Читать книгу Kelter Media Adventskalender 1 - Michaela Dornberg - Страница 18

Оглавление

Katja Baumann, die Assistentin des Chefarztes der Behnisch-Klinik, sah von ihrer Arbeit auf, als sich die Tür öffnete und Dr. Felicitas Norden hereinkam.

»Fee, wie schön, dass du mich mal wieder besuchen kommst!«, sagte sie nicht ganz im Ernst. Obwohl sich die beiden Frauen gut verstanden, galt Fees Auftauchen im Vorzimmer des Chefarztes nur selten seiner Assistentin.

»Eigentlich will ich Daniel abholen. Wir sind zum Mittagessen verabredet.« Fee Norden, die leitende Kinderärztin und Daniel Nordens Ehefrau, sah sehnsuchtsvoll zum nagelneuen Vollautomaten, der hier seit einigen Wochen seinen Dienst tat. »Aber ich bin extra früher gekommen, damit wir noch ein bisschen quatschen können.«

Mit einem wissenden Lächeln stand Katja auf. »Und gegen einen Kaffee aus unserer tollen Maschine hast du sicher auch nichts einzuwenden.«

»Überhaupt nicht!« Fee steuerte einen der bequemen Clubsessel in der Besucherecke an. Sie war glücklich, dass Katja sofort erkannt hatte, wie nötig sie einen guten Kaffee hatte. »Darauf freue ich mich schon den ganzen Vormittag.« Sie lehnte sich zurück und schloss für ein paar erholsame Sekunden die Augen.

»So schlimm?«, fragte Katja teilnahmsvoll, als sie die Tassen auf dem Tisch abstellte und sich zu Fee setzte.

»Hinter mir liegt ein langer, anstrengender Wochenenddienst«, erklärte Fee nur. Sie hatte Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken und griff nach ihrer Tasse, um einen großen Schluck davon zu nehmen. Dankbar registrierte sie, wie schnell die belebende Wirkung des Kaffees einsetzte.

»Du Ärmste. Du siehst aus, als könntest du einen freien Tag gebrauchen.«

»Eher eine freie Woche.« Fee seufzte. »So ein kleiner Urlaub zwischendurch wäre jetzt genau das Richtige für mich. Ich sollte mal versuchen, Daniel von einem kleinen Urlaub zu überzeugen.«

»Viel Überzeugungsarbeit wird wohl gar nicht nötig sein«, sagte Katja mit einem tiefgründigen Lächeln.

»Wie meinst du das? Was weißt du, was ich nicht weiß? Hat mein Mann irgendetwas in dieser Richtung angedeutet?« Fee kniff die Augen zusammen und musterte Katja. Sie war sich auf einmal sicher, dass Katja ein Geheimnis hütete.

Lachend schüttelte Katja den Kopf. »Ich weiß gar nichts, Fee. Jedenfalls nichts Genaues. Und selbst wenn, würde ich nicht mit dir darüber sprechen. Das steht nur deinem Mann zu.«

»Also habe ich mich nicht getäuscht!« Fee sah zur Tür, hinter der Daniels Büro lag. »Ich hoffe, ich erfahre bald, was er da ausgeheckt hat.«

»Im Moment telefoniert er. Du wirst dich wohl gedulden müssen, bis er fertig ist.« Katja entschied, dass ein Themenwechsel angebracht war, bevor Fee ihr doch noch die Neuigkeit entlocken konnte. »Wie geht es den Zwillingen?«

»Welche meinst du?«, fragte Fee zurück. »Die großen oder die kleinen Zwillinge?«

Katja lachte. »Fang mit den kleinen an.«

Damit meinte Katja das Zwillingspärchen von Danny, dem ältesten Sohn der Nordens, der seit kurzem Vater war.

»Oda und Vincent geht es prima. Sie wachsen und gedeihen und sind einfach zauberhaft…« Fee holte das Handy aus der Tasche ihres Arztkittels und präsentierte stolz die neuesten Fotos der beiden. Damit war sie beschäftigt, bis Daniel Norden sein Telefonat beendet hatte und aus seinem Büro kam.

»Zeigst du wieder Babybilder?«, fragte er schmunzelnd und warf schnell selbst einen Blick auf das Display.

»Natürlich«, gab Fee lächelnd zurück. »Ich muss mir doch die Zeit zu vertreiben, wenn du so lange telefonierst.«

»Du bist zu früh, Feelein. Nur deshalb musstest du warten«, er warf einen bezeichnenden Blick auf die Kaffeetassen, »und unsere neue Kaffeemaschine testen.«

Fee winkte ab. »Ach, das habe ich doch schon oft getan. Ich weiß längst, dass sie ihr Geld wert ist. Jetzt muss ich nur noch meinen Chefarzt dazu bringen, der Pädiatrie so eine tolle Maschine zu spendieren.«

»Keine Chance.« Daniel lachte leise. »Wenn ich das machen würde, müsste ich mit einem Aufstand der anderen Abteilungen rechnen. Sie würden mir völlig zu Recht Vetternwirtschaft vorwerfen.«

Mit einem süßen Schmollmund stand Fee auf. »Bringt mir denn der Status als Ehefrau des Chefarztes gar keine Vorteile ein?«

»Doch, mein Schatz. Ihm verdankst du die Überraschung, die ich für dich habe.« Als er dabei seiner Assistentin einen verschwörerischen Blick zuwarf, musste Fee wieder an Katjas sonderbare Andeutungen denken.

Daniel hielt ihr seine Hand hin. »Wir setzen uns noch ein paar Minuten in mein Büro. Dann erzähle ich es dir.«

»Nun spann mich nicht länger auf die Folter«, drängelte Fee, als sie mit Daniel allein war. »Katja tat auch schon so geheimnisvoll, wollte mir aber nichts erzählen.«

»Das sollte sie auch nicht. Sie darf mir doch nicht die Freude nehmen, es dir selbst zu sagen.« Daniel war um seinen Schreibtisch herumgegangen, um den Briefumschlag, der auf seinem Platz lag, zu holen. »Der war am letzten Freitag in der Post. Ich bin erst heute dazu gekommen, mich darum zu kümmern«, sagte er. Er machte eine kurze Pause, um die Spannung zu steigern. »Was hältst du davon, mit mir im nächsten Monat an die Ostsee zu fahren?«

»Wir wollen im November in den Urlaub fahren?«, fragte Fee voller Vorfreude.

Daniel reichte den Umschlag an seine Frau weiter. »Nicht direkt. Wir haben eine Einladung von Kerstin und Uwe Hansen bekommen. Sie laden uns für ein langes Wochenende nach Binz ein.« Als ihn Fee nur stirnrunzelnd ansah, erklärte er: »Binz liegt auf Rügen …«

»Das weiß ich doch, Dan.« Fee rollte mit den Augen. »So schlecht sind meine Geografiekenntnisse nun auch wieder nicht. Ich musste nur kurz über den Namen nachdenken. Sind die Hansens nicht die Schwiegereltern von Herrn Berger?«

»Ja, sie sind die Eltern seiner verstorbenen Frau. Ich habe die beiden im Sommer kennengelernt, als sie in München waren, um Erik Berger zu besuchen. Du weißt vielleicht noch, dass wir Uwe Hansen aufnehmen mussten, weil er einen Herzinfarkt hatte. Christina Rohde hat ihm in der anschließenden OP das Leben gerettet.«

»Nicht nur sie. Ich erinnere mich, dass du mit ihr zusammen am OP-Tisch standest«, sagte Fee, die die Bescheidenheit ihres Mannes gut kannte. Daniel wurde nie müde, die Leistung anderer zu loben, während er seinen eigenen Anteil oft herunterspielte.

»Na, jedenfalls will Uwe Hansen seinen Geburtstag ganz groß feiern, und er möchte uns dabeihaben.«

»Nun, das klingt … gut?« Fee ließ es absichtlich wie eine Frage klingen. Sie war sich noch nicht sicher, was sie davon halten sollte. Natürlich war es überaus verlockend, die Arbeit für ein paar Tage hinter sich zu lassen und einen kleinen Urlaub anzutreten. Aber es fühlte sich irgendwie falsch an, die Einladung anzunehmen. Daniel hatte doch nur seine Arbeit gemacht. Patienten zu heilen, war seine Passion, so wie es auch die ihre war. Das Wissen, ein Menschenleben gerettet oder Leid gelindert zu haben, war Dank genug. Eine Gegenleistung – wie diese Einladung – war deshalb völlig unnötig. Dass Daniel das genauso sah, wusste sie. Trotzdem schien er nichts gegen diese Reise zu haben. Ansonsten hätte er gar nicht erst davon gesprochen.

»Ja, es klingt gut, mein Schatz.« Daniel, der ahnte, worüber sich Fee den Kopf zerbrach, lächelte sie offen an. »Trotzdem hatte ich Bedenken und wollte die Einladung ablehnen. Doch jetzt – nach dem Gespräch mit Uwe Hansen – bin ich froh, dass ich es nicht getan habe.«

»Du hast ihn angerufen? Vorhin, als ich mit Katja Kaffee getrunken habe?«

»Ja, ich wollte es erledigt haben, bevor du kommst.«

»Und?«, fragte Fee ungeduldig. »Was hat er gesagt? Wie hat er es geschafft, dich umzustimmen?«

»Er hat mir versichert, dass die Einladung nichts mit falsch verstandener Dankbarkeit zu tun habe. Er und seine Frau möchten uns einfach nur wiedersehen und uns an ihrem Glück teilhaben lassen. Für sie ist dieser Geburtstag ein ganz besonderer. Uwe sieht es als großes Geschenk an, ihn überhaupt feiern zu dürfen. Ihm ist es sehr wichtig, dass wir kommen. Natürlich hat er auch Frau Rohde eingeladen, und Erik Berger wird ohnehin dabei sein.«

»Ich wusste gar nicht, dass Herr Berger auch eine gesellige Seite besitzt und Lust auf eine Party hat.«

»Ich bin mir sicher, dass er darauf gar keine Lust hat. Aber Uwe Hansen ist der Vater seiner verstorbenen Frau. Für ihn wird er eine Ausnahme machen und sich aus seinem Schneckenhaus wagen. Er hat den Hansens schon zugesagt und meinte, dass er kommen würde – sofern ihm sein Chef die freien Tage genehmigt.«

Fee lachte. »Das wird schon klappen. Ich kenne seinen Chef ganz gut. Er ist ein sehr verständnisvoller Mensch. Sicher wird er alles tun, um Herrn Berger diese Reise zu ermöglichen. Selbst wenn das für ihn bedeutet, zusammen mit seinem knurrigsten Mitarbeiter in den Urlaub zu fahren.«

»Das macht Herrn Berger bestimmt mehr Angst als mir«, griente Daniel. »Übrigens erzählte mir Uwe Hansen, dass es noch einen anderen Grund zum Feiern gibt: Sie wollen den Tag nutzen, um Toni Bachler ganz offiziell in der Familie zu begrüßen. Das Vormundschaftsgericht hat die Hansens endlich als Tonis Betreuer eingesetzt.«

Fee erinnerte sich gut an den Fall des jungen Mannes. Toni Bachler litt an einer geistigen Behinderung. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er niemanden mehr, der sich um ihn kümmern konnte. Die Behörden brachten ihn deshalb in einer Wohngruppe unter. Dort hatte sich Toni überhaupt nicht wohlgefühlt. Eines Nachts fand ihn Christina Rohde hinter ihrem Haus. Die warmherzige Chirurgin sorgte dafür, dass er in der Behnisch-Klinik aufgenommen wurde. Hier bekam er einen Herzschrittmacher und freundete sich mit seinem Bettnachbarn, Uwe Hansen, an. Für Toni stellte sich das als großer Glücksfall heraus. Die Hansens schlossen Toni sofort in ihr Herz. Bei ihnen fand Toni nicht nur ein gutes Zuhause, sondern auch eine neue, liebevolle Familie.

»Toni hat es sehr gut getroffen«, sagte Daniel. »Ich freue mich schon auf ein Wiedersehen mit ihm und den Hansens. Und vor allem freue ich mich auf ein paar freie Tage mit dir an der Ostsee.«

»Und ich freue mich auch. Sehr sogar. Am liebsten würde ich sofort losfahren. Ich stelle es mir zu dieser Jahreszeit sehr romantisch auf der Insel vor. Es sind sicher nur wenige Touristen da, so dass es recht ruhig sein wird. Und vielleicht erleben wir sogar einen schönen, kräftigen Herbststurm an der Küste.«

»Ja, vielleicht. Die Sache hat allerdings einen Haken.« Daniel nahm noch einmal die Einladung in die Hand und zeigte auf das Datum. »Der Geburtstag ist in drei Wochen. Wir würden am Donnerstag losfahren und am Sonntag heimkehren. Doch leider halte ich ausgerechnet an diesem Donnerstag einen Vortrag für die Erstsemester an der Uni. Ich möchte das nur ungern absagen.«

»Dann solltest du das auch nicht tun, Dan. Wir könnten genauso gut einen Tag später losfahren. Es wäre dann zwar eher ein kurzes Wochenende für uns, aber ich würde trotzdem sehr gern hinfahren.«

»Ich auch, Fee. Es tut mir leid, dass es meinetwegen nicht mit einem langen Wochenende klappen wird. Deshalb habe ich mir eine kleine Wiedergutmachung überlegt.«

Sofort hatte er die volle Aufmerksamkeit seiner Frau. »Wie soll die aussehen? Bekommt die Pädiatrie nun doch noch ihren Kaffeeautomaten?«

»Nein, mein Schatz, bedauere«, lachte Daniel. »Aber wie würde es dir gefallen, wenn wir im nächsten Frühling einen längeren Urlaub auf Rügen machen? Mit Uwe Hansen habe ich bereits darüber gesprochen. Sie halten uns schon mal ein Zimmer für zehn Tage frei. Natürlich nur, wenn du magst …«

Weiter kam er nicht. Fee war um seinen Schreibtisch gelaufen, um sich auf den Schoß ihres Mannes zu setzen. Mit einem stürmischen Kuss verschloss sie ihm den Mund.

»Natürlich möchte ich«, sagte sie lächelnd, als sie ihn wieder freigab. »Wie kannst du daran nur zweifeln?«

*

In der Notaufnahme der Behnisch-Klinik herrschte emsige Betriebsamkeit. Alle Behandlungsräume waren besetzt, und der Warteraum war jetzt, zur Mittagszeit, noch immer bis auf den letzten Platz gefüllt. Eigentlich war Christina Rohde vorbeigekommen, um Dr. Erik Berger, den leitenden Notfallmediziner der Behnisch-Klinik, in die Mittagspause zu entführen. Doch beim Anblick der vielen Patienten wurde ihr klar, dass sie wohl keinen Erfolg haben würde. Selbst wenn Erik wollte, würde er kaum fortkönnen, und sie müsste wieder allein in die Cafeteria gehen.

Sie verbrachte gern Zeit mit ihm – und niemand konnte das verstehen. Erik war kein geselliger oder umgänglicher Mensch und galt als unbeliebtester Arzt der Klinik. Er war bärbeißig und zynisch und benahm sich oft so unausstehlich, dass jeder einen großen Bogen um ihn machte und ihm tunlichst aus dem Wege ging. Warum es bei Christina anders war und sie so oft seine Nähe suchte, war für alle ein großes Rätsel. Niemand konnte verstehen, dass die beiden ungleichen Ärzte befreundet waren. Die sympathische, lebenslustige Ärztin mit den seelenvollen dunklen Augen schien so gar nicht zu dem grantigen Notfallmediziner zu passen. Und trotzdem verbrachten die beiden seit einigen Monaten häufig ihre Pausen zusammen, so dass bereits die ersten Gerüchte die Runde machten. Noch nahm sie niemand wirklich ernst. Allein die Vorstellung, dass die beiden ein Liebespaar sein könnten, war bizarr und völlig lächerlich. Doch hin und wieder fragte man sich, ob nicht doch etwas Wahres dran sein könnte. Wie war es sonst zu erklären, dass Dr. Berger manchmal ein Lächeln über das Gesicht huschte oder dass seine legendären Tobsuchtsanfälle viel seltener und nicht mehr so heftig auftraten? Hatte es die hübsche Frau Rohde vielleicht doch geschafft, den Eisklumpen in seinem Herzen zum Schmelzen zu bringen?

Auf der Suche nach Erik öffnete Christina Rohde die Tür zum Behandlungsraum Eins. Hier fand sie Dr. Martin Ganschow, einen sehr zuverlässigen und umsichtigen Assistenzarzt.

»Wissen Sie, wo Herr Berger ist?«, fragte Christina nach der Begrüßung.

Dr. Ganschow, der gerade einer jungen Patientin einen Wundverband anlegte, blickte nur kurz hoch. »Ich bin mir nicht sicher. Wenn Sie ihn in der Aufnahme nicht finden, ist er schon draußen an der Rampe, um auf den Rettungswagen zu warten. Die Leitstelle hat ihn vorhin angekündigt.«

»Ein Fall für die Chirurgie?«, fragte Christina sofort nach.

»Nein, ein Fall für die Innere. Sie können also in Ruhe Ihre Mittagspause antreten und müssen sich nicht für eine OP vorbereiten.« Martin sah noch einmal auf. »Ich nehme doch an, dass Sie mit Herrn Berger in die Cafeteria wollten.«

Christina nickte zustimmend. Ein wenig seltsam war es schon, dass Herr Ganschow es für völlig normal hielt, dass sie und Erik gemeinsam in die Pause gingen. Noch vor kurzem wäre das undenkbar gewesen. Nicht nur für Martin Ganschow und die anderen Kollegen, sondern auch für sie.

Wann sich ihr Verhältnis zu Erik verändert hatte, wusste sie nicht mehr. Vielleicht schon damals, als er nach einer Explosion verschüttet unter Trümmern lag und alle um sein Leben bangten. Oder vielleicht bei dem Besuch seiner Schwiegereltern, denen sie vorspielen musste, mit Erik befreundet zu sein. Egal, wann es geschah – irgendwann hatte sie seinen weichen Kern entdeckt und sich ihm nahe gefühlt. So nahe, dass es ihr inzwischen schwerfiel, in ihm nur noch einen Kollegen oder Freund zu sehen. Sie hatte sich in ihn verliebt, daran zweifelte sie nicht mehr. Doch leider war das kein Grund zum Jubeln oder um Hochzeitspläne zu schmieden. Erik erwiderte ihre Gefühle nicht. Es bereitete ihm schon Mühe, sie als gute Freundin zu akzeptieren. Zu mehr war er nicht bereit – und würde es wohl auch nie sein.

Sie fand ihn tatsächlich an dem kleinen, etwas abseits gelegenen Seiteneingang der Klinik, an der sogenannten Rettungsrampe. Erik wartete hier ungeduldig mit Schwester Anna auf das Eintreffen seines Patienten.

Als er Christina auf sich zukommen sah, runzelte er die Stirn. »Was machst du hier?«, fragte er frostig. »Hat die Leitstelle ein chirurgisches Konzil einberufen? Bislang durfte ich immer noch allein entscheiden, ob das nötig ist oder nicht.«

»Keine Sorge, daran hat sich nichts geändert. Ich bin hier, weil ich dich überreden wollte, mit mir essen zu gehen.« Bevor Erik darauf antworten konnte, hob sie beschwichtigend eine Hand. »Reg dich nicht auf. Ich weiß selbst, dass du hier nicht wegkannst. Herr Ganschow hat mir schon gesagt, dass du zu tun hast.«

»Und was machst du dann hier?« Er klang dabei so unfreundlich, dass sich Schwester Anna lieber diskret zurückzog. Sie wollte gar nicht hören, wie ihr übellauniger Chef mit der netten Frau Dr. Rohde umsprang.

»Ich wollte nur mal Hallo sagen und sehen, wie’s dir geht. Wir haben uns ein paar Tage nicht gesprochen …«

»Ja, weil es nichts zwischen uns zu besprechen gibt.«

Christina taten seine Worte weh und das ließ sie ihn nun spüren. »Dann sollte ich wohl besser gehen. Ich weiß eh nicht, warum ich meine kostbare Pausenzeit an dir verschwende.«

Sie hatte kurz die Hoffnung, dass er jetzt einlenken würde, doch sie wurde enttäuscht. Erik starrte nur missmutig an ihr vorbei zur Straße und wartete auf das Eintreffen des Rettungswagens. Erst als sie sich von ihm abwandte, um wieder ins Haus zu gehen, hielt er sie auf.

»Hast du auch eine Einladung von meinem Schwiegervater bekommen?«, fragte er plötzlich.

»Ja, ich habe sie Freitag Abend aus dem Briefkasten geholt.« Christina war stehengeblieben und drehte sich wieder zu ihm um. »Leider kann ich sie nicht annehmen.«

»Warum nicht?«, fragte er verblüfft. Dabei sah er so erleichtert aus, dass es Christina einen heftigen Stich versetzte. Trotzdem schaffte sie es, in einem lockeren, unbekümmerten Ton zu antworten: »Irgendjemand muss in der Notaufnahme die Stellung halten. Wenn du Urlaub nimmst, um nach Binz zu fahren, muss ich dich hier vertreten. Der Chef würde meinem Urlaubsantrag deshalb niemals zustimmen.«

»Oh! Nun dann … also das … das tut mir natürlich leid.«

»Danke«, erwiderte Christina und sah ihm dabei direkt in die Augen. »Das ist nett, dass du das sagst – obwohl es eine fette Lüge ist und du eigentlich etwas ganz anderes meintest. In Wahrheit bist du doch froh, mich nicht ertragen zu müssen.«

Sie sah, wie sich seine Augen bei ihren Worten weiteten und nutzte seine seltene Sprachlosigkeit, um zu gehen. Er sollte nicht die Zeit bekommen, sich eine passende Antwort auszudenken, die entweder eine Lüge oder eine weitere Beleidigung war. Beides würde sie nur noch mehr verletzen.

*

Erik hatte die Aussicht, mit ihr diese Reise anzutreten, überhaupt nicht gefallen. Christina konnte nur darüber spekulieren, warum das so war. Und genau das tat sie, als sie nun allein in die Cafeteria der Behnisch-Klinik ging, um ihre Mittagspause anzutreten. Sie zerbrach sich den Kopf über Erik und übersah dabei Dr. Sarah Buchner, die an einem Ecktisch saß und ihr zuwinkte. Erst als Sarah aufstand, um auf sich aufmerksam zu machen, schreckte Christina aus ihren Grübeleien auf.

Sarah Buchner hatte vor zwei Jahren ihren Dienst als Gynäkologin an der Behnisch-Klinik angetreten. Mit Anfang dreißig war sie im gleichen Alter wie Christina. Die beiden Ärztinnen waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen und hatten sich schnell angefreundet. Oft trafen sie sich in den Pausen, oder sie unternahmen in ihrer Freizeit etwas zusammen.

Christina setzte sich zu Sarah an den Tisch. »Was machst du denn hier? Du sagtest doch, dass du keine Zeit für die Cafeteria hast, weil du wegen einer terminierten Sectio im OP stehst.«

»Das war zumindest der Plan gewesen«, grinste Sarah. »Doch das Baby hatte seine eigenen Pläne. Vor zwei Stunden beschloss es, auf den Kaiserschnitt zu verzichten und ohne medizinische Hilfe auf die Welt zu kommen.«

»Sehr schön! Genau so soll es ja auch sein. Was ist es denn geworden? Junge? Mädchen?«

»Ein Mädchen.« Sarah wartete, bis Christina ihre Bestellung aufgegeben hatte und berichtete dann in aller Ausführlichkeit von dem sieben Pfund schweren, kerngesunden Mädchen. Danach wollte sie von Christina wissen: »Wo warst du eigentlich mit deinen Gedanken, als du vorhin ankamst? Du sahst aus, als würde dir etwas schwer zu schaffen machen.«

»Ach, da war nichts«, wich Christina aus und war froh, dass in diesem Augenblick die Bedienung mit ihrem Essen kam. »Mhm, das sieht ja wieder lecker aus«, schwärmte sie begeistert und machte sich sofort über ihr Mittagessen her, das diesmal nur aus einem kleinen Salat bestand. Die Unterhaltung mit Erik hatte ihr den Appetit geraubt, und es fiel ihr deshalb leicht, auf ihre geliebte Lasagne zu verzichten. Mit Galgenhumor dachte sie sich, dass ein wenig Herzensleid ihrer schlanken Taille ganz guttat.

Sarah sah ihr eine Weile beim Essen zu, dann redete sie Klartext: »Rück endlich mit der Sprache raus! Denkst du wirklich, ich sehe nicht, dass du sauer bist? Also, wer oder was hat dich verärgert?«

Spontan wollte Christina alles abstreiten und behaupten, dass es ihr prächtig ging. Doch dann sagte sie traurig: »Erik.«

»Warum überrascht mich das jetzt nicht?« Unwirsch schüttelte Sarah den Kopf. »Es liegt doch meistens an ihm, wenn du so geknickt bist. Was war nun schon wieder los?«

»Nichts oder nicht viel … er hat sich benommen wie immer. Dass mich das so ärgert, ist allein meine Schuld. Ich weiß doch, wie er ist, und trotzdem renne ich immer wieder zu ihm hin.« Obwohl sich Christina fest vorgenommen hatte, diese unliebsame Szene an der Rettungsrampe so schnell wie möglich zu vergessen und niemandem davon zu erzählen, tat sie nun das genaue Gegenteil. Sie berichtete Sarah haarklein von dem, was vorgefallen war.

»Weißt du, was mich am meisten getroffen hat?«, fragte sie zum Schluss und beantwortete ihre Frage gleich selbst: »Er war die ganze Zeit über schlecht gelaunt gewesen. Er war mürrisch und grantig und machte ein Gesicht, als könnte er meine Anwesenheit oder die eines anderen nur schwer ertragen.«

»Also war alles beim Alten«, murmelte Sarah leise.

Christina beachtete diesen Einwurf nicht, sondern sprach weiter: »In dem Moment, als er erfuhr, dass ich nicht mitkommen werde, hellte sich seine Miene schlagartig auf. Ja, er wirkte geradezu erleichtert. Die Nachricht, dass er nicht mit mir nach Binz fahren muss, hat ihn richtig glücklich gemacht. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte vor Freude getanzt.«

»Erik Berger und Freudentänze? Das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen.«

»Ach, nun nimm mich doch endlich mal ernst!«, beschwerte sich Christina. »Ich schütte dir hier mein Herz aus und du ziehst alles ins Lächerliche. Kannst du dir denn gar nicht vorstellen, wie weh mir sein Verhalten tut?«

»Entschuldige bitte!« Sarahs Reue war echt, und deshalb war ihr Christina nicht lange böse. »Ich wollte dich nicht verletzen. Und natürlich weiß ich, wie sehr du leidest, wenn sich Erik Berger mal wieder wie … nun ja, wie Erik Berger benimmt. Du kennst ihn doch. Nimm seine Launen nicht so ernst und mach dir nicht so viele Gedanken über sein unmögliches Benehmen. Letztendlich weißt du doch, dass er auf eine sehr seltsame Art und Weise an dir hängt. Auch wenn er es dir nur selten zeigt, kannst du dir seiner Freundschaft immer sicher sein.«

»Ja … schon. Aber vorhin …« Christina schob den Salatteller, von dem sie kaum die Hälfte gegessen hatte, von sich. »Als ich die Einladung von den Hansens erhielt, hatte ich mich anfangs riesig gefreut. Ich war sogar bereit gewesen, den Chef um Urlaub anzubetteln, damit ich mitfahren kann. Ich war mal als Kind mit meinen Eltern auf Rügen. Mit diesem Urlaub verbinde ich noch immer die allerschönsten Erinnerungen. Und nun bestand die Aussicht, mit Erik hinzufahren. Ich hatte gehofft, dass … dass …« Christina brach verlegen ab. Plötzlich schämte sie sich für das, was sie sich von dieser Reise versprochen hatte.

Sarah streichelte ihren Arm. »Ich weiß doch, was du dir von ihm erhofft hast.«

»Bin ich so leicht zu durchschauen?«

»Keine Sorge, nur für mich. Niemand weiß, was du wirklich für ihn empfindest.«

»Hältst du mich für eine Närrin?«, fragte Christina bedrückt.

»Nein, dann müsste ich ja alle Verliebte für Narren halten.« Ein feines Lächeln umspielte die Lippen der Gynäkologin. »Mich eingeschlossen. Es hatte mich doch auch schon einige Male erwischt. Dass ich trotzdem noch Single bin, zeigt, dass ich mich auch immer in den Falschen verliebt habe.«

»Auch? Du glaubst also, dass Erik der Falsche ist?« Christina versuchte, die Traurigkeit aus ihrer Stimme herauszuhalten, aber es gelang ihr nicht.

»So würde ich es nicht ausdrücken«, erwiderte Sarah behutsam. »Ich bin fest davon überzeugt, dass du ihm nicht gleichgültig bist. Jeder glaubt das. Du bist die Einzige in der Klinik, zu der er halbwegs nett ist oder mit der er sich zum Mittag verabredet. Und denk doch nur mal daran, wie er sich wegen deiner Beziehung mit Adam angestellt hatte. Er ist ja fast ausgeflippt, als er hörte, dass du mit Adam fortgehen wolltest. Aber …« Sarah brach ab, und Christina musste nicht mit ihr befreundet sein, um zu erkennen, dass es ihr unangenehm war weiterzusprechen.

»Aber?«, fragte sie nach. »Sag es endlich. Egal, was es ist, ich werde es schon verkraften.«

»Nun … also … es ist nur so …« Noch immer zögerte Sarah, dann sprach sie es aus: »Dass du dich nach einem Partner sehnst, kann ich sehr gut verstehen. Mir geht es ja nicht anders als dir. Aber warum muss es ausgerechnet Erik Berger sein? Dieser Mann hat seine verstorbene Frau über alles geliebt. Obwohl schon Jahre vergangen sind, hat er ihren Tod noch immer nicht verarbeitet.«

»Das heißt doch nicht zwangsläufig, dass er nun für immer allein sein muss. Ich kenne einige Menschen, die einen schweren Verlust erlitten haben und trotzdem eine neue Liebe und ein neues Glück fanden. Warum sollte das bei Erik nicht auch so sein?«

Sarah sah ihre Freundin bedrückt an. In den letzten Monaten hatte sie oft über Erik Berger und sein trauriges Schicksal nachgedacht. Seine Frau Maika, die er von ganzem Herzen geliebt hatte, war plötzlich verstorben. Sie waren glücklich gewesen und hatten sich auf ihr erstes Kind gefreut. Doch nur wenige Wochen vor der Geburt war Maika an Eklampsie erkrankt, und Erik Berger hatte sie und sein ungeborenes Kind verloren. Das hatte er nie überwinden können.

»Ich glaube nicht, dass er für ein neues Glück an der Seite einer anderen Frau bereit ist. Er will sich gar nicht auf eine neue Liebe einlassen. Vielleicht ist das sogar der Grund für sein ungehobeltes, grantiges Benehmen, mit dem er alle verschreckt und von sich stößt. So besteht erst gar nicht die Gefahr, dass ihm jemand zu nahe kommt und er riskiert, sein Herz erneut zu verlieren. Bisher hat seine verdrehte Strategie auch hervorragend geklappt. Keine Frau käme auf die Idee, sich ausgerechnet in ihn zu verlieben. Keine Frau, bis auf du …«

»Wow!«, stieß Christina mit einem zynischen Unterton hervor, als Sarah ihre Ausführungen beendet hatte. »Wann hast du denn deinen Abschluss in Psychologie gemacht?«

Sarah zuckte bei den Worten ihrer Freundin zusammen. »Tut mir leid, Tina. Ich wollte dich nicht verärgern. Du hast mich um meine Meinung gefragt, und ich habe sie dir gesagt. Es ist nur eine Meinung, mehr nicht. Ich habe keinen Abschluss in Psychologie. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich nur Unsinn plappere und mich irre, ist deshalb recht groß.«

Christina tat ihre heftige Reaktion längst leid. Sie war in letzter Zeit dünnhäutig geworden, und Sarah hatte das nun abbekommen. Kummervoll sagte sie: »Nein, du irrst dich nicht. Solche Gedanken sind mir doch auch längst gekommen. Bis jetzt konnte ich sie gut verdrängen und mir einreden, dass es für meine dumme Liebe doch noch Hoffnung gibt. Aber inzwischen … es fällt mir immer schwerer, daran zu glauben.«

Noch während Sarah nach den passenden Worten suchte, um ihre Freundin zu trösten, trat Dr. Daniel Norden an ihren Tisch. »Ich hoffe, ich störe nicht«, begann er lächelnd.

»Nein, natürlich nicht«, versicherte Christina schnell. »Möchten Sie sich zu uns setzen?«

»Nur ganz kurz.« Daniel wies mit dem Kopf zu einem Tisch am anderen Ende der Cafeteria. Dort saß Fee und blätterte in der Speisekarte. »Ich bin mit meiner Frau hier und möchte sie nicht lange warten lassen.« Er sprach nun Christina an. »Ich hatte vorhin ein Telefonat mit unserem ehemaligen Patienten, Uwe Hansen. So wie Sie und Herrn Berger hat er auch meine Frau und mich zu seinem Geburtstag eingeladen.«

»Ja, ich weiß. Ich hatte bereits am Wochenende mit ihm gesprochen.«

Daniel nickte. »Das erzählte er mir. Er meinte, Sie hätten abgesagt, weil Sie keinen Urlaub bekommen würden.« Er sah die junge Chirurgin prüfend an. »Soviel ich weiß, haben Sie noch gar keinen Urlaubsantrag gestellt. Möchten Sie nicht mitfahren? Haben Sie das mit dem abgelehnten Urlaub als Ausrede benutzt, weil Sie nicht hinfahren wollen?«

»O nein! So ist das nicht!«, beteuerte Christina schnell. »Ich würde sogar sehr gern nach Binz fahren. Aber das wird nicht möglich sein, weil ich Herrn Berger in der Notaufnahme vertreten muss. Es kann nur einer von uns Urlaub nehmen. Und da es der Geburtstag seines Schwiegervaters ist, sollte er hinfahren und nicht ich.«

»Es geht doch nur um ein verlängertes Wochenende. Deshalb spricht überhaupt nichts dagegen, dass sie beide freinehmen. Herr Ganschow hat seinen Facharzt fast in der Tasche und kommt ein paar Tage ohne Sie oder Herrn Berger aus. Außerdem wird Herr Lenz in der Zeit öfter in der Aufnahme nach dem Rechten sehen.« Dr. Bennet Lenz war der leitende Neurologe der Behnisch-Klinik und gleichzeitig Daniels Vertretung. Wenn der Chefarzt im Urlaub war, lagen die Geschicke der Klinik in seinen fähigen Händen.

»Sie meinen also, ich könnte doch nach Binz?«, fragte Christina erstaunt nach.

»Natürlich!« Daniel stand auf, um zu Fee zurückzukehren. »Das bekommen wir schon hin. Ich habe eben ganz kurz mit Herrn Berger darüber gesprochen. Er hatte nicht viel Zeit, weil er gerade mit einem Notfall beschäftigt war, aber er meinte auch, dass das machbar sei.«

»Nun, wenn er das meint …«, gab Christina unsicher zurück.

»Ja, er schien sich sogar schon auf unseren kleinen gemeinsamen Urlaub zu freuen.« Daniel zwinkerte ihr gut gelaunt zu. »Das ist ja fast wie ein Betriebsausflug, wenn sich gleich vier Ärzte der Klinik auf den Weg machen. Nur schade, dass wir nicht alle zusammen fahren können.«

»Ach nein?«, fragte Christina konsterniert nach. Sie wusste nicht, was sie von Eriks Sinneswandel halten sollte und konnte sich deshalb nicht so richtig über diese unerwartete Wendung freuen.

»Meine Frau und ich werden leider erst am Freitag anreisen. Das heißt, dass Sie mit Herrn Berger vorfahren werden. Er hat sich übrigens angeboten, Sie in seinem Wagen mitzunehmen. Ist das nicht nett von ihm?«

»Äh … ja, natürlich«, brachte Christina mühsam hervor. Sie war froh, dass dem Chefarzt nicht auffiel, wie durcheinander sie war. Als er gegangen war, fand Sarah als Erste ihre Sprache wieder.

»Wer hätte das gedacht. Nach dem, was du mir von eurem Zusammentreffen erzählt hast, kam das jetzt sehr unerwartet. Erik Berger freut sich auf euren kleinen gemeinsamen Urlaub und ist so nett, dich in seinem Wagen mitzunehmen? Warum hat er seine Meinung so schnell geändert? Was geht in diesem Mann bloß vor?«

»Wenn ich das nur wüsste …«

*

Christina bewohnte in einem hübschen, kleinen Vorstadthäuschen die Wohnung im Dachgeschoss. Das Haus gehörte Sigrid Kleinfeldt, einer rüstigen Rentnerin, die zusammen mit ihrem Hund Hugo im Erdgeschoss lebte. Christina verstand sich gut mit ihr, obwohl Frau Kleinfeldt manchmal Mühe hatte, ihre Neugier zu zügeln und sich gern um Dinge kümmerte, die sie überhaupt nichts angingen. Für Christina war das kein großes Problem, und sie konnte großzügig darüber hinwegsehen. Sigrid Kleinfeldt war nämlich eine herzensgute und liebenswürdige Frau. Und dass sie sich nach etwas Abwechslung und Unterhaltung in ihrem Leben sehnte, war wirklich nicht schlimm.

Christina besaß einen separaten Zugang am Giebel des Hauses. Eine schmale Treppe führte von dort nach oben in ihre kleine, gemütliche Wohnung, die aus zwei wunderschönen Zimmern, einer geräumigen Küche und einem modernen Bad bestand. Hinterm Haus gab es einen hübschen, gepflegten Garten mit lauschigen Plätzchen. Bei schönem Wetter saß Christina oft dort, wenn sie sich nach Ruhe und Abgeschiedenheit sehnte. Jetzt, im November, bot sich dafür kaum noch die Gelegenheit. In den letzten Tagen hatte es fast ständig geregnet. Auch wenn der Regen heute eine kleine Pause einlegte, versteckte sich die Sonne hinter grauen Wolken. Es war also das ideale Wetter, um der Stadt für ein paar Tage den Rücken zu kehren und auf der Geburtstagsfeier von Uwe Hansen Zerstreuung zu finden.

Die Reisetasche war gepackt, und Christina machte einen letzten Kontrollgang durch die Wohnung. Alle Fenster waren geschlossen, der Herd war aus und die Blumen frisch gegossen. Jetzt fehlte nur noch Erik, der sie um halb elf abholen wollte, um mit ihr zusammen nach Binz zu fahren.

Daniel Norden hatte an seiner Zusage festgehalten und ihr diesen kleinen Urlaub genehmigt. Obwohl er ihr damals versichert hatte, dass Erik mit dieser Entscheidung einverstanden war und sie sogar befürwortete, konnte Christina das nicht glauben. Seit ihrem kleinen Disput auf der Rettungsrampe war Erik ihr aus dem Weg gegangen. Ein paar Mal hatte sie den Versuch unternommen, sich mit ihm auszusprechen. Doch sobald sie sich in der Aufnahme sehen ließ, hatte er Geschäftigkeit vorgetäuscht und sie einfach stehenlassen. Irgendwann hatte Christina aufgegeben. Sie hatte sich sogar schon damit abgefunden, die lange Fahrt allein in ihrem etwas altersschwachen Auto anzutreten. Doch dann war Erik vor ein paar Tagen in ihrem Dienstzimmer aufgetaucht.

»Ich hole dich am Donnerstag um halb elf ab. Wir fahren mit meinem Wagen«, hatte er gesagt, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

»Schön, dass ich auch noch davon erfahre.«

»Was denn? Ich dachte, das wäre klar gewesen.«

Aufgebracht hatte sie ihn angefunkelt. »Nein, das war es nicht! In den letzten zwei Wochen hast du dich nämlich so rar gemacht, dass es keine Möglichkeit gab, irgendetwas mit dir abzusprechen!«

Erik zuckte lässig die Schultern. »Nun bin ich ja hier. Also willst du nun mit mir mitfahren oder nicht?«

Christina hatte es gerade noch geschafft, zustimmend zu nicken, da war Erik auch schon wieder hinausgerauscht. Danach war sie so aufgebracht gewesen, dass sie die Reise fast abgeblasen hätte. Die Vorstellung, dass sich Erik während der ganzen Zeit so unausstehlich benehmen könnte, hatte ihr Sorge bereitet. Doch dann war ihr eingefallen, wie oft sie Erik als warmherzigen und liebenswürdigen Menschen erlebt hatte, und sofort hatte sich Hoffnung in ihr Herz geschlichen. Die Hoffnung, dass er fernab des Klinikalltags seine raue Schale ablegen würde. Und vielleicht würde dieser kleine Urlaub endlich eine Veränderung in ihm bewirken.

Ob Erik überhaupt ahnte, was sie für ihn empfand? Christina griff nach einem Tuch, um das Spülbecken zu polieren, obwohl sie das bereits vor einer Stunde getan hatte. Dabei versuchte sie, eine Antwort auf ihre Frage zu finden. Manchmal war sie sich so sicher, dass er von ihrer heimlichen Liebe zu ihm wusste. Und manchmal glaubte sie sogar, dass er wie sie empfand. Doch schon im nächsten Augenblick stieß er sie mit einer verletzenden Bemerkung vor den Kopf, als wollte er sie davon überzeugen, dass sie ihm völlig gleichgültig sei.

Nervös sah Christina auf ihre Uhr. Erik war schon fünf Minuten überfällig. Bei jedem anderen hätte sie sich deswegen keine Gedanken gemacht. Doch bei einem Pedanten wie Erik, dem Pünktlichkeit über alles ging, war diese Verspätung äußerst besorgniserregend. Als Christina aus dem Fenster sah, bekam sie einen Riesenschrecken. Erik war schon da! Auf der Straße, vorm Haus, stand sein Wagen. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Motorhaube und sah dabei grimmig auf Sigrid Kleinfeldt herab, die munter auf ihn einredete und nicht zu ahnen schien, dass sie dem ungeselligsten und unfreundlichsten Menschen Münchens gegenüberstand. Belustigt stellte Christina fest, dass Eriks zur Schau gestellte Verdrossenheit, mit der er andere Leute auf Abstand hielt und lästige Gespräche vermied, bei Frau Kleinfeldt nicht fruchtete. Sie sprach unbeirrt weiter und schien sich an seiner sauertöpfischen Miene nicht zu stören. Trotzdem beeilte sich Christina nun, ihre Wohnung zu verlassen. Erik war kein geduldiger Mann. Irgendwann würde er der armen Frau Kleinfeldt klarmachen, was er von aufdringlichen und neugierigen Zeitgenossen hielt.

Christina schnappte sich ihre gepackte Tasche, die im Flur stand, zog die Tür hinter sich zu und verriegelte sie sorgfältig, bevor sie die schmale Treppe hinunterlief und das Haus verließ.

Erik lehnte noch immer an seinem Wagen, doch von Frau Kleinfeldt war nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatte er sie mit einer bissigen Bemerkung in die Flucht geschlagen. Obwohl er Christina finster entgegenblickte, kam sie nicht umhin festzustellen, wie toll er aussah. Wenn man davon absah, dass er keinen Funken Charme besaß und meistens grimmig und übellaunig durch die Gegend lief, konnte man ihn sogar als ausgesprochen gutaussehend bezeichnen. Er war groß und sportlich gebaut. Seine eisblauen Augen bildeten einen atemberaubenden Kontrast zu seinen dunklen, fast schwarzen Haaren. Ein Dreitagebart zierte sein markant geschnittenes Gesicht und verlieh ihm etwas Düsteres - obwohl das auch an seiner Miene liegen konnte.

Ohne die kleinste Andeutung eines Lächelns kam er Christina jetzt entgegen und nahm ihr die Tasche ab. Ihre Begrüßung quittierte er nur mit einem knappen Kopfnicken. Während Christina noch überlegte, wie sie darauf reagieren sollte, drehte er sich um und ging zu seinem Wagen zurück, um die Tasche in den Kofferraum zu stellen.

»Was ist denn? Willst du nicht endlich einsteigen?«, blaffte er sie an. »Wir sind schon jetzt zu spät dran.«

»Machst du mich etwa dafür verantwortlich?«

»Natürlich! Ich stehe hier seit zehn Minuten rum und warte auf dich, während mich deine geschwätzige Vermieterin fast in den Wahnsinn getrieben hat!« Erik tobte an ihr vorbei und setzte sich auf den Fahrersitz.

Christina riss die Beifahrertür auf. »Ich dachte, du würdest klingeln, wenn du kommst«, verteidigte sie sich, als sie Platz nahm. »Oder wenigstens eine Nachricht schicken, dass du da bist.«

»Wir hatten halb elf abgemacht! Was ist denn daran nicht zu verstehen? Wenn ich halb elf sage, bin ich auch um halb elf hier! Du hättest einfach nur zur vereinbarten Zeit vor dem Haus stehen sollen!«

»Habe ich aber nicht! Na und? Willst du mir jetzt deswegen in den nächsten zehn Stunden auf die Nerven gehen? Das kann ja wirklich heiter werden!«

Erik erwiderte nichts. Er startete den Wagen und fuhr los. Fast hätte Christina laut aufgestöhnt. Das war also seine neue Strategie: Er schwieg sich aus und beachtete sie nicht mehr. Eriks Laune war heute denkbar mies. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sich das nicht so schnell ändern würde. Die lange Fahrt mit ihm an die Ostsee würde also unangenehm und schwierig werden.

Christina schmiegte sich in das weiche Leder des Sitzes und beschloss, Erik zu ignorieren. Auf eine Unterhaltung mit ihm legte sie keinen Wert mehr. Er hatte völlig überreagiert und regte sich auf, weil sie nicht pünktlich vor dem Haus gestanden hatte. Sie hatte eben darauf vertraut, dass er an der Tür klingeln würde, um sie abzuholen. Natürlich hätte sie schon früher aus dem Fenster schauen können. Aber daran hatte sie eben nicht gedacht. Das war doch kein Weltuntergang! Musste er sich wegen so einer Kleinigkeit wirklich so aufspielen?

Christina sah nach draußen. Das Wetter hatte sich der Stimmung im Wageninneren angepasst. Der Regen war zurückgekehrt und trieb dicke Tropfen gegen die Windschutzscheibe. Als sie auf die Autobahn fuhren, vergaß Christina das Schweigegelübde, das sie sich auferlegt hatte.

»Willst du das Navi gar nicht programmieren?«

»Nein.«

Christina wartete ein paar Sekunden, ob seiner knappen Antwort noch eine Erklärung folgte. Als das nicht passierte, hakte sie nach: »Kennst du die Strecke so gut, dass du kein Navi brauchst?«

»Ja.«

Christinas Ärger kehrte zurück. Er wollte also immer noch nicht mit ihr reden und benahm sich stattdessen wie ein bockiges Kind. »Ich hoffe, deine Stimmung bessert sich noch. Ich habe nämlich keine große Lust, deine miese Laune in den nächsten zehn Stunden zu ertragen.«

»Musst du ja auch nicht. Ein Wort von dir und ich setze dich am nächsten Bahnhof ab«, knurrte er sie an. »Oder wir kehren um und ich bringe dich wieder nach Hause. Ganz wie du willst.«

Wütend funkelte sie ihn an. »Wenn es dafür nicht zu spät wäre, würde ich liebend gern auf die Bahn umsteigen. Du kannst mich aber auch wieder nach Hause bringen, falls dir meine Gesellschaft so zuwider ist. Ich bin schon ganz gespannt, wie du das deinen Schwiegereltern erklären willst. Mit meiner Unterstützung brauchst du dabei übrigens nicht zu rechnen. Ich werde dich bestimmt nicht in Schutz nehmen, sondern ihnen erzählen, wie du dich benommen hast und dass das ganze Theater allein deine Schuld ist.«

»Meine Schuld? Du bist zu spät gekommen!«

»Ach, hör doch endlich auf! Deine Laune hat doch gar nichts damit zu tun! Das nimmst du doch nur als Vorwand, um auf mir herumhacken zu können. Seit Wochen bist du gemein zu mir. Warum? Was habe ich getan, dass du so sauer auf mich bist?«

»Nichts!«, presste er hervor. »Du hast nichts getan.« Als Erik nun das Radio einschaltete und ihr damit zeigte, dass das Gespräch beendet war, gab sie resigniert auf. Sie würde diesen Mann nie verstehen. Und in diesem Moment wünschte sie sich, sie würde ihn nicht lieben.

*

Seit mehr als acht Stunden waren sie nun unterwegs. Christina war fest davon überzeugt, dass dies die längsten und schlimmsten Stunden ihres Lebens waren. Erik war wortkarg geblieben, und Christina hatte es ihm gleichgetan. Sie hatte keinen weiteren Versuch unternommen, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Stattdessen hatte sie Radio gehört, sich mit ihrem Handy beschäftigt und dankbar die Momente, in denen sie der Schlaf übermannte, angenommen.

Der Himmel war noch immer wolkenverhangen, und die Sonne hatte sich den ganzen Tag nicht blicken lassen, so dass es Abend wurde, ohne dass es jemanden aufgefallen war. Ein dunkler Tag war in den noch dunkleren Abend gewechselt.

Während der Fahrt hatte es immer wieder geregnet. Auch jetzt liefen Wassertropfen an den Scheiben hinunter. Sie erschwerten Christina nicht nur die Sicht nach draußen, sondern drückten zusätzlich auf ihr Gemüt.

Kurz vor Berlin setzte Erik den Blinker und fuhr auf einen großen Rastplatz.

»Ich muss tanken«, informierte er sie knapp. »Wir können hier dann auch gleich essen.«

»Okay«, erwiderte Christina lahm und ohne Begeisterung. Sie hatte keinen Hunger, aber sie sah ein, dass Erik eine längere Pause nötig hatte. Bis auf zwei kleinere Stopps war er die ganze Zeit durchgefahren. Ihr Angebot, ihn beim Fahren abzulösen, hatte er abgelehnt.

Sie waren nur langsam vorangekommen und hatten ein paar Mal im Stau gestanden. Schon jetzt lagen sie mehr als zwei Stunden in ihrem Zeitplan zurück. Von ihrem Vorhaben, gegen acht in Binz zu sein, hatten sie sich längst verabschiedet.

›Noch drei Stunden‹, dachte Christina und stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Wie sie die durchhalten sollte, war ihr ein Rätsel. Mit etwas Glück würde sie nachher wieder einschlafen und erst wach werden, wenn Erik vor der Pension der Hansens anhielt.

Ein Ehepaar, das am Nebentisch mit zwei Kindern Platz nahm, erregte ihre Aufmerksamkeit und lenkte sie von ihren Sorgen ab. Christina schätzte die Frau und ihren Mann auf Mitte oder Ende dreißig, die beiden Buben auf zehn und zwölf Jahre. Das Paar war streitend ins Restaurant gekommen, hatte streitend in der Schlange an der Kasse gestanden und setzte nun den Streit am Tisch fort, ohne auf ihre Kinder oder die anderen Gäste Rücksicht zu nehmen.

»Auf diese Essenspause hätten wir gut verzichten können«, schimpfte der Mann gerade.

»Die Jungs hatten Hunger«, schimpfte sie zurück.

»In einer Stunde wären wir zu Hause gewesen. Solange hätten sie es schon noch ausgehalten. Sind ja schließlich keine Babys mehr.«

»Klar! Und ich hätte mich dann gleich in die Küche stellen dürfen, um für euch zu kochen!«

»Kochen? Ein paar Pommes und Fischstäbchen in den Backofen zu schieben, kann man wohl kaum als kochen bezeichnen.«

»Ach, aus dir spricht wohl ein Experte? Ich kann mich nicht daran erinnern, dich jemals am Herd gesehen zu haben!«

»Nein, weil ich Tag und Nacht schufte, damit wir uns das überteuerte Essen in einem Autobahnrestaurant leisten können!«

»Ich arbeite auch, mein Lieber! Tu bloß nicht so, als würdest nur du das Geld nach Hause bringen!«

Christina hatte genug gehört. »Na toll«, sagte sie so leise, dass nur Erik sie verstehen konnte. »Da geht’s ja genauso harmonisch zu wie bei uns. Nur etwas lauter und wortreicher und mit Kindern.«

Erik tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Bist du fertig mit deinem Essen?«

»Ja!« Christina sah auf ihren Teller, von dem sie kaum gegessen hatte. »Du kannst dich gern über meine Reste hermachen.«

»Nein, danke. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern weiterfahren.«

»Und wenn du nichts dagegen hast, würde ich vorher gern auf die Toilette gehen.« Sie wusste, dass sie sich zickig anhörte, aber das war ihr egal. Sie war sauer und gereizt und konnte Eriks Gesellschaft nur noch schwer ertragen. Sie griff nach ihrer Handtasche und verschwand auf die Toilette.

Als sie zurückkam, stritten sich ihre Tischnachbarn noch immer. Sie regte sich gerade über seine langen Arbeitszeiten und die vielen Überstunden auf, und er warf ihr vor, zu viel Zeit mit ihren Freundinnen zu verbringen. Es war also alles beim Alten – nur Erik war verschwunden. Sein Platz war leer, der Tisch bereits abgeräumt. Er hatte nicht auf sie gewartet, sondern war schon zum Wagen gegangen. Vielleicht hatte er sie ja auch hier, auf diesem Rastplatz, zurückgelassen und war allein weitergefahren, überlegte Christina, und ein Teil von ihr wünschte sich das fast.

Sie ging zum Shop hinüber und stöberte in den Zeitschriften. Nachdem sie sich zwei ausgesucht hatte, die sie interessierten, bediente sie sich großzügig bei den Süßigkeiten.

›Ich brauche unbedingt etwas Nervennahrung‹, entschuldigte sie das vor sich selbst. Mit einer großen Einkaufstüte bepackt, verließ sie schließlich den Laden. Das Wissen, das Erik inzwischen ungeduldig auf sie wartete, tat ihr gut. Er hatte sie den ganzen Tag geärgert, jetzt war sie mal an der Reihe, sich schlecht zu benehmen. Natürlich war ihr klar, wie albern das war, aber sie empfand es trotzdem als Genugtuung und betrachtete es als Entschädigung für die vergangenen qualvollen Stunden.

Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, ganz langsam und gemütlich zum Wagen zu schlendern, um Erik noch mehr auf die Palme zu bringen. Doch der heftige Regen vereitelte diesen Plan. Um nicht völlig nass zu werden, musste sie die dreißig Meter zum Auto rennend zurücklegen.

»Willst du hier eine Fressorgie veranstalten?«, fragte Erik mit einem Blick auf den Beutel, den Christina vor sich abgestellt hatte.

»Das nennt sich Frustessen«, berichtigte sie ihn mit einem süffisanten Lächeln. »Eigentlich müsste ich dir das in Rechnung stellen, aber da ich mich nicht an den Spritkosten beteiligen darf, werde ich mal großzügig sein und darauf verzichten.«

»Frustessen?«, fragte Erik. »Gibst du mir die Schuld?«

Christina sah sich im Wagen um. »Da es hier sonst niemanden gibt, der mich mit seiner schlechten Laune nervt, kann es nur an dir liegen.« Seelenruhig holte sie den ersten Schokoriegel aus dem Beutel.

Erik sah ihr zu, wie sie ihn auspackte und genussvoll davon abbiss. Dann startete er kopfschüttelnd den Wagen und fuhr los. »Hör auf, dich so kindisch zu benehmen.«

Christina verschluckte sich fast an ihrem Riegel. »Klar doch! Sobald du aufhörst, dich wie ein Idiot zu benehmen!«

Erik erwiderte nichts darauf. Er beschleunigte und fädelte sich in den zähfließenden Verkehr auf der Autobahn ein. Christina wusste, er hatte nicht ganz Unrecht. Sie benahm sich tatsächlich ziemlich kindisch, und diese Erkenntnis verstärkte ihren Ärger auf ihn. Schließlich hatte er aus ihr ein unausstehliches, übellauniges Kleinkind gemacht. Es war alles seine Schuld! Deshalb hatte er es auch verdient, dass sie es ihm nun mit gleicher Münze heimzahlte.

Trotz dieser Rechtfertigung ging es ihr nicht besser. Sie packte den nächsten Schokoriegel aus und versuchte, sich an seinem süßen Geschmack zu erfreuen. Als das nicht gelang, griff sie nach einer Tüte Fruchtgummi und anschließend zu einer Kekspackung. Sie suchte Trost in ihren Süßigkeiten, obwohl sie wusste, dass sie ihn dort nicht finden würde. Irgendwann war ihr schlecht, und sie schob den Beutel mit dem Naschwerk angewidert von sich. Der Zuckerschock hatte sie nicht glücklicher gemacht oder ihren Ärger beseitigt. Sie war noch immer sauer auf Erik und musste sich nun außerdem mit einem Bauch voller Süßigkeiten herumschlagen.

Sie spürte Eriks Blick auf sich. Als sie zu ihm sah, wandte er sich ab und schaute wieder stur geradeaus. Christina war das inzwischen egal. Vielleicht war es so am besten für sie. Wenn er nicht mit ihr sprach, stritten sie wenigstens nicht.

»Es tut mir leid«, sagte er so plötzlich, dass Christina zusammenzuckte. »Ich habe mich wirklich wie ein Esel benommen.«

Christina zuckte die Schultern. »Ich hatte dich zwar einen Idioten genannt, aber den Esel lass ich auch gelten.«

Erik lächelte, und Christina hatte das Gefühl, als würde der Regen endlich aufhören. In Wirklichkeit war er so heftig geworden, dass die Scheibenwischer kaum ihre Arbeit schafften. Doch das sah Christina nicht. Das Einzige, was sie sah, war das Lächeln in Eriks Gesicht. Schlagartig war alles vergessen, was ihr bis eben so viel Kummer bereitet hatte. Wenn Erik lächelte, konnte sie ihm nicht mehr böse sein.

»Dann verzeihst du mir also? Herrscht jetzt endlich wieder Waffenstillstand?«

Christina nickte. »Einverstanden.« Sie war nur zu gern bereit, das Kriegsbeil zu begraben, um zu einem normalen Umgangston zurückzufinden.

»Und das Frustessen hört jetzt auch auf?«

»O ja! Aber das stand sowieso schon fest. Mir ist nämlich ziemlich übel von dem vielen Zucker.«

»Mir wurde schon vom Zusehen schlecht. Ich möchte nicht wissen, wie es deinem Magen geht. Wahrscheinlich …« Erik verschluckte die letzten Worte, als ein Kombi im halsbrecherischen Tempo links an ihnen vorbeiraste. Bei dem Versuch, vor Eriks Wagen wieder in die rechte Spur zu wechseln, kam er auf der regennassen Fahrbahn heftig ins Schlingern. Erik trat sofort auf die Bremse, während Christina noch gar nicht verstand, was sich vor ihnen abspielte. Dem Kombi-Fahrer gelang es nicht, seinen Wagen unter Kontrolle zu bekommen. Er rutschte zurück auf die linke Fahrspur – doch die war jetzt nicht mehr frei. Der Transporter, der dort fuhr, tat alles, um eine Kollision zu vermeiden – ohne Erfolg. Er erwischte das andere Fahrzeug am hinteren Kotflügel. Durch den Aufprall drehte sich der Kombi um die eigene Achse. Als er weggeschleudert wurde und nun auf Eriks Auto zuflog, schrie Christina entsetzt auf. Erik reagierte blitzschnell. Im letzten Moment gelang ihm ein Ausweichmanöver, und er konnte sein Auto auf den Standstreifen lenken. Hier streifte er die Leitplanken, und das Geräusch von berstendem Metall dröhnte in den Ohren. Nach wenigen Sekunden, die Christina endlos vorkamen, brachte er den Wagen schließlich zum Stehen.

*

»Bist du okay?«, brüllte Erik sie an. Er beugte sich zu ihr hinüber und strich ihr mit beiden Händen über den Kopf, als suchte er nach Wunden. Dann tastete er fahrig ihren Körper ab. »Hast du dich verletzt? Tut dir irgendetwas weh?«

»Nein … nein …«, bekam sie endlich raus. Ihr Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust, aber ihr war nichts passiert. »Ich bin unverletzt.«

Erik stieß erleichtert die Luft aus.

»Und du?«, fragte sie ängstlich. »Ist bei dir alles in Ordnung?«

»Ja, mir geht’s gut.« Erik sah in den Seitenspiegel, um sich ein Bild von dem Geschehen hinter sich zu machen. Erst jetzt fiel Christina auf, wie erschreckend ruhig es geworden war.

»Ich geh raus, um zu helfen«, sagte Erik. »Bleib du im Wagen. Hier bist du sicher.« Und schon war er aus dem Auto gesprungen. In einer Hand hielt er einen großen Arztkoffer, und Christina hatte keine Ahnung, wo er den so schnell hergenommen hatte. Sie sah Erik nach, als er zu dem Blechhaufen, der mitten auf der Fahrbahn lag, lief und ihr stockte der Atem. Trotz der Dunkelheit sah sie, dass dort mehrere Wagen standen und Menschen umherliefen. Die vielen Scheinwerfer und das Blinken der Notblinkleuchten tauchten alles in ein gespenstisches Licht. Beim Anblick dieser Szene verflüchtigte sich der Schock, der Christina in einer seltsamen Starre gehalten hatte. Was tat sie hier eigentlich? Warum saß sie noch immer im Auto? Dort draußen gab es sicher Verletzte, die ihre Hilfe brauchten. Erik allein würde das nicht schaffen können.

Sie versuchte, die Beifahrertür zu öffnen, gab dann aber schnell auf. Eine Leitplanke hatte sich in die Tür gebohrt und hielt sie fest in ihrem Griff. Christina kletterte über den Fahrersitz nach draußen und lief zu den Überresten des Kombis. Er lag auf der Seite und war völlig demoliert. Schwer vorstellbar, dass jemand diesen Crash überlebt hatte. Aber es war so.

Sie erkannte Erik, der mit anderen Männern versuchte, die Insassen aus ihrem Fahrzeug zu befreien. Zuerst holten sie zwei weinende Kinder heraus, die Christina verdächtig bekannt vorkamen. Dann schoss es ihr ein: Die beiden Jungen hatten zusammen mit ihren streitenden Eltern am Nebentisch in der Raststätte gesessen.

Christina trat näher heran. »Ich bin Ärztin«, erklärte sie den anderen. »Ich muss die Kinder unbedingt untersuchen.« Sie sorgte dafür, dass die Buben einen Platz in dem freien Laderaum des Transporters bekamen, wo sie vorm Regen geschützt waren und Christina sich um sie kümmern konnte. Schnell erkannte sie, dass es den Kindern gutging. Zu Christinas großer Überraschung hatten sie nur ein paar leichtere Blessuren davongetragen. Doch sie waren zutiefst verängstigt und völlig verstört.

»Sagt ihr mir, wie ihr heißt?«, fragte Christina sie.

»Lukas«, antwortete der Jüngere mit zittriger Stimme. Sein großer Bruder ergänzte: »Kleemann. Lukas und Markus Kleemann. Unsere Eltern heißen Liane und Rolf Kleemann.« Er klang erstaunlich gefasst, doch Christina wusste, dass das schnell umschlagen konnte.

»Unsere Eltern«, wimmerte nun Lukas. »Was ist mit unseren Eltern? Sind sie … sind sie tot?«

»Das glaube ich nicht«, sagte Christina schnell, um die Kinder zu beruhigen. »Euch geht es doch auch gut.«

»Ja, weil wir hinten saßen«, sagte Markus so leise, dass Christina ihn kaum verstand. »Vorne … vorne ist alles … es ist alles …«

»Schon gut, Markus.« Christina zog den Jungen in ihre Arme. »Es ist sicher alles gut ausgegangen. Ich werde gleich mal nach ihnen sehen.«

»Gehen Sie ruhig«, sagte eine Frau, die in den Transporter kletterte. »Ich bleibe bei den Kindern.«

»Gut. Bitte passen Sie auf die beiden auf, bis der Rettungswagen kommt und sie übernimmt. Ich bin bei den Eltern. Wenn irgendetwas sein sollte …«

»… dann sage ich Ihnen sofort Bescheid.«

Christina wollte gerade aus dem Transporter steigen, als die Mutter der Kinder gebracht wurde. Sie hatte es schwerer erwischt, doch sie war ansprechbar, befand sich in einem stabilen Zustand und weinte vor Erleichterung, als sie ihre Buben sah. Christina untersuchte sie und war froh, dass sie nur ein paar geprellte Rippen und einen gebrochenen Oberarm feststellen konnte. Schlimmer war ihre psychische Verfassung.

»Mein Mann?«, fragte sie schluchzend. »Was ist mit meinem Mann?«

»Ich weiß es nicht, Frau Kleemann. Aber ich werde jetzt sofort zu ihm gehen und nach ihm sehen.«

»Bitte … bitte sagen Sie ihm, wie leid es mir tut.« Liane Kleemanns Weinen verstärkte sich, so dass Christina sie kaum verstehen konnte. »Wir haben nur gestritten … während der ganzen Fahrt … es tut mir so leid … ich liebe ihn doch …«

»Ich bin mir sicher, dass er das weiß.«

Christina fixierte den Bruch und sorgte dafür, dass sich jemand an die Seite der Mutter setzte, um auf sie achtzugeben. Dann lief sie endlich zum Unfallwrack.

Trotz der Anstrengungen der Helfer war Rolf Kleemann immer noch hinter dem Lenkrad eingeklemmt.

Als Erik Christina sah, informierte er sie über die Lage: »Schweres Bauchtrauma mit massivem Blutverlust. Komatös mit Atemaussetzern und Arrhythmie. Ich habe ihm einen venösen Zugang gelegt und gebe ihm Ringerlösung.«

Christina sah zu dem geöffneten Arztkoffer, der neben Erik stand, und dessen Inhalt jetzt gute Dienste leistete. Doch auch er würde diesen Mann auf Dauer nicht retten können. Rolf Kleemann musste in eine Klinik, sonst gab es keine Hoffnung mehr für ihn. Christina dachte an die beiden Jungen, die zusammen mit ihrer Mutter um sein Leben bangten. Und sie dachte an diesen sinnlosen Streit zurück. Nicht nur an den der Kleemanns, sondern auch an den eigenen mit Erik. Was wäre, wenn es Erik nicht gelungen wäre, dem anderen Wagen auszuweichen? Dann würde sie jetzt vielleicht um sein Leben kämpfen und jedes böse Wort, das sie je zu ihm gesagt hatte, bitter bereuen. Warum nur stritten die Menschen, obwohl sie sich doch liebten?

Endlich wurde Rolf Kleemann aus dem Wrack befreit. Irgendjemand hatte eine Plane organisiert und ein provisorisches Zeltdach daraus gebaut. Darunter lag eine Decke, auf die sie den Schwerverletzten legten.

»Schau dir sein Bein an«, sagte Erik zu Christina. »Ich kümmere mich um seine Atmung und den Kreislauf.«

Christina kniete sich zu dem Verletzten auf den Boden. Das rechte Hosenbein war durchtränkt mit Blut. Sie griff sich eine Schere aus Eriks Koffer und schnitt den Stoff auf. »Offene Oberschenkelfraktur mit pulsierender Blutung«, informierte sie Erik über den Befund. »Es hat die Arteria femoralis erwischt.« Mit einer Hand drückte sie auf den Blutstrahl, der fontänenartig aus der Wunde schoss. »Halten Sie das Bein hoch«, wies sie einen der Männer an, die um sie herumstanden.

»Im Koffer ist ein Tourniquet«, rief ihr Erik zu. Er hatte keine Zeit, ihr bei der Blutstillung zu helfen. Sein Patient atmete nicht mehr, und Erik musste mit der Atemspende beginnen. Christina wühlte mit der freien Hand im Koffer bis sie das Tourniquet, die Aderpresse, fand. Sie brauchte keine halbe Minute, um sie so stramm am Oberschenkel anzulegen, dass der Blutfluss gestoppt wurde.

Sirenengeheul kündigte das Eintreffen des ersten Rettungswagens an. Kurz darauf setzte auch der Hubschrauber mit dem Notarzt zur Landung an. Christina und Erik sahen sich erleichtert an. Sie hatten es geschafft. Ihr Patient lebte, und sie brauchten ihn jetzt nur noch an die Rettungskräfte zu übergeben. Ihre Arbeit war getan.

*

Erst als der Rettungshubschrauber mit Rolf Kleemann an Bord abflog, ließ Christinas Anspannung etwas nach. Ob der Familienvater den Unfall überleben würde, war mehr als fraglich. Seine Verletzungen waren gravierend. Er hatte Blutungen im Bauchraum, über deren Schwere noch niemand etwas sagen konnte. Allein die Verletzung der Oberschenkelarterie hätte ihn fast getötet. Dass seine Atmung ausgesetzt hatte, bewies, wie schwer es ihn getroffen hatte.

Christina saß in einem Transporter der Polizei. Sie hatte ihre Aussage bereits gemacht, doch ein freundlicher Polizist hatte ihr angeboten, so lange hierzubleiben, bis der Abschleppdienst kam. Eriks Auto war so schwer beschädigt, dass sie damit ihre Fahrt nicht fortsetzen konnten.

Christina zog die Decke, die ihr der Polizist gegeben hatte, enger um ihren Körper. An ihrer Kleidung gab es keinen einzigen trockenen Faden mehr, und sie fror jämmerlich.

Erik kletterte in den Transporter und setzte sich zu ihr auf die Bank. »Ich konnte noch kurz mit Frau Kleemann reden, bevor der RTW sie und die Jungs in die Klinik brachte«, berichtete er ihr.

»Geht es ihnen gut?«

»Ja, du hast mit deiner Einschätzung richtig gelegen. Ihre Verletzungen sind nicht gravierend. Sie hat es nicht so heftig erwischt wie den Vater. Ihn hat der Hubschrauber nach Berlin ins Virchow-Klinikum gebracht. Ich hoffe, dass er es übersteht.«

»Das hat er dann nur dir zu verdanken. Wenn du nicht so schnell bei ihm gewesen wärst …«

»Spiel deinen Anteil nicht herunter, Tina. Allein hätte ich das nie geschafft.« Als er sie ansah, lag in seinen Augen so viel Wärme, dass Christina ihre nassen Sachen vergaß und ihr ganz wohlig ums Herz wurde. »Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist«, sagte er weich.

»Und ich bin froh, dass du nichts abbekommen hast. Das war ganz schön knapp gewesen.«

»Ja, das war es. In solchen Momenten …« Erik stockte kurz, bevor er weitersprechen konnte. Er konnte nicht verbergen, dass das Ganze auch ihm zusetzte. »In solchen Momenten weiß man erst, was wirklich wichtig ist. Diese ganzen dummen Streitereien, mit denen man sich vorher rumgeschlagen hat, zählen dann nicht mehr. Man ist einfach nur noch froh, dass der geliebte Mensch am Leben ist.«

Christina nickte. »Ja, ich denke auch, dass die Kleemanns jedes einzelne böse Wort, das sie heute gewechselt haben, zutiefst bereuen.«

Erik sah sie so merkwürdig an, dass sie sich fragte, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. Und als er dann aufstand, um nach seinem Wagen zu sehen, überlegte sie plötzlich, ob seine Worte wirklich den Kleemanns gegolten hatten. Vielleicht … vielleicht sprach er ja von ihr?

In der nächsten Viertelstunde konnte Christina an nichts anderes mehr denken. Immer wieder rief sie sich seine Worte, seine Mimik, den Tonfall und jede Kleinigkeit ins Gedächtnis, ohne eine Antwort zu finden. Sie wusste nicht, wie er zu ihr stand und ob er mehr für sie empfand als Freundschaft. Und als er zurückkehrte, um ihr zu sagen, dass der Abschleppdienst in zehn Minuten da sei, erinnerte nichts mehr an den besonderen Moment, von dem sie sich noch nicht mal sicher war, ob es ihn überhaupt gegeben hatte.

Eriks Wagen hing am Haken des Abschleppwagens, während sie in der Fahrerkabine Platz gefunden hatten. Erik hatte einen Arm um sie gelegt und sie dicht zu sich herangezogen. Wahrscheinlich war das nur der Enge in der Kabine geschuldet, aber Christina redete sich ein, dass er das tat, weil er ihr nah sein wollte. Mit einem glücklichen Lächeln, das nicht zu den tragischen Ereignissen der letzten Stunden passte, lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. Sie genoss seine Nähe und die Wärme seines Körpers. Auf die Stimme in ihrem Kopf, die sie ermahnte, sich nicht zu viel von ihm zu erhoffen, hörte sie nicht. Erik hielt sie in seinem Arm – und das war alles, worauf es ihr im Moment ankam.

Die Werkstatt war nur wenige Kilometer von der Autobahn entfernt, so dass sie schnell ihr Ziel erreichten. Als sein Wagen wieder auf dem Boden stand, räumte Erik das Gepäck aus dem Kofferraum. »Wie lange wird die Reparatur dauern?«, fragte er den Mechaniker.

»Mindestens zwei, eher drei Wochen. Es ist ja allerhand zu Bruch gegangen. Sie können derweil einen Leihwagen fahren. Sobald Ihr Wagen repariert ist, bringen wir ihn zu Ihnen nach München und nehmen den Leihwagen wieder mit.«

»Hört sich gut an. Haben Sie ein Auto, das wir sofort übernehmen könnten? Wir wollen gleich weiterfahren.«

»Haben wir. Suchen Sie sich einen aus, dann mache ich die Papiere fertig.«

Christina nahm ihre Tasche hoch, die Erik auf den Werkstattboden gestellt hatte. »Kann ich mich hier irgendwo umziehen? Ich muss unbedingt aus den nassen Sachen raus.«

»Sie können unsere Umkleide nutzen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg.«

Christina folgte dem Mann und drehte sich noch einmal zu Erik um, bevor sie ihn verließ. »Erik, das Gleiche gilt für dich. Du musst unbedingt deine Sachen wechseln.«

»Willst du, dass ich mitkomme?«, fragte er mit einem – wie Christina meinte – recht anzüglichen Grinsen.

»Träum weiter«, sagte sie lässig, konnte aber nicht verhindern, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg.

Christina ließ sich Zeit beim Umziehen. Ihre nasse und verschmutzte Wäsche steckte sie in einen Müllbeutel, den sie immer für Schmutzwäsche in ihrer Reisetasche mit sich führte. Dann stellte sie sich vor einen halbblinden Spiegel und tat ihr Bestes, um ihr volles, braunes Haar mit einem Handtuch trockenzureiben und mit einem Kamm und viel gutem Willen in eine annehmbare Form zu bringen. Das Ergebnis war nicht berauschend, musste aber reichen. Sie hatte gerade einen schweren Unfall auf der Autobahn überstanden. Da konnte niemand von ihr verlangen, wie ein Supermodel auszusehen.

Als sie zurückging, war Erik allein und bereits umgezogen. Er hatte gleich hier, in der Werkstatt, die Sachen gewechselt.

»Bist du fertig?«, fragte er sie. »Schön! Dann können wir weiterfahren. Ich habe schon den Mietvertrag für den Leihwagen unterschrieben. Er sucht nur noch die Papiere raus, dann kann’s losgehen.«

»Ich könnte auch mal fahren. Dann kannst du ein bisschen schlafen.«

»Ich bin nicht müde. Lange Nachtdienste und arbeitsreiche Bereitschaftsdienste haben mich abgehärtet. Ich kann gut noch ein paar Stunden durchhalten.«

»Okay, aber wenn du merkst, dass du müde wirst …«

»… dann fahre ich nicht weiter. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass ich mich überschätze. Genau wie du möchte ich heil ankommen. Mir hat der eine Unfall voll gereicht.«

»Ja, mir auch.« Christina schüttelte sich, als die Erinnerungen auf sie einstürmten. »So etwas möchte ich nie wieder mitmachen. Es kann schon hart sein, die Unfallopfer in der Klinik zusammenzuflicken, aber vor Ort, inmitten des Geschehens, ist das eine ganz andere Hausnummer. Besonders wenn man selbst betroffen ist und man das eigene Leben an sich vorüberziehen sieht.«

»War es so für dich?«, fragte Erik ungewohnt sanft. »Hast du gedacht, das war’s jetzt?«

»Nein!« Christina musste die Augen schließen, um sich zu sammeln. Als sie sie wieder öffnete, stand Erik plötzlich vor ihr. Er nahm ihre Hände und streichelte sie sacht. »Doch«, gestand sie unter seinem Blick. »Es gab diesen schrecklichen Moment, in dem ich dachte, dass dies mein Ende ist. Ging es dir auch so?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich war zu sehr damit beschäftigt, dem anderen Wagen auszuweichen und unseren irgendwie zum Stehen zu bringen. Ich kam gar nicht dazu, über mein mögliches Ende nachzudenken.« Er strich ihr eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. Dabei verweilte seine Hand sekundenlang an ihrer Wange. »Erst hinterher wurde mir klar, wie knapp die Sache für uns ausgegangen ist.«

»So, hier sind die Papiere und die Schlüssel.« Der Mechaniker war zurückgekommen, und Christina wünschte sich, er wäre länger fortgeblieben. »Der Tank ist voll, so dass Sie bequem nach Binz kommen, ohne nachzutanken. In gut drei Stunden haben Sie’s dann endlich geschafft.«

Vor ihnen lag eine dreistündige Fahrt, die Christina jetzt keine Angst mehr machte. Vielmehr freute sie sich darauf. Sie würde mit Erik zusammen sein. Mit einem Mann, der auf einmal freundlich und nett, warm und mitfühlend war. Nichts erinnerte mehr an den mürrischen Mann, mit dem sie vor vielen Stunden diese beschwerliche Reise angetreten hatte.

Doch als sie nebeneinander im Auto saßen, um den Rest der Strecke hinter sich zu bringen, kehrte das Schweigen zurück. Niemand sprach über das, was ihn bewegte. Erik war noch immer höflich und umgänglich, aber zwischen ihnen gab es keine Vertrautheit mehr. Er war wieder auf Distanz gegangen.

Christina sah auf die Uhr im Armaturenbrett. »Wir werden wohl gegen halb drei ankommen.«

»Ja, das denke ich auch. Ich hatte vorhin, als du dich umgezogen hast, mit Kerstin telefoniert, damit sie sich keine Sorgen macht. Sie wollte wachbleiben, bis wir eintreffen, aber zum Glück konnte ich ihr diesen Unsinn ausreden. Es gibt am Haus einen kleinen Schlüsseltresor. Dort wird sie meinen Zimmerschlüssel reinlegen, damit wir ins Haus kommen. Deinen Schlüssel hinterlegt sie dann in meinem Zimmer.«

»Super.« Christina unterdrückte ein herzhaftes Gähnen. »Ich kann es kaum erwarten, ins Bett zu kommen.«

»Schlaf doch jetzt, wenn du müde bist.«

»Nein, auf gar keinen Fall«, erwiderte sie energisch. »Ich werde hier ganz gewiss nicht schlafen, während du fahren musst.«

»Na gut, wenn du meinst.« Er klang amüsiert, doch Christina war das egal. Sie wäre eine sehr schlechte und rücksichtslose Beifahrerin, wenn sie jetzt schlafen würde. Nein, sie wollte auf jeden Fall wachbleiben und ihm Gesellschaft leisten.

Keine fünf Minuten später fielen ihr die Augen zu und sie schlief ein.

*

Sanfte Worte drangen zu ihr durch und brachten sie zum Lächeln. Es war schön, wenn Erik sie so liebevoll weckte… Ruckartig setzte sie sich auf.

»Mist!«, entfuhr es ihr. »Ich wollte doch nicht schlafen. Wie lange war ich denn weg?«

»Nicht lange, nur knapp drei Stunden.«

Entsetzt sah sie ihn an. »Drei Stunden? Das kann nicht sein! Ich kann unmöglich die ganze Zeit geschlafen haben!«

»Hast du aber. Wir sind angekommen, Schlafmütze.«

Erst jetzt fiel Christina auf, dass der Motor nicht mehr lief und sie auf einem Parkplatz standen. Sie beugte sich vor, um hinauszusehen. »Strandhus«, las sie laut den Namen vor, der über der breiten Eingangstür angebracht war. »Ist der Name Programm? Liegt das Haus wirklich am Strand?«

»Ja. Hinter der Pension beginnen die Dünen und dann kommt auch schon der Strand. Du wirst begeistert sein, wenn du morgens aus dem Fenster schaust und das Meer sehen kannst.«

»Sofern mein Zimmer Meerblick hat und nach hinten rausgeht«, wandte Christina ein.

Erik lächelte nur geheimnisvoll und schwieg.

Christinas Augen wanderten bewundernd über die schneeweiße Fassade mit den dunklen Holzbalken und den hübschen Fensterläden. »Ich habe mir die Pension ganz anders vorgestellt. Kleiner, nicht so riesig.«

»Ja, für eine Frühstückspension ist sie ziemlich groß.« Erik schnallte sich ab. »Fünfzehn Zimmer, ein großer Frühstücksraum, ein Wintergarten, ein kleiner Salon, die Küche, diverse Nebenräume und die Wohnung von Kerstin und Uwe«, zählte er auf. »Das braucht Platz.« Er öffnete die Tür und stieg aus.

Christina rieb sich die Arme, als sie ebenfalls das Auto verließ und in die klare Nacht trat. Es war kühl, aber wenigstens regnete es nicht mehr. Das Meer musste ganz in der Nähe sein. Sie hörte das Plätschern der Wellen, und die Luft roch nach Salzwasser und Seetang. Sie waren endlich angekommen!

Zusammen holten sie das Gepäck aus dem Kofferraum. Hier stand auch Eriks Arztkoffer. »Reist du eigentlich immer mit medizinischem Equipment? Ich hatte mich gewundert, als du plötzlich diesen Koffer in der Hand hattest.«

»Er steht immer hinter meinem Fahrersitz, falls ich mal in die Situation komme, bei einem Unfall Erste Hilfe zu leisten.«

»So wie heute. Ich bin froh, dass wir deinen Koffer hatten. Ansonsten hätte das Leben von Rolf Kleemann auf der Autobahn sein Ende gefunden.«

»Wer weiß«, erwiderte Erik. »Komm, lass uns endlich reingehen. Wir gehören beide ins Bett.«

Neben der Eingangstür hing der kleine Schlüsseltresor. Erik gab den Code ein, den er von Kerstin erhalten hatte, und nahm seinen Schlüssel heraus.

Sein Zimmer war geräumiger, als Christina erwartet hatte. Es bot viel Platz für ein breites Doppelbett, einen großen Schreibtisch vor der Fensterfront und eine Sitzecke mit einem Zweisitzer und einem gemütlichen Sessel.

»Geht’s da ins Bad?«, fragte sie und zeigte auf die Tür, die von einem kleinen Flur abging.

»Ja, schau rein, wenn du willst. Ich suche inzwischen deinen Zimmerschlüssel. Er muss hier irgendwo sein.« Erik stand mitten im Zimmer und drehte sich im Kreis, um den Schlüssel zu finden. Die Strapazen der langen, anstrengenden Autofahrt waren ihm jetzt deutlich anzusehen. Er sah so müde aus, dass Christina auf die Badbegehung verzichtete und ihm beim Suchen half. Es wurde Zeit, dass sie ihn alleinließ, damit er endlich schlafen konnte.

»Er ist nicht hier«, stellte Erik entgeistert fest. Angestrengt dachte er nach. »Ich bin mir sicher, dass Kerstin ihn hier ablegen wollte.«

»Vielleicht hat sie es vergessen.« Christina tat das locker ab. »Mir bleibt also nichts anderes übrig, als im Auto zu schlafen. Es sei denn, du bist bereit, mir eine Betthälfte zu überlassen.«

»Welche willst du haben?«, fragte Erik gähnend. Er schien erleichtert, dass Christina kein großes Aufsehen machte, sondern bereit war, sich ein Zimmer mit ihm zu teilen.

»Ist mir total egal.« Sie kramte bereits in ihrer Tasche, um ihr Nachthemd und die Kulturtasche herauszuholen. »Wenn du nichts dagegen hast, verschwinde ich als Erste ins Bad. Ich beeil mich auch.«

»Kein Problem.« Erik setzte sich aufs Bett und ließ sich kraftlos nach hinten fallen. »Ich kann warten.«

Christina hatte zwar versprochen, sich zu beeilen, aber aufs Duschen mochte sie trotzdem nicht verzichten. Sie hatte auf der Autobahn nicht nur im Regenwasser gekniet, sondern auch in Pfützen aus Blut und Schmutz. Eine heiße Dusche war das Mindeste, was sie tun konnte, um das von der Haut zu bekommen.

Sie schaffte es in Rekordzeit, wohlwissend, dass Erik wartete, an die Reihe zu kommen. Ihr dünnes Nachthemdchen empfand sie als etwas unpassend, aber sie hoffte, dass Erik viel zu müde war, um sich dafür zu interessieren. Trotzdem war sie nervös, als sie zurück ins Zimmer ging. Völlig umsonst, wie sich schnell herausstellte. Erik lag noch immer rücklings auf dem Bett und schlief tief und fest. Kurz überlegte sie, ihn zu wecken, damit er ins Bad konnte, doch dann entschied sie sich dagegen. Warum sollte sie ihn um seinen Schlaf bringen? Sie störte sich nicht daran, dass er in voller Montur neben ihr auf dem Bett lag und ihm war das mit Sicherheit egal. Also ließ sie ihn in Ruhe, deckte ihn zu und stieg dann auch ins Bett. Eine Weile lag sie einfach nur da und betrachtete ihn. So friedlich, wie er schlief, sah man ihm nicht mehr an, dass dunkle Schatten sein Dasein begleiteten. Die tiefe Sorgenfalte, die sich oft auf seiner Stirn festsetzte, hatte der Schlaf weggewischt. Nichts schien ihn zu belasten. Und plötzlich gab es nichts, was sie sich mehr für ihn wünschte als ein Leben ohne Kummer oder Trauer.

*

Die Sonne schien ins Zimmer, als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Es war kurz nach zehn, und Christina fühlte sich trotz der Strapazen der letzten Nacht frisch und ausgeruht.

Eriks Betthälfte war leer. Das Rauschen des Wassers, das aus dem Bad zu hören war, verriet ihr, dass er unter der Dusche stand. Hastig sprang sie aus dem Bett. Sie wollte angezogen sein, wenn er zu ihr zurückkam.

Schnell schlüpfte sie in die Sachen, die sie sich noch in der Nacht zurechtgelegt hatte. In dem Flur, der zum Zimmer gehörte, gab es einen Garderobenspiegel, vor dem sie sich nun die Haare kämmte, um sie anschließend zu einem lockeren Knoten zusammenzufassen. Sie grinste, als sie einen Schlüssel mit einem messingfarbenen Anhänger auf der schmalen Konsole liegen sah. Hier hatte Kerstin Hansen also den Zimmerschlüssel hinterlegt. Sie hatten in der Nacht das ganze Zimmer abgesucht, aber niemand war auf die Idee gekommen, in dem kleinen Flur nachzusehen.

Auf dem Schlüsselanhänger war eine Elf eingraviert – Christina gehörte also das Zimmer nebenan.

Sie lauschte in Richtung Bad. Als sie dort immer noch die Dusche hörte, beschloss sie, die Zeit zu nutzen und ihre Tasche hinüberzutragen, um endlich ihr eigenes Reich zu beziehen. Es war genauso groß und schön wie Eriks und fast identisch eingerichtet. Es hatte die gleichen Möbel, aber die Stoffe und Farben wirkten weicher und verspielter.

Christina strahlte, als sie aus dem Fenster sah. Sie hatte tatsächlich ein Zimmer mit Meerblick! Genau davon hatte sie geträumt! Als sie das Fenster weit öffnete, strömte sofort die kühle Meeresluft hinein. Sie fröstelte, aber das konnte sie nicht davon abhalten, sich weit hinauszulehnen und tief durchzuatmen.

Eine beeindruckende Geräuschkulisse aus Möwengeschrei und Wellenrauschen drang zu ihr hinüber und vertiefte das Lächeln in ihrem Gesicht. Die flachen Dünen gaben den Blick auf einen weißen Strand frei, in dessen Sand die Wellen sanft ausliefen. Das Wetter war klar, und der Horizont lag in weiter Ferne. Vor ihm breitete sich die tiefblaue Unendlichkeit des Meeres aus. Es war einfach himmlisch!

»Wir haben November. Wenn du dort noch länger stehst, holst du dir eine Lungenentzündung.«

Christina fuhr herum. Im Türrahmen stand Erik und betrachtete sie mit einem breiten Grinsen. Er kam ihr irgendwie anders, beinahe fremd vor. Es lag nicht an der legeren Kleidung, die aus einer locker sitzenden Jeans, einem hellen Shirt und Sneakers bestand. Vielmehr war er es, der sich verändert hatte. Er wirkte gelassener und entspannter, als sie ihn je zuvor erlebt hatte. Mit ihm war eine Wandlung vorgegangen, und Christina freute sich darauf, diesen neuen Erik Berger kennenzulernen.

»Was ist los mit dir?«, fragte er spöttisch, als sie ihn weiterhin anstarrte. »Komme ich zu spät? Hat dich der raue Nordwind schon in eine Eisskulptur verwandelt?«

»Ha, ha«, erwiderte sie und tat genervt. Dabei konnte sie ein Lächeln nicht unterdrücken. Ja, sie freute sich riesig auf die Zeit mit ihm.

»Wie sieht’s aus bei dir?«, fragte er sie. »Hast du Hunger? Kerstins Frühstücksbuffet ist grandios.«

»Meinst du denn, wir bekommen noch was?« Christina deutete mit dem Kopf zu dem Radiowecker, der auf dem Nachttisch stand. »Es ist halb elf.«

»Keine Sorge. Kerstin lässt niemanden ohne Frühstück aus dem Haus. Ganz egal, wie spät es ist.«

Erik sollte Recht behalten. Obwohl es schon so spät war, stand ein gut gefülltes und lecker angerichtetes Buffet im Frühstücksraum. Die anderen Gäste waren längst ausgeflogen und vertrieben sich ihre Zeit wahrscheinlich am Strand oder irgendwo auf der Insel.

»Niemand hier?«, rief Erik fragend in den Raum. Als keine Antwort kam, sagte er zu Christina: »Ich bin gleich zurück. Ich schau mal, wo meine Schwiegermutter steckt.«

Christina nickte nur. Sie stand in der Mitte des Raums und sah sich begeistert um. Ihr gefielen die schweren Holzmöbel im maritimen Landhausstil. Doch am besten gefiel ihr die farbenfrohe Deko, die es hier überall und reichlich gab und Lust auf einen Urlaub am Meer machte. Auf den Anrichten und Regalen entdeckte sie Keramikfiguren und filigrane Skulpturen aus buntem Glas, an denen sie sich kaum sattsehen konnte. So wie es aussah, pflegten die Hansens einen guten Kontakt zu den Künstlern auf der Insel.

An den Wänden hingen mehrere Originale von einheimischen Malern. Christina betrachtete sie, als ihr eine gerahmte Fotografie inmitten der Aquarelle auffiel. Neugierig trat sie näher und verharrte auf einmal im Schritt, als sie das Hochzeitspaar auf dem Foto erkannte. Eigentlich erkannte sie nur den Bräutigam … Erik! Die fröhlich lachende, wunderschöne Braut an seiner Seite konnte daher nur Maika sein, Eriks verstorbene Frau.

Es war ein Bild aus glücklichen, unbeschwerten Tagen. Nichts hatte damals darauf hingedeutet, dass das Glück von so kurzer Dauer sein würde. Wer hatte auch ahnen können, dass das Schicksal diese lebenslustige, junge Frau so bald aus ihrem Leben reißen würde? Erst jetzt, als Christina sah, was Erik verloren hatte, verstand sie so richtig, warum aus dem netten, unbekümmerten Bräutigam auf dem Foto, ein griesgrämiger, verbitterter Misanthrop geworden war. Und noch eins wurde ihr bewusst: Wie hatte sie nur annehmen können, ihm hier näherzukommen? Hier, wo ihn alles und jeder daran erinnerte, was er verloren hatte.

Sie trat schnell zurück und betrachtete scheinbar interessiert ein Stillleben in sanften Pastelltönen, als sie nahende Schritte hörte. Nicht eine Sekunde zu spät, wie sie feststellte, als Erik in Begleitung von Kerstin Hansen zurückkehrte. Die quirlige, mollige Frau in den Sechzigern kam Christina mit ausgebreiteten Armen und einem warmen Lächeln entgegen.

»Wie schön, Sie wiederzusehen«, wurde Christina herzlich begrüßt und fand sich alsbald in einer innigen Umarmung wieder.

»Ich freue mich auch. Und ich möchte mich noch einmal ganz herzlich für die Einladung bedanken.«

»Ach was! Wir danken Ihnen, dass Sie sie angenommen haben. Aber nun müssen Sie erst mal was Ordentliches essen. Sie sind doch bestimmt schon halb verhungert. Kein Wunder, nachdem, was Sie gestern durchgestanden haben.«

Beim Frühstück mussten Christina und Erik ausgiebig und in allen Einzelheiten von ihrer beschwerlichen Reise berichten. Christina dachte sich anfangs nichts dabei, dass Kerstin immer ruhiger wurde. Erst als sich ihre Gastgeberin verstohlen ein paar Tränen wegtupfte und Erik sie daraufhin in den Arm nahm, wurde ihr klar, wie sehr Kerstin das Gehörte mitnahm.

»Ich mag mir gar nicht vorstellen, was euch hätte passieren können«, schniefte sie leise.

»Uns ist aber nichts passiert«, sprach Erik sanft auf sie ein. »Wir sitzen hier mit dir zusammen und es geht uns gut.«

»Ja, das weiß ich doch … aber trotzdem … wie schnell kann alles vorbei sein.« Kerstin sprang auf und wischte sich verlegen mit einem Handrücken über die Augen. Sie lachte, aber es hörte sich an, als müsste sie sich dazu zwingen. »Ach, was rede ich hier für einen Unsinn und verderbe euch damit die gute Stimmung oder gar den Appetit. Und dabei wartet im Backofen ein Kuchen darauf, herausgenommen zu werden. Also, meine Lieben, esst und trinkt und langt ordentlich zu! Wenn ich zurückkomme, muss das Buffet leergeputzt sein!«

Christina wartete, bis Kerstin fort war und sagte dann zu Erik: »Es war ein Fehler, so viel von dem Unfall zu reden. Wenn ich geahnt hätte, wie sehr es sie mitnimmt …«

»Schon gut«, unterbrach er sie. »Du hast nichts falsch gemacht. Das Ganze … das Ganze ist eben sehr schwer. Es hat nichts mit dir zu tun.«

Christina nickte stumm. Seine Worte waren gut gemeint und sollten sie beruhigen, doch sie bewirkten, dass sie sich ausgegrenzt vorkam. Sie wusste selbst, dass das Ganze nichts mit ihr zu tun hatte. Es ging nur um Maika, wenn die Vergänglichkeit des Lebens zur Sprache kam.

Sie waren fast mit dem Essen fertig, als Kerstin zu ihnen zurückkehrte. Von ihrem großen Kummer war nichts mehr zu spüren. Sie war fröhlich, stellte viele Fragen und erzählte von den Neuigkeiten. »Wenn am Nachmittag die Nordens anreisen, ist das Haus bis auf das letzte Zimmer gefüllt.«

»Mit richtigen, zahlenden Gästen oder nur mit der buckligen Verwandtschaft?«, fragte Erik und fing sich dafür einen leichten Boxhieb gegen seinen Oberarm ein.

»Sprich nicht so respektlos von den Menschen, die uns wichtig sind.« Sie drohte scherzhaft mit dem Finger und fragte dann Christina augenzwinkernd: »Benimmt er sich in der Klinik auch so fürchterlich?«

»Nein, überhaupt nicht«, behauptete Christina lachend. »Erik ist der netteste und freundlichste Arzt der Behnisch-Klinik.«

»Sag ich doch«, murmelte Erik und biss herzhaft von seinem Brötchen ab. »So, und nun erzähl endlich, wie die nächsten Tage aussehen werden. Was habt ihr Schönes für uns geplant?«

»Oh, ganz viel.« Kerstin rieb sich eifrig die Hände. »Ihr seid momentan als Einzige im Haus, weil ihr - verständlicherweise – länger geschlafen habt. Alle anderen sind schon unterwegs. Wir haben eine Führung am Königsstuhl und an den Kreidefelsen für sie organisiert. Die wird bis zum Mittag gehen. Gegessen wird dann übrigens direkt vor Ort. Am frühen Nachmittag gibt es die Seebädertour mit unserer Schmalspurbahn, dem Rasenden Roland. Vielleicht wollt ihr da mitfahren?«

»O ja! Der Rasende Roland!«, rief Christina begeistert aus und sah Erik fragend an.

»Warum nicht? Als nettester Arzt der Klinik ist es mir ein Anliegen, jeden deiner Wünsche zu erfüllen.«

»Dann wäre das ja geklärt«, lachte Kerstin. »Abends werden wir hier essen. Danach sitzen wir alle noch ein wenig zusammen, um uns kennenzulernen. Wir wollen dann auch Toni ganz offiziell in unserer Familie willkommen heißen. Ich glaube, es wird ihn freuen, wenn wir das ein bisschen feierlich begehen.«

»Davon bin ich fest überzeugt«, stimmte ihr Christina zu. »Wie ich höre, hat er sich gut eingelebt.«

»Ja, als würde er schon immer dazugehören. Er macht uns nur Freude.« Kerstin berichtete voller Stolz von Toni, der nicht nur das Leben der Hansens auf eine wundervolle Weise bereicherte, sondern auch mit anpackte, wann immer eine starke Hand gebraucht wurde. Christina sah das als perfekte Lösung an, von der alle profitierten. Toni hatte ein neues Zuhause mit liebevollem Familienanschluss und eine Aufgabe in seinem Leben gefunden, und die Hansens einen Menschen, der sie brauchte und um den sie sich kümmern konnten. Dass Toni zudem im Haus und Garten mithalf, war schön, aber eher nebensächlich.

Als sie vom Tisch aufstanden und Christina Anstalten machte, das Geschirr zusammenzustellen, wehrte Kerstin dieses Ansinnen sofort energisch ab. »Nein, meine Liebe. Sie sind nicht zum Arbeiten hier. Ich habe zwei patente Frauen, die sich um die Küche und die Zimmer kümmern.«

»Apropos Zimmer.« Erik verzog das Gesicht. »Hattest du mir eigentlich gesagt, dass der zweite Zimmerschlüssel auf der Spiegelkonsole liegt?«

»Ja, natürlich«, wunderte sich Kerstin über diese Frage.

»Nun, dann habe ich das wohl irgendwie verschwitzt. Ich war heute Nacht nicht mehr so aufnahmefähig. Jedenfalls haben wir den zweiten Schlüssel erst heute Morgen gefunden. Ich habe mir deshalb mit Christina ein Zimmer geteilt.«

›Und das Bett‹, dachte Christina, behielt das aber lieber für sich.

*

Am späten Nachmittag, als Christina und Erik längst aus dem Haus waren, kamen die letzten Gäste in der Pension »Strandhus« an. Kerstin begrüßte Fee und Daniel überschwänglich und mit der ihr eigenen Herzlichkeit, so dass sich die beiden sofort willkommen fühlten.

»Ich hoffe nur, dass Ihre Fahrt angenehmer verlief als die von Erik und Frau Rohde.«

»Was war denn los?«, fragte Daniel interessiert nach.

»Ach, davon erzähle ich Ihnen lieber später bei einer schönen Tasse Kaffee und meinem Apfelkuchen.«

»Mhm, Apfelkuchen.« Fee klang, als könnte es für sie nichts Schöneres geben als Kerstin Hansens Apfelkuchen. Kerstin freute sich natürlich über Fees Begeisterung.

»Den habe ich heute frisch gebacken. Die Äpfel sind vom ältesten Baum in unserem Garten. Die Großeltern meines Mannes haben ihn an ihrem Hochzeitstag gepflanzt. Es ist eine ganz alte Sorte, die man heute in den Baumschulen nicht mehr findet. Unverwüstlich ist dieser Baum, und die Früchte sind saftig und lassen sich gut lagern.« Kerstin plapperte munter weiter, während sie den Schlüssel für Fee und Daniel heraussuchte und ihre Gäste im Anschluss bis zu ihrer Zimmertür brachte. Als sie dort ankamen, war Daniel der festen Überzeugung, noch nie so viel über einen Apfelbaum gehört zu haben wie in den letzten fünf Minuten.

»Sie wollen sich bestimmt noch ein wenig frisch machen. In der Zwischenzeit kümmere ich mich um den Kaffee und schneid den Kuchen an. Von Eriks Unfall erzähle ich Ihnen dann später.«

»Herr Berger hatte einen Unfall?«, fragte Daniel schockiert nach. Er konnte Kerstin Hansen gut leiden und freute sich ehrlich, diese sympathische und herzliche Frau wiederzusehen. Aber dass sie ihm einen langen Vortrag über einen Apfelbaum hielt und von Bergers Unfall erst jetzt sprach, verstand er nicht.

Kerstin nickte bekümmert. »Ja, das Auto ist bestimmt Schrott. Sie mussten auf einen Leihwagen umsteigen. Aber den beiden ist nichts passiert, und das ist die Hauptsache. Nun bleibt nur zu hoffen, dass der Fahrer des anderen Wagens seine Verletzungen überlebt.« Kerstin fiel ihr ein, dass sie sich eigentlich um den Kaffee kümmern wollte. »Ich erzähle Ihnen später alles ganz ausführlich.«

Daniel sah Fee an, als Kerstin gegangen war. »Verstehst du das?«, fragte er sie. »Frau Rohde und Herr Berger haben einen schweren Unfall mitgemacht. Sollte das nicht das Erste sein, was sie uns erzählt? Warum sprach sie die ganze Zeit von diesem dummen Apfelkuchen?«

»Hey! Ich liebe Apfelkuchen! Ich bin mir sicher, dass der von Frau Hansen fantastisch schmecken wird. Und dass sie nicht gleich über diesen Unfall sprechen wollte, ist doch nicht verwunderlich. Wer spricht denn schon gern über die Dinge, die einen ängstigen?« Fee ließ sich auf das kleine Sofa fallen und streifte ihre Schuhe ab. »Ich nehme an, dass sie unter Schock steht. Du weißt doch, dass sie noch immer unter dem Verlust der Tochter zu leiden hat. Und nun hätte sie beinahe einen weiteren geliebten Menschen verloren. Das muss sie selbst erst mal verdauen.«

»Ich glaube, du hast recht«, sagte Daniel nachdenklich.

»Natürlich habe ich recht!«, erwiderte Fee mit einem hinreißenden Lächeln. Sie stand auf und ging zu ihrem Mann, um ihm einen Kuss zu geben. »Schließlich bin ich die Psychiaterin in der Familie. Da solltest du schon auf meine Kompetenz vertrauen.«

»Das mache ich, mein Liebling.« Daniel zog sie näher an sich heran und vertiefte den Kuss. Dann warf er dem Bett einen sehnsuchtsvollen Blick zu. »Ich könnte jetzt gut auf Kaffee und Kuchen verzichten. Am liebsten würde ich …«

Lachend rückte Fee von ihm ab. »Ich weiß genau, was du jetzt möchtest: ein kleines Nickerchen machen, weil du müde von der Fahrt bist.«

»Das hatte ich eigentlich nicht gemeint«, widersprach ihr Daniel sofort. Und schon fand sich Fee in seinen Armen wieder und musste sich kichernd daraus befreien.

»Generell bin ich ja sehr dafür, das Bett zu testen. Aber wir sollten Frau Hansen nicht warten lassen. Außerdem würde ich jetzt wirklich gern mehr zum Unfall erfahren.«

»Ja, ich auch«, gestand Daniel seufzend. Weil Daniel dabei so betrübt aussah, gab Fee ihm nach einem letzten Kuss das süße Versprechen, später nur für ihn da zu sein.

Kerstin hatte einen Tisch im großen Wintergarten eingedeckt. Von hier aus hatten sie eine atemberaubende Aussicht auf den Strand und das Meer. Noch während sie vom Kuchen aßen und ihren Kaffee tranken, berichtete Kerstin von dem Unfall auf der Autobahn. Es fiel ihr schwer; das blieb nun auch Daniel nicht länger verborgen. Seine Fee hatte sich also nicht geirrt – Kerstin Hansen hatte das Thema nicht aus Nachlässigkeit oder Desinteresse umgangen, sondern weil sie es kaum schaffte, darüber zu sprechen.

Fee streichelte Kerstins Hand. »Es ist alles gut ausgegangen, Frau Hansen. Nur daran sollten wir jetzt denken.«

»Ach, so leicht ist das gar nicht.«

»Ich weiß. Aber wenn wir diese schlimmen Gedanken zulassen und uns ständig ausmalen, was alles hätte passieren können, werden wir irgendwann unsere Lebensfreude verlieren und uns nur noch ängstigen und sorgen. Lassen Sie das nicht zu. Es gibt doch so viel, an dem wir uns erfreuen können.«

Kerstin nickte. Und dann sprach sie sich alles von der Seele, was sie bedrückte: dass die Trauer um die geliebte Tochter sie manchmal fast erdrückte oder wie viel Angst sie um ihren Uwe ausgestanden hatte, als er seinen schweren Herzinfarkt hatte. Und sie gestand sich und den Nordens ebenfalls die vielen Sorgen um Erik ein. Sie wusste, dass Maikas Tod ihn verändert hatte. Er haderte mit dem Schicksal und nährte eine große Wut und Trauer in seinem Herzen.

»Manchmal dauert es eben sehr lange, bis man so einen schweren Verlust akzeptieren kann«, versuchte Fee, eine Erklärung zu finden.

»Und manchmal schafft man es gar nicht und zerbricht daran«, gab Kerstin tieftraurig zurück und dachte dabei nur an Erik.

Fee wusste das und konnte ihr nicht zustimmen. Nicht mehr. »Das mag für einige Menschen zutreffen, aber nicht für Ihren Schwiegersohn. Er hat Fortschritte gemacht und sich dem Leben wieder geöffnet. Natürlich dürfen wir keine Wunder erwarten. Es wird sicher noch eine Weile dauern, bis es ihm wieder richtig gutgeht. Aber es ist nicht mehr nötig, sich ständig Sorgen um ihn zu machen.«

Als Kerstin skeptisch von Fee zu Daniel sah, lächelte er ihr aufmunternd zu. »Sie können auf das, was meine Frau sagt, vertrauen. In diesen Dingen hat sie meistens Recht.«

»Meistens?«, fragte Fee entrüstet und brachte die rührige Pensionswirtin damit wieder zum Lächeln. Kerstin war jetzt viel leichter ums Herz. Sie konnte nun wieder an andere Dinge denken und mit ihren Gästen über das Programm für die nächsten Tage sprechen.

»Es ist nur schade, dass Sie schon einiges verpasst haben.«

»Das holen wir alles nach, wenn wir im Frühjahr wiederkommen«, sagte Daniel.

»Dann steht es also fest?«, freute sich Kerstin.

»Ja.« Fee stellte ihre Tasse auf den Tisch zurück. »Wir werden nicht nach München zurückfahren, ohne unseren nächsten Urlaub bei Ihnen gebucht zu haben.«

Nach der Kaffeepause zeigte Kerstin ihren Gästen das Haus. Fee ging es wie Christina – sie war begeistert von der Einrichtung und der tollen Lage der Pension direkt am Strand. Deshalb schob sie den ursprünglichen Plan, sich mit Daniel aufs Zimmer zurückzuziehen, nach hinten. »Lass uns ans Wasser gehen, Dan, bevor es dunkel wird«, bat sie ihn.

»Ja, die Tage sind jetzt einfach viel zu kurz«, stimmte ihr Kerstin zu. »Machen Sie einen kleinen Spaziergang und lassen Sie sich draußen ordentlich den Wind um die Nase wehen. Wenn Sie sich eine Decke mitnehmen, können Sie in einem der Strandkörbe ein Päuschen einlegen und aufs Meer hinaussehen.«

»Es stehen noch Strandkörbe am Strand?«, fragte Fee überrascht. »Mitten im November? Ich dachte, die wären schon längst im Winterlager.«

»Ja, normalerweise sind sie das auch. Aber wir haben sie diesmal extra noch draußen gelassen, damit unsere Gäste sie an diesem Wochenende nutzen können.«

»Wir werden das jetzt ganz bestimmt machen. Stimmt’s, Dan?«

Daniel widersprach nicht. Nicht nur, weil er wusste, dass er chancenlos war, wenn sich Fee etwas in ihren hübschen Kopf gesetzt hatte. Nein, Daniel hatte jetzt ebenfalls Lust auf einen Strandspaziergang bekommen.

»Eine halbe Stunde«, raunte er Fee zu, bevor er nach oben ging, um die warmen Jacken zu holen. »Danach löst du dein Versprechen ein.«

Fee lachte leise. »Danach, mein Lieber, wirst du schlafen wie ein Stein. Besser, du machst keine großen Pläne mehr.«

*

Während Fee und Daniel am Binzer Strand spazieren gingen, fuhren Christina und Erik mit der Schmalspurbahn, dem Rasenden Roland. Hier trafen sie auf die übrigen Geburtstagsgäste und konnten endlich auch Uwe und Toni begrüßen.

Uwes guten Beziehungen war es zu verdanken, dass die Geburtstagsgesellschaft einen kompletten Waggon nur für sich hatte. So waren sie unter sich, und die Stimmung war entsprechend ausgelassen und fröhlich. Obwohl Christina kaum jemanden kannte, fühlte sie sich inmitten von Uwes Freunden und Verwandten willkommen und äußerst wohl. Deshalb freute sie sich auch, als sie später – am Abend – alle in der Pension zusammensaßen und sie das Kennenlernen vertiefen konnten.

Im Frühstücksraum hatten fleißige Hände die Tische zu einer langen Tafel zusammengestellt und sie festlich gedeckt. Fee und Daniel saßen neben Christina und Erik und sprachen noch einmal über den Unfall.

»Wir sind sehr froh, dass es so glimpflich für Sie ausgegangen ist«, sagte Daniel und wandte sich dann an Erik. »Natürlich ist es schade um Ihren Wagen, aber letztendlich sind die Gesundheit und das Leben unser wertvollster Besitz. Alles andere kann ersetzt werden.«

»Das sehe ich nicht anders. Ich trauere meinem Auto ganz bestimmt nicht hinterher. Schon gar nicht, nachdem ich gesehen habe, wie schwer es die Kleemanns getroffen hat.«

»Die Kleemanns?«, fragte Fee nach. »Ist das die Familie aus dem anderen Auto?«

Christina nickte. »Ja, ich muss immer wieder an sie denken. Wer weiß, wie es ihnen inzwischen geht.«

»Das kann man bestimmt herausbekommen«, war sich Daniel sicher. »Wenn Sie wüssten, in welches Krankenhaus sie gekommen sind …«

»Nach Berlin ins Virchow-Klinikum«, fiel ihm Erik ins Wort. »Aber die geben mir dort keine Auskunft. Ich hatte es vorhin probiert.«

Damit überraschte er alle, doch Christina besonders. Warum hatte er ihr nichts davon erzählt? Er hätte doch wissen müssen, wie sehr sie das Schicksal dieser Familie interessiert.

»Sag mal, Dan, kanntest du nicht mal einen Oberarzt, der im Virchow-Klinikum gearbeitet hat?«, überlegte Fee.

»Er arbeitet immer noch da, Fee. Oberarzt Tröger ist dort Anästhesist und Intensivmediziner. Wenn uns einer etwas zu Herrn Kleemann sagen kann, dann er.« Daniel handelte sofort. Er nahm sein Handy aus der Tasche und verließ den Raum, um ungestört telefonieren zu können. Lange brauchten die anderen nicht auf seine Rückkehr zu warten.

»Ich konnte mit Herrn Tröger sprechen.« Das Lächeln in seinem Gesicht verriet, dass er gute Nachrichten hatte. »Rolf Kleemann geht es sehr gut. Er ist bei Bewusstsein und wird wieder vollständig genesen. Das verdankt er nur Ihrem vorbildlichen Einsatz, liebe Kollegen.«

»Wissen Sie auch, wie es dem Rest der Familie geht?«, fragte Christina, die das Lob des Chefs einfach überhörte. Sie hatten doch nur ihre Pflicht getan, mehr nicht.

»Sie mussten ambulant versorgt werden und konnten dann nach Hause gehen. Frau Kleemann ist aber heute früh gleich ans Krankenbett ihres Mannes geeilt, um für ihn da zu sein.«

»Sie scheinen sich sehr nahezustehen«, bemerkte Fee gerührt.

Christina lachte ungläubig auf. »Schön wär’s. Wenn Sie die beiden in der Raststätte erlebt hätten, würden Sie das nicht annehmen. Sie haben sich nur angekeift und lagen sich wegen jeder Kleinigkeit in den Haaren.«

»Das beweist gar nichts«, widersprach ihr Erik und überraschte sie damit an diesem Abend zum zweiten Mal. »Es gibt nun mal Menschen, die ständig zanken und sich trotzdem lieben oder eine tiefe Zuneigung füreinander empfinden. Der äußere Schein trügt sehr oft.«

Christina wünschte sich, er hätte gerade von sich und ihr sprechen. Auch sie lagen sich fast ständig in den Haaren. Vielleicht hatte das ja in Wahrheit gar nichts zu bedeuten? Vielleicht liebte er sie, obwohl sie sich so oft stritten? Vielleicht ging es ihm wie ihr…

Je weiter der Abend voranschritt, umso ausgelassener wurde die Stimmung. Es wurde erzählt, diskutiert, gelacht, und einigen Gästen hatte der reichlich fließende Alkohol so viel Mut gemacht, dass sie sogar das Tanzbein schwangen, obwohl die leise Hintergrundmusik nicht dazu einlud. Kurt, ein schwergewichtiger Cousin von Uwe Hansen, gehörte zu ihnen. Amüsiert beobachtete ihn Christina eine Weile, dann sah sie sich nach Erik um. Er hatte sich irgendwann davongemacht und sie mit Fee und Daniel Norden alleingelassen. Während sich die beiden Nordens angeregt mit einem anderen Paar unterhielten, verspürte Christina keine große Lust, sich an dem Gespräch zu beteiligen. Sie vermisste Erik und ärgerte sich im selben Moment darüber, dass sie sich so nach seiner Gegenwart sehnte und sich ohne ihn allein und unvollständig fühlte. Diese Gefühle taten ihr nicht gut und machten sie nur traurig.

Um sich abzulenken, stand sie auf und ging rüber in den Wintergarten. Sie war froh, dass niemand hier war und sie ungestört ihren Gedanken nachhängen konnte. Sie setzte sich in den hübschen Strandkorb, der an der breiten Glasfront stand und sah in die Dunkelheit hinaus. Doch lange konnte sie die Ruhe und Abgeschiedenheit nicht genießen. Kurt tauchte auf.

»Hallo, Doktorchen«, dröhnte auf einmal sein tiefer Bass durch den Wintergarten. »Hier hast du dich also versteckt.«

Mit zwei Sektgläsern in den Händen schwankte er auf sie zu. Bevor Christina es verhindern konnte, hatte er sich zu ihr in den schmalen Strandkorb gedrängt.

Christina schnappte nach Luft. »Kurt, das ist keine gute Idee! Für zwei Leute ist es hier viel zu eng!«

»Ach was!«, widersprach er ihr lallend. »Du bist doch nur eine halbe Portion, Doktorchen. Außerdem haben mein Trudchen und ich hier schon vor zwanzig Jahren gesessen, und es war uns nie zu eng geworden.«

›Vor zwanzig Jahren hast du auch noch keine drei Zentner auf die Waage gebracht‹, dachte Christina. Doch sie war taktvoll genug, es nicht laut auszusprechen.

Kurt drückte ihr ein Sektglas in die Hand. »Wir müssen doch noch auf die Brüderschaft anstoßen, Doktorchen.«

»Wir duzen uns bereits, Kurt«, erwiderte Christina und versuchte dabei, sich aus der Enge zu befreien und aufzustehen. Ohne Erfolg! Sie steckte fest. »Und getrunken haben wir auch genug für heute.«

»Ja«, stimmte ihr Kurt glücklich lächelnd zu. »Aber der Bruderschaftskuss fehlt noch.«

»Nein! Das werden wir lieber bleiben lassen!« Christina wurde angst und bange. Er wollte sie doch nicht ernsthaft küssen, während sie keine Chance hatte, aus diesem vermaledeiten Strandkorb heraus zu kommen und sich wie eine Gefangene fühlte!

»Das sehe ich auch so.« Erik war plötzlich aufgetaucht, und Christina wäre ihm vor Erleichterung gern um den Hals gefallen – wenn sie nicht noch immer feststecken würde.

»Kurt, dein Trudchen sucht dich schon überall. Wenn sie dich hier mit Christina sieht, wird sie bestimmt nicht glücklich sein.«

»Oje! Oje! Das gibt Ärger! Das kann ich dir sagen!«

Erik reichte ihm eine hilfreiche Hand. »Na, dann mal los, Kurt. Am besten schaust du gleich bei ihr vorbei, bevor sie noch ernsthaft sauer auf dich wird.«

Bei der Aussicht, Probleme mit seiner Angetrauten zu bekommen, wollte Kurt sofort aufstehen. Doch ihm ging es wie Christina – er steckte fest. Erst als Erik ihn mit beiden Händen packte und Christina von hinten schob, klappte es.

Erik nahm Kurts Platz ein und sah ihm nach, als er davontorkelte.

»Um ihn machst du am besten einen großen Bogen, wenn er so viel intus hat«, feixte er. »Er wird dann nämlich sehr liebesbedürftig und kann seine Pfoten nicht bei sich behalten.«

»Diese Info hättest du mir vielleicht schon früher geben sollen«, gab sie spitz zurück. »Eine Warnung von dir und ich wäre schreiend davongelaufen, als er zu mir kam.«

»Das ging leider nicht.« Erik versuchte, ernst zu bleiben, aber es gelang ihm nicht. »Kurt ist das schwarze Schaf in der Familie. Wir sprechen nicht gern über ihn.«

»Bist du dir sicher, dass er das schwarze Schaf in deiner Familie ist?«, fragte Christina lachend zurück.

»Wer denn sonst?« Erik tat empört und stimmte dann in Christinas Lachen ein. Ihn so vergnügt zu sehen, war ein ungewohnter und wunderschöner Anblick. Doch er hielt nicht lange an. Plötzlich kippte die fröhliche Stimmung. Eriks Lachen erstarb, und er schaute sie so intensiv an, als würde er sie zum ersten Mal erblicken. Christina hielt den Atem an, als er ihr mit einer Hand sanft über die Wange strich. Er kam ihr näher, als wollte er sie küssen. Doch dann riss er seine Hand weg, als hätte er sich an ihrer Haut verbrannt. Entsetzt wich er vor ihr zurück

»Tut mir leid … ich … es tut mir leid«, stammelte er. Dann sprang er auf und stürzte hinaus.

Fassungslos sah sie ihm nach. Noch vor einer Sekunde war sie im siebten Himmel gewesen. Sie hatte gedacht, er würde sie küssen. Sie hatte es erhofft und ersehnt, doch dann hatte er sie von sich gestoßen. Wieder einmal …

Die Freude an diesem Abend war Christina gründlich vergangen. Sie ging zurück zu den anderen, beteiligte sich halbherzig an den Gesprächen und hielt dabei immer wieder nach Erik Ausschau. Doch er ließ sich nicht mehr blicken. Irgendwann war sie es leid, auf ihn zu warten. Er wollte nichts von ihr wissen, und es wurde Zeit, dass sie das endlich einsah.

Christina zog sich bald auf ihr Zimmer zurück. Obwohl sie der festen Überzeugung war, dass sie der Kummer die ganze Nacht wachhalten würde, schlief sie ein, kaum dass ihr Kopf das Kissen berührte.

*

Ihr Schlaf war tief und traumlos, bis sie von einem sonderbaren Geräusch geweckt wurde. Ein Geräusch, das nichts in ihrem Zimmer zu suchen hatte und bei dem in ihr alle Alarmsirenen losgingen.

Sie riss die Augen auf und erstarrte vor Schreck. Es gab keinen Zweifel – auf der anderen Seite des Doppelbettes lag jemand. Jemand, der sich in ihr Zimmer und ihr Bett geschlichen hatte und nun lautstark schnarchte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Schock etwas nachließ und sie endlich reagieren konnte. Voller Panik sprang sie aus dem Bett, hetzte zur Zimmertür und rannte auf den Flur hinaus. Dort blieb sie zitternd stehen und starrte panisch zurück, als erwartete sie einen Verfolger.

Niemand kam und sie beruhigte sich schnell wieder. Hier, auf dem hell erleuchteten Flur, fühlte sie sich sicherer als in ihrem dunklen Zimmer.

Christina wurde bald klar, dass sie hier nicht die ganze Nacht stehen konnte. Irgendetwas musste sie jetzt unternehmen. Angestrengt überlegte sie. Wer war der Mann in ihrem Bett? Kurz dachte sie an Erik, schob dann diesen Gedanken aber sofort beiseite. Vor Erik hätte sie keine Angst gehabt, vor ihm wäre sie nicht geflüchtet. Seine Nähe hätte sich vertraut angefühlt und nicht fremd und bedrohlich.

Leise schlich sie zurück. An der Tür blieb sie stehen und warf einen kurzen Blick aufs Schloss. Es war nicht aufgebrochen; sie hatte also schlichtweg vergessen abzuschließen und es dem Eindringling so sehr leicht gemacht.

»Hallo«, rief sie mit gedämpfter Stimme in das Zimmer hinein. Dann fragte sie sich, ob es wirklich so klug war, diesen Mann zu wecken. Sie wusste doch gar nicht, wer er war. Vielleicht war er ein Gewaltbrecher, der sich sofort auf sie stürzen würde, sobald er wieder wach war. Doch andererseits hätte er das schon machen können, als er in ihr Zimmer gekommen war und sie schlafend vorgefunden hatte.

Vorsichtig tastete sie mit einer Hand an der Wand entlang, auf der Suche nach dem Lichtschalter. Sie atmete auf, als sie ihn fand und nach kurzem Zögern und einem kleinen Stoßgebet schaltete sie das grelle Deckenlicht an. Ihren Besucher störte das nicht; sein Schnarchen ging unermüdlich weiter.

Christina trat einen Schritt vor und riskierte einen Blick in ihr Zimmer. Auf ihrem Bett lag bäuchlings ein Mann. Bis auf eine knappsitzende Unterhose, die mehr enthüllte als verbarg, war er völlig nackt. Mit seinem beachtlichen Leibesumfang füllte er die linke Betthälfte vollständig aus. Christina musste schlucken. Gegen diesen Koloss hätte sie nicht den Hauch einer Chance gehabt, wenn er es wirklich auf sie abgesehen hätte. Ihre Augen wanderten weiter zur Uhr auf dem Nachttisch. Es war erst halb eins, sie hatte also nur eine knappe Stunde geschlafen. Wütend verschränkte sie die Arme vor der Brust und starrte auf den nackten und üppig beharrten Rücken des Eindringlings. Während sie hier müde und frierend herumstand, lag dieser Typ friedlich schnarchend in ihrem Bett! Was für eine Ungerechtigkeit!

Plötzlich hörte das Schnarchen auf, und es kam Bewegung in den Mann. Mit einem lauten Grunzen wälzte er sich herum, bis er in der Mitte des Doppelbettes zum Stillstand kam. Er lag jetzt auf dem Rücken und hatte seine Arme und Beine so weit von sich gestreckt, dass er die gesamte Bettbreite einnahm. Nur wenig später setzte das Schnarchen wieder ein.

Mit offenem Mund hatte Christina diesem Schauspiel zugesehen. Sie starrte fassungslos auf das Bett, als sie den ungebetenen Besucher erkannte: Es war Kurt! Kurt, der jetzt eigentlich bei seinem Trudchen liegen sollte und nicht hier!

Christina brauchte nun dringend Hilfe. Allein fühlte sie sich dem schwergewichtigen Kurt nicht gewachsen. Sie könnte bei seiner Frau anklopfen und sie bitten, ihren Mann abzuholen. Doch sie kannte ihre Zimmernummer nicht. Kurz dachte sie darüber nach, Kerstin und Uwe aus dem Bett zu klingeln. Aber sie wollte die beiden nicht aufwecken. Sie hatten auch so schon genug mit den vielen Gästen zu tun und brauchten ihren Schlaf. Blieb also nur noch Erik.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, klopfte sie bei ihm an. Nur Sekunden später war er an der Tür. Er war noch immer vollständig bekleidet, und als Christina an ihm vorbei ins Zimmer spähte, sah sie auf dem Schreibtisch den laufenden Laptop und ein paar Unterlagen. Warum wunderte sie sich eigentlich nicht darüber, dass er sogar in seinem Urlaub bis spät in die Nacht arbeitete?

»Was ist los?«, fragte er und sah sie von oben bis unten an. Erst jetzt fiel Christina ein, dass sie nur ihr dünnes Nachthemdchen anhatte und fast nackt vor ihm stand.

»Äh …«, begann sie stotternd und platzte dann heraus: »In meinem Bett liegt ein Mann.«

Eriks Miene verfinsterte sich schlagartig. »Und was willst du dann noch von mir?«

»Na, was wohl?«, reagierte Christina gereizt. »Du sollst mir helfen, ihn loszuwerden.«

»Ist das ein schlechter Scherz?«, herrschte er sie so heftig an, dass sie vor Schreck einen Schritt zurücktrat. »Du lachst dir irgendeinen Typen an und verlangst jetzt von mir, dass ich ihn für dich abserviere und aus deinem Zimmer schmeiße?«

Verwirrt starrte sie ihn an. Es dauerte eine Weile, bis sie den Sinn seiner Worte verstand. »Sag mal, spinnst du? Was denkst du eigentlich von mir?« Sie ließ ihm keine Zeit, darauf zu antworten. Wütend stemmte sie die Hände in die Seiten und baute sich vor ihm auf. »Glaubst du wirklich, ich springe mit jedem x-beliebigen Typen ins Bett? Wofür hältst du mich denn?«

»Äh … ich … also …« Erik fuhr sich nervös mit einer Hand durch die Haare. »Aber du hast doch gesagt …«

»Ich habe dir lediglich gesagt, dass in meinem Bett ein Mann liegt. Dass ich damit einverstanden bin, habe ich nicht gesagt. Verdammt, Erik, ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche. Und was tust du? Du unterstellst mir, dass ich …« Weiter kam sie nicht. Erik schob sie kurzerhand beiseite und lief hinaus. Christina folgte ihm bis in ihr Zimmer.

»Kurt liegt in deinem Bett«, stellte Erik dort fassungslos fest.

»Was du nicht sagst«, ätzte Christina. »Und wenn du mir jetzt wieder unterstellst, ich hätte ihn eingeladen, sich dort breitzumachen, flippe ich völlig aus.« Als Christina sah, dass es um Eriks Mundwinkel belustigt aufzuckte, fauchte sie ihn an: »Schön, dass sich wenigstens einer von uns darüber amüsieren kann. Ich fand es nicht so toll, mitten in der Nacht wachzuwerden und dieses schnarchende … Ungetüm auf der anderen Bettseite vorzufinden.«

»Was greifst du mich denn so an? Es ist ja wohl nicht meine Schuld, dass sich Kurt hierher verirrt hat. Vielleicht solltest du sich lieber fragen, wie er hier reinkommen konnte. Hattest du etwa vergessen abzuschließen?«

Christina lag bereits eine heftige Erwiderung auf den Lippen, die sie sich aber schnell verkniff. Es war tatsächlich nicht seine Schuld, und die Sache mit der offenen Tür ging erst recht nicht auf seine Kappe.

»Kann sein«, meinte sie deshalb um einiges friedvoller. »Und was machen wir nun? Kannst du mir vielleicht helfen, ihn aus meinem Bett zu bekommen?«

Erik ging zu Kurt, der unbeirrt weiterschlief und der sich nicht daran störte, dass seinetwegen ein Streit entbrannt war. »Kurt! Aufwachen!« Als keine Reaktion kam, versuchte er es lauter: »Los, Kurt, werd’ endlich wach!« Er fasste ihn an eine Schulter und rüttelte ihn. »Kurt, mach die Augen auf!«

Endlich rührte sich Kurt. Er schlug die Hand des Störenfrieds weg, drehte sich auf die rechte Seite und setzte sein Schnarchkonzert fort. Wie Christina schockiert feststellte, lag er nun in ihrer Betthälfte und sabberte gerade auf ihr Kopfkissen.

»Lass ihn schlafen«, sagte sie genervt. Sie griff nach ihrer langen Strickjacke, die auf dem Sessel lag und zog sie über. »Selbst wenn du ihn aus meinem Bett bekommen solltest, habe ich jetzt keine Lust mehr, mich da wieder reinzulegen.«

»Hätte ich auch nicht.« Mit einer Spur Abscheu betrachtete Erik Kurt, der weiter seinen Rausch ausschlief. »Wenn du willst, kannst du wieder bei mir schlafen. Ich bitte Kerstin morgen, deine Bettwäsche zu wechseln.«

Dankbar packte Christina ein paar Sachen zusammen. Währenddessen kümmerte sich Erik um den betrunkenen Mann in ihrem Bett. Er beugte sich über ihn, um den Puls und die Atmung zu kontrollieren. Dann zog er ihm das Kopfkissen weg, damit sein Gesicht frei lag und er gut Luft bekam. Zum Schluss deckte er ihn zu und murmelte: »Mensch, Kurt, hör bloß mit dem Saufen auf. Irgendwann bringt dich der Schnaps noch um.« Dabei klang er ehrlich besorgt.

Christina wunderte sich nicht darüber. Sie wusste längst, dass unter Eriks harter Schale ein sehr weicher und mitfühlender Kern lag. Sie ärgerte sich nur, dass Erik noch immer alles tat, um ihn vor anderen zu verbergen.

In seinem Zimmer beeilte sie sich, unter die Bettdecke zu schlüpfen. Die Jacke ließ sie an. Ihr war kalt, und sie wusste nicht, ob es an ihrer spärlichen Bekleidung oder der nächtlichen Aufregung lag.

»Bist du in Ordnung?« Erik musterte sie besorgt. »Hat er dich irgendwie … belästigt … ich meine … äh …«

»Ich weiß, was du meinst.« Christina rollte mit den Augen. »Nein, er hat mich nicht belästigt. Er hielt mich bestimmt für seine Frau und ist so leise wie möglich ins Bett geschlichen, um sich keine Standpauke einzufangen. Ich habe jedenfalls nichts mitbekommen und wurde erst wach, als er eingeschlafen war und zu schnarchen begann.«

Erik setzte sich auf ihre Bettkante. Als er sie ansah, verschwand die Kälte aus Christinas Körper und ihr wurde auf einmal sehr warm. »Ich möchte mich bei dir entschuldigen, Tina.« Kurz blieb ihr Herz stehen, weil er sie zum ersten Mal mit ihrem Spitznamen ansprach. »Ich habe mich wie ein Vollidiot benommen. Anstatt dir sofort meine Hilfe anzubieten, beleidige ich dich und unterstelle dir sonst was.«

»Tja, so bist du halt«, scherzte Christina, um der Situation die unangenehme Spannung zu nehmen. »Ich hatte doch gar nichts anderes von dir erwartet.«

Erik fand das nicht lustig. Ganz im Gegenteil. »Das ist sehr schade«, sagte er bedrückt. »Du solltest dir sicher sein, dich auf mich verlassen zu können. Ich will, dass du mir vertraust. Ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst.«

»Warum?«, hauchte sie leise.

Er sah sie mit einem Blick voller Zärtlichkeit und Wärme … und Liebe an. Für einen kurzen Augenblick flutete Hoffnung durch Christinas Herz. Sollte ihr größter Traum wirklich wahr werden? Gestand er ihr gleich, dass er sie liebte? Doch auch diesmal machte er einen Rückzieher. Er stand auf und trat vom Bett zurück.

»Na ja, wir sind wohl Freunde«, sagte er so kühl, dass Christina am liebsten losgeschrien hätte. »Und Freunde stehen sich in der Not bei. Ob’s uns gefällt oder nicht. So ist das nun mal. Freundschaft verpflichtet.«

Er wandte sich von ihrem enttäuschten Gesicht ab und ging zum Schreibtisch hinüber. »Ich würde gern noch ein wenig arbeiten, wenn dich die Schreibtischlampe nicht stört.«

»Tut sie nicht«, presste Christina frustriert hervor. Dann drehte sie ihm den Rücken zu und zog sich die Bettdecke über die Ohren. Ihr war elend zumute, und sie fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Schnell blinzelte sie sie fort. Sie wollte jetzt nicht hier, in seinem Beisein weinen. Er sollte nicht wissen, wie sehr es sie verletzte, dass er sie immer wieder abwies. Sie war wütend; doch ihre Wut galt weniger ihm als ihren eigenen törichten Gefühlen. Warum konnte sie nicht akzeptieren, dass aus ihr und ihm niemals ein Paar wurde? Er würde ihre Liebe nie erwidern und in ihr immer nur eine gute Freundin sehen. Es war nicht seine Schuld, dass ihr das nicht genügte und sie sich mehr von ihm wünschte. Es lag nur an ihr …

*

Als Christina am nächsten Morgen wach wurde, lag Erik auf seiner Betthälfte. Er hatte ihr den Rücken zugedreht und sie konnte an den gleichmäßigen Atemgeräuschen hören, dass er noch schlief. Sie wusste nicht, wie lange er in der Nacht am Schreibtisch gesessen hatte. Die Müdigkeit hatte sie bald übermannt und in einen unruhigen Schlaf geschickt, der ihr nur wenig Erholung gebracht hatte.

Draußen war es noch dunkel, aber die Dämmerung kündigte sich bereits an. So leise sie konnte, schlich sie aus dem Bett. Sie nahm ihre Sachen und wollte damit im Bad verschwinden, um sich frisch zu machen und anzuziehen. Doch dann überlegte sie es sich anders.

Ihre eigene Zimmertür stand spaltbreit offen. Christina dachte nach. Sie war sich sicher, sie zugemacht zu haben, als sie Kurt dort zurückgelassen hatten. Behutsam schob sie sie weiter auf.

»Kurt?«, rief sie leise in den Raum. »Bist du wach?« Sie spähte um die Ecke und sah ein leeres Bett. Auch im Bad war niemand. Kurt hatte ihr Zimmer verlassen. Wahrscheinlich lag er nun im Bett bei seiner Frau und schlief seelenruhig, ohne zu ahnen, wie viel Aufregung und Unruhe er in der letzten Nacht verursacht hatte.

Christina schloss ihre Zimmertür und ging ins Bad. Glücklicherweise sah es unbenutzt aus. Sie stellte sich unter den warmen Duschstrahl und hoffte, dass das Wasser ihre Traurigkeit fortspülen würde.

»Guten Morgen!« Kerstin sah überrascht auf, als Christina den Frühstücksraum betrat. »Sind Sie aus dem Bett gefallen? Es ist noch nicht mal sieben.«

»Ich konnte nicht mehr schlafen und dachte, ich kann mich hier vielleicht ein wenig nützlich machen.«

»Auf gar keinen Fall!«, wehrte Kerstin dieses Angebot sofort ab. »Sie sind unser Gast und sollen sich von uns verwöhnen lassen!«

Mit einem leisen Lachen griff Christina nach den Servietten, um sie auf den Tischen zu verteilen. »Ich wurde schon genug von Ihnen verwöhnt. Es wird Zeit, dass ich mich dafür revanchiere.«

Kerstin hielt in ihrer Bewegung inne und sah Christina an. »Das haben Sie doch längst«, sagte sie weich.

»Reden Sie etwa von der Herz-OP Ihres Mannes? Da habe ich doch nur meine Arbeit gemacht.«

»Davon hatte ich nicht gesprochen.« Kerstin sah aus, als wollte sie noch mehr loswerden. Sie nahm Christina die restlichen Servietten aus der Hand. »Wissen Sie, was wir jetzt machen? Wir gönnen uns eine kleine Pause und setzen uns mit einer schönen Tasse Kaffee in den Wintergarten. Dort können wir uns viel besser unterhalten.«

Christina hatte nichts dagegen. Ein starker Kaffee war genau das, was sie jetzt brauchte. Als sie in den Wintergarten kam und dort den Strandkorb sah, musste sie ungewollt lächeln. Sie machte einen großen Bogen um ihn und setzte sich in eine kleine Sitzgruppe, von der sie den besten Blick nach draußen hatte. Die Dunkelheit hatte sich inzwischen zurückgezogen, und die ersten Sonnenstrahlen kamen zaghaft heraus.

»Wissen Sie eigentlich, dass Sie hier ein traumhaftes Wetter haben?«, fragte sie, als Kerstin mit dem Kaffee kam. »In München hat es fast ständig geregnet.«

»Hier auch«, gab Kerstin lächelnd zu. »Das schöne Wetter haben wir erst seit zwei Tagen. Vorher hatten wir auch mit Dauerregen zu kämpfen.«

»Also kam die Sonne pünktlich zum Geburtstag Ihres Mannes raus.«

»Ja, so haben wir es uns ja auch gewünscht. Wünsche, die uns sehr am Herzen liegen, gehen manchmal in Erfüllung.« In ihren letzten Worten schwang ein besonderer Unterton mit, der Christina neugierig machte.

»Sprechen Sie immer noch vom Wetter?«

»Nein, meine Liebe, ich spreche von Erik. Ich wünsche mir seit fünf Jahren, dass er über Maikas Tod hinwegkommt und eine neue Liebe findet. Ich bin froh und sehr dankbar, dass sich dieser Wunsch erfüllen wird.« Kerstin langte über den Tisch und drückte Christinas Hand. »Eriks Augen sind voller Wärme und Liebe, wenn er sie ansieht. Können Sie das denn nicht sehen?«

»Nein.« Christina ließ traurig den Kopf hängen. »Ich weiß nicht, was Sie da sehen. Aber ich bin mir sicher, dass es keine Liebe ist. So empfindet Erik nicht für mich.«

»Doch das tut er. Noch mag er sich das nicht eingestehen, aber die Liebe hat ihn schon voll in ihrem Griff. Irgendwann wird er den Mut besitzen und sich dazu bekennen.«

»Warum braucht er denn dafür Mut?«, wollte Christina wissen und in ihrer Stimme klang Verzweiflung mit. »Warum kann er mich nicht einfach lieben?«

»So, wie sie es tun?«, fragte Kerstin behutsam. Als Christina nur betrübt nickte, sagte sie: »Haben Sie Geduld mit ihm! Bitte geben Sie ihn jetzt nicht auf! Er braucht Sie doch. Vertrauen Sie darauf, dass die Liebe am Ende siegen wird. Sie findet immer einen Weg.«

Kerstins Worte gingen ihr den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. Sie hatten ihr neue Hoffnung gegeben und gleichzeitig fast zum Weinen gebracht. Sie wollte daran glauben, dass Erik diese Liebe empfand, von der Kerstin gesprochen hatte. Doch sie war sich nicht sicher, ob ihr das gelingen konnte.

Beim Frühstück setzte sie sich zu Fee und Daniel. Erik ließ sich nicht blicken. Erst als die Gruppe geschlossen aufbrach, um mit der Bäderbahn zum Jagdschloss Granitz zu fahren, tauchte er auf. Er grüßte knapp in ihre Richtung und schloss sich dann einem befreundeten Ehepaar der Hansens an. In der Bahn saß er neben Kurt und sprach auf ihn ein. Als Kurt heftig errötete und beschämt zu Christina sah, ahnte sie, worüber die beiden redeten.

Während der Schlossbesichtigung kam Kurt zu ihr und entschuldigte sich wortreich. So, wie Christina bereits vermutet hatte, war er in den frühen Morgenstunden wachgeworden und hatte mit einem Riesenschrecken festgestellt, dass er in einem fremden Bett lag. Wem es gehörte, wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht. Erst Erik hatte ihn darüber aufgeklärt. Obwohl er Christina eine aufreibende Nacht beschert hatte, konnte sie ihm nicht mehr böse sein. Sie nahm seine Entschuldigung an und freute sich über die Erleichterung in seinem Gesicht.

Als sie vor einem opulenten Ölgemälde stehenblieb, kam Erik zu ihr. Sie beachtete ihn nicht und starrte auf das Bild.

»Findest du dieses Gemetzel etwa schön?« Erik stand neben ihr und betrachtete ebenfalls das Gemälde.

»Gemetzel?«, fragte Christina irritiert zurück. »Ich sehe kein Gemetzel.«

Erik zeigte auf die beiden Fasane, die am Sattel eines Reiters hingen. »Dem ging doch wohl eindeutig ein riesiges Gemetzel voraus.«

Christina lachte leise. Sie konnte sich noch so sehr über Erik ärgern, er schaffte es trotzdem immer, sie zum Lachen zu bringen.

»Hat sich Kurt bei dir entschuldigt?«, wechselte er plötzlich das Thema.

»Ja, das hat er.« Christina seufzte. »Du hättest ihm nicht erzählen müssen, was in der Nacht passiert ist.«

»Warum nicht? Er hat sich danebenbenommen und sollte es wenigstens wissen und die nötigen Konsequenzen daraus ziehen. Dazu gehört, dass er sich für sein Verhalten bei dir entschuldigt.«

»Mag ja sein, aber ich hätte ihm diese Peinlichkeit gern erspart.«

»Sie wäre ihm erspart geblieben, wenn er nicht so viel getrunken hätte. Hast du seine Entschuldigung angenommen?«

»Natürlich. Ich bin nicht nachtragend.«

»Ich weiß, und das lässt mich hoffen, dass du mir auch verzeihen kannst.«

Überrascht sah sie ihn an. »Wofür entschuldigst du dich diesmal?«

Erik schaffte es, so reumütig dreinzublicken wie Kurt vor wenigen Minuten. »Für mein unmögliches Verhalten.«

»Ach so, das meinst du.« Christina winkte lässig ab. »Schwamm drüber. So bist du nun mal. Wozu sich noch darüber aufregen?« Sie ließ ihn stehen und ging weiter zum nächsten Bild. Erik folgte ihr.

»Bitte, Tina, lass uns vernünftig miteinander reden. Mir ist jetzt nicht nach Witzen zumute.«

»Mir auch nicht, Erik. Das, was ich eben sagte, war kein Witz.« Sie drehte sich zu ihm um. »Dein Verhalten ist meistens ätzend, aber das bin ich von dir gewohnt und damit kann ich umgehen. Doch dann …«, Christina schluckte und versuchte, die richtigen Worte zu finden, »… dann bist du plötzlich nett und charmant. Du bringst mich zum Lachen und ich … ich bin … glücklich, weil du bei mir bist. Aber schon im nächsten Augenblick gehst du wieder auf Abstand und machst mir das Leben schwer.« Sie wedelte mit einer Hand umher, als wollte sie lästige Fliegen verscheuchen. »Dieses ganze Hin und Her, deine Launen und Stimmungsschwankungen machen mich total verrückt. Gerade bist du noch der nette Erik und auf einmal der große Stinkstiefel. Entscheide dich endlich für eine Seite! Bist du der Gute oder der Böse? Was willst du überhaupt? Sag mir einfach, was du willst!«

In Eriks Gesicht arbeitete es. Von seiner üblichen Arroganz und Kaltschnäuzigkeit war nichts mehr übrig. »Ich will …«, Er räusperte sich, weil seine Stimme zu versagen drohte. »Ich will … alles … ich will dich.«

Christina sah ihn mit offenem Mund an. Noch während ihr Gehirn versuchte, seine Worte zu verarbeiten und eine Antwort darauf zu finden, kamen Fee und Daniel vorbei und erzählten begeistert von den vielen Eindrücken im Schloss. Wenig später stießen noch andere Gäste dazu. Von da an waren Erik und Christina nicht mehr allein. Beim festlichen Abendessen, in der urigen Gaststätte des Jagdschlosses saßen sie zwar nebeneinander, aber auch da bot sich nicht die Möglichkeit, über das, was ihnen auf den Nägeln brannte, zu reden.

Erst als sie in der Pension ankamen und alle bei einem letzten Schlummertrunk zusammensaßen, schafften sie es, sich von den anderen loszueisen. Mit einem Glas Wein zogen sie sich in den Wintergarten zurück.

Erik steuerte sofort auf den Strandkorb zu, in dem sie schon am letzten Abend gesessen hatten. Als Christina wieder einfiel, wie das ausgegangen war, blieb sie zögernd davor stehen.

»Setz dich doch«, griente Erik. »Du bist nicht ganz so dick wie Kurt und wirst bestimmt nicht steckenbleiben.«

Christina zog eine Augenbraue hoch. »Du verstehst es wirklich, Komplimente zu machen.«

»Ja, ich besitze viele verborgene Talente«, erwiderte Erik und klopfte mit der flachen Hand auffordernd auf den Platz neben sich. »Nun komm schon«, bat er sie. »Du weißt, dass wir reden müssen.«

Christina nickte und setzte sich zu ihm. Sie hatte den ganzen Tag sehnsüchtig darauf gewartet, mit ihm allein zu sein. Trotzdem bekam sie auf einmal Angst vor dem, was jetzt kommen würde.

»Das, was ich dir im Jagdschloss gesagt habe, meinte ich auch so«, sagte er ernst. »Ich will dich, Tina. Dich wollte ich schon immer.«

»Das hast du aber gut verbergen können.«

Erik zog eine Grimasse. »Ja, das ist noch ein großes Talent von mir.« Dann wurde er wieder sehr ernst. »Ich habe mich lange gegen meine Gefühle für dich gewehrt und mir eingeredet, auch ohne dich leben zu können. Erst als du mit diesem bescheuerten Adam zusammen warst und mit ihm fast das Land verlassen hättest, habe ich erkannt, wie sehr ich dich brauche. Selbst, wenn ich es wollte, ich kann nicht mehr ohne dich leben.«

Sie war der festen Überzeugung, dass dies das Schönste und Netteste war, was Erik je zu ihr gesagt hatte. Obwohl es ihr lieber gewesen wäre, er hätte ihre unglückselige, kurze Affäre mit Adam nicht erwähnt. »Warum hast du das nicht viel früher gesagt?«, fragte sie ihn.

Eriks Gesichtsausdruck bekam etwas Schmerzliches. »Ich war noch nicht so weit. Du weißt von Maika. Ich habe sie geliebt und konnte mir lange nicht vorstellen, jemals wieder so für eine Frau zu empfinden. Und ich … ich hielt es nicht für richtig, wieder glücklich zu sein, während sie …« Erik brauchte eine kleine Pause, um den Kummer niederzudrücken, und Christina ließ ihm diese Zeit. Geduldig wartete sie darauf, dass er weitersprach. »Es fühlte sich wie Verrat an. Kannst du das verstehen?« Christina nickte stumm, und Erik sprach nun auch den Rest aus: »Außerdem war ich mir nicht sicher, was du für mich empfindest. Eigentlich weiß ich das auch jetzt noch nicht genau. Ich habe Zweifel, ob du meine Gefühle wirklich erwiderst.«

Eriks Geständnis versetzte sie in einen wahren Freudentaumel und ließ sie mutig werden. Sie umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und küsste zärtlich seine Lippen. »Habe ich damit alle Zweifel ausgeräumt?«, fragte sie ihn dann lächelnd.

»Ja, das war ziemlich deutlich.« Erik zog sie an sich, um sie lange und leidenschaftlich zu küssen und um ihr zu zeigen, dass auch seine Zweifel verschwunden waren.

Kurz vor Mitternacht zogen sich die ersten Gäste auf ihre Zimmer zurück. Zu ihnen gehörten auch die vier Münchner. Sie wollten am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, aufbrechen und mussten für die lange und anstrengende Fahrt ausgeruht sein.

Christina und Erik verabschiedeten sich von den Nordens vor deren Zimmertür. Dann gingen sie weiter zu ihren Zimmern, die am anderen Ende des Ganges lagen. Vor Christinas Tür blieben sie stehen. Als sie ihren Schlüssel herausholte, zog er sie auf: »Du willst also diese Nacht tatsächlich mal in deinem eigenen Bett verbringen?« Bevor sie ihm darauf antworten konnte, verschloss er ihren Mund mit einem verführerischen Kuss. »Du könntest auch wieder bei mir schlafen«, sagte er lächelnd, als er sich von ihr löste. »An alten Traditionen sollte man unbedingt festhalten.«

Es klang wie ein Scherz, doch Christina hörte die Sehnsucht und das Begehren aus seinen Worten heraus. Sie empfand genau wie er, deshalb fiel ihr die Entscheidung nicht schwer. »Ich möchte wenigstens diese letzte Nacht in meinem eigenen Bett verbringen.«

»Ja, natürlich«, stimmte er ihr sofort zu, aber er klang dabei so enttäuscht, dass Christina fast gelacht hätte. Doch sie tat es nicht. Stattdessen öffnete sie ihre Zimmertür und griff nach seiner Hand. »Allerdings habe ich nicht gesagt, dass ich diese Nacht allein verbringen will«, sagte sie mit einem Lächeln, das voller Liebe war.

Als sie sich jetzt küssten, hielten sie sich nicht mehr zurück. Sie gaben sich endlich ihrer Leidenschaft, dem Verlangen und ihrer Liebe hin.

*

»Hat Ihnen Herr Berger schon erzählt, dass wir gemeinsam nach München fahren?«, fragte Daniel, als sich Christina zu ihm und Fee an den Frühstückstisch setzte. »Ich habe ihm den Vorschlag gemacht, den Leihwagen hierzulassen. Wir müssen doch nicht mit zwei Wagen unterwegs sein, wenn unser groß genug ist, dass vier Personen bequem darin Platz finden.«

»Ja … natürlich. Da kann ich Ihnen nur zustimmen.« Es gelang Christina kaum, Begeisterung vorzutäuschen. Sie war davon überzeugt, dass Erik froh über dieses Arrangement war. So würde er nicht mit ihr allein sein müssen und konnte unliebsamen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen. Zurückgezogen hatte er sich ja schon jetzt von ihr.

Sie hatten die Nacht zusammen verbracht. Eine Nacht voller Zärtlichkeit und Leidenschaft. Eng umschlungen waren sie irgendwann eingeschlafen; doch als Christina am Morgen erwachte, war Erik fort gewesen. Anfangs hatte sie sich noch eingeredet, dass das nichts zu bedeuten hatte. Aber schnell beugte sie sich der traurigen Wahrheit: Die vergangene Nacht bedeutete ihm nichts; sie bedeutete ihm nichts.

»Wann haben Sie das eigentlich mit Herrn Berger abgesprochen?«, wollte sie nun wissen.

»Vorhin. Noch vor dem Frühstück«, beantwortete Fee ihre Frage. »Wir hatten einen kleinen Spaziergang zum Strand gemacht und trafen ihn dort.«

Am Strand … er war also an den Strand geflüchtet. Na gut, dann würde er ihr eben dort Rede und Antwort stehen müssen. Christina erhob sich hastig. »Ich muss noch meine Tasche packen. Wir wollen doch bestimmt bald aufbrechen.«

Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, wir gehen es ganz gemütlich und ohne Gehetze an. Wenn wir in zwei Stunden losfahren, reicht das völlig aus.«

»Nun, dann gehe ich noch mal ans Wasser runter. Ein bisschen frische Luft wird mir sicher guttun.«

»Sie sehen tatsächlich etwas blass aus, Frau Rohde«, bemerkte Fee. »Ich hoffe, Sie brüten nichts aus.«

»Nein, mir geht’s gut. Wirklich.« Christina war froh, dass sie ihre Jacke schon dabeihatte und sie nicht mehr auf ihr Zimmer gehen musste, um sie zu holen. Sie wollte so schnell wie möglich nach draußen, um Erik zu finden.

Sie war schon fast an der Eingangstür, als sie von Uwe Hansen aufgehalten wurde. »Er ist nicht am Strand.«

»Wie bitte?« Christina drehte sich zu ihm um.

»Erik. Er ist nicht mehr am Strand.« Uwe sah aus, als wäre ihm diese Unterhaltung schrecklich unangenehm. »Es tut mir leid, dass ich mich einmische, aber ich habe Ihr Gespräch mit angehört. Erik ist schon längst nicht mehr am Wasser. Sie werden ihn dort nicht finden.«

Die Enttäuschung brandete wie eine kalte Welle über sie hinweg, und die Hoffnung, sich mit Erik noch vor der Heimfahrt aussprechen zu können, wurde fortgespült.

»Er ist auf den Friedhof gegangen. An Maikas Grab.«

Christina hörte Uwes Worte, aber sie konnte sie nicht verstehen. Wieso war Erik auf dem Friedhof? Was bedeutete es, wenn ein Mann ans Grab seiner verstorbenen Frau eilte, nachdem er mit einer anderen Frau die Nacht verbracht hatte? Bestimmt nichts Gutes.

»Ich muss …« Christina zeigte zur Tür und kämpfte mit ihrer Verzweiflung. »Ich muss jetzt gehen. Ich muss unbedingt raus.«

»Natürlich.« Uwe nickte mitfühlend. »Ich bitte Sie nur, ihm Zeit zu lassen. Geben Sie ihn nicht auf.«

»Das Gleiche hat Ihre Frau auch schon gesagt«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme, dann stürmte sie hinaus. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, doch sie spürte weder sie noch den kräftigen Wind, der kalte Luft aus Nordost mit sich führte. Erst als sie das Wasser erreichte, konnte sie wieder klar denken, und das Weinen endete. Sie hielt ihr Gesicht in den kalten Wind und schloss sekundenlang die Augen. Und auf einmal war sie sich sicher, dass sie es schaffen würde. Sie würde lernen, mit dem Schmerz in ihrem Herzen umzugehen und Erik daraus zu verbannen.

Christina ging ein paar Meter, doch für einen längeren Spaziergang fehlte ihr heute die Kraft. Sie setzte sich in einen Strandkorb und beobachtete die Möwen, die auf dem Wasser schwammen und von sanften Wellen emporgetragen wurden. Gerade überlegte sie, ob es an der Zeit sei umzukehren, als Erik zu ihr kam. Unter seinem Arm klemmte eine Decke, in seinen Händen hielt er eine Thermoskanne und zwei Tassen.

Entgeistert ließ sie es geschehen, dass er sich zu ihr setzte und die Decke über ihre Beine ausbreitete. Dann schenkte er Tee ein und reichte ihr eine Tasse.

»Uwe hat mir gesagt, dass du zum Strand gegangen bist. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.«

»Um mich?«, fragte sie spröde. »Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen.«

»Mach ich aber. Ich konnte dich nicht finden.«

»Tja, dann haben wir ja etwas gemeinsam. Ich konnte dich nämlich auch nicht finden, nachdem du dich heimlich aus meinem Zimmer geschlichen hattest.«

»Tina, es tut mir leid …«

»Ach, hör doch endlich auf damit!«, fuhr sie ihn heftig an. »Deine ewigen Entschuldigungen kannst du dir sparen! Ich will sie nicht mehr hören!« Christina war wütend. Mit Schwung kippte sie den heißen Tee in den Sand und drückte Erik die leere Tasse in die Hand. Als sie aufspringen wollte, griff er nach ihrem Arm und zog sie wieder runter.

»Wir müssen uns unterhalten! Jetzt!«, sagte er so streng, dass Christina sitzenblieb. »Wenn wir nachher mit den Nordens unterwegs sind, können wir das nicht mehr.«

Christina sah ihn böse an. »Sag endlich, was du mir mitteilen willst. Ich bin schon ganz gespannt darauf.«

Erik stöhnte leise auf. »Du wirst es mir nicht leicht machen, stimmt’s?«

»Kommt drauf an, was du zu sagen hast«, knurrte sie an.

»Also gut, dann zuerst das Wichtigste: Ich liebe dich.« Als Christina ihn erstaunt ansah, lächelte er zufrieden: »Ich wusste doch, dass dir das gefallen würde.«

»Du liebst mich und bist trotzdem gegangen?«, fragte sie ungläubig.

»Ich weiß inzwischen, dass das dumm war. Ich habe dich damit verletzt und das bedauere ich. Aber es gab so viel, über das ich mir Klarheit verschaffen musste. Ich bin hierher, ans Wasser, gekommen. Das hat mir in der Vergangenheit oft geholfen, den Kopf freizukriegen. Doch diesmal hat das nicht geklappt. Und dann wusste ich auf einmal, wohin ich gehen musste: auf den Friedhof … zu Maika.«

»Ja, Uwe sagte mir …«

Erik ließ sie nicht ausreden. Er sprach weiter, als hätte er sie gar nicht gehört: »Ich war an ihrem Grab und habe mich ihr auf einmal sehr nahe gefühlt. Es war, als würde sie neben mir stehen, um mir ihren Segen zu geben und mir zu sagen, dass ich endlich loslassen soll.« Als sie in seine Augen sah, wusste sie, was er meinte. »Und das habe ich getan, Tina. Ich habe endlich losgelassen.« Er küsste sie zärtlich. »Ich liebe dich, und ich möchte mein Leben mit dir verbringen.«

Christina hätte bei seinen Worten eigentlich laut jubeln müssen. Sie hatte so lange darauf gewartet. Aber konnte sie ihm wirklich vertrauen? Zu oft hatte Erik einen Rückzieher gemacht, wenn es drohte, ernst zu werden. Warum sollte es diesmal anders sein? »Wir können es ja langsam angehen«, sagte sie, um ihm entgegenzukommen. »Noch weiß niemand von uns. Dabei könnten wir es belassen. In der Klinik braucht keiner von uns zu erfahren.«

Erik musterte sie kritisch. »Ist es das, was du möchtest?«

Hilflos sah sie ihn an. »Ob ich möchte, dass wir uns heimlich treffen? Oder ob ich will, dass alle Welt von uns erfährt? Ach, Erik, das spielt doch keine Rolle! Im Moment ist nur wichtig, dass du endlich weißt, was du willst.«

Erik nahm ihre Hände und führte sie an seinen Mund, um sie zu küssen. »Das weiß ich, Tina. Eigentlich weiß ich das schon sehr lange. Aber mir fehlte der Mut, um diesen Schritt zu wagen.«

»Ich habe dich nie für einen ängstlichen Menschen gehalten.«

»O doch, das bin ich! Ich habe vor vielen Dingen eine entsetzliche Angst.« Als sie nichts darauf erwiderte, sondern ihn nur skeptisch ansah, fuhr er fort: »Ich liebe dich, und das macht mir Angst. Ich habe Angst, dass das Schicksal erneut zuschlägt und dich mir entreißt. Und ich habe Angst, dass du irgendwann merkst, wie verkorkst ich bin und mir dann den Laufpass gibst.«

»Ich weiß doch schon längst, dass du total verkorkst bist. Trotzdem habe ich mich in dich verliebt.«

»Obwohl ich oft unausstehlich, griesgrämig und ungehobelt bin? Man hat mich auch schon mal einen Vollidioten genannt.«

»Ja, das war ich«, sagte sie liebevoll. »Und ich fürchte, dass das eine meiner harmlosen Bezeichnungen für dich gewesen ist.«

»Und trotzdem liebst du mich …«

»Ja, und trotzdem liebe ich dich«, gab sie mit einem glücklichen Lächeln zu. Dann küsste sie ihn.

*

Die Heimfahrt nach München verlief ruhig und ereignislos. Fee hatte darauf bestanden, dass Erik vorne saß, damit er mehr Platz für seine langen Beine hatte. Sie hatte sich zu Christina auf die Rückbank gesetzt und sie sofort in ein interessantes Gespräch verwickelt.

Als sie abends in München eintrafen, steuerte Daniel den Stadtteil an, in dem Christina lebte.

»Wir setzen Sie zuerst ab, Frau Rohde. Ihre Wohnung liegt am dichtesten.«

Christina nickte und wünschte sich fast, die Fahrt würde länger andauern. Auch wenn es keine Gelegenheit gegeben hatte, mit Erik allein zu sein, so war er wenigstens in ihrer Nähe gewesen. In wenigen Minuten würden sie Abschied nehmen, und der Gedanke daran tat ihr jetzt schon weh. Noch wusste sie nicht, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Auch wenn Erik von Liebe gesprochen hatte, gelang es ihr noch nicht, ihm zu vertrauen. Vielleicht war der liebevolle Erik schon morgen verschwunden und an seiner statt war der zynische Erik zurückgekehrt, der nichts mehr von ihr wissen wollte. Er würde sie in der Klinik wie eine Fremde behandeln und ihr würde nichts bleiben als die Erinnerung an wenige glückliche Stunden.

Als der Wagen vor Christinas Haus anhielt, stiegen alle mit ihr zusammen aus, um sich draußen von ihr zu verabschieden. Daniel öffnete den Kofferraum und holte ihre Tasche heraus. Als er den Kofferraum wieder schließen wollte, schob sich Erik an ihm vorbei. »Kleinen Augenblick, bitte.« Alle sahen verwundert zu, wie Erik in den Wagen langte und sein eigenes Gepäck herausholte.

»Sie können die Sachen ruhig drin lassen, bis wir bei Ihnen angekommen sind, Herr Berger«, sagte Daniel.

»Ich bin bereits angekommen.«

Daniel war verwirrt. »Aber Sie wohnen doch gar nicht hier.«

»Und trotzdem bin ich genau da, wo ich hingehöre.«

»Tut mir leid, aber ich verstehe nicht …«

Christina hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Fee scheute sich dagegen nicht loszukichern. Sie hakte sich bei Daniel ein, um ihn mit sich fortzuziehen. »Komm, mein Schatz. Ich erkläre es dir im Auto.«

Daniel Norden, der für seinen brillanten Verstand und sein scharfes Denkvermögen bekannt war, begriff es immer noch nicht. Das tat er erst, als Erik demonstrativ die Arme um Christina legte und sie auf dem Mund küsste.

»Oh! Nun dann …« Daniel schmunzelte und sah seine Frau an. »Ich glaube nicht, dass du mir noch etwas erklären musst. Lass uns jetzt einfach nur heimfahren.«

Christina und Erik blieben vor der kleinen Gartenpforte, die zum Vorgarten des Hauses führte, stehen und sahen dem davonfahrenden Auto nach.

»Du hast also beschlossen, kein Geheimnis aus unserer Liebe zu machen«, stellte Christina nüchtern fest. »Sehr subtil bist du dabei ja nicht gerade vorgegangen.«

»Ich hab’s versucht, aber der Chef hat’s leider nicht anders kapiert. Aber ich bin ohnehin kein subtiler Mensch, sondern offen und gradlinig. Das sind übrigens ein paar meiner besten Eigenschaften.« Als Christina neben ihm seufzte, sagte er: »Keine Sorge, du wirst dich schon daran gewöhnen. Und an meine anderen Eigenarten auch.«

»Ja … oder ich treibe sie dir einfach aus.«

»Ha!«, rief Erik aus. »Na, dann viel Erfolg damit! Vor dir liegt eine Menge Arbeit!«

»Ich weiß, aber diese Herausforderung nehme ich gerne an.« Christina sah ihn voller Liebe an. »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du bei mir geblieben bist.«

»Hast du etwa gedacht, ich würde meiner Wege gehen und morgen in der Klinik so tun, als wäre nichts gewesen?«

»Nein!«, beteuerte sie spontan. Dann lächelte sie. »Doch! Eigentlich habe ich genau das von dir erwartet.«

»Ich sehe, da liegt noch viel Überzeugungsarbeit vor mir. Am besten findest du dich endlich damit ab, dass ich dich liebe und du mich nie mehr loswirst.«

»Versprochen?«

Erik küsste sie ausgiebig. »Versprochen!«, sagte er dann mit fester Stimme, nur um im nächsten Moment qualvoll aufzustöhnen. Christina folgte seinem gepeinigten Blick und entdeckte Frau Kleinfeldt, die ausgerechnet jetzt mit ihrem Hund spazieren gehen wollte.

»Sie hat mir gerade noch gefehlt!«, schimpfte Erik leise.

»Benimm dich, und sei nett zu ihr!« Christina gab ihm einen liebevollen Stoß.

»Ich bin immer nett!«

Christina lachte laut auf. »Nein, das bist du nicht.« Sie gab ihm einen Kuss und blickte ihn zärtlich an. »Und trotzdem liebe ich dich.«

Kelter Media Adventskalender 1

Подняться наверх