe die Zwillinge mit.« Schon wieder zog sich ihre Brust schmerzhaft zusammen, schnürte sich ihre Kehle zu. Doch sie ließ sich nichts anmerken und begleitete ihren Mann mit einem tapferen Lächeln zur Tür des Sommerhauses.
Als trüge auch der Himmel Trauer angesichts des bevorstehenden Abschieds, türmten sich an diesem Tag zum ersten Mal seit Wochen düstere Wolken am Horizont.
»Seltsames Wetter«, bemerkte Daniel kopfschüttelnd und beugte sich noch einmal vor, um Felicitas zärtlich zu küssen.
Als er den Weg durch den märchenhaft schönen Park in Richtung Parkplatz hinunterging, meinte Fee, vor Schmerz vergehen zu müssen. Doch als er sich noch einmal nach ihr umdrehte, lächelte sie tapfer und hob die Hand, um ihm zu winken.
»Bis später!«
Dann kehrte sie ins Haus zurück, um nach Dési zu sehen. Insgeheim tippte Fee auf den Abschiedsschmerz als Grund für das Unwohlsein ihrer jüngsten Tochter. Sie konnte Dési gut verstehen. Am liebsten hätte auch sie sich im Bett verkrochen und die Tage bis zum Wiedersehen, den Schmerz, die Sehnsucht verschlafen. Doch wie so oft schmiedete das Leben andere Pläne, denen sich Fee wohl oder übel fügen musste.