Читать книгу Kelter Media Adventskalender 1 - Michaela Dornberg - Страница 9

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»Wir sollten zum Arzt gehen, Georg. Du fühlst dich immer noch nicht gut«, stellte Barbara fest, als Georg sich zu ihr an den Frühstückstisch setzte. Er war blass, seine hellen Augen sahen müde aus, und die glänzenden Strähnen in seinem Haar deuteten darauf hin, dass er wieder im Schlaf geschwitzt hatte. Vielleicht bildete sie es sich auch nur ein, aber das weiße T-Shirt, das er zu der dunkelblauen Baumwollhose trug, schien ihm inzwischen zu weit zu sein.

»Es ist nur ein grippaler Infekt, nichts Schlimmes«, versicherte ihr Georg, obwohl er Barbara eigentlich hätte recht geben müssen. Es ging ihm nicht gut, das Fieber, das ihn seit Tagen quälte, wollte nicht verschwinden. Er war müde und abgeschlagen, er schaffte es kaum, zum Essen aufzustehen.

»Du solltest dich krankschreiben lassen, statt deinen Urlaub zum Auskurieren aufzubrauchen«, sagte Barbara. Georg war leitender Ingenieur in einem internationalen Bauunternehmen. Er arbeitete oft auch am Wochenende und am Abend noch für das Unternehmen, falls ein Projekt es erforderte. Er musste der Firma keine Urlaubstage schenken.

»Heute ist erst Dienstag. Sollte es morgen nicht besser sein, lasse ich mich rückwirkend krankschreiben. Viel schlimmer ist es, dass du deine Urlaubstage als Krankenpflegerin für mich verbracht hast.«

»Darüber machst du dir bitte keine Gedanken. Wir sind zwar nicht in die Berge gefahren, wie wir es vorhatten, aber ich konnte länger schlafen, gemütlich frühstücken, auf dem Balkon im Liegestuhl liegen und ein Buch lesen. Das ist pure Erholung für mich.«

»Obwohl du dich um deinen Patienten gekümmert hast?«

»Du bist kein schwieriger Patient«, versicherte sie ihm mit einem liebevollen Lächeln. »Aber Krankheit sollte nicht mit Urlaubstagen abgegolten werden.«

»Du wirst nicht lockerlassen, richtig?«, fragte Georg lächelnd und trank einen Schluck von dem Pfefferminztee, den Barbara für ihn zubereitet hatte.

»Ich will doch nur, dass es dir besser geht.«

»Das weiß ich, mein Schatz.«

»Das hoffe ich«, sagte Barbara

»Du machst dir zu viele Sorgen. Ich denke, ich habe während meiner Kanadareise zu wenig Schlaf bekommen, deshalb hat mich dieser kleine Infekt so umgehauen. Ich bin bald wieder fit«, versicherte Georg Barbara erneut.

»Na gut, wie du meinst«, seufzte Barbara.

Sie und Georg kannten sich inzwischen ein Jahr und waren vor ein paar Wochen in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Sie war Georg das erste Mal in der Stadtbibliothek, in der sie als Bibliothekarin arbeitete, begegnet. Georg hatte nach historischen Büchern über die Baukunst im Altertum gesucht. Nachdem sie ihm geholfen hatte, einige dieser Bücher herauszusuchen, hatte er sie gefragt, ob er sie zum Abendessen einladen dürfe. Er gefiel ihr, und sie hatte sofort zugesagt. Sie war ihm dankbar für seine Aufrichtigkeit, dass er ihr gleich bei ihrem ersten Treffen erzählte, dass er seit einem Jahr geschieden war und noch nicht wüsste, ob er schon für eine neue feste Beziehung bereit sei. Er war damals gerade 40 Jahre alt geworden, und sie stand kurz vor ihrem 38. Geburtstag. Auch sie war an diesem ersten gemeinsamen Abend ganz offen zu ihm und ließ ihn wissen, dass sie zwar noch keine Ehe hinter sich hatte, aber zwei gescheiterte Beziehungen und dass auch sie noch nicht wüsste, ob sie mutig genug sein würde, sich auf etwas Neues einzulassen. Sie waren sich beide einig darüber, dass sie nichts überstürzen würden. Aber schon nach diesem ersten gemeinsamen Abend war ihnen klar, dass sie sich wiedersehen wollten. Zwei Wochen später stellten sie sich gegenseitig ihren Freunden vor und waren von da an ganz offiziell ein Paar.

»Ich kann dir auch etwas anderes machen«, sagte Barbara, als Georg lustlos in den Rühreiern herumstocherte, die er sonst so gern zum Frühstück aß.

»Danke, das ist lieb von dir, aber ich habe im Moment keinen großen Appetit. Ich esse später etwas.«

»Ich habe einen wirklich guten Hausarzt«, kam Barbara wieder auf den von ihr vorgeschlagenen Arztbesuch zurück. Sie wusste, dass Georg zu seinem bisherigen Hausarzt nicht mehr gehen würde. Er war der Bruder seiner geschiedenen Frau, der als Internist praktizierte. Da die Familie seiner Exfrau ihm die Schuld an dem Scheitern seiner Ehe gab, obwohl seine Frau eine Affäre mit einem seiner besten Freunde angefangen hatte, wollte er mit dieser Familie nichts mehr zu tun haben.

Irina, seine Exfrau, war danach mit Mark, dem Mann, mit dem sie Georg betrogen hatte, nach Graz gezogen. Dort war der Hauptsitz von Marks Immobilienfirma, die er zehn Jahre zuvor gegründet hatte. »Also, was denkst du, wirst du Doktor Norden, meinen Hausarzt, aufsuchen?«, wandte sie sich Georg wieder zu.

»Falls das Fieber heute Nachmittag nicht gesunken ist, gehe ich zu ihm«, versprach er ihr. Dass er immer noch keinen Appetit hatte, beunruhigte ihn inzwischen doch sehr.

»Das ist eine gute Entscheidung, danke, mein Schatz. Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich vermisst habe?«, fragte sie und sah Georg liebevoll an.

»Ich war doch nur zehn Tage fort«, entgegnete er lächelnd.

»Mir kam es vor wie eine Ewigkeit«, gestand sie ihm.

»Wenn das so ist, kommst du das nächste Mal einfach mit.«

»Ja, das wäre schön«, sagte Barbara mit einem verträumten Blick. »Aber eine Reise ist jetzt nicht unser Thema. Du musst erst einmal gesund werden.«

»Diese kleine Grippe werde ich schon besiegen. Sobald es mir wieder besser geht, fahren wir als Ausgleich für die verlorene Urlaubswoche über das Wochenende in die Berge. Vielleicht in ein Wellnesshotel. Was hältst du davon?«

»Eine wundervolle Idee.«

»Gut, dann werden wir diese Reise nutzen, um einige wichtige Dinge für unsere Zukunft zu besprechen.«

»Geht es um etwas Bestimmtes?«

»Für manche Geständnisse braucht es den richtigen Rahmen«, entgegnete Georg schmunzelnd. »Und jetzt lege ich mich wieder hin«, sagte er, weil er sich auf einmal ein wenig schwindlig fühlte.

»Rufe mich, falls du etwas brauchst«, bat Barbara ihn und schaute ihm mitfühlend nach. Sie hatte Georg bisher nur als gesunden sportlichen Mann erlebt, der jeden Morgen zum Joggen ging. Es tat ihr weh, ihn so zu sehen.

Dagegen war diese kleine Magenverstimmung, die sie sich zugezogen hatte, nicht erwähnenswert. Sie hatte sich zwar ein paar Mal übergeben müssen, aber das beunruhigte sie nicht weiter. Stress schlug ihr immer auf den Magen, das war nichts Neues. Sobald es Georg wieder gut ging, würden auch ihre Magenprobleme wieder verschwinden.

»Für manche Geständnisse braucht es den richtigen Rahmen«, hatte er gerade gesagt. Sie war fast sicher, dass es für diese Andeutung nur eine Erklärung gab: Er wollte ihr einen Antrag machen.

Ich muss mich nur noch ein paar Tage gedulden, dann werde ich erfahren, ob sich meine Vermutung bestätigt, dachte sie, während sie die Parkettböden in der gemütlichen Dreizimmerwohnung saugte. Sie hätte nie geglaubt, dass sie sich in dieser Wohnung im zweiten Stock des Dreifamilienhauses am Stadtrand so wohlfühlen würde. Georg und sie hatten zuvor in der Innenstadt gewohnt, aber diese Wohnung mit dem großen Balkon und dem Blick auf die Isar hatte ihnen sofort gefallen.

Sie hatten die Wohnung so eingerichtet, dass sie beide einen Teil zum Arbeiten nutzen konnten. Georgs Schreibtisch stand im Schlafzimmer. Es störte sie nicht, wenn er manchmal noch spät abends an seinem Computer arbeitete, und sie schon müde war und sich ins Bett legte. Das sanfte Licht der Schreibtischlampe, das leise Geräusch der Tastatur, das ihr sagte, dass Georg bei ihr war, beides trug dazu bei, dass sie sich vollkommen beschützt fühlte und herrlich entspannen konnte.

Ihr Arbeitsbereich war ein Teil des Wohnzimmers. Dort standen deckenhohe Bücherregale und ein restaurierter Schreibtisch aus dem 19. Jahrhundert, an dem sie die Buchrezessionen schrieb, für die sie von einer monatlich erscheinenden Zeitschrift bezahlt wurde. Sie freute sich schon auf die kalte Jahreszeit, wenn sie den offenen Kamin zum Beheizen des Zimmers nutzen konnten. Das knisternde Feuer und das Leuchten der Flammen, mit dem Mann, den sie liebte, auf dem Sofa sitzen und ein Glas Rotwein trinken, das war Romantik pur.

Nachdem sie mit der Hausarbeit fertig war, ging sie ins Schlafzimmer, um nachzusehen, ob es Georg wieder besser ging. Als sie sich auf Zehenspitzen dem Bett näherte, schreckte er sofort hoch und sah sie mit gläsernen Augen an.

»Ich glaube, das Fieber ist gestiegen«, sagte er, als sie seine Stirn mit dem Handrücken berührte.

»Könnte sein«, stimmte sie ihm zu und hoffte doch, dass sie sich irrte. Sie nahm das Fieberthermometer, das auf dem Nachttisch lag, und hielt es ihm an die Stirn. »39«, stellte sie gleich darauf besorgt fest.

»Gut, dann nehme ich jetzt eine fiebersenkende Tablette«, sagte Georg.

»Ja, mach das bitte. Sollte das Fieber nicht sinken, rufe ich Doktor Norden an und bitte um einen Hausbesuch. Falls es sinken sollte, gehen wir zu ihm in die Sprechstunde. Seit Freitagnachmittag geht es dir nicht gut. Ich werde nicht länger zusehen, wie du dich quälst«, erklärte Barbara.

»Ich bin einverstanden, ich habe auch keine Lust mehr auf dieses ständige Auf und Ab«, sagte Georg.

»Schlaf noch ein bisschen, das hilft dir auf jeden Fall, gesund zu werden«, entgegnete Barbara, streichelte ihm sanft über das Haar und verließ das Schlafzimmer.

Sie hatte gerade die Tür hinter sich geschlossen, als sie Georgs Handy läuten hörte, das auf seinem Nachttisch lag. Sie hoffte, dass es kein Anruf aus dem Büro war. Noch wussten seine Kollegen nicht, dass er krank war, und vielleicht wollten sie ihm, wie sie es schon in seinem letzten Urlaub getan hatten, bitten, ihnen bei einer Problemlösung zu helfen. Nein, das ist nicht das Büro, dachte sie, als sie Georg leise sprechen hörte. Sie wusste, wie seine Stimme klang, wenn er mit seinen Kollegen sprach, das war keiner von ihnen. Wenn es mich so sehr interessiert, kann ich ihn ja nachher fragen, wer das war, dachte sie, beschloss dann aber, es nicht zu tun. Sie hatte ihn bereits mit dem Arztbesuch bevormundet, sie wollte nicht, dass er sich jetzt auch noch von ihr kontrolliert fühlte.

*

»Was können wir für Sie tun, Frau Brand?«, fragte Lydia Seeger, als Barbara um kurz vor drei in die Praxis Norden kam. Sie kannte die hübsche brünette Frau schon seit einigen Monaten, aber so bedrückt, wie sie gerade aussah, hatte sie sie noch nie gesehen.

»Ich mache mir Sorgen um Georg, meinen Freund«, sagte Barbara, die vor dem Tresen in der Diele der Praxis stand. Er hat seit Tagen Fieber, vermutlich eine Grippe, aber es wird einfach nicht besser. Wäre es möglich, dass Doktor Norden ihn sich einmal ansieht? Er ist bisher aber noch kein Patient in dieser Praxis.«

»Das ist kein Problem, Frau Brand. Ich nehme an, es geht um einen Hausbesuch.«

»Nein, Georg wartet draußen im Auto. Ich wollte erst fragen, wie lange es ungefähr dauert, bis er an der Reihe wäre. Sollte es länger dauern, würden wir noch eine Weile draußen warten, damit er im Wartezimmer niemanden ansteckt.«

»Hat Ihr Freund denn noch Fieber?«

»Im Moment liegt seine Temperatur bei 37,9. Da war sie schon einige Male, aber statt weiter zu fallen, ist sie immer wieder gestiegen. Es ist auch nicht nur das Fieber, er fühlt sich auch ständig so schwach.«

»Seit wann hat er das Fieber?«

»Seit Freitag.«

»Wissen Sie was, Frau Brand, Doktor Norden wird in etwa fünf Minuten hier sein. Sie können dann gleich zu ihm. Ich gebe Ihnen schon einmal den Anamnesebogen zum Ausfüllen. Wie heißt Ihr Freund?«, fragte Lydia.

»Georg Bogner.«

»Gut, kommen Sie in fünf Minuten mit Herrn Bogner zu mir, Doktor Norden wird ihn dann untersuchen.«

»Ich danke Ihnen, Frau Seeger.«

»Gern, wir schicken niemanden fort, der Hilfe braucht.«

»Warum geht sie wieder, wenn Sie Hilfe braucht?«, fragte Sophia, die aus dem Ultraschallraum kam, als Barbara die Praxis wieder verließ. Sie hatte gehört, was Lydia gerade zu ihr gesagt hatte.

»Nicht sie braucht Hilfe, sondern Ihr Freund«, sagte Lydia und klärte sie darüber auf, warum Barbara wieder gegangen war.

»Im Moment ist aber kein Grippevirus im Umlauf.«

»Was nicht ausschließt, dass es trotzdem jemanden erwischt. Aber Fieber muss ja nicht unbedingt Grippe bedeuten.«

»Nein, deshalb war es eine kluge Entscheidung von Frau Brand, dass ihr Freund erst einmal draußen wartet.«

»Und sollte es wirklich eine Grippe sein oder eine andere Viruserkrankung, würde sie sich nicht verbreiten, jedenfalls nicht hier bei uns.«

»Was verbreitet sich nicht?«, fragte Daniel, der in diesem Moment zur Nachmittagssprechstunde in die Praxis kam und vor dem Empfangstresen stehen blieb.

»Wir haben einen Patienten mit Grippesymptomen. Er wartet draußen im Auto, weil er niemanden im Wartezimmer anstecken will«, antwortete ihm Lydia. »Ich habe Frau Brand, seine Freundin, die ihn begleitet, gebeten, in ein paar Minuten hereinzukommen. Ich dachte, du solltest dir den Patienten gleich ansehen.«

»Das mache ich. Ich soll euch beide übrigens von Valentina grüßen«, sagte Daniel.

»Danke, wie geht es ihr denn?«, fragte Sophia.

»Mit dem Laufen klappt es schon wieder recht gut. Sie braucht nur noch eine Krücke.«

»Denkst du, sie wird ihre Arbeit bei euch wieder aufnehmen?«

»Wir werden sie am Freitag in der Rehaklinik besuchen, dann sehen wir weiter. Wir würden nur ungern auf sie verzichten. Nach einem Ersatz für sie werden wir aber erst suchen, wenn sie eine Entscheidung getroffen hat.«

»So wie ich Valentina kenne, wird sie nur zu Hause bleiben, wenn es gar nicht anders geht. Sie würde euch vermissen«, sagte Sophia lächelnd.

»Volle Zustimmung«, pflichtete Lydia ihr bei.

»Wir vermissen sie auch, aber letztendlich geht es um ihre Gesundheit. Nun gut, kümmern wir uns erst einmal um die Gesundheit unserer Patienten«, sagte Daniel und warf einen kurzen Blick in das Wartezimmer, das nur durch eine Glaswand von der Diele getrennt war.

Wie an jedem Nachmittag war das Wartezimmer am Beginn der Sprechstunde nur spärlich besetzt. Die meisten der gelben Sessel in dem Raum mit dem Holzfußboden und den hochgewachsenen Grünpflanzen waren noch frei. Das würde sich aber in der nächsten Stunde ändern. Zuerst würden seine älteren Patienten, die gern einen Mittagsschlaf hielten, eintreffen, danach die Berufstätigen, die darauf achteten, ihren Arzttermin erst nach der Arbeit wahrzunehmen.

»Schickt Frau Brands Freund dann gleich zu mir«, sagte Daniel und machte sich auf den Weg zu seinem Sprechzimmer.

»Ich möchte aber keine bevorzugte Behandlung, das wäre mir unangenehm«, erklärte Georg Barbara, nachdem sie für ihn den Anamnesebogen ausgefüllt hatte und ihn bat, ihn zu unterschreiben.

»Es ist eine Notfallbehandlung, das hat mit Bevorzugung nichts zu tun. Komm, lass uns gehen«, bat sie ihn. Sie stieg aus, lief um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür. Es tat ihr weh, mitanzusehen, wie wacklig Georg auf den Beinen war, als sie ihm half, auszusteigen.

»Gehen Sie einfach durch«, sagte Lydia, als Barbara und Georg die Praxis gleich darauf betraten.

»Ich danke Ihnen«, bedankte sich Georg und nickte Lydia und Sophia freundlich zu, die in ihren weißen Hosen und türkisfarbenen T-Shirts hinter dem Empfangstresen standen.

»Er sieht wirklich nicht gut aus«, stellte Lydia fest, nachdem Georg und Barbara außer Hörweite waren.

»Wir sollten ein zusätzliches Wartezimmer im Außenbereich einrichten, dann würden wir es vermeiden, dass die Patienten sich bei der nächsten Grippewelle gegenseitig anstecken, wie es in Innenräumen der Fall ist.«

»Das Problem dabei ist, dass so etwas nur im Sommer funktionieren könnte. Im Winter würden unsere Patienten das sicher nicht wirklich gut finden.«

»Nein, vermutlich nicht«, stimmte Sophia Lydia zu.

*

»Hatten Sie Erkältungssymptome, bevor Sie Fieber bekamen?«, wollte Daniel wissen, nachdem Georg ihm seine Beschwerden geschildert hatte und er ihn bat, sich auf die Untersuchungsliege zu legen.

»Das Fieber hat sich am Freitagnachmittag mit Schüttelfrost angekündigt, davor hatte ich keine Symptome. Ich habe auch jetzt keinen Husten, nur ein bisschen Schnupfen.«

»Die Lunge ist frei«, sagte Daniel, nachdem er Georg gründlich abgehört hatte.

»Ist es denn überhaupt eine Grippe, wenn die Atemwege frei sind?«

»Ein grippaler Infekt muss nicht zwangsläufig Erkältungssymptome mit sich bringen. Ich verschreibe Ihnen ein fiebersenkendes Medikament für den Fall, dass das Fieber erneut steigt. Melden Sie sich aber bitte wieder, wenn es nicht zeitnah wirkt«, bat Daniel seinen Patienten. »Bevor Sie gehen, würde ich Ihnen aber gern noch Blut für ein großes Blutbild abnehmen.« Daniel ging zu seinem Schreibtisch und drückte auf die Taste seines Telefons, die ihn mit dem Telefon am Empfangstresen verband. »Herr Bogner kommt gleich zu dir, ich brauche ein großes Blutbild. Die Probe muss dann auch gleich mit einem Boten ins Labor gebracht werden«, sagte er, als Lydia sich meldete.

»Ich kümmere mich darum«, versicherte ihm Lydia.

»Ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben«, sagte Georg, als er sich gleich darauf von Daniel verabschiedete.

»Ja, vielen Dank, Herr Doktor«, schloss sich Barbara ihm an.

»Ich wünsche Ihnen gute Besserung«, sagte Daniel und hielt den beiden die Tür auf. Noch war er nicht ganz sicher, ob Georg Bogner sich wirklich nur einen grippalen Infekt eingefangen hatte. Ohne die typischen Erkältungssymptome konnte das Fieber auch ein Hinweis auf eine andere Krankheit sein, deshalb hatte er eine Laboruntersuchung seines Blutes angeordnet.

Er war dankbar, dass die Diagnose bei seinem nächsten Patienten eindeutiger zu stellen war. Elfriede Höxter, eine sportliche Mittfünfzigerin, hatte sich eine Blasenentzündung eingefangen, wie er an ihrem Urinstatus feststellen konnte.

»Ich nehme das Antibiotikum, dann ist es in ein paar Tagen wieder gut«, sagte Elfriede, eine Frau im hellen Hosenanzug und mit kurzem dunklen Haar, die Daniel an seinem Schreibtisch gegenübersaß.

»Ich habe nicht vor, Ihnen gleich ein Antibiotikum zu verschreiben«, entgegnete Daniel.

»Wieso nicht? Ich hatte schon häufiger eine Blasenentzündung. Mein vorheriger Hausarzt hat nie gezögert, mir Antibiotika zu verschreiben. Letztendlich gibt es doch auch nichts anderes, um diese Entzündung loszuwerden.«

»Sie sollten es zuerst mit einem pflanzlichen Mittel und viel trinken versuchen. Falls in ein paar Tagen keine Besserung eintritt, können wir immer noch über ein Antibiotikum nachdenken.«

»Pflanzliches Mittel? Sie sind doch ein junger Arzt, Doktor Norden, vertrauen Sie der modernen Medizin etwa nicht?«, wunderte sich Elfriede.

»Dank der modernen Medizin wissen wir, dass es durchaus wirksame pflanzliche Mittel gibt«, sagte Daniel und reichte Elfriede ein Rezept.

»Ich weiß nicht, mit diesem Präparat dauert es doch sicher viel länger, bis der Spuk vorbei ist«, zeigte sich Elfriede immer noch skeptisch.

»Möglicherweise dauert es ein wenig länger, dagegen steht jedoch, dass der Weg, den ich Ihnen vorschlage, weitaus weniger belastend für Ihren Körper ist. Das heißt nicht, dass Sie von mir kein Antibiotikum bekommen, sollte es nötig sein. Ich bin sehr dankbar, dass es der Wissenschaft gelungen ist, Antibiotika zu entwickeln. Wir sollten sie aber nur gezielt einsetzen, damit sie ihre Wirkung behalten.«

»Also gut, ich versuche es«, gab Elfriede nach und nahm das Rezept entgegen.

Elfriede war erst seit Kurzem seine Patientin. Im Gegensatz zu seinen Stammpatienten wusste sie noch nicht, dass er nicht gleich zum stärksten Mittel griff, um einen Infekt zu besiegen. Die Patienten, die nach Elfriede zu ihm kamen, klagten alle nur über kleinere Wehwehchen. Einige litten an einer Magenverstimmung, hatten Kopfschmerzen, die durch Muskelverspannungen verursacht wurden, oder hatten sich eine Verstauchung oder eine Schürfwunde zugezogen. Ein wenig Ruhe und eine leichte Medikation würden diese Beschwerden schnell wieder verschwinden lassen.

Bevor er die Praxis nach der Sprechstunde verließ, rief er Georg Bogner an. Er wollte wissen, ob sich sein Zustand verbessert hatte. Von Barbara, die sich am Telefon meldete, erfuhr er, dass das Fieber nicht weiter gestiegen war, Georg sogar eine Kleinigkeit gegessen hatte und im Moment schlief. Das war erst einmal eine gute Nachricht. Trotzdem musste er auch später am Abend immer wieder an seinen Patienten denken.

»Mach dir nicht so viele Gedanken, du hast doch gesagt, dein Fieberpatient sei ein sportlicher junger Mann, dem es noch dazu vorhin bereits besser ging«, erinnerte Olivia Daniel daran, was er ihr erzählt hatte, als er später am Abend wieder ganz nachdenklich wurde. Sie hatten sich in die Hollywoodschaukel auf der Terrasse gesetzt, nachdem die Zwillinge eingeschlafen waren und Ophelia in ihrem Zimmer war, um mit ihren Freunden zu telefonieren. »Außerdem liegt dir spätestens übermorgen das Ergebnis der Laboruntersuchung vor, dann weißt du mehr über seinen aktuellen Gesundheitszustand.«

»Du hast recht, ich sollte ein paar Stunden abschalten.«

»Dass es dir manchmal nicht ganz gelingt, zeichnet dich aus. Du bist ein guter Arzt, mein Schatz«, versicherte sie ihm und lehnte ihren Kopf an Daniels Schulter.

*

»Guten Morgen«, begrüßte Daniel seine Familie mit einem liebevollen Lächeln, als er am nächsten Morgen in die Küche kam.

»Hallo, mein Schatz«, entgegnete Olivia, die am Herd stand und in einer großen Pfanne Rühreier zubereitete.

»Da ist euer Papa, meine Süßen«, sagte Ophelia, die sich um Oda und Vincent kümmerte.

Die beiden lagen in ihren Hochwippen und hielten ihre morgendlichen Milchfläschchen in ihren kleinen Händen. Ophelia saß vor ihnen auf einem Stuhl und achtete darauf, dass sie die Fläschchen nicht losließen oder sich verschluckten. Als sie Daniel sahen, strampelten die Zwillinge aufgeregt mit den Beinchen, hörten auf zu trinken und lachten und prusteten fröhlich vor sich her.

»Hallo, meine Große, hallo meine Kleinen«, sagte Daniel und strich Ophelia über das Haar, bevor er die Zwillinge mit einem Kuss auf die Stirn begrüßte.

»Unsere Kleinen sind versorgt, jetzt können wir in Ruhe frühstücken«, sagte Olivia gleich darauf.

»Ja, bitte, Mama, ich habe echt Hunger«, entgegnete Ophelia. Sie warf ihr langes rotes Haar in den Nacken und hauchte Oda und Vincent einen Kuss auf die Stirn. »In ein paar Monaten dürft ihr auch Mamas köstliche Rühreier mit Kräutern und Schafskäse versuchen«, sagte sie lächelnd und setzte sich zu Daniel an den Esstisch. »Es geht doch nichts über ein gemütliches Familienfrühstück«, stellte sie schmunzelnd fest, als auch Olivia sich zu ihnen setzte und der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee durch den Raum zog.

»Hast du gestern Abend noch einmal mit Emilia gesprochen?«, wollte Olivia wissen.

»Ja, habe ich. Jonas geht es wieder gut, er hatte nur eine leichte Erkältung, hat ihr Vater gesagt. Unser Treffen am Wochenende steht. Das Gästezimmer ist bereits hergerichtet. Wann fahren wir am Freitag los?«

»Ich habe am Freitag um halb zwölf meinen letzten Patienten. Falls Daniel nach der Sprechstunde keine Hausbesuche machen muss, könnten wir so um zwei Uhr aufbrechen, denke ich«, antwortete Olivia ihrer Tochter.

»Nein, bitte nicht!«, rief Ophelia, als Ortrud die rotgetigerte Katze durch die geöffnete Terrassentür hereinkam.

»Was ist?«, fragte Olivia.

»Ortrud hat ein Geschenk mitgebracht, aber ich glaube nicht, dass sich einer von uns darüber freuen wird«, sagte das Mädchen.

»Ortrud, das ist doch nicht dein Ernst?!«, rief Olivia erschrocken, als auch sie sah, was die Katze in ihrem Maul hereinschleppte.

»Unser kleines Raubtier ist nur seinem Instinkt gefolgt«, stellte Daniel fest.

»Schon, aber es wäre schön, wenn sie ihre Geschenke, wie sonst auch, draußen ablegen würde«, seufzte Olivia.

»Vielleicht wollte sie nur ihren Teil zum Familienfrühstück beitragen. Was aber nicht bedeutet, dass ich sie dazu ermuntern werde, ihr Geschenk auf den Tisch zu legen.«

»Schatz, bitte, nicht ganz so bildlich«, stöhnte Olivia.

»Ich beende das besser, ehe daraus noch ein Drama wird«, sagte Daniel schmunzelnd. Er stand vom Tisch auf, ging Ortrud entgegen und trug sie samt ihrer Beute wieder in den Garten hinaus.

»Wie hat sie es aufgenommen, dass wir ihr Geschenk abgelehnt haben?«, fragte Ophelia, als er wieder in die Küche kam.

»Ich habe sie für ihren Jagderfolg gelobt, sie hat mir mit einem netten Miau gedankt und hat die Maus fortgetragen.«

»Vielleicht bringt sie sie jetzt Oma und Hannes.«

»Das wäre möglich, andererseits, falls ihr das, was sie heute Morgen in ihrem Fressnapf vorgefunden hat, nicht ausreichte, dann….«

»Nein, nicht, Daniel, ich denke, wir müssen das nicht weiter besprechen«, unterbrach Olivia ihren Mann.

»Obwohl, Mama, was ist mit uns Menschen und unserem Verhältnis zu Kühen, Schweinen und…«

»Das ist sicher ein Thema, über das es sich zu sprechen lohnt, aber nicht jetzt«, sagte Olivia.

»Stimmt, nicht mit Rührei und Toast auf dem Teller, was voll in Ordnung ist«, entgegnete Ophelia.

»Was ist?«, fragte Olivia, als Daniel in sich hineinlächelte.

»Ich habe mir gerade vorgestellt, wenn wir in ein paar Jahren gleich mit zwei ebenso schlauen Kindern wie Ophelia am Tisch sitzen und solche Gespräche führen«, sagte er.

»Und ich dann mit den genauso schlauen Enkelkindern dazu komme.«

»Könnten wir nicht einfach im Jetzt bleiben, du bist noch hier bei uns, die Zwillinge sind noch klein und wir genießen unser Frühstück?«

»Sorry, Mama, es ist wohl gerade mit mir durchgegangen«, entschuldigte sich Ophelia, weil sie wusste, dass ihre Mutter nicht gern daran erinnert wurde, dass sie schon bald erwachsen sein würde. »So schnell werdet ihr mich sowieso nicht los, dazu fühle ich mich hier viel zu wohl«, sagte sie und streichelte den Zwillingen liebevoll über ihre kleinen Füßchen, was die beiden mit fröhlichem Giggeln beantworteten.

*

Daniel hatte sich vorgenommen, am Ende der Sprechstunde noch einmal bei Georg Bogner anzurufen, um nachzufragen, wie es ihm geht. Nachdem seine letzte Patientin an diesem Mittwochvormittag, eine junge Mutter, die über Kopfschmerzen klagte, die Daniel als Folge ihrer Nackenschmerzen erkannte, gegangen war, rief er ihn an.

»Doktor Norden, ich wollte Sie gerade anrufen«, sagte Barbara, die den Anruf entgegennahm. »Georgs Fieber ist wieder gestiegen, und er bekommt nur schwer Luft. Könnten Sie zu uns kommen?«

»Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen«, versprach ihr Daniel. Er rief Olivia an, um ihr zu sagen, dass sie mit dem Mittagessen nicht auf ihn warten sollte, danach erzählte er Sophia und Lydia von Barbaras Anruf und bat sie, mit dem Labor zu telefonieren, um herauszufinden, ob sie inzwischen Georgs Blutprobe untersucht hatten. Falls nicht, sollten sie darum bitten, die Probe vorzuziehen.

»Ich übernehme das. Ich kenne zwei ihrer Laboranten, sie sind bei der Freiwilligen Feuerwehr und gehören zu unserer Wache«, sagte Lydia.

»Solltest du Erfolg haben, rufe mich bitte auf meinem Handy an«, bat Daniel sie.

»Das mache ich.«

»Danke«, sagte Daniel und verließ mit seiner Arzttasche in der Hand die Praxis.

Zehn Minuten später traf er vor dem Haus von Barbara und Georg ein. Barbara erwartete ihn vor der Eingangstür und führte ihn hinauf in die Wohnung. Georg lag von Kissen gestützt leicht aufgerichtet im Bett. Das Fenster war geöffnet, draußen wehte ein leichter Wind, und die Luft in dem mit hellen Möbeln eingerichteten Zimmer war angenehm frisch.

»Hallo, Doktor Norden, vielen Dank, dass Sie hier sind«, sagte Georg leise, als Daniel sich zu ihm aufs Bett setzte, und ihm das Fieberthermometer, das auf dem Nachttisch lag, an die Stirn hielt.

»Ziemlich hoch, nehme ich an«, flüsterte Georg.

»Ja, leider«, antwortete Daniel, während er Georgs Lunge abhörte. Im Gegensatz zum Tag davor, waren seine Bronchien belegt, und er nahm auch ein Geräusch in der Lunge wahr.

»Was ist denn nur mit ihm?«, fragte Barbara und sah Daniel besorgt an.

»Einen Moment bitte«, bat Daniel, als sein Handy läutete. Es war Lydia. »Hast du etwas für mich?«, fragte er sie.

»Ich habe dir den Befund auf dein Handy geschickt.«

»Danke, wir sehen uns dann morgen«, sagte Daniel und beendete das Gespräch. »Ich habe gerade den Befund vom Labor bekommen. Ich sehe ihn mir kurz an.«

»Aber ja, natürlich, Herr Doktor«, antwortete Barbara. »Morgen geht es dir bestimmt schon besser«, versicherte sie Georg, nachdem Daniel in die Diele hinausgegangen war, um sich den Bericht anzusehen.

»Ich hätte vielleicht doch eher einen Arzt aufsuchen sollen«, entgegnete Georg mit kaum wahrnehmbarer Stimme, als sie sich zu ihm aufs Bett setzte und seine Hände umfasste.

»Darüber solltest du nicht mehr nachdenken. Du bekommst jetzt Hilfe und wirst wieder gesund«, versicherte sie ihm und drückte sanft seine Hände.

Das sieht nicht gut aus, dachte Daniel, als er sich die Werte anschaute, die auf dem Laborbericht standen. Einige Werte deuteten auf eine Erkrankung der Nieren hin. Um die Ursache für diese erhöhten Werte herauszufinden, musste Georg unbedingt in ein CT.

»Was ist, Doktor Norden?«, fragte Barbara, als Daniel zurück ins Schlafzimmer kam.

»Einige Werte sind nicht in der Norm. Hatten Sie schon einmal Probleme mit den Nieren, Herr Bogner?«, wandte er sich an Georg.

»Nein, bisher nicht«, antwortete Georg leise.

»Haben Sie Allergien?«

»Nein, jedenfalls sind mir bisher keine bekannt.«

»Waren Sie in den letzten Wochen im Ausland?«

»Ich war für zehn Tage geschäftlich in Kanada.«

»Wann genau war das?«, wollte Daniel wissen.

»Ich bin vor vierzehn Tagen zurückgekehrt.«

»Waren Sie in einem Sumpfgebiet?«

»Nein, ich war nur in Toronto und Quebec. Ich habe dort Baustellen besichtigt.«

»Das bedeutet, Sumpffieber oder ähnliches sollten wir dann wohl ausschließen können. Ruhig bleiben, Herr Bogner, ein- und ausatmen«, bat Daniel, als Georg plötzlich schwer atmete. Was auch immer diesen Anfall ausgelöst hatte, Georgs Zustand schien sich stetig zu verschlechtern. Er musste umgehend gründlich untersucht werden. »Rufen Sie einen Krankenwagen, Frau Brand. Sagen Sie Ihnen, dass der Patient akute Atemprobleme hat«, wandte er sich an Barbara.

»Was passiert denn nur mit ihm?«, fragte Barbara, als sie mit zitternden Händen die Notrufnummer in ihrem Telefon aufrief.

»Es wird gleich besser, keine Sorge, ich kümmere mich um ihn«, sagte Daniel und setzte Georg die Nasenmaske auf, die mit einer kleinen Sauerstoffflasche verbunden war, die er für solche Notfälle immer in seiner Arzttasche bei sich hatte.

»Danke«, flüsterte Georg, als er gleich darauf wieder besser atmen konnte.

»Sie sind in fünf Minuten hier«, sagte Barbara, die inzwischen mit der Rettungsleitstelle telefoniert hatte.

»Das ist gut«, entgegnete Daniel und nickte ihr aufmunternd zu.

Zehn Minuten später war Georg in Begleitung von Barbara bereits auf dem Weg in die Klinik. Daniel hatte den Sanitätern gesagt, dass Georg sofort in ein CT musste und hatte auch in der Klinik angerufen, um den diensthabenden Leiter der Notaufnahme darum zu bitten, Georg nicht warten zu lassen.

*

Als Daniel am Abend in der Klinik anrief, um sich nach Georg zu erkundigen, musste er erfahren, dass Georgs Lungenfunktion mittlerweile so stark eingeschränkt war, dass er beatmet werden musste und die Ärzte entschieden hatten, ihn in ein künstliches Koma zu legen.

»Haben Sie denn eine Ahnung, was das Fieber ausgelöst hat?«, wollte Olivia wissen, als Daniel zu ihr ins Kinderzimmer kam. Sie lag bäuchlings auf dem Boden und spielte mit den Zwillingen, die auf einer gelben Decke lagen.

»Nein, bisher noch nicht. Auch nach einem weiteren Blutbild und der Untersuchung im CT gibt es keinen Hinweis auf die Ursache des Fiebers«, sagte Daniel und legte sich neben Olivia auf den Boden.

»Die Klinik ist gut ausgerüstet. Sie werden herausfinden, was ihm fehlt.«

»Vielleicht hätte ich ihn schon gestern in die Klinik überweisen sollen.«

»Wieso hättest du das tun sollen? Gestern hat doch noch nichts auf diese starken Symptome hingedeutet. Wäre das der Fall gewesen, hättest du ihn nicht nach Hause geschickt.«

»Wir wissen beide, dass manchmal schon einige Minuten zu spät für den Krankheitsverlauf entscheidend sein können.«

»Ja, das weiß ich, aber du kannst nicht auf etwas reagieren, das noch gar nicht existiert. Du hast alles richtig gemacht«, versicherte Olivia ihm.

»Ich hoffe es, danke, mein Schatz.«

»Danke, für was?«

»Dass du immer für mich da bist.«

»In guten wie in schlechten Zeiten, haben wir uns das nicht versprochen?«, entgegnete Olivia lächelnd.

»Ja, das haben wir«, stimmte Daniel ihr zu und küsste sie zärtlich auf die Wange. »Was willst du mir sagen, mein Schätzchen?«, fragte er Oda, die vor ihm auf dem Bauch lag, ihn ansah und mit ihrer kleinen Hand sein Gesicht berührte.

»Deine Tochter will dir sagen, dass sie dich liebhat, und er schließt sich ihr an«, sagte Olivia, als auch Vincent, der neben Oda auf dem Bauch lag, seine Hand ausstreckte, Daniels Kinn streichelte und dabei fröhlich gluckste. »Bleib bei ihnen, sie werden dich auf andere Gedanken bringen. Ich kümmere mich um das Abendessen. Ophelia wird in einer halben Stunde vom Handballtraining zurückkommen, du weißt, wie ausgehungert unsere Große dann immer ist.«

»Ja, das weiß ich«, antwortete Daniel schmunzelnd. Olivia hatte recht, die Zwillinge würden ihn von der Sorge um seinen Patienten ablenken. Er beschloss, am nächsten Tag nach der Sprechstunde in die Klinik zu fahren, um nach Georg zu sehen und mit seinen Ärzten zu sprechen, dann würde er mehr wissen.

*

Barbara war bis zum frühen Morgen im Krankenhaus geblieben. Sie hatte neben Georgs Bett gesessen und darauf gehofft, dass sein Fieber sinken würde und er wieder selbstständig atmen könne. Aber das war nicht passiert. Gegen Morgen war sie nach Hause gegangen, um ein wenig zu schlafen und sich frisch zu machen. Georgs behandelnder Arzt hatte ihr versprochen, sie anzurufen, sobald es etwas Neues gab.

Als sie gegen elf Uhr aus einem traumlosen Schlaf hochschreckte, sah sie zuerst auf ihr Handy, aber niemand hatte angerufen. Offensichtlich gab es nichts Neues. Auch auf dem Festnetztelefon, das auf ihrem Nachttisch lag, war kein Anruf eingegangen, den sie möglicherweise überhört hatte. Bevor sie unter die Dusche ging, rief sie Georgs Chef an, um ihm zu sagen, dass Georg im Krankenhaus war. Der Mann war entsetzt über diese Nachricht, wie sie ihm deutlich anhörte. Er wünschte Georg alles Gute und bat sie, ihn auf dem Laufenden zu halten, was Georgs Gesundheitszustand betraf, was sie ihm zusicherte.

Während sie im Schlafzimmer auf- und ablief, fiel ihr Blick immer wieder auf die Schublade in Georgs Nachttisch, in der sein Handy lag. Sie hatte es nach ihrer ersten Nacht im Krankenhaus mitgenommen, weil die Krankenschwester aus der Nachtschicht sie darum gebeten hatte.

Ob es darum ging, dass seine Signale die Überwachungsgeräte stören konnten oder ob sie befürchtete, dass jemand es stehlen könnte, hatte sie nicht hinterfragt. Sie wollte, dass Georg in der Klinik gut versorgt wurde, das war alles, was sie interessierte. Sie hatte das Handy zu Hause auch gleich in der Nachttischschublade verstaut. Aber auf einmal erinnerte sie sich an diesen merkwürdigen Anruf vor zwei Tagen, diesen Flüsterton, den sie von Georg nicht gewohnt war.

»Nein, es geht mich nichts an. Es ist sein Handy«, murmelte sie, nachdem sie das Telefonat mit Georgs Chef beendet hatte und langsam die Schublade des Nachttisches aufzog. Sie wollte sie eigentlich gleich wieder schließen, aber sie konnte dem Drang nicht widerstehen, kurz auf das Display zu drücken, um das Handy zu aktivieren. Es waren zehn verpasste Anrufe registriert. Es kostete sie große Mühe, nicht wenigstens einen Blick auf die Anrufliste zu werfen. »Nein, das kann ich nicht tun«, sagte sie laut und schob die Schublade schnell wieder zu. Die Ausrede, es könnte sich um dringende Anrufe aus seinem Büro handeln, konnte sie nach dem Telefonat mit Georgs Chef nicht mehr benutzen. Im Büro würden sie jetzt nicht mehr auf einen kurzfristigen Rückruf von Georg warten. Sie beschloss, das Handy erst einmal nicht mehr zu beachten und ging duschen.

Nachdem sie geduscht hatte, trank sie einen Kaffee, aß einen Apfel und fuhr in die Klinik. Es tat ihr in der Seele weh, Georg so hilflos an all die Geräte angeschlossen zu sehen. Sie setzte sich zu ihm aufs Bett und legte ihre Hand auf seine. Sie bedauerte, ihm nicht gesagt zu haben, dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte. Sie hoffte, dass es ihm genauso erging, und sie wünschte sich so sehr, dass er wieder gesund werden würde, um ihr das auch sagen zu können.

»Wissen Sie jetzt, was ihm fehlt?«, fragte Barbara, als ein junger Arzt in Georgs Zimmer kam und ihm Blut abnahm.

»Nein, tut mir leid, noch gibt es keine Diagnose.«

»Bekommt er Antibiotika?«

»Es wurde keine bakterielle Entzündung festgestellt. Das Antibiotikum würde seinem geschwächten Körper nur noch mehr zusetzen. Wir versuchen, das Fieber zu senken und geben ihm Sauerstoff.«

»Wie schlimm steht es um ihn?«, fragte Barbara und sah den Arzt an. Als sie am Tag zuvor mit Georg im Krankenhaus eintraf, hatte er sie als ihren Notfallkontakt angegeben, was den Ärzten erlaubte, mit ihr über seinen Gesundheitszustand zu sprechen.

»Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben«, antwortete ihr der junge Arzt, streifte sie nur kurz mit seinem Blick und verließ das Zimmer. Er hatte wohl noch nicht genug Erfahrung im Verbreiten von schlechten Nachrichten.

Weil es so schlecht um Georg stand, wich sie ihm den ganzen Tag nicht von der Seite. Sie beobachtete die Leuchtziffern der Überwachungsgeräte und hörte auf das gleichmäßige Piepsen, das ihr versicherte, dass Georg noch lebte. »Es wird alles wieder gut«, sagte sie leise und drückte behutsam seine Hand und schaute ihn an. Sie wartete darauf, dass er die Augen aufschlug, dass er lächelte oder ihren Händedruck erwiderte. »Morgen wird es dir ganz sicher besser gehen. Sie werden herausfinden, was dir fehlt, und dann werden sie dir helfen«, versicherte sie ihm.

Barbara war auch noch da, als Daniel gegen Abend in die Klinik kam, um nach seinem Patienten zu sehen. Zu ihrem Bedauern konnte auch er ihr nicht mehr über Georgs Zustand sagen. Auch für ihn war die Ursache seines Leidens noch immer ein Rätsel.

»Wie lange wird er diesen Zustand durchhalten?«, fragte Barbara und schaute Daniel an, der am Fußende des Bettes stand und Georg mitfühlend anschaute.

»Falls wir es mit einer Viruserkrankung zu tun haben, dann könnte sie nach und nach auch die anderen Organe befallen. Im Moment beschränken sich die Entzündungen auf die Lunge und die Niere, was bereits ein großes Problem darstellt«, antwortete Daniel, ohne Georgs Zustand zu beschönigen.

»Gegen Viren kann man doch etwas tun.«

»Bisher konnte aber kein bestimmter Virenstamm isoliert werden. Herr Bogner bekommt entzündungshemmende Mittel und alles, was dazu beiträgt, das Fieber zu senken.«

»Das heißt, wir müssen abwarten?«

»Er ist stark, er kann es schaffen«, machte Daniel Barbara Mut.

»Aber irgendetwas muss man doch tun können.«

»Sobald das Fieber sinkt, stehen seine Chancen gut, es zu schaffen. Sie dürfen den Ärzten hier vertrauen, sie tun alles, um Ihrem Freund zu helfen«, sagte Daniel.

»Aber sie können keine Wunder vollbringen.«

»Nein, das können sie leider nicht«, stimmte Daniel ihr mit einem bedauernden Achselzucken zu. Er blieb noch ein paar Minuten und versuchte Barbara Mut zu machen, danach verabschiedete er sich.

Bevor er das Krankenhaus verließ, sprach er noch einmal mit dem Arzt, der Georg behandelte, aber auch das erneute Blutbild hatte keine neuen Erkenntnisse gebracht. Daniel hinterließ seine Handynummer, und er bat darum, ihn auch am Wochenende zu informieren, sollte sich Georgs Zustand verändern.

Obwohl die Schwestern, die sich um Georg kümmerten, Barbara rieten, nach Hause zu gehen, um sich auszuruhen, blieb sie wieder die ganze Nacht in der Klinik. Sie war sicher, dass er ihre Anwesenheit spürte, und das würde ihm Kraft geben.

*

Erst gegen morgen, als die Frühschicht im Krankenhaus das Personal der Nachtschicht ablöste, fuhr Barbara nach Hause, um ein paar Stunden in ihrem Bett zu schlafen. Sie hatte auf einen traumlosen festen Schlaf wie am Tag zuvor gehofft, aber dieses Mal wurde sie von einem heftigen Albtraum geplagt. Sie und Georg waren auf Wandertour in den Bergen, Georg stürzte in einen Felsspalt, und sie versuchte ihn zu retten. Sie hatte schon seine Hände gepackt und wollte ihn hochziehen, als sie ihn plötzlich nicht mehr halten konnte und er in die Tiefe stürzte. Als sie schweißgebadet aufwachte, hoffte sie, dass dieser Traum kein schlechtes Omen war.

Eigentlich glaubte sie nicht an solche Weissagungen, die für sie in die Welt der Märchen und Fabeln gehörten, andererseits gab es auch bei ihnen in der Bibliothek unzählige Bücher, in denen behauptet wurde, dass der menschliche Geist zu mehr fähig war, als nur in den uns bekannten Strukturen zu denken. Vermutlich war dieser Traum auch eher die Widerspiegelung ihrer Angst um Georg, die Angst, ihn zu verlieren. So schnell werde ich dich nicht loslassen, dachte sie und sprang aus dem Bett. Es war Zeit, wieder zu Georg ins Krankenhaus zu fahren.

Als sie aus der Dusche kam, um sich im Schlafzimmer anzuziehen, fiel ihr Blick wieder auf Georgs Nachttischschublade. Schnell wandte sie sich ab, nahm das knielange gelbe Kleid mit den langen Ärmeln aus dem Kleiderschrank und schlüpfte hinein. Sie schloss die Schranktür, schaute noch einmal in die verspiegelte Tür und fuhr sich mit beiden Händen durch ihr kurzes dunkles Haar, um es ein wenig aufzulockern. Ich muss es wissen, dachte sie, als sie Georgs Nachttisch im Spiegel betrachtete.

Kurz entschlossen drehte sie sich um und ging zu diesem Nachttisch, der sie wie magisch anzog. Dieses Mal konnte sie ihre Neugierde nicht bezwingen. Sie nahm Georgs Handy aus der Schublade. Inzwischen waren es zwanzig verpasste Anrufe. Nach einem kurzen Zögern rief sie die Datei mit den Anrufen auf.

»Das glaube ich jetzt nicht«, sagte sie, während sie auf die Anruferliste schaute. Fünf Anrufe konnte sie Georgs Geschäftskontakten zuordnen, die restlichen fünfzehn kamen alle von einer Person: Von Irina, seiner Exfrau. Der letzte versuchte Anruf war von letzter Nacht, zu der Zeit, als sie noch bei Georg im Krankenhaus war. Für einen kurzen Moment dachte sie daran, Irina anzurufen, um sie zu fragen, was sie von Georg wollte. Sie überlegte auch, ob sie Irina über Georgs Zustand informieren sollte, aber sie entschied sich dagegen. Was auch immer Irina von Georg gewollt hatte, war jetzt unwichtig, und sie musste auch nicht wissen, was passiert war. Es ging sie nichts mehr an.

Bevor sie das Telefon wieder in die Schublade zurücklegte, fiel ihr der merkwürdige Anruf am Tag vor Georgs Einweisung ins Krankenhaus wieder ein. Jetzt bin ich schon so weit gegangen, da kann ich auch noch nachsehen, wer ihn angerufen hat, dachte sie und schaute in der Liste der angenommenen Anrufe nach. Sie hoffte, dass sie sich irrte, aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Es war Irina, die Georg an diesem Tag um die fragliche Uhrzeit angerufen hatte.

Bisher hatte sie Georg blind vertraut und ihm geglaubt, dass er mit Irina nicht mehr in Kontakt stand. Nachdem, was sie jetzt herausgefunden hatte, war das wohl eine Lüge. Vielleicht kann er gar nichts für diese Anrufe, versuchte sie sich einzureden. Möglicherweise wollte Irina wieder Kontakt zu ihm aufnehmen, was nicht heißen musste, dass er das auch wollte. Sie legte das Telefon zurück in die Schublade und schob sie zu. Was auch immer das zu bedeuten hatte, sie würde es jetzt nicht mit Georg klären können. Ich werde nicht weiter darüber nachdenken, befahl sie sich. Georg musste wieder gesund werden, bis dahin war alles andere unwichtig.

*

Bevor Daniel mit seiner Familie am Freitagnachmittag ins Allgäu aufbrach, telefonierte er mit der Klinik. Georgs Zustand hatte sich nicht verbessert, aber auch nicht verschlechtert. Es gab zumindest Hoffnung.

»Okay, wir können starten«, sagte Ophelia, die neben den Zwillingen auf dem Rücksitz des Autos saß. Die Limousine war groß und bequem, und sie hatte genug Platz neben den beiden Kindersitzen ihrer Geschwister. »Haben wir die Pralinen für Valentina?«, fragte sie, als Daniel auf die Straße einbog.

»Ja, haben wir«, sagte Olivia. Sie hatte die Champagnertrüffel, Valentinas Lieblingspralinen aus der Bäckerei Listner, am Vormittag geholt und gleich in ihre große Umhängetasche gepackt.

»Wenn das so ist, dann werde ich jetzt ein bisschen entspannen«, sagte Ophelia und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Heute Abend würde sie endlich ihren Freund Leander wiedersehen. In den vergangenen Wochen hatten sich ihre Treffen auf Skype-Konferenzen beschränkt, das war zwar ganz schön, aber kein Ersatz für ein richtiges Treffen.

Ophelia schaute aus dem Fenster und betrachtete die Landschaft. Daniel und ihre Mutter hatten beschlossen, über die Landstraßen zu fahren, statt über die Autobahn, was auch ihr gefiel. Der Anblick der malerischen Dörfer, eingebettet in Felder und Wiesen, die auf dieser Strecke lagen, sorgten für Urlaubsgefühle. Der Alltag schien auf einmal weit weg.

Die Rehaklinik, in der Valentina seit einigen Wochen mit ihrem Mann Korbinian, der sie zur Reha begleitet hatte, einquartiert war, lag in der Nähe von Garmisch. Das moderne zweistöckige Gebäude hatte große Glasfronten, die den Patienten den Blick auf die Berge ermöglichten, was zu ihrem Wohlbefinden beitrug und zu einer schnelleren Genesung führte.

Kurz bevor sie die Klinik erreichten, rief Olivia Valentina an, damit sie ihr Besuch nicht vollkommen unvorbereitet traf. Als sie in der Klinik ankamen, wurden sie von Valentina und Korbinian im Garten des Hauses, einer parkähnlichen Anlage mit Hecken, Springbrunnen und bunt blühenden Blumenbeeten, erwartet.

Valentina und Korbinian kamen ihnen mit einem freudigen Lachen entgegen. Korbinian hatte die Knöpfe seiner dunkelblauen Trachtenjacke ordentlich zugeknöpft, so wie er es auch zu Hause tat, wenn er Gäste empfing. Valentina trug ein hellblaues Dirndl und bequeme Turnschuhe. Sie hatte sich bei ihrem Mann untergehakt, der sie liebevoll stützte, was ihr aber noch nicht den Stock ersparte, den sie im Moment noch brauchte. Aber wie auch immer, was wirklich zählte, war, dass sie wieder selbstständig laufen konnte. Das war ein großer Erfolg nach dem schweren Unfall, den sie erlitten hatte, als der LKW auf der Brücke ins Schleudern geriet, sie erfasste und sie in die Tiefe stürzte.

»Hallo, Valentina, ich freue mich, Sie zu sehen!«, rief Ophelia. Sie lief Valentina entgegen und umarmte sie behutsam.

»Hallo, Schatzl, ich freue mich auch, dich zu sehen. Ich habe euch alle so vermisst«, sagte Valentina und die Freudentränen liefen ihr über das Gesicht. »Mei, und ihr besucht mich auch, das ist aber schön«, wandte sie sich Oda und Vincent zu.

Die Zwillinge in ihren roten Hosen und weißen langärmeligen Hemdchen wurden von ihren Eltern in einem Tragetuch getragen. Oda von Daniel und Vincent von Olivia. Die gelben Hütchen, die mit einem Band unter ihrem Kinn festgebunden waren, schützten sie vor der Nachmittagssonne.

»Ihr seid aber gewachsen«, stellte Valentina fest und streichelte die Füßchen der Kinder, was die beiden mit einem fröhlichen Lachen beantworteten.

»In einem Jahr werden sie dir entgegenlaufen, wenn du sie besuchst«, sagte Korbinian.

»Geh, was heißt besuchen? Ich möcht schon gern noch ein bissel im Haushalt mithelfen, das könnt ich auch mit dem Stock, der würd mich nicht allzu sehr behindern. Oder wär es Ihnen nicht recht, wenn ich wieder zu Ihnen käme?«, fragte Valentina und sah zuerst Olivia und danach Daniel an.

»Aber ja, natürlich wäre uns das recht. Bei uns gibt es immer etwas zu tun, wobei wir Hilfe brauchen können. Sie sind uns jederzeit willkommen, Valentina«, versicherte ihr Olivia.

»Ich kann mich meiner Frau nur anschließen«, stimmte Daniel Olivia zu.

»Wir sind halt beide noch nicht soweit, ohne eine Aufgabe zu Hause zu bleiben. Meine Valentina braucht den Trubel Ihrer Familie, das macht sie glücklich, und ich muss immer noch ein bissel herumwerkeln, weil mich das jung erhält, «, sagte Korbinian.

»Gehen wir ein bissel durch den Garten?«, fragte Valentina.

»Gern«, übernahm Olivia die Antwort für ihre Familie.

Daniel war auch dieses Mal wieder von dieser Rehaklinik angetan. Die Zimmer der Patienten hatten alle Fenster mit Blick auf die Berge und die Parkanlage. Im Haupthaus der Klinik gab es eine Bibliothek und mehrere kleine Wintergärten mit hochgewachsenen Grünpflanzen. Sie waren mit bequemen Sofas und Sesseln ausgestattet und dienten als Aufenthaltsräume für Patienten.

Nach ihrem Rundgang durch den Park setzten sie sich an einen der runden Tische, die das hauseigene Café auf der mit Terrakottasteinen gepflasterten Terrasse aufgestellt hatte. Die Erwachsenen tranken Kaffee, und Ophelia aß ein Schokoladeneis mit Sahne.

»Jetzt schaut nicht so gierig«, wandte sie sich den Zwillingen schmunzelnd zu, die jedem Löffel nachblickten, den sich ihre große Schwester in den Mund schob. »Darf ich sie mal versuchen lassen, Mama?«, fragte sie ihre Mutter.

»Ja, darfst du, aber nicht mehr als eine Messerspitze«, bat Olivia.

»Von meinem Löffel?«

»Du bist nicht krank, Schatz, sie stecken dir ständig ihre Fingerchen in den Mund, wenn sie mit dir schmusen. Sie sind mit deinen Viren und Bakterien vertraut.«

»Also dann, ihr zwei, wer will zuerst?«, fragte Ophelia und tauchte ihren Löffel so weit in den Eisbecher, dass nur der vordere Rand bedeckt war. »Okay, du bist der Vorkoster«, stellte sie lachend fest, als Vincent seine Hand nach dem Löffel ausstreckte.

»Mei, das schmeckt dir, Buberl«, stellte Valentina lächelnd fest, als Vincent sichtlich überrascht von dem Geschmack die Augen aufriss und vor Freude mit den Beinchen strampelte.

Auch Oda fand sofort Gefallen an diesem bisher für sie unbekannten Geschmack. Sie versuchte sogar den Löffel festzuhalten, den Ophelia vorsichtig wieder zurückzog, nachdem Oda die Spitze abgeschleckt hatte.

»Mehr dürft ihr noch nicht haben, sagt unsere Mama«, erklärte Ophelia ihren Geschwistern.

Während Ophelia ihr Eis zu Ende aß, bekamen die Zwillinge die Fläschchen, die Olivia für sie vorbereitet hatte. Damit gaben sie sich dann auch zufrieden, und Ophelia konnte ihr Eis ohne schlechtes Gewissen genießen.

Bevor Daniel und seine Familie Valentina und Korbinian wieder verließen, ging Daniel ins Ärztezimmer, um sich nach Valentinas Fortschritten zu erkundigen. Valentina durfte solange Oda halten. »So schön es hier auch ist, ich vermisse den Trubel mit euch und eurer Familie«, sagte sie und drückte Oda liebevoll an sich. »Und was sagen die Ärzte?«, fragte sie, als Daniel wieder zurückkam.

»Sie sind davon überzeugt, dass Sie sich im Laufe der nächsten Wochen vollständig erholen werden.«

»Ich werde also wieder ohne Stock laufen können?«

»Ja, Valentina, das werden Sie«, versicherte ihr Daniel.

»Mei, dann wird ja alles wieder gut. Möcht jemand eine Praline?«, fragte sie und schaute auf die Packung mit den Champagnertrüffeln, die Olivia ihr überreicht hatte und die vor ihr auf dem Tisch lag.

»Nein, vielen Dank, die haben wir Ihnen mitgebracht, damit Sie sich an zu Hause erinnern«, entgegnete Olivia lächelnd.

Eine halbe Stunde später verabschiedeten sich Daniel und seine Familie von Valentina und Korbinian und machten sich auf den Weg nach Bergmoosbach zu den Seefelds, einer Arztfamilie, die zu ihren engsten Freunden gehörte.

*

Bergmoosbach lag am Fuße der Allgäuer Alpen, eingebettet in ein grünes Tal mit sanften Erhebungen und glitzernden Seen. Die Fassaden der Häuser, die Gehwege und Straßen, alles war aufgeräumt und sauber. Touristen bevölkerten den Marktplatz mit dem imposanten Brunnen und den Häusern mit den hübschen Lüftlmalereien.

Das Haus der Seefelds mit seinen lindgrünen Fensterläden stand auf einem Hügel am Rande des Dorfes. Eine Treppe führte durch den blühenden Steingarten zum Wintergarten hinauf, einem mit roten Schindeln überdachtem Glasbau. Die Arztpraxis lag in einem Anbau im Hof, der von der mächtigen Krone einer alten Ulme beschattet wurde. Daniel fuhr mit dem Auto die Auffahrt zu den Garagen hinauf.

»Da ist Nolan!«, rief Ophelia und stieg aus dem Auto, sobald Daniel angehalten hatte. Sie lief dem Berner Sennenhund entgegen, der hinter dem Haus hervorkam und sie freudig begrüßte.

»Ophelia, ich freue mich so«, sagte das hübsche junge Mädchen mit dem langen kastanienfarbenen Haar, das gleich darauf die Haustür öffnete, auf Ophelia zustürmte und sie in die Arme nahm.

»Emilia, ich bin echt froh, endlich mal wieder hier zu sein.«

»Hallo, Olivia, hallo Daniel, hallo, ihr Süßen«, begrüßte Emilia Seefeld Ophelias Familie.

Daniel und Olivia waren inzwischen aus dem Auto gestiegen und hatten die Zwillinge aus ihren Kindersitzen genommen. Gleich darauf kamen auch Sebastian Seefeld und seine Frau Anna aus dem Haus. Sebastian, ein großer schlanker Mann mit hellen grauen Augen und dunklem Haar, hatte seinen Sohn Jonas auf den Armen.

»Jonas, du kleiner Spatz«, begrüßte Ophelia den kleinen Jungen, der drei Monate älter als die Zwillinge war. Er hatte das gleiche hellbraune Haar und die gleichen hellgrünen Augen wie seine Mutter.

»Kommt, gehen wir auf die Terrasse«, bat Sebastian seine Gäste, nachdem sie sich alle herzlich begrüßt hatten.

Der Tisch war bereits für sechs Personen gedeckt. Sebastian setzte Jonas in den Hochstuhl aus Kiefernholz, der an der einen Längsseite des Tisches stand. Damit auch Oda und Vincent sich nicht ausgeschlossen fühlten, holte Daniel die beiden Babyhochwippen aus dem Kofferraum des Autos und baute sie an der anderen Längsseite des Tisches auf.

»Sie sind nur ein paar Monate auseinander, aber es scheinen Welten zwischen ihnen zu liegen«, stellte Ophelia fest, als sie zuerst Jonas und danach ihre Geschwister ansah.

Jonas saß aufrecht in seinem Sitz, hatte einen Teller vor sich stehen und hielt einen Löffel in der Hand. Er plapperte fröhlich in die Runde und freute sich riesig, wenn jemand ihm antwortete, auch wenn niemand so genau wusste, was er gerade erzählte. Die Zwillinge waren dagegen noch richtige Babys, die sich bisher nicht allein aufrichten konnten und dem Geschehen nur zusahen.

»Zwischen uns liegen auch ein paar Monate, aber ich habe nicht das Gefühl, dass zwischen uns Welten liegen«, entgegnete Emilia schmunzelnd.

»Zum Glück ist das so«, stimmte Ophelia ihr zu.

»Traudel hat uns einen ihrer berühmten Kirschstreuselkuchen gebacken«, sagte Anna, die mit einer Kuchenplatte und einer Schüssel mit frischer Sahne auf die Terrasse kam.

»Er duftet wie immer verführerisch«, stellte Olivia fest.

»Wir sollen euch herzlich von Traudel und Benedikt grüßen. Sie hätten euch auch gern mal wiedergesehen, aber dieser Ausflug mit dem Landfrauenverein an den Comersee war Traudel sehr wichtig. Sie treffen sich dort mit ihren Freundinnen aus der Schweiz und aus Österreich. Und Benedikt begleitet sie als ihr Arzt«, sagte Anna lächelnd.

»Was den Damen vom Bergmoosbacher Landfrauenverein sicher gut gefällt, sie alle lieben deinen Schwiegervater«, entgegnete Olivia.

»So ist es, ich bin sicher, ihm wird dieser Ausflug Spaß machen«, stimmte Anna ihr zu.

»Okay, Leute, wir machen uns dann auf den Weg«, sagte Emilia, nachdem sie und Ophelia ein Stück Kuchen gegessen hatten.

»Kann ich so gehen?«, fragte Ophelia und schaute auf das rotgelb gestreifte Kleid mit den kurzen Ärmeln, das sie zu einer gelben Leggins und roten Turnschuhen trug.

»Auf jeden Fall«, versicherte ihr Emilia, die sich für den Ausflug mit der Freundin für grüne Jeans und ein mintfarbenes T-Shirt entschieden hatte.

»Verratet ihr mir, wohin ihr geht?«, wollte Olivia wissen.

»Zum Mittnerhof. Markus und Leander erwarten uns dort«, antwortete ihr Emilia. »Ihr müsst euch keine Sorgen um uns machen. Markus‘ Mutter hat schon gesagt, dass sie uns heute Abend nach Hause fährt.«

»Na dann, viel Spaß«, entgegnete Olivia lächelnd.

»Den werden wir ganz bestimmt haben. Und ihr freundet euch mit Jonas an, das wäre super, wenn ihr Minis euch später auch gut versteht«, sagte Ophelia und hauchte den Zwillingen einen Kuss auf die Stirn, nachdem sie von ihrem Stuhl aufgestanden war.

»Das würde dir doch auch gut gefallen, kleiner Bruder, richtig?«, wandte sich Emilia Jonas zu. »Gute Antwort, Würmchen«, lobte sie den kleinen Jungen und streichelte ihm über die dunklen Löckchen, als er lachte und mit dem Köpfchen nickte. »Bis später«, sagte sie und nahm Ophelia an die Hand.

»Ich habe das Gefühl, dass kaum Zeit vergangen ist, seitdem Emilia in Jonas‘ Alter war«, stellte Sebastian nachdenklich fest, als er den beiden Mädchen nachschaute, die die Wiese zur Straße hinunterliefen.

»Das geht mir mit Ophelia genauso«, gab Olivia zu. »Die meisten Eltern sind der Meinung, dass es am besten für die Familie ist, wenn die Kinder ungefähr gleich alt sind, aber mir gefällt die Konstellation mit der großen Schwester ausgesprochen gut.«

»Du sprichst sicher von dieser Art wie sie mit den Kleinen umgehen, schon wie eine Schwester, aber auch mit mütterlicher Fürsorge«, sagte Anna.

»Richtig, das meine ich. Ophelia und Emilia geben ihren kleinen Geschwistern das Gefühl auf einer Ebene mit ihnen zu stehen und gleichzeitig spüren die Kleinen, dass sie sich auf ihre große Schwester ebenso verlassen können wie auf ihre Eltern«, stimmte Olivia ihr zu.

»Sagt das die Mutter oder die Psychologin Olivia?«, fragte Anna lächelnd.

»Das sagen beide. Warte, ich helfe dir«, sagte Olivia, als Anna die benutzten Kuchenteller auf einen Stapel stellte, um sie in die Küche zu tragen.

»Bleib, ich mache das«, erklärte Daniel und erhob sich von seinem Stuhl. Immer wenn sie sich mit Sebastian und Anna trafen, gaben er und Anna Sebastian und Olivia ein paar Minuten allein.

Sebastian hatte viele Jahre in Kanada gelebt. Nachdem er seine Frau durch einen Unfall verloren hatte, war er mit seiner Tochter Emilia nach Bergmoosbach zurückgekommen und hatte die Hausarztpraxis seines Vaters übernommen. Olivia kannte Sebastian aus dieser Zeit in Toronto. Sie hatte ein paar Monate als Psychologin an derselben Klinik gearbeitet, in der Sebastian damals als Arzt in der Notaufnahme angestellt war. Olivia hatte auch Sebastians Frau gekannt und hatte ihm und Emilia nach dem Unfall beigestanden.

»Anna ist das Beste, was dir passieren konnte«, sagte Olivia, nachdem Anna und Daniel gefolgt von Nolan, der vermutlich auf einen Rest vom Kuchen hoffte, ins Haus gegangen waren.

»Ich weiß, sie macht mich glücklich«, antwortete er lächelnd, und dieses Lächeln spiegelte sich in seinen hellen grauen Augen wieder.

Olivia konnte sich noch gut daran erinnern, wie verrückt dieses Lächeln des gutaussehenden jungen Mannes damals in Toronto nicht nur das weibliche Personal der Klinik, sondern auch die Patientinnen gemacht hatte. Aber Sebastian waren diese Versuchungen egal, er hatte Helene, seine Frau, geliebt und war ihr immer treu gewesen. Er hatte so sehr um sie getrauert, dass sie schon befürchtete, er würde niemals wieder lächeln können. Aber er wusste, dass er für Emilia da sein musste, dass sie ihn nun mehr als zuvor brauchte. Als sein Vater ihm dann anbot, dass er seine Praxis in Bergmoosbach übernehmen könnte, hatte sie ihm zugeredet, und die Entscheidung mit Emilia zurück nach Hause zu gehen, war richtig gewesen. Er hatte Anna getroffen.

»Emilia hat Anna von Anfang an geliebt, sie hat immer gesagt, dass Helene sie gemocht hätte«, sagte Sebastian, weil er ahnte, woran Olivia gerade dachte.

»Die beiden hätten sich gut verstanden, davon bin ich auch überzeugt. Ich glaube, sie haben Hunger«, stellte Olivia fest, als Oda und Vincent leise zu weinen begannen.

»Nein, mein Schatz, du musst nicht weinen, die beiden werden bestimmt nicht hungern müssen«, beruhigte Sebastian seinen Sohn, der in das Weinen miteinstimmte. Er nahm Jonas aus dem Hochstuhl und drückte ihn tröstend an sich.

»Ich mache die Fläschchen!«, rief Daniel aus der Küche, weil er die Zwillinge gehört hatte.

»Ich denke, wir haben es beide gut getroffen«, sagte Sebastian.

»Ja, das haben wir«, stimmte Olivia ihm zu.

*

Der Mittnerhof lag umgeben von Wiesen und Weiden außerhalb des Dorfes. Das Wohnhaus und die Stallungen waren erst kürzlich renoviert worden und auch das alte Pflaster im Hof hatte eine Auffrischung erfahren. Der ausgehöhlte Eichenstamm, der als Auffangbecken für das Wasser diente, das über eine grüne Metallpumpe aus einem unterirdischen Brunnen heraufkam, war ein romantischer Hingucker für die Feriengäste der Mittners, die sich in den Sommermonaten in die beiden Ferienwohnungen in der ausgebauten Scheune einquartieren konnten.

Ophelia spürte ihr Herz schneller schlagen, als sie und Emilia den Hof betraten und sie den Jungen in dem weißen Hemd und der schwarzen Jeans sah, der sein hellbraunes seitlich gescheiteltes Haar aus dem Gesicht strich und lächelnd auf sie zukam. »Leander!«, rief sie und stürmte auf ihn zu.

»Ophelia, ich freue mich«, sagte Leander und nahm das Mädchen in seine Arme.

»Hallo, Leander, wo ist Markus?«, fragte Emilia.

»Mit seinem Vater im Stall, da gibt es ein Mäuseproblem.«

»Gibt es hier denn keine Katze?«, fragte Ophelia.

»Mama hat eine Katzenallergie«, klärte sie das kleine Mädchen mit dem hellblonden Haar auf, das in Jeans und Gummistiefeln aus dem Stall kam.

»Ja, hat sie«, versicherte ihr der hellblonde kleine Junge, der die gleiche Jeans und die gleichen Gummistiefel wie das Mädchen trug.

»Benjamin, Senta, wie geht es euch?«, fragte Ophelia Markus‘ Geschwister, die vor kurzem ihren achten Geburtstag gefeiert hatten.

»Super!«, riefen die beiden.

»Komm, ich möchte Markus begrüßen«, sagte Ophelia und nahm Leander an die Hand.

»Wollt ihr uns helfen?«, fragte der großgewachsene Junge mit dem weißblonden schulterlangen Haar, das er im Nacken zusammengebunden hatte. Genau wie seine Geschwister trug auch er Gummistiefel und zusätzlich dicke Arbeitshandschuhe.

»Klar, wollen wir helfen«, sagte Emilia und begrüßte Markus mit einem zärtlichen Kuss auf den Mund.

»Okay, aber ohne Gummistiefel könnt ihr nicht in den Stall.«

»Ja, das stimmt, weil die Mäuse nämlich auch beißen, wenn sie sich erschrecken. Das ist gefährlich, weil sie Bakterien haben«, erklärte Senta den beiden großen Mädchen und sah sie mit ihren blauen Augen eindringlich an.

»Danke, für die Warnung«, entgegnete Emilia lachend.

»Nach dieser Einführung in die Tücken der Stalldurchsuchung, könntet ihr Emilias und Leanders Gummistiefel aus der Garage holen«, bat Markus die Zwillinge.

»Und für Ophelia?«

»Da nehmt ihr die rosafarbenen, die neben meinen stehen«, sagte Emilia.

»Du meinst die von deiner Freundin Doro?«

»Genau die.«

»Und Arbeitshandschuhe für alle, die sind in der großen Schublade an der Werkzeugbank«, sagte Markus.

»Wissen wir doch, komm, Benjamin!«, rief Senta und rannte los.

»Ich komme!«, antwortete Benjamin und folgte seiner Schwester.

*

Daniel, Olivia, Anna und Sebastian unternahmen am frühen Abend einen Spaziergang zum See. Die Zwillinge saßen in ihren Tragetüchern und auch Sebastian hatte Jonas in ein Tuch gesetzt, das er sich um die Hüften gebunden hatte. Nolan, der sich über jeden Spaziergang freute, den er mit seiner Familie unternehmen durfte, lief immer ein Stück voraus. Da er als freundlicher liebenswerter Hund im Dorf bekannt war, störte sich niemand daran, dass er nicht an der Leine war.

Sie kamen aber nur langsam vorwärts. Die Einheimischen, die ihnen im Dorf begegneten, wollten alle ein paar Worte mit ihrem Arzt und seiner Frau sprechen, der Hebamme, die in den letzten drei Jahren den meisten Babys im Dorf auf die Welt geholfen hatte. Auch Jonas wurde begutachtet und auch die Zwillinge der Freunde ihres Arztes. Nolan durfte sich auf dem Weg zum See über viele Streicheleinheiten freuen, die er stets ohne zu bellen entgegennahm.

»Eure Familie, Nolan miteingeschlossen, rangiert auf der Beliebtheitsskala des Dorfes offensichtlich ganz oben«, stellte Olivia fest.

»Ich gehe davon aus, dass es bei euch in eurem Stadtteil nicht anders ist, wenn ihr beide unterwegs seid«, sagte Anna.

»Stimmt, besonders Daniel ist äußerst beliebt. Wenn ich nicht frei von Eifersucht wäre…«

»Du bist frei von Eifersucht?«, fragte Daniel lächelnd.

»Nein, nicht wirklich«, entgegnete sie und küsste ihn zärtlich auf die Wange.

Ein paar Minuten später hatten sie den See erreicht, den die Bergmoosbacher Sternwolkensee nannten, weil sich in klaren Nächten die Milchstraße in seinem Wasser spiegelte. Er war von saftig grünen Wiesen eingebettet, die sich über sanfte Hügel hinaufzogen, die schließlich an dunkle Tannenwälder mit hellgrünen Lichtungen stießen. Über allem erhoben sich die kahlen Gipfel der Berge mit ihren vereisten Spitzen, die sich an den tiefblauen Himmel streckten. Auf dem See waren einige Ruderboote unterwegs, die sich Einheimische und Gäste an der Anlegestelle des Ruderbootverleihs mieten konnten. Eltern mit kleineren Kindern hatten es sich am Ufer auf Decken gemütlich gemacht und ließen die Kleinsten mit ihren Schäufelchen im Sand buddeln.

Nachdem die Seefelds mit ihren Gästen eine Weile am Seeufer entlanggelaufen waren, setzten sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm, der in einer Bucht am Ufer lag. Die Kinder schmiegten sich an ihre Eltern und schauten auf das Wasser. Als Sebastian kleine Steine in den See warf, klatschte Jonas vor Freude in die Hände, während er die Wellen betrachtete. Die Zwillinge konnten mit diesem Spiel noch nichts anfangen, sie waren einfach nur glücklich, sich die Natur anzuschauen.

»Dich beschäftigt doch etwas«, stellte Sebastian fest, als Daniel irgendwann auf sein Handy schaute und dann nachdenklich auf den See blickte.

»Ich habe einen Patienten mit Fieber und Atemnot auf der Intensivstation. Er war bei mir in der Praxis und außer Fieber konnte ich nichts feststellen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte sich sein Zustand derart verschlechtert, dass ich ihn einweisen musste.«

»Was haben sie im Krankenhaus festgestellt?«, fragte Sebastian.

»Bisher konnte die Ursache des Fiebers nicht gefunden werden. Sie haben den Mann ins Koma gelegt.«

»Was war mit dem Blutbild?«

»Es gab einige Ausreißer«, sagte Daniel und nannte Sebastian die Werte, die bei Georg außerhalb der Norm lagen.

»Das Blutbild im Krankenhaus war unverändert?«

»Bislang schon.«

»Damit lässt sich nicht wirklich etwas anfangen.«

»Nein, bedauerlicherweise nicht. Ich hoffe, dass sich der Zustand des Mannes stabilisiert, wenigstens so weit, dass sie ihn wieder aus dem Koma holen können.«

»Wenn er diese Hürde nimmt, wird er höchstwahrscheinlich auch wieder gesund.«

»Davon gehe ich auch aus. Heute Mittag, als ich mit der Klinik telefonierte, sah es aber leider noch nicht danach aus. Ja, schon gut, mein Schatz, ich bin wieder ganz für dich da«, wandte sich Daniel Vincent zu, der ihn anschaute und seine Händchen auf sein Gesicht legte. Er hatte den Jungen aus dem Tragetuch genommen und hielt ihn in seinen Armen, während er mit Sebastian sprach.

»Er wünscht sich die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Vaters«, sagte Olivia, die neben Daniel auf dem Baumstamm saß und Oda im Arm hielt.

»Die soll er auch bekommen«, antwortete Daniel und drückte den kleinen Jungen liebevoll an sich.

»Da, da!«, rief Jonas in diesem Moment, der auf Sebastians Schoss saß und den beiden Enten nachschaute, die zu einem Flug über den See starteten.

»Komm, wir sehen nach, ob noch weitere Enten starten«, schlug Anna ihrem Sohn vor. Sie erhob sich von dem Baumstamm und nahm Jonas auf ihre Arme.

»Mama«, sagte der kleine Junge und legte seine Hand auf Annas Wange.

»Jonas, mein Schatz«, entgegnete Anna mit Tränen in den Augen.

»Das war eine Premiere, er hat Anna zum ersten Mal »Mama« genannt«, klärte Sebastian, der genau wie Anna mit den Tränen kämpfte, die Freunde über die Besonderheit dieses Augenblickes auf.

»Ein Moment des großen Glücks, der uns noch bevorsteht«, entgegnete Olivia leise.

Nach diesem Erlebnis standen erst einmal nur noch die Kinder im Mittelpunkt, und die glücklichen Eltern schilderten sich gegenseitig die Fortschritte, die die Kinder seit ihrem letzten Treffen vor zwei Monaten gemacht hatten.

*

Als sie am Abend wieder zum Haus der Seefelds zurückkehrten, wurden zuerst die Kinder versorgt. Nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht hatten, machten es sich die Erwachsenen gemütlich. Das prasselnde Feuer in dem aus weißen Steinen gemauerten Außenkamin, das die Terrasse erwärmte, trug zu der entspannten Atmosphäre bei. Sebastian hatte Lachs nach einem kanadischen Rezept zubereitet und servierte ihn mit Backkartoffeln und gemischtem Salat.

»Hier mit euch zu sitzen, ist fast wie Urlaub«, stellte Olivia fest, als Anna zum Nachtisch ein Kirschsorbet servierte.

»Dann solltet ihr öfter zum Entspannen zu uns kommen«, sagte Anna, und dann stießen sie alle mit dem schweren französischen Rotwein an, den Sebastian geöffnet hatte.

Um kurz nach zehn kamen Emilia und Ophelia vom Mittnerhof zurück. Sabine, Markus‘ Mutter, hatte die beiden mit dem Familienauto, einem leuchtendgelben Kleinbus nach Hause gefahren. Die hübsche Frau mit den langen blonden Haaren hatte das Fenster der Fahrertür heruntergelassen und winkte Sebastian und Anna kurz zu, während die Mädchen über die Wiese zur Terrasse liefen, fuhr aber dann gleich weiter.

»Und wie war euer Tag?«, fragte Anna, als Ophelia und Emilia sich zu ihnen an den Tisch setzten.

»Aufregend«, antwortete Ophelia, die sich in ihrem Stuhl zurücklehnte und die Beine ausstreckte, als sei sie vollkommen geschafft.

»Ophelia hat sich als echte Hilfe der Landwirtschaft erwiesen«, sagte Emilia und klopfte ihrer Freundin auf die Schulter.

»Was hast du denn gemacht?«, fragte Olivia.

»Wir haben Mäuse verjagt, im Gegensatz zu unserer Ortrud, die Mäuse jagt, um sie zu fangen. Ihr hätte unser Tag heute sicher super gut gefallen«, antwortete Ophelia lächelnd.

»Wo habt ihr Mäuse verjagt?«, fragte Sebastian.

»Die Mittners haben Mäuse in ihrem Kuhstall, das heißt, sie hatten welche. Wir haben sie ausgesperrt, wir haben jedes noch so kleine Loch in der Stallwand verschlossen. Senta und Benjamin haben auch mitgemacht.«

»Hattet ihr Handschuhe an?«, fragte Sebastian.

»Also Papa, was denkst du denn? Natürlich hatten wir Handschuhe an und auch Gummistiefel. Anton und Markus hätten uns doch sonst gar nicht in den Stall gelassen«, versicherte Emilia ihrem Vater.

»Orthohantavirus, das könnte eine mögliche Ursache für die Beschwerden deines Fieberpatienten sein”, sagte Sebastian und sah Daniel an.

»Hantavirus? Dazu würde die Nierenproblematik passen, aber die Lungenprobleme?”

»Stimmt, das ist eher ein zusätzliches Symptom, das von dem Hantavirus der Hirschmaus, die hauptsächlich in Nordamerika zuhause ist, übertragen wird.”

»Mein Patient war vor Kurzem in Kanada.«

»Sollte er sich dort angesteckt haben, sieht es leider nicht besonders gut für ihn aus. Bedauerlicherweise liegt die Sterberate bei diesem Virenstamm bei 40 – 50%, und eine Medikation beschränkt sich auf die Linderung der Symptome.«

»Muss dein Patient jetzt sterben?«, wollte Ophelia von Daniel wissen.

»Er ist ein sportlicher junger Mann, er hat gute Chancen, die Infektion zu besiegen.«

»In der Notaufnahme ist sicher jemand aufzutreiben, der sich darum kümmert, dass ein neues Blutbild erstellt wird«, sagte Sebastian.

»Das hoffe ich doch.« Daniel erhob sich von seinem Stuhl, zog sein Handy aus der Hosentasche und rief die Nummer der Klinik auf.

»Nachts sind sie in den Notaufnahmen personell eher unterbesetzt, einfach wird es nicht werden, jemanden zu finden, der sich gleich um diesen Test kümmert«, stellte Olivia fest. Sie beobachtete Daniel, der, während er telefonierte, auf der Terrasse auf- und ablief.

»Dein Mann wird sich durchsetzen, davon bin ich absolut überzeugt«, versicherte Sebastian ihr.

»Ich auch«, stimmte Ophelia ihm zu. »Es hat doch geklappt? Ich meine, hast du jemanden gefunden, der sich deines Patienten annimmt?«, fragte sie Daniel, als er zurück an den Tisch kam.

»Ich habe mit einer Ärztin gesprochen, die mit mir studiert hat. Sie hat mir versprochen, sich darum zu kümmern.«

»Eine Ärztin, die mit dir studiert hat? Wie lange hast du sie nicht mehr gesehen?«, fragte Olivia.

»Ich glaube, das war auf dieser Fortbildung im letzten Jahr, die in Graz, als sie uns die neuen Cholesterinsenker vorgestellt haben.«

»Ist sie hübsch?«

»Warum willst du das wissen?«, fragte Daniel lächelnd.

»Weil das jede Frau wissen möchte, wenn der Mann, den sie liebt, eine Frau aus seiner Vergangenheit erwähnt«, sagte Ophelia.

»Verstehe«, antwortete Daniel schmunzelnd.

»Aber ich bin absolut sicher, dass Mama nichts zu befürchten hat.«

»Nein, das hat sie nicht«, stimmte Daniel Ophelia zu und nahm Olivia zärtlich in den Arm.

»Sind sie nicht ein schönes Paar«, sagte Anna und lehnte ihren Kopf an Sebastians Schulter.

»Also ich sehe zwei schöne Paare«, erklärte Emilia.

»Ich auch«, schloss sich Ophelia ihr an und betrachtete zuerst Daniel und Olivia und danach Sebastian und Anna.

Ein paar Minuten später zogen sich die beiden Mädchen auf Emilias Zimmer zurück. Sebastian öffnete noch eine Flasche von dem Rotwein, den er von einem Weingut aus der Provence bezog, das einem befreundeten Ehepaar gehörte.

»Woher kennt ihr die Legrands?«, fragte Olivia, als Anna von dem Weingut erzählte, das sie hin und wieder besuchten.

»Pierres Frau Marie hat mit Sebastian Medizin studiert.«

»Sebastian hat in Kanada studiert. Ist sie Kanadierin?«

»Nein, sie stammt aus der Nähe von Würzburg, aber genau wie Sebastian hatte sie das Land während eines Schüleraustausches kennengelernt und beschlossen, dort zu studieren. Wisst ihr was, wenn wir das nächste Mal zu ihnen fahren, könntet ihr doch mitkommen«, schlug Anna vor.

»Wären denn die Kinder dort willkommen?«

»Aber ja, ihre Tochter ist sechzehn, ihr älterer Sohn sieben und der jüngste Nachwuchs ist gerade ein Jahr alt geworden.«

»Wir haben vor, Ende Oktober nach der Weinernte in die Provence zu fahren«, sagte Sebastian.

»Ich könnte mir schon vorstellen, mitzukommen. Was meinst du, Daniel?«, fragte Olivia ihren Mann.

»Ich war schon einige Male in der Provence, die Landschaft ist wundervoll und die Menschen liebenswert.«

»Dann halten wir diese Reise einfach mal fest«, sagte Anna und dann stießen sie mit einem Glas Rotwein auf ihre gemeinsamen Urlaubspläne an.

Am nächsten Morgen während des Frühstücks erhielt Daniel den Anruf der Klinik, dass sein Hinweis mit dem nordamerikanischen Hantavirus ein Treffer war und Georgs Fieber allmählich zurückging. Daniel konnte nun sicher sein, dass Georg eine Behandlung bekam, die ihm nicht schadete. Mit diesem Wissen konnte er nun endlich eine Weile die Sorge um seinen Patienten abschalten und das Wochenende mit seiner Familie genießen.

*

»Ich mache mich gleich auf den Weg«, sagte Barbara, als sie am Montagmorgen den Anruf erhielt, dass Georg aus dem Koma erwacht sei.

Nachdem Georgs behandelter Arzt ihr am Samstag gesagt hatte, dass sie nun wüssten, was Georg fehlte und sie hofften, seine Symptome in den Griff zu bekommen, hatte sie auf diesen erlösenden Anruf gewartet. Sie hatte bereits am Samstag mit ihrer Vorgesetzten telefoniert, um sie um einen weiteren freien Tag zu bitten. Da sie sich auch privat gut mit ihr verstand und sie Georg kannte, war es für sie selbstverständlich, ihr diesen freien Tag zu gewähren, damit sie bei Georg sein konnte, wenn er aufwachte.

Barbara hatte das Gefühl, als hätte sie sich zu einem Rendezvous mit Georg verabredet. Die letzten Tage hatten ihr bewusst gemacht, wie schnell alles vorbei sein konnte, das Glück einfach verflog und die Trauer seinen Platz einnahm. Wie es nun aussah, hatte das Glück sich nicht vertreiben lassen. Sie und Georg bekamen eine neue Chance, gemeinsam durchs Leben zu gehen. Für diesen Moment des Wiedersehens hatte sie das rote Kleid mit dem feinen weißen Blütenmuster angezogen, das Georg so gern an ihr sah, und sie trug die schmale goldene Halskette mit dem funkelnden Rubin, die Georg ihr an ihrem ersten Jahrestag geschenkt hatte.

Auch das Wetter passt sich diesem glücklichen Tag an, dachte sie, als sie das Haus verließ, die Sonne hinter den Wolken hervorkam und ein leiser Wind die grauen Wolken vertrieb, die am frühen Morgen noch den Himmel verdeckt hatten. Als Barbara zwanzig Minuten später auf dem Parkplatz der Klinik aus ihrem Wagen stieg und nach oben schaute, blickte sie an einen strahlend blauen Himmel.

Da sie nicht genau wusste, was sie erwartete, ging sie ein wenig zögerlich den Gang entlang, an dessen Ende das Zimmer lag, in dem sie Georg inzwischen untergebracht hatten. Sie wusste von dem Arzt, der sie angerufen hatte, dass Georg inzwischen nicht mehr auf der Intensivstation lag.

Sie war unendlich erleichtert, als sie nach einem kurzen Klopfen an der Tür Georgs vertraute Stimme hörte und er sie bat, hereinzukommen. »Hallo, mein Schatz«, sagte sie, als sie die Tür aufschob und Georg mit zwei Kissen im Rücken in seinem Bett sitzen sah. Die Schläuche, die ihn in den letzten Tagen am Leben erhalten hatten, waren alle verschwunden. Wäre er nicht so blass gewesen, hätte sie glauben können, er sei bereits wieder ganz gesund.

»Komm zu mir«, bat er sie mit einem zärtlichen Lächeln und streckte einen Arm nach ihr aus.

»Wie geht es dir?«, fragte sie, setzte sich zu ihm aufs Bett und schmiegte sich in seine Arme. Georgs Arzt hatte ihr schon am Samstag versichert, dass dieses Virus nur durch den Biss und die Ausscheidungen von Mäusen, aber so gut wie nie von Mensch zu Mensch übertragen wird.

»Ich fühle mich gut«, sagte Georg. »Ich habe nur noch erhöhte Temperatur, und meine Lunge scheint sich wieder zu erholen. Ich habe wohl noch einmal Glück gehabt.«

»Ja, ganz offensichtlich, und darüber bin ich sehr froh. Hast du denn eine Ahnung, wo du dir dieses Virus eingefangen haben könntest?«

»Ich denke, es ist auf einer der Baustellen passiert, die ich in Kanada besucht habe. Vermutlich auf der Großbaustelle für das neue Wohnviertel außerhalb von Toronto. Es ist möglich, dass mich dort eine Maus gebissen hat. Ich hatte damals aber nur einen kurzen Stich am Fuß gespürt und habe nicht weiter darauf geachtet.«

»Hast du das deinem Arzt schon erzählt?«

»Ja, habe ich, er hat auch nachgesehen, konnte aber keine Wunde mehr finden. Er hat mir auch gestanden, dass er und seine Kollegen beschlossen hatten, mich mit einer Antibiotikakur zu behandeln, weil sie sich keinen anderen Rat mehr wussten. Hätte Doktor Norden ihnen nicht den Hinweis auf das Hantavirus gegeben, hätten sie bereits gestern mit der Behandlung angefangen.«

»Die dir aber nicht geholfen, sondern dir im Gegenteil geschadet hätte.« Barbara hatte in den letzten Stunden viel über das Hantavirus gelesen und wusste, dass ein Medikament gegen Bakterien nicht helfen konnte, seine Nebenwirkungen aber den Selbstheilungskräften des Patienten im höchsten Maße schadeten.

»Wir sollten uns bei Doktor Norden bedanken. Nicht jeden Arzt beschäftigt das Schicksal seiner Patienten auch noch in seiner Freizeit. Und schon gar nicht, wenn er sie ins Krankenhaus überwiesen hat, was natürlich auch verständlich ist, weil sich dann die Ärzte dort um den Patienten kümmern.«

»Ich sagte dir doch, dass er ein guter Arzt ist. Ich meine, ein Arzt, der sich wirklich um seine Patienten kümmert.«

»Damit hattest du absolut recht«, sagte Georg und streichelte Barbara liebevoll über das Haar.

»Weißt du schon, wie lange du noch im Krankenhaus bleiben musst?«, fragte sie ihn.

»Das kommt darauf an, wie schnell sich meine Lunge erholt und ob keines der anderen Organe von dem Virus geschädigt wurde. Ich werde wohl noch einige Untersuchungen über mich ergehen lassen müssen. Einer der Ärzte meinte, dass ich aber in vierzehn Tagen wieder zu Hause sein könnte, sollten sich keine weiteren Komplikationen ergeben.«

»Wir wollen keine weiteren Komplikationen.«

»Nein, auf keinen Fall«, stimmte Georg Barbara zu und zog ihren Kopf behutsam an seine Brust.

*

»Diese kleine Bibliothekarin stellt kein Problem dar. Georg wird zu mir zurückkehren«, versicherte Irina Bogner, Georgs Exfrau, ihrer Freundin Sandra.

Irina hatte Sandra zum Mittagessen im Restaurant des Fernsehturms im Olympiapark eingeladen. Sie musste ihr unbedingt von ihrem Plan erzählen, Georg wieder für sich zu gewinnen. Irina, eine große schlanke Frau mit langen braunen Locken und dunklen Augen, war leitende Redakteurin eines Modemagazins. Sie trug ein elegantes helles Kostüm und rote Wildlederpumps und konnte sich, was ihr Aussehen betraf, mit Sandra, einer attraktiven Blondine in einem figurbetonten sandfarbenen Kleid, messen. Sandra gehörte zu den Topmodels, die immer wieder die Titelseiten der angesagten Modemagazine zierte.

»Georg und diese Frau sind seit über einem Jahr zusammen, so einfach wird das nicht werden«, erinnerte Sandra Irina erneut daran, dass das zwischen Georg und Barbara etwas Ernstes war.

»Sie ist nichts weiter als seine kleine Spielgefährtin. Er ist nicht gern allein, deshalb ist er bei ihr«, widersprach ihr Irina. Sie stocherte mit der Gabel in dem gemischten Salat herum, der vor ihr auf dem Tisch stand, und schaute über die Stadt hinweg auf die Berggipfel am Horizont.

»Wieso bist du plötzlich wieder so sehr an ihm interessiert? Ich dachte, du wolltest dich nach deiner Trennung von Mark, nicht gleich wieder an jemanden binden. Du wolltest erst einmal nur Spaß und keine Verpflichtungen haben, erst danach wolltest du dir jemanden suchen, der so vermögend ist, dass du dir um Geld nie wieder Sorgen machen musst. So waren doch deine Worte, richtig?«

»Ich bin aber auch nicht gern allein, wie mir inzwischen klar geworden ist. Georg ist beruflich erfolgreich und äußerst attraktiv. Ich könnte mir sogar vorstellen, mit ihm eines Tages Kinder zu haben.«

»Wirklich?«, entgegnete Sandra verwundert. »Kinder schaden doch der Figur und nehmen dir deine Freiheiten, das tun zu können, wonach dir gerade der Sinn steht.«

»Ich bin eben reifer geworden, auch bei mir tickt die Uhr. Ich kann nicht mehr lange warten, wenn ich Kinder haben möchte.«

»Georg wollte immer Kinder, aber du wolltest noch warten.«

»Ich weiß«, seufzte Irina. »Aber als ich hörte, dass Georg im Koma liegt, wurde mir bewusst, wie sehr ich ihn immer noch liebe. Nun ist er wieder aus dem Koma aufgewacht, diese Chance auf einen Neuanfang lasse ich mir nicht entgehen.«

»Verrätst du mir, wieso du eigentlich so gut über Georg informiert bist?«

»Wir haben schon seit einigen Wochen wieder Kontakt. Wir telefonieren recht häufig miteinander.«

»Und über was sprecht ihr da so?«

»Über das Leben im Allgemeinen und sein Leben mit der kleinen Bibliothekarin im speziellen. Es ist von Vorteil, so viel wie möglich über denjenigen zu wissen, den du loswerden möchtest«, erklärte sie mit einem selbstbewussten Grinsen.

»Ahnt Georg, was du vorhast?«

»Vermutlich noch nicht. Männer sind in dieser Beziehung doch recht naiv. Sie durchschauen diese kleinen Intrigen meistens gar nicht.«

»Da er im Koma lag, muss dich aber jemand über seinen Gesundheitszustand auf dem Laufenden gehalten haben. Seine Freundin war es vermutlich nicht.«

»Sein Chef hat mich angerufen. Wir kennen uns recht gut. Er weiß, wie sehr ich noch an Georg hänge.«

»Sein Chef? Soweit ich mich erinnere, war da doch auch mal etwas, richtig?«

»Du hast ja ein Gedächtnis wie ein Elefant. Aber ja, es stimmt, wir hatten mal was miteinander, aber nur kurz. Er wollte seine Ehe nicht gefährden.«

»Was dir aber nichts ausgemacht hätte.«

»Bist du jetzt unter die Moralisten gegangen?«, wunderte sich Irina.

»Nein, ich denke nur, dass du Georg besser in Ruhe lassen solltest. Er scheint über dich hinweg zu sein, du solltest ihm nicht erneut wehtun. Das hat er nicht verdient.«

»Ich habe nicht vor, ihm wehzutun. Vor uns liegt ein langes glückliches Leben. Zumal es da etwas gibt, was mir die Sache noch ein wenig versüßen wird.«

»Und das wäre?«

»Darüber möchte ich noch nicht sprechen.«

»Klingt geheimnisvoll.«

»Wir haben doch alle unsere kleinen Geheimnisse.« Niemand von Georgs Kollegen und Freunden wusste bisher, was sie wusste. Eine Journalistin aus Toronto hatte ihr etwas verraten, was sie förmlich elektrisiert hatte. Während Georgs Besuch in Kanada war ihm die Leitung eines internationalen Baukonzerns angeboten worden, und dieser Posten wurde nicht nur mit einem fürstlichen Gehalt honoriert, auch ein Aktienpaket in Millionenhöhe gehörte dazu. An Georgs Seite würde sie das Leben führen können, von dem sie immer geträumt hatte.

»Wie willst du Georg dazu bringen, seine Freundin zu verlassen? Die beiden wohnen doch bereits zusammen.«

»Ich werde dieser Frau klar machen, dass sie nicht zu Georg passt und ihr gemeinsames Leben deshalb auf Dauer nicht funktionieren kann.«

»Und das wird sie dir glauben?«

»Georg ist im Moment noch angeschlagen, das wird mir helfen, die Büchertante aus seinem Leben zu verbannen. Georg hat mir erzählt, dass sie bereits zwei gescheiterte Beziehungen hinter sich hat und dass sie viel Wert auf Treue und Beständigkeit legt. Ich werde ihr klar machen, dass diese Werte für Georg nicht gelten.«

»Das ist eine Lüge, meine Süße.«

»Ich weiß«, antwortete Irina lachend. »Aber wie auch immer, morgen früh, werde ich Georg in der Klinik besuchen und die Angelegenheit vorbereiten.«

»Ich bin nicht sicher, ob das klappen wird.«

»Warte es ab. Wie wäre es mit einem Gläschen Prosecco?«

»Sehr gern, du Biest«, entgegnete Sandra schmunzelnd.

*

Barbara konnte nach ihrem Besuch bei Georg zum ersten Mal wieder durchschlafen. Georg würde bald wieder zu Hause sein, dann konnten sie Zukunftspläne schmieden. Vielleicht würde Georg ihr sogar tatsächlich einen Antrag machen, auch wenn sie bisher noch nie über eine Heirat gesprochen hatten. Aber im Moment war das auch nicht wirklich wichtig. Die Hauptsache war, dass sie zusammen waren. Da sie erst um zehn Uhr in der Bibliothek sein musste, beschloss sie, vorher noch einmal kurz ins Krankenhaus zu fahren, um nach Georg zu sehen.

Als sie dort eintraf, war Georg nicht im Zimmer. Sie wollte sich gerade auf den Weg zum Schwesternzimmer machen, um nachzufragen, wo Georg war, als eine große schlanke Frau, die ein elegantes weißes Kostüm trug, hereinkam. Barbara spürte wie ihr Herz einen Schlag lang aussetzte, als ihr klar wurde, dass sie Irina, Georgs Exfrau, gegenüberstand. Sie hatte sie zwar bisher nur auf einigen Fotos gesehen, die Georg ihr aus seiner Vergangenheit gezeigt hatte, aber sie hatte die außergewöhnlich attraktive Frau sofort erkannt.

»Barbara, richtig?«, sprach Irina sie zuerst an.

»Barbara Brand«, stellte sie sich vor.

»Irina Bogner, Georgs Frau«, entgegnete Irina.

»Exfrau«, verbesserte Barbara Irina, die ihr die Hand gereicht hatte.

»Sicher Exfrau, aber das ist nur der aktuelle Status.«

»Nur der aktuelle Status?«, wiederholte Barbara verwundert.

»Das ist richtig, meine Liebe. Georg und ich hatten unsere Differenzen, aber die haben wir inzwischen beigelegt.«

»Das heißt?«

»Dass wir uns wieder gut verstehen.«

»Sie waren einige Jahre mit Georg verheiratet, es ist doch schön, wenn Sie wieder miteinander reden können. Wo ist Georg im Moment?«, fragte Barbara, weil sie die Unterhaltung mit Irina nicht weiter fortsetzen wollte.

»Georg wurde zu einer Untersuchung abgeholt. Er bat mich, hier auf ihn zu warten«, antwortete Irina. Das war allerdings gelogen. Georg hatte das Zimmer bereits verlassen, als sie in der Klinik eintraf. »Es wird aber noch etwa eine Stunde dauern, bis er zurück ist, hat mir gerade eine Schwester gesagt«, fügte sie hinzu, als sie sah, dass Barbara auf ihre Armbanduhr schaute. Vermutlich hatte sie nicht so viel Zeit, um länger auf Georg warten zu können. Wer in Eile war, reagierte oft spontaner auf Neuigkeiten, das würde sie sich jetzt zunutze machen. »Ich bin mir nicht sicher, ob Georg vor diesem Zwischenfall, der ihn ins Krankenhaus gebracht hat, mit Ihnen gesprochen hat«, sagte sie und hielt Barbaras Blick fest.

»Über was soll er mit mir gesprochen haben?«, fragte Barbara.

»Dass er und ich beschlossen haben, es noch einmal miteinander zu versuchen.«

»Nein, das hat Georg sicher nicht beschlossen«, entgegnete Barbara.

»Doch, meine Liebe, das hat er, aber natürlich ist es ihm unangenehm, Sie darüber zu informieren. Er hat sie gern, irgendwie, und möchte Ihnen nur ungern wehtun. Aber Georg und ich sind füreinander bestimmt, das wissen wir inzwischen. Manchmal brauchen wir nur ein wenig Abstand, um zu begreifen, was uns wirklich wichtig ist«, sagte Irina. Dieses Flackern in ihren Augen, sie ist verunsichert, es gibt etwas, dass sie an seiner Aufrichtigkeit zweifeln lässt, dachte sie, als sie Barbaras Reaktion auf diese Neuigkeit beobachtete.

»Wann haben Sie Georg denn das letzte Mal gesehen?«, fragte Barbara.

»Vor Kurzem«, log Irina, »und wir telefonieren in der letzten Zeit regelmäßig, manchmal mehrmals am Tag. Wir können einfach nicht mehr ohne einander. Ich hoffe, Sie verstehen das.«

»Sie reden Blödsinn. Georg wird die Beziehung mit Ihnen nicht erneuern.« Barbara hatte jetzt genug von dem Gerede dieser Frau.

»Tut mir leid, dass Sie es nicht begreifen wollen. Aber würde mich ein Mann, der so gar nichts von mir wissen will, so oft anrufen?«, fragte Irina, zog ihr Handy aus der Tasche ihrer Kostümjacke und zeigte Barbara die Anrufliste.

»Wer weiß, warum er Sie angerufen hat«, sagte Barbara. Sie tat so, als würde sie die Liste nicht interessieren. Dass die beiden miteinander telefonierten, wusste sie ja bereits. Dass Georg Irina aber ebenso oft angerufen hatte, wie sie ihn, hatte sie allerdings nicht erwartet.

»Sie wollen wissen, worum es in unseren Gesprächen geht?«, fragte Irina mit einem scheinheiligen Grinsen.

»Um was denn?«, fragte Barbara leise.

»Warten Sie, ich gebe Ihnen eine Kostprobe. Ich habe einige Anrufe aufgenommen, weil sie wundervolle Erinnerungen sind. Hören Sie gut zu«, bat sie Barbara, nachdem sie die Aufnahme herausgesucht hatte, die sie bereits vorbereitet hatte, um sie Barbara bei passender Gelegenheit vorzuspielen.

»Diese Liebe ist das größte Geschenk, ich war niemals so glücklich, und ich werde alles tun, damit sich daran nichts ändert«, hörte sie Georg sagen, als Irina den Mitschnitt des Anrufes abspielte.

»Ich gehe davon aus, Sie wissen nun, wem Georgs Liebe gehört. Ja, sie weiß es«, stellte Irina mit einem zufriedenen Lächeln fest, als Barbara ohne ein weiteres Wort mit Tränen in den Augen das Zimmer verließ. Dass diese Liebeserklärung, die sie ihr vorgespielt hatte, in Wirklichkeit Barbara galt, hatte die kleine Bibliothekarin ganz offensichtlich nicht durchschaut.

Georg hatte ihr von Barbara vorgeschwärmt, nachdem es ihr gelungen war, ihn mit ihren Anrufen davon zu überzeugen, dass es doch schön wäre, wenn sie wieder Kontakt hätten. Schließlich hatten sie sich einmal geliebt. Dass er darauf eingegangen war, machte ihr Hoffnung, dass seine Liebe zu ihr noch nicht ganz erloschen war. Sie musste sie nur wieder neu entfachen.

Als Georg eine Viertelstunde später wieder zurück ins Zimmer kam, schien er sich ehrlich zu freuen, sie zu sehen. Sie blieb den ganzen Vormittag bei ihm und verwickelte ihn in Gespräche über ihre gemeinsame Vergangenheit. Sobald sie bemerkte, dass er mit seinen Gedanken abschweifte, vielleicht an Barbara dachte, lenkte sie ihn mit einer neuen Geschichte ab. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie einen großen Fehler gemacht hatte, als sie ihn damals verließ, dass sie aber nun mit dieser Fehlentscheidung leben müsse.

»Ich hoffe, du findest irgendwann jemanden, mit dem du ebenso glücklich wirst wie ich mit Barbara«, sagte Georg und drückte ihr sanft die Hand.

»Ich befürchte, das wird nicht möglich sein, den Mann, der mich glücklich machen könnte, habe ich leider verloren«, seufzte sie. Sie umfasste Georgs Hand mit beiden Händen und sah ihm tief in die Augen.

»Lass es«, bat Georg sie leise.

»Ich schau dich doch nur an.«

»Nein, das tust du nicht, du flirtest«, sagte er.

»Tut mir leid, ich werde mich bessern«, versprach sie ihm. Aber das war natürlich nicht das, was sie wirklich vorhatte. Sie würde weiter daran arbeiten, Barbara davon zu überzeugen, dass sie mit Georg keine Zukunft hatte, dann würde sie sich hoffentlich von ihm trennen, und der Weg für sie wäre frei.

*

Barbara hatte den ganzen Tag wie in Trance verbracht. Sie wollte diese Begegnung mit Irina am liebsten vergessen, aber leider gelang ihr das nicht. In der Bibliothek war sie so in Gedanken versunken, dass sie weitaus länger brauchte als sonst, die Bücher herauszusuchen, die von den Besuchern der Bibliothek nachgefragt wurden. Aber wenigstens lenkten sie die Gespräche mit ihren Kollegen und den Besuchern vorübergehend von ihrem Erlebnis im Krankenhaus ab. Die Anrufe von Georg, die auf ihrem Handy eingingen, ignorierte sie. Inzwischen ging sie davon aus, dass Georgs Ankündigung, mit ihr über ihre Zukunft zu sprechen, wohl bedeutete, dass er vorhatte, ihr in einer möglichst angenehmen Atmosphäre mitzuteilen, dass er sich von ihr trennen wollte, um wieder mit Irina zusammen sein zu können.«

Als sie am Abend nach Hause kam, erschien ihr dieser Besuch im Krankenhaus, als sei er schon eine Ewigkeit her. Sie dachte daran, Georg anzurufen, aber sie war nicht sicher, was sie ihm sagen sollte. Nachdem, was sie gehört hatte, diese Worte, die Irina wissen ließen, wie sehr er sie liebte, diese Worte hatten ihre Liebe zu ihm vernichtet. Wieso sollte sie überhaupt noch einmal mit ihm reden? Es war vorbei. Sie würde sich in den nächsten Tagen nach einer Wohnung umsehen, dann konnte Irina ihren Platz an Georgs Seite einnehmen.

Bevor sie schlafen ging, rief sie aber noch einmal im Krankenhaus an und erkundigte sich bei der Stationsschwester, ob es Georg gutging. Als sie ihr versicherte, dass seine Werte sich erneut verbessert hatten, bedankte sie sich und legte auf. In dieser Nacht schlief sie nicht in dem Bett, das sie bisher mit Georg geteilt hatte, das brachte sie nicht fertig. Sie richtete sich auf dem Sofa im Wohnzimmer ein und verbrachte dort eine unruhige Nacht. Sie hatte Albträume und wurde immer wieder wach.

Als sie am nächsten Morgen aufstand, fühlte sie sich matt und niedergeschlagen, und ihr war auch wieder ein wenig übel. Um zu sich zu kommen, stellte sie sich eine Weile unter die Dusche, danach kochte sie sich einen Kaffee und bereitete sich ein Müsli mit Nüssen zu. Sie hatte sich gerade in der Küche an den Tisch gesetzt, als ihr plötzlich so übel wurde, dass sie ins Bad rannte, um sich zu übergeben. Danach war ihr schwindlig, und sie fühlte sich fiebrig. Nachdem sie ihre Temperatur gemessen hatte, stellte sie fest, dass sie zwar noch kein Fieber, aber erhöhte Temperatur hatte.

Möglicherweise habe ich mir mehr als eine Magenverstimmung eingefangen, vielleicht habe ich mich doch mit diesem Virus angesteckt, dachte sie erschrocken. Da sie erst um zehn Uhr in der Bibliothek sein musste, beschloss sie, vorher die Praxis Norden aufzusuchen, um sich Klarheit zu verschaffen. Als sie um kurz vor halb neun an der Praxis eintraf, warteten bereits zwei ältere Frauen vor der Tür. Kurz darauf schloss Lydia die Tür auf und bat die Patienten, hereinzukommen.

»Sie sind so blass, ist Ihnen nicht gut, Frau Brand?«, fragte Lydia, nachdem sie die beiden Frauen, die vor ihr an der Reihe waren, in die Patientenliste der Vormittagssprechstunde eingetragen hatte.

»Im Moment geht es wieder, aber vorhin war mir ziemlich übel und auch schwindlig, und ich hatte erhöhte Temperatur. Könnte es sein, dass dieses Hantavirus, das Georg krankgemacht hat, doch ansteckend ist?«

»Es ist unwahrscheinlich, aber es ist trotzdem gut, dass Sie hergekommen sind. Sobald Doktor Norden da ist, wird er sich um sie kümmern.«

»Soll ich ins Wartezimmer gehen oder draußen warten?«

»Haben Sie jetzt Fieber?«

»Ich weiß es nicht.«

»Geh mit ihr ins Ultraschallzimmer, ich kümmere mich um den Tresen«, sagte Sophia, die in diesem Moment aus dem Labor kam.

»Alles klar, so machen wir es. Kommen Sie bitte mit mir«, bat Lydia Barbara.

»37,8, das ist noch nicht dramatisch«, stellte Lydia fest, nachdem sich Barbara auf die Liege gesetzt und sie ihre Temperatur gemessen hatte. Danach überprüfte sie ihren Blutdruck, der aber auch in Ordnung war. »Wie fühlen Sie sich im Moment, Frau Brand?«, fragte Lydia.

»Eigentlich ganz gut«, sagte Barbara.

»Dann sollten Sie sich keine allzu großen Sorgen machen. Ich rufe Sie, sobald Doktor Norden da ist. Falls Sie etwas trinken möchten, ich kann Ihnen etwas bringen«, bot Lydia ihr an.

»Aber nein, vielen Dank, Sie haben ganz sicher Wichtigeres zu tun, als mich zu bedienen. Ich bleibe einfach hier sitzen und schaue auf die Bäume im Garten, das beruhigt die Nerven«, entgegnete Barbara lächelnd.

»Dann bis gleich«, sagte Lydia und ließ Barbara allein.

»Wie geht es ihr?«, fragte Sophia, als Lydia zurück zum Tresen kam.

»Sie fühlt sich wieder gut, hat sie gesagt.«

»Möglicherweise doch nur eine Magenverstimmung.«

»Könnte sein, aber ich denke, wir sollten kein Risiko eingehen, und sie besser nicht ins Wartezimmer schicken.«

»Gute Entscheidung«, stimmte Sophia ihr zu. »Bitte, Frau Tauber, was können wir für Sie tun?«, fragte sie die ältere Frau in dem grünweißgestreiften Kleid, die die Praxis betrat und an den Tresen kam.

»Mein Rücken macht mal wieder ein bissel Ärger«, sagte Frau Tauber.

»Da sind Sie bei uns genau richtig«, antwortete Sophia lächelnd.

»Freilich bin ich das, bisher ging’s mir immer besser, sobald ich mit dem Herrn Doktor über meine Beschwerden gesprochen habe. Ich geh dann mal ins Wartezimmer«, sagte Frau Tauber.

»Manchmal habe ich den Eindruck, dass Daniel so etwas wie magische Kräfte besitzt«, raunte Sophia Lydia zu.

»Weil die meisten unserer Patienten sich schon besser fühlen, sobald sie mit ihm gesprochen haben?«

»Das Geheimnis ist wohl, dass er ihnen auch zuhört, ich meine, wirklich zuhört. Er nimmt sie und ihre Beschwerden ernst, und das ist oft der erste Schritt zur Heilung.«

»Die Psyche ist eben eine starke Macht.«

»Ohne Zweifel«, stimmte Sophia Lydia zu.

Ein paar Minuten später kam Daniel in die Praxis. Lydia bat ihn, zuerst nach Barbara zu sehen, um ihr die Angst zu nehmen, sie hätte sich mit dem Hantavirus angesteckt.

»Wie lange leiden Sie schon unter dieser Übelkeit?«, wollte Daniel wissen, als Barbara ihm kurz darauf am Schreibtisch in seinem Sprechzimmer gegenübersaß.

»Seit etwa vierzehn Tagen, so lange ist auch Georg von seiner Reise zurück.«

»Ich denke nicht, dass Sie sich bei ihm angesteckt haben, aber wir werden ganz sicher gehen. Wir schicken eine Blutprobe ins Labor«, sagte Daniel.

»Kann ich denn heute zur Arbeit?«

»Wenn Sie sich gut fühlen, spricht nichts dagegen.«

»Wann kann ich wegen der Laborergebnisse anrufen?«

»Morgen ab zehn Uhr.«

»Danke, Doktor Norden, auch dafür, dass Sie Georg vor einer falschen Behandlung bewahrt haben. Ohne Ihre Diagnose hätte es schlecht für ihn ausgehen können, haben die Ärzte im Krankenhaus gesagt.« Auch wenn das mit Georg vorbei war, würde sie nicht ignorieren, was der junge Arzt für ihn getan hatte.

»Manchmal ist eben Teamarbeit gefragt, um die richtige Diagnose zu stellen. Ich habe Herrn Bogners Fall mit einem guten Freund besprochen. Er war es, der die richtige Idee hatte, die dann zur Diagnose Hantavirus führte.« Daniel lag nichts daran, sich als Helden feiern zu lassen, erst recht nicht, wenn es ihm nicht zustand.

»Wie Sie gerade schon sagten, manchmal ist Teamarbeit gefragt, und ganz offensichtlich haben Sie ein gutes Team«, entgegnete Barbara lächelnd.

»Ja, das habe ich«, stimmte Daniel ihr zu, wobei er Sophia und Lydia zuerst nennen würde, wenn es um sein Team ging. »Frau Brand kommt gleich zu dir. Ich brauche ein großes Blutbild und eine Harnuntersuchung«, bat er Sophia, die sich meldete, als er gleich darauf am Empfangstresen anrief.

»Alle Teststreifen?«

»Ja, bitte«, sagte Daniel.

»Geht in Ordnung, ich kümmere mich darum«, antwortete Sophia.

Während Barbara im Labor bei Sophia war, kümmerte sich Daniel um Theo Michels Beschwerden. Theo Michel, Ende vierzig, sportlich und stets auf seine Gesundheit bedacht, führte ein Drei Sterne Hotel am Stadtrand. Als gelernter Koch stand er gern selbst hin- und wieder in der Küche des Hotels und kümmerte sich um das Essen der Gäste. Dazu aber musste er vollkommen gesund sein. Da er sich seit zwei Tagen ein wenig matt fühlte, wollte er sich von Daniel durchchecken lassen.

»Ich kann so erst einmal nichts feststellen, Herr Michels«, sagte Daniel, nachdem er Theo abgehört, Blutdruck gemessen und ihm in Hals und Ohren geschaut hatte. Möglicherweise fehlt Ihnen ein Vitamin. Wir machen ein Blutbild, dann wissen wir, ob Sie unter einem Mangel leiden«, erklärte Daniel Theo, als er ihm nach der Untersuchung wieder an seinem Schreibtisch gegenübersaß.

»Was könnte mir denn fehlen?«, fragte Theo.

»Möglicherweise Vitamin B12 oder B6, es könnte auch ein Eisenmangel vorliegen oder es fehlt Ihnen Vitamin D3.«

»Das heißt, das könnte meine Müdigkeit und meine Mattigkeit erklären?«

»Ja, durchaus. Einen Moment, bitte«, bat Daniel als sein Telefon läutete. Es war Sophia, die aus dem Labor anrief und ihn bat, noch einmal mit Barbara zu sprechen. Es gab da einen Befund, über den er sie umgehend informieren musste.

Nachdem Theo sich von Daniel verabschiedet hatte und zu Sophia ins Labor ging, kam Barbara wieder zu ihm ins Sprechzimmer. Daniel bat sie, auf einem der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.

»Was ist mit mir, Herr Doktor? Dass ich noch einmal zu Ihnen kommen sollte, bedeutet sicher nichts Gutes«, sagte Barbara. Sophia von Arnsfeld hatte auf einmal so geheimnisvoll getan, als sie ihr sagte, dass Doktor Norden nach der Blutentnahme mit ihr sprechen wollte. Sie hatte vermutlich etwas an ihr entdeckt, das auf eine bösartige Krankheit hinwies.

»Sie müssen sich keine Sorgen machen, Frau Brand. Ich habe keine schlechte Nachricht für Sie, im Gegenteil«, entgegnete Daniel lächelnd.

»Im Gegenteil?«, fragte Barbara und sah ihn verwundert an.

»Frau Brand, Sie sind schwanger«, sagte Daniel.

»Ich bekomme ein Kind?«

»Ja, Sie bekommen ein Kind.«

»Deshalb ist mir ständig übel.«

»Vermutlich«, sagte Daniel.

»Aber Fieber gehört nicht zu dieser Übelkeit oder?«

»Nein, es könnte sein, dass Sie sich einen leichten Infekt eingefangen haben oder in den letzten Tagen einfach zu viel Stress hatten.«

»Das wäre gut möglich, die letzten Tage waren ein bisschen aufregend.«

»Ich habe heute Morgen mit der Klinik telefoniert, um Herrn Bogner müssen Sie sich keine Sorgen mehr machen. Er hat das Schlimmste überstanden. Er wird wieder gesund«, versicherte Daniel seiner Patientin.

»Ja, ich weiß«, sagte Barbara, während sie Daniels Blick auswich.

»Ich bin sicher, dass er noch schneller gesund wird, wenn Sie ihm die Neuigkeit erzählen.« Daniel war davon ausgegangen, dass Barbara sich freuen würde, wenn sie erfuhr, dass sie ein Kind erwartete. Georg und sie schienen ein glückliches Paar zu sein. Aber Barbara sah in diesem Moment gar nicht so glücklich aus. »Ist etwas passiert?«, fragte er, als sie sich ihm wieder zuwandte und er die Tränen in ihren Augen sah.

»Ich denke, ich habe mich geirrt, Georg und ich sind wohl doch nicht füreinander bestimmt. Aber egal, ich werde mich schon damit abfinden. Vielen Dank, Doktor Norden, ich gehe dann mal wieder«, verabschiedete sich Barbara von ihm.

»Sollte etwas mit dem Blutbild nicht in Ordnung sein, melden wir uns bei Ihnen. Ansonsten melden Sie sich, falls das Fieber länger anhält oder Sie noch andere Beschwerden bekommen.«

»Das mache ich, vielen Dank, Herr Doktor.«

»Haben Sie jemanden zum Reden?«, fragte Daniel mitfühlend, als er sie zur Tür begleitete.

»Ich muss nicht allein sein, wenn ich das nicht will, aber ich muss zunächst selbst begreifen, was ich gerade erfahren habe.«

»Sicher, das verstehe ich, aber besorgen Sie sich bitte zeitnah einen Termin bei Ihrer Gynäkologin«, bat Daniel sie und hielt ihr die Tür auf.

»Ich werde mich gleich morgen um einen Termin kümmern«, versprach sie ihm.

Hoffentlich renkt sich das zwischen den beiden wieder ein, dachte er, als er Barbara noch kurz nachschaute, bevor er die Tür des Sprechzimmers schloss. So wie er Georg und Barbara kennengelernt hatte, passten sie doch wirklich gut zusammen.

*

»Was war mit Frau Brand, sie sah so traurig aus, als sie die Praxis verließ?«, fragte Sophia, als sie und Lydia sich nach der Vormittagssprechstunde mit Daniel auf eine Tasse Kaffee in der Küche trafen, bevor sie sich in die Mittagspause verabschiedeten.

»Ich denke auch, diese Reaktion passt so gar nicht zu der freudigen Nachricht, die sie heute erhalten hat«, sagte Lydia.

»Zwischen ihr und ihrem Freund gibt es wohl Ärger«, klärte Daniel die beiden über Barbaras Gemütszustand auf.

»Welche Art Ärger?«

»Ich habe Sie nicht danach gefragt. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass sie darüber reden wollte.«

»Aber der Mann liegt im Krankenhaus und ist gerade erst aus dem Koma aufgewacht. Was kann er schon groß angestellt haben? Da fällt mir im Moment gar nichts dazu ein«, stellte Lydia fest.

»Vielleicht hat er etwas getan, was schon länger zurückliegt, und als er krank war, war es nicht so wichtig für sie«, sagte Sophia.

»Durch die Schwangerschaft ist es offensichtlich wieder wichtig.«

»Das könnte daran liegen, dass ihre Lebensplanung mit einem Kind eine völlig andere ist«, entgegnete Sophia nachdenklich.

»Ein Kind verändert eben alles, erst recht zwei Kinder, richtig, Daniel?«, wandte sich Lydia Daniel lächelnd zu.

»Ja, das ist richtig, und diese Veränderung ist großartig. Ich freue mich über jede Sekunde, die ich mit meiner Familie verbringe.«

»Plant ihr eigentlich noch weitere Kinder?«, fragte Sophia.

»Im Moment sind wir ausgesprochen zufrieden. Also dann, bis später«, verabschiedete sich Daniel von den beiden und verließ die Küche.

»Und wie verbringen wir beide die Mittagspause? Thomas geht heute mit seinen Angestellten essen«, sagte Lydia.

»Meine Mutter trifft sich mit einer Freundin in der Stadt, und Markus ist den ganzen Tag im Gericht.«

»Was hältst du davon, wenn wir uns etwas vom Inder holen und die Mittagspause an der Isar verbringen?«, fragte Lydia.

»Guter Vorschlag, ich bin dabei«, sagte Sophia.

Das indische Restaurant, in dem sie sich hin und wieder versorgten, war gegenüber der U-Bahnstation fünf Minuten von der Praxis entfernt. Es hatte nur ein paar Tische, die meisten Kunden kamen, um das Essen mit nach Hause oder ins Büro zu nehmen. Lydia und Sophia entschieden sich für ein vegetarisches Gericht mit Tofu und Gemüse, ließen es sich in eine Schale mit Deckel einpacken und gingen zum Flussufer. Es war ein angenehm warmer Spätsommertag, ein paar Schäfchenwolken zogen über den blauen Himmel, und die Sonne ließ das Wasser glitzern, die besten Voraussetzungen, um für eine Weile abzuschalten.

»Sieh mal, das ist doch Frau Brand«, machte Sophia Lydia auf die junge Frau in der Jeans und dem rosafarbenen T-Shirt aufmerksam, die allein auf einer Bank am Ufer saß und auf die weiße Sandbank starrte, die in der Mitte des Flusses aus dem Wasser herausragte.

»Sollen wir sie fragen, wie es ihr geht?«

»Ja, ich denke schon. Nach dem, was Daniel erzählt hat, könnte sie jemanden zum Reden brauchen.«

»Gut, dann komm«, sagte Lydia. »Hallo, Frau Brand, dürfen wir uns zu Ihnen setzen?«, fragte sie, als sie und Sophia die Bank erreichten und Barbara aufschaute.

»Sicher«, antwortete Barbara und rutschte ein Stück zur Seite, damit die beiden nebeneinander Platz hatten.

»Haben Sie schon etwas gegessen?«, fragte Sophia.

»Ich habe keinen Hunger, lassen Sie sich Ihr Essen schmecken«, sagte Barbara lächelnd.

»Haben Sie noch erhöhte Temperatur?«, wollte Sophia wissen.

»Das weiß ich nicht. Ich war nach meinem Besuch in Ihrer Praxis noch nicht zu Hause. Ich habe mit meiner Chefin telefoniert und ihr gesagt, dass es mir nicht gutgeht. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken«, antwortete Barbara, während sie mit den Händen die Kante der Bank umfasste und auf den sandigen Boden der Uferpromenade schaute.

»Was ist denn passiert?«, fragte Sophia mitfühlend.

»Ich hatte gehofft, dass Georg endlich der richtige Mann für mich ist, dass wir unser Leben zusammen verbringen könnten.«

»Und so wird es nicht kommen?«, fragte Lydia.

»Nein, ich denke nicht. Georg war schon einmal verheiratet. Seine Exfrau ist wieder aufgetaucht, er will wohl wieder mit ihr zusammen sein«, sagte Barbara und dabei liefen ihr die Tränen über das Gesicht.

»Sind Sie sicher? Hat er Ihnen das so direkt gesagt?«, fragte Sophia.

»Nein, er hat mir gar nichts gesagt. Ich bin seiner Exfrau gestern in der Klinik begegnet. Georg war zu einer Untersuchung, und sie wartete in seinem Zimmer auf ihn«, sagte Barbara und erzählte den beiden von ihrer Begegnung mit Irina.

»Wie lange hat er denn schon wieder Kontakt mit seiner Exfrau?«, fragte Sophia, nachdem Barbara ihnen auch von dem Mitschnitt des Telefongesprächs erzählt hatte.

»In den letzten vierzehn Tagen haben sie oft miteinander telefoniert. Was davor war, weiß ich nicht, und ich will es auch gar nicht wissen. Es würde mir noch mehr wehtun, wenn ich erfahren müsste, dass sie sich schon länger wieder treffen.«

»Es tut mir sehr leid für Sie«, sagte Sophia mitfühlend.

»Wenn ich das richtig verstehe, haben Sie bisher noch nicht mit Ihrem Mann über ihn und seine Exfrau gesprochen«, stellte Lydia fest.

»Nein, das werde ich auch nicht mehr tun. Ich werde in den nächsten Tagen meine Sachen packen und erst einmal zu einer Freundin ziehen.«

»Bevor Sie das tun, sollten Sie mit Georg sprechen«, riet ihr Lydia.

»Ich glaube nicht, dass ich das will.«

»Vielleicht ist alles nur ein Missverständnis.«

»Nein, sicher nicht.«

»Lieben Sie Georg?«, fragte Lydia.

»Ich wollte mein Leben mit ihm verbringen. Ja, ich liebe ihn«, antwortete Barbara.

»Dann sollten Sie ihn nicht einfach so aufgeben.«

»Er hat sich bereits entschieden.«

»Thomas, mein Freund, hatte sich von mir getrennt, kurz bevor wir in eine gemeinsame Wohnung ziehen wollten. Ich dachte auch zuerst, das war es, aber dann habe ich mich entschlossen, um ihn zu kämpfen«, erzählte ihr Lydia.

»Warum hatte er sich von Ihnen getrennt?«, wollte Barbara wissen.

»Er wurde bei einem Feuerwehreinsatz verletzt und saß im Rollstuhl. Er dachte, dieser Zustand sei endgültig und wollte mir ein Leben an seiner Seite nicht zumuten. Ich habe mich nicht wegschicken lassen, und letztendlich wurde er wieder gesund, und inzwischen leben wir zusammen.«

»Er hatte aber keine andere Frau, die sie loswerden wollte.«

»Nein, das nicht, was ich aber damit sagen will, manchmal glauben wir nur, etwas zu wissen, aber es ist nicht unbedingt die Wahrheit, die dahinter steckt.«

»Was soll ich tun? Soll ich Georg sagen, dass Irina ihm nicht gut tut?«

»Ja, sollten Sie«, sagte Lydia.

»Gute Idee«, stimmte Sophia Lydia zu.

»Ich wüsste nicht, wie ich das anstellen sollte. Ich weiß so gut wie nichts über sie, abgesehen davon, dass sie eine ungewöhnlich schöne Frau ist. In dieser Beziehung kann ich so gar nicht mit ihr mithalten«, seufzte Barbara.

»Das stimmt sicher nicht, und das wissen Sie auch«, sagte Lydia. Das kurze dunkle Haar, die mandelförmigen hellbraunen Augen, die hohen Wangenknochen, Barbara war eine hübsche Frau, auch wenn sie das im Moment vielleicht nicht so sehen wollte.

»Möglicherweise verbindet die beiden etwas, was stärker ist als alles, was ihn mit mir verbindet.«

»Wollen Sie Georg wirklich einfach so gehen lassen?«, fragte Sophia.

»Nein, eigentlich nicht«, gab Barbara zu. »Aber ich will auch nicht, dass er nur wegen unseres Kindes bei mir bleibt, deshalb werde ich ihm erst einmal nichts von meiner Schwangerschaft erzählen.«

»Das verstehe ich«, pflichtete Lydia ihr bei.

»Sie sagten, dass Sie nicht viel über Georgs Exfrau wissen«, wandte sich Sophia Barbara zu.

»Ich kenne ihren Namen, ich weiß, dass sie für eine Modezeitschrift arbeitet und dass sie in den letzten beiden Jahren in Graz gelebt hat.«

»Das ist doch schon Einiges«, sagte Sophia.

»Aber was soll ich damit anfangen?«, wunderte sich Barbara.

»Das sind genug Informationen, um im Internet ein paar Nachforschungen anzustellen.«

»Ich weiß nicht wirklich, nach was ich da suchen soll, jedenfalls im Moment nicht. Ich hätte wohl doch besser nach Hause gehen sollen«, sagte Barbara, als sie sich an die Stirn fasste, die sich wieder ganz warm anfühlte.

»Ich denke auch, Sie sollten sich ein bisschen hinlegen«, stellte Lydia fest, als sie Barbaras Stirn berührte.

»Dann gehe ich jetzt, ich danke Ihnen fürs Zuhören«, verabschiedete sich Barbara von Lydia und Sophia.

»Hat Irina inzwischen einen anderen Nachnamen, oder heißt sie noch Bogner?«, fragte Lydia.

»Sie hat Georgs Namen behalten.«

»Wie wäre es, wenn Sophia und ich versuchen würden, etwas über diese Frau herauszufinden? Wäre Ihnen das recht?«, fragte Lydia.

»Sicher, wenn Sie sich diese Arbeit machen wollen.«

»Wie ich das sehe, brauchen Sie im Moment ein bisschen Hilfe.«

»Könnte schon sein«, gab Barbara zu.

»Wissen Sie was, wir begleiten Sie nach Hause«, sagte Sophia und erhob sich von der Bank, als Lydia nickte.

»Sie müssen Ihre Mittagspause nicht für mich opfern.«

»Es ist kein Opfer, wir machen nur einen kleinen Spaziergang nach dem Mittagessen«, erklärte ihr Lydia lächelnd.

*

»Was genau hoffst du eigentlich über Irina Bogner zu finden?«, wollte Sophia von Lydia wissen, als sie wieder zurück in der Praxis waren, nachdem sie Barbara nach Hause gebracht hatten.

»So genau weiß ich das auch noch nicht, aber irgendwie glaube ich nicht, dass Georg Bogner nicht mehr mit Barbara zusammen sein will. Die beiden wirkten wie ein glückliches Paar.«

»Gut, dann treffen wir uns heute Abend und recherchieren gemeinsam«, schlug Sophia vor.

»Ich dachte, wir ziehen noch eine Expertin hinzu.«

»Du denkst an Ophelia, nehme ich an.«

»Richtig, ich rufe sie gleich mal an«, sagte Lydia und rief Ophelias Handynummer in ihrem Telefon auf. »Ophelia, Sophia und ich könnten deine Hilfe bei einer Internetrecherche gebrauchen. Hättest du heute Abend nach der Sprechstunde Zeit?«, fragte sie, als das Mädchen sich meldete.

»Aber ja, kommt nach der Sprechstunde zu mir. Ich bin da«, sagte Ophelia.

Als Daniel zehn Minuten später zur Nachmittagssprechstunde in die Praxis kam, wusste er schon von ihrer Verabredung mit Ophelia. »Olivia lässt euch ausrichten, dass sie euch für das Abendessen mit einplant«, ließ er die beiden wissen.

»Das ist lieb, vielen Dank«, bedankte sich Lydia. »Wir recherchieren übrigens nicht für uns, sondern für Frau Brand«, sagte sie und erzählte Daniel von ihrer Begegnung mit Barbara.

»Wenn es im Netz ein Geheimnis über Herrn Bogners Ex zu entdecken gibt, wird Ophelia es finden«, versicherte ihnen Daniel und nickte den beiden älteren Frauen freundlich zu, die in diesem Moment in die Praxis kamen. Beide trugen rostrote Dirndl und eine Brille mit dunkelrotem Rahmen.

»Mei, der Herr Doktor, immer ein nettes Wort auf den Lippen, auch für seine fleißigen Mitarbeiterinnen«, stellte eine der beiden Frauen fest, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen.

»So ist er halt, Frau Wiesenberg«, sagte Lydia.

»Gut, dass er so ist«, erklärte ihre Begleiterin.

»Was können wir für Sie tun, Frau Wiesenberg und Frau Wiesenberg?«, fragte Sophia die Zwillinge Mechthild und Margot Wiesenberg.

»Mechthild hat sich gestern bei der Gartenarbeit verletzt. Es wär schön, wenn der Herr Doktor sich die Verletzung einmal ansehen würd«, antwortete Margot für ihre Schwester.

»Sicher, das macht er, nehmen Sie im Wartezimmer Platz«, bat Sophia und trug Frau Wiesenberg in die Patientenliste für die Nachmittagssprechstunde ein.

»Bisher sieht alles nach einem ruhigen Nachmittag aus«, stellte Sophia fest, nachdem auch die Patienten, die nach den Wiesenberg Zwillingen eintrafen, nur kleinere Wehwehchen hatten.

»Falls es so bleibt, könnten wir pünktlich Feierabend machen.«

»Und hätten mehr Zeit für unsere Recherche«, sagte Sophia.

Ihr Wunsch, einmal pünktlich die Praxis zu verlassen, erfüllte sich an diesem Nachmittag. Frau Wiesenbergs Verletzung stellte sich als harmloser Kratzer heraus, und auch die anderen Patienten, die Daniels Hilfe suchten, hatten nichts Ernsthaftes. Nachdem die letzten Patienten gegangen waren, begleiteten Sophia und Lydia Daniel hinüber in seine Wohnung.

Olivia und Ophelia hatten bereits den Tisch gedeckt, und es duftete nach Oregano und Basilikum. Ophelia hatte sich an diesem Abend um das Essen gekümmert. Es gab Auberginen/Tomatenauflauf, Gemüsebuletten und einen gemischten Salat. »Meine Kochkünste sind noch ziemlich eingeschränkt, aber ich hoffe, dass es euch trotzdem schmeckt«, sagte das Mädchen, als sie alle am Esstisch saßen.

»Also mir schmeckt es hervorragend«, antwortete Lydia, nachdem sie von dem Auflauf versucht hatte.

»Mir auch«, schloss sich Sophia sofort ihrer Freundin an.

Und natürlich wurde Ophelia auch von Olivia und Daniel gelobt, nicht nur, weil sie das Mädchen nicht enttäuschen wollten, es schmeckte ihnen wirklich ganz vorzüglich.

»Bei euch ist es immer so gemütlich«, erklärte Lydia nach dem Essen, als sie und Sophia Ophelia halfen, den Tisch abzuräumen und das Geschirr in die Spülmaschine zu stellen.

»Wir sind eben die perfekte Familie. Eltern, Teenager, Babys und ein Haustier«, entgegnete Ophelia lachend.

»Ja, das ist es wohl«, gab Lydia ihr recht und schaute ins Wohnzimmer, dessen Schiebetür zur Küche hin geöffnet war.

Oda und Vincent lagen dort umringt von Babyspielzeug auf einer Decke und quietschten und plapperten fröhlich vor sich her. Ortrud lag auf dem Sofa und schlief. Hin und wieder öffnete sie die Augen und schaute auf die Zwillinge, so als wollte sie sich vergewissern, dass den beiden keine Gefahr drohte.

»Ihr könntet doch auch so eine Familie haben«, sagte Ophelia und sah zuerst Lydia und danach Sophia an.

»Ja, könnten wir, und irgendwann werden wir auch damit beginnen, zumindest, werde ich das tun«, sagte Lydia.

»Ich möchte auch Kinder«, schloss sich Sophia ihrer Freundin an, »aber nicht gleich morgen«, fügte sie lächelnd hinzu.

Nachdem die Küche aufgeräumt war, holte Ophelia ihren Laptop aus ihrem Zimmer und setzte sich an die Längsseite des Tisches. Lydia nahm rechts von ihr und Sophia links von ihr Platz. Während die drei nach Informationen über Irina Bogner suchten, gaben Olivia und Daniel den Zwillingen ihr abendliches Fläschchen. Ortrud blieb erst eine Weile auf dem Sofa im Wohnzimmer und schaute zu, wie die Zwillinge gefüttert wurden. Nach einer Weile ging sie in die Küche, sprang auf Ophelias Schoss und sah auf den Bildschirm des Laptops.

»Die Dame besitzt eine ausgesprochen weit gestreute Medienpräzens«, stellte Sophia fest, nachdem Ophelia Irina auf allen bekannten Social Media Portalen gefunden hatte.

»Um etwas über sie herauszufinden, könnten wir jetzt ihre Einträge lesen, aber ob sie in diesen Postings wirklich über Dinge spricht, die Barbara weiterhelfen, bezweifle ich«, sagte Lydia.

»Wartet mal, was ist das?« Ophelia hatte die Seite eines kanadischen Wirtschaftsmagazins aufgerufen, das eine Reprotage über das Modemagazin geschrieben hatte, für das Irina als Chefredakteurin arbeitete. Irina wurde in den höchsten Tönen gelobt und es gab auch einige Fotos von ihr. »Ach, sieh mal an«, sagte Ophelia, als sie nach der Verfasserin des Berichtes suchte, auf deren Facebook Seite geriet und sie private Fotos von ihr und Irina fanden.

»Jetzt wissen wir, warum sie in diesem Bericht zu einer Art Ikone der Modewelt ausgelobt wird«, stellte Sophia fest.

»Und hier, was ist das?«, fragte Lydia und tippte auf den Eintrag einer österreichischen Zeitung. »Die Firma ihres Freundes, also der, wegen dem sie Georg verlassen hat, hat vor ein paar Wochen Konkurs angemeldet. Und die gute Irina hat sich zeitgleich von ihm getrennt«, stellte sie fest, nachdem sie den Artikel überflogen hatte.

»So wie sie sich präsentiert, kann sie mit einem Mann, der gerade eine Pleite hingelegt hat, vermutlich nichts anfangen«, sagte Sophia und schenkte sich etwas von dem Grapefruitsaft nach, den Ophelia in einer Glaskaraffe für sie alle auf den Tisch gestellt hatte.

»Versuchen wir es doch mal mit Irina und Georg«, sagte Ophelia und gab die Namen der beiden in Anführungsstriche gesetzt in die Suchzeile des Suchportals ein.

»Moment, was ist das?« Lydia deutete auf einen weiteren Eintrag des kanadischen Wirtschaftsmagazins, das den Bericht über Irina veröffentlicht hatte.

»Wow, dieser Georg scheint ja äußerst erfolgreich zu sein«, stellte Ophelia fest, nachdem sie den Artikel geöffnet hatte.

»Was habt ihr gefunden?«, fragte Daniel, der mit Olivia und den Zwillingen gerade hinauf ins Kinderzimmer gehen wollte, um Oda und Vincent schlafen zu legen.

»Georg Bogner soll in das Management eines der größten kanadischen Bauunternehmen berufen werden«, antwortete ihm Lydia.

»Sagt wer?«, fragte Daniel.

»Eine Kurznachricht in einem Wirtschaftsmagazin. Der vollständige Artikel erscheint nächste Woche.«

»Das klingt nach einer großen Veränderung.«

»Ja, allerdings. Gute Nacht, Oda, gute Nacht, Vincent!«, rief Lydia Olivia und Daniel nach, die mit den Zwillingen auf den Armen die Treppe hinaufgingen.

»Ja, gute Nacht, Geschwister!«, rief Ophelia, und auch Sophia wünschte den Zwillingen eine gute Nacht.

»Dieser berufliche Aufstieg bedeutet doch mit Sicherheit auch einen gesellschaftlichen Aufstieg, und die Vergütung wird sicher ordentlich sein, sehr ordentlich sogar, nehme ich an«, sagte Lydia.

»Vielleicht ist das der Grund, warum die gute Irina plötzlich wieder so ein großes Interesse an Georg verspürt«, entgegnete Sophia nachdenklich.

»Durchaus möglich«, stimmte Lydia ihr zu. »Aber was ist von dieser Aufnahme zu halten, die sie Barbara vorgespielt hat?«

»Welche Aufnahme?«, fragte Ophelia.

»Es geht um ein aufgezeichnetes Telefongespräch zwischen Georg und Irina. Irina hat Barbara einen Ausschnitt davon vorgespielt«, sagte Sophia und erzählte Ophelia, was ihnen Barbara erzählt hatte.

»Es war nur der Ausschnitt eines Gespräches, sie weiß doch gar nicht, um was es in diesem Gespräch wirklich ging. Aufzeichnungen haben doch den großen Vorteil, andere nur wissen zu lassen, was man sie wissen lassen will«, gab Ophelia zu bedenken.

»Du hast recht, Schatz, das könnte diese Angelegenheit in einem anderen Licht erscheinen lassen«, stimmte Lydia dem Mädchen zu. »Danke für deine Hilfe.«

»Ja, vielen Dank, du Heldin des Internets«, sagte Sophia lächelnd und nahm Ophelia liebevoll in den Arm.

»Das war doch nur ein kleiner Suchauftrag. Wir mussten nicht einmal eine Seite hacken. Seid ihr denn sicher, dass Georgs Frau noch nichts vom beruflichen Aufstieg ihres Freundes weiß?«, fragte Ophelia.

»Ich denke nicht, dass sie es weiß«, sagte Sophia.

»Wir sollten Barbara anrufen«, schlug Lydia vor.

»Besser wäre es, wenn wir zu ihr fahren würden, dann könnten wir uns gleich davon überzeugen, ob es ihr gutgeht.«

»In Ordnung, fahren wir zu ihr«, stimmte Lydia Sophia zu. »Grüße Daniel und Olivia von uns, Süße«, verabschiedete sie sich von Ophelia und hauchte ihr einen Kuss auf das Haar.

»Viel Glück!«, rief Ophelia den beiden nach. »Was denkst du, haben wir gerade eine Beziehung gerettet?«, wandte sie sich Ortrud zu, die noch immer auf ihrem Schoss lag. »Ich nehme das als ein hoffnungsvolles Ja«, stellte sie fest und kraulte Ortruds Köpfchen, als sie laut miaute.

*

Barbara hatte den ganzen Nachmittag auf dem Sofa verbracht, während der Fernsehapparat lief, das Programm sie aber gar nicht interessierte. Sie wollte einfach nur, dass es nicht so still in der Wohnung war, so lange sie die Augen geschlossen hatte und versuchte, zu begreifen, dass ihre gemeinsame Zeit mit Georg vorbei war. Seine Anrufe vom Festnetzanschluss seines Krankenzimmers ignorierte sie, so wie sie es schon am Tag zuvor getan hatte. Nie wieder würde sie einem Mann vertrauen, das war endgültig vorbei.

Als es gegen acht Uhr an ihrer Haustür läutete, wollte sie zunächst nicht aufmachen, entschied sich dann aber, wenigstens nachzufragen, wer zu ihr wollte. Vielleicht war es ja ein Nachbar, der Hilfe brauchte. »Hallo, wer ist da?«, fragte sie, als sie den Hörer der Sprechanlage abnahm.

»Hallo, Frau Brand, hier ist Lydia Seeger. Verzeihen Sie bitte, dass wir so unangemeldet vor der Tür stehen, aber Frau von Arnsberg und ich würden gern mit Ihnen sprechen. Dürfen wir raufkommen?«, fragte Lydia.

»Zweiter Stock«, sagte Barbara und drückte auf den Türöffner. Was auch immer die beiden ihr sagen wollten, es musste etwas von Bedeutung sein, sonst würden sie sie nicht um diese Uhrzeit aufsuchen. Bevor sie die Wohnungstür öffnete, schaute sie kurz in den Spiegel neben der Kommode. In ihrer hellgrauen Jogginghose, dem weißen T-Shirt und dem zerzausten Haar sah sie nicht gerade so aus, als sollte sie Besuch empfangen. So muss es gehen, dachte sie und ordnete nur kurz ihr Haar mit den Händen. »Gehen wir ins Wohnzimmer«, bat Barbara die beiden, ihr zu folgen, nachdem sie ihnen die Wohnungstür geöffnet hatte. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte sie.

»Nein, vielen Dank, aber ein Computer wäre hilfreich. Wir möchten Ihnen gern etwas zeigen«, erklärte ihr Lydia, nachdem sie und Sophia auf dem Sofa Platz genommen hatten.

»Was wollen Sie mir zeigen?«, fragte Barbara, während sie ihren Laptop vom Schreibtisch holte und ihn auf den Tisch vor dem Sofa stellte.

»Setzen Sie sich zu uns«, bat Lydia und deutete auf den Platz neben sich.

»Jetzt bin ich aber echt gespannt«, sagte Barbara, und auf einmal fühlte sie sich nicht mehr ganz so niedergeschlagen. Die beiden hatten es mit ihrem Besuch geschafft, sie zumindest vorübergehend aus ihrer Lethargie zu befreien.

»Möglicherweise ist die Exfrau Ihres Freundes deshalb wieder aufgetaucht«, sagte Sophia, die inzwischen den Link mit der Kurznachricht über die neue Leitung des internationalen Bauunternehmens geöffnet hatte.

»Davon weiß ich ja gar nichts«, stellte Barbara erstaunt fest, nachdem sie gelesen hatte, um was es geht.

»Sie haben uns doch erzählt, dass Georg mit Ihnen über ihre gemeinsame Zukunft sprechen wollte. Könnte er damit nicht diese berufliche Veränderung gemeint haben?«, fragte Lydia.

»Nachdem, was ich von Irina weiß, geht es wohl um die gemeinsame Zukunft mit ihr und nicht mit mir.«

»Dieser Gesprächsausschnitt, den sie gehört haben, könnte auch aus dem Zusammenhang gerissen sein«, gab Lydia zu bedenken.

»Ich wüsste nicht, welcher Zusammenhang das sein sollte.«

»Wie ich Ihnen heute Mittag schon erzählt habe, ohne ein klärendes Gespräch sollte sich niemand von dem Menschen trennen, den er liebt.«

»Warum denken Sie, dass Irina wegen Georgs beruflichen Aufstiegs zu ihm zurückkehren will? Erstens verdient sie selbst ganz gut, und zweitens besitzt der Mann, mit dem sie bisher zusammenlebte, ein gutgehendes Immobilienunternehmen.«

»Er besaß es. Einige Fehlinvestitionen haben ihn dazu gezwungen, Konkurs anzumelden«, erklärte ihr Sophia und rief den Zeitungsbericht auf, der über diesen Konkurs berichtete.

»Diese vielen Telefonate zwischen den beiden, von denen Sie erzählt haben, vielleicht hat Irina vorgegeben, in dieser Situation einen guten Freund zu brauchen, der ihr zuhört. Und als Georg darauf einging, ist sie davon ausgegangen, dass sie ihn wieder ganz für sich gewinnen kann.«

»Er kann frei entscheiden«, entgegnete Barbara.

»Ja, das kann er, aber darum geht es jetzt gar nicht«, sagte Sophia.

»Um was geht es dann?«, fragte Barbara.

»Es geht darum, ob Sie ihm wieder uneingeschränkt vertrauen.«

»Im Moment kann ich es mir noch nicht vorstellen«, gab Barbara zu. »Fakt ist, dass er diese Telefonate mit Irina mit keinem Wort erwähnt hat. Was soll ich davon halten?«

»Bitten Sie ihn um eine Erklärung«, riet ihr Lydia.

»Er steht hinter meinem Rücken in Kontakt mit seiner Exfrau, das reicht mir eigentlich schon als Erklärung«, entgegnete Barbara und sah nachdenklich aus dem Fenster.

»Wollen Sie Georg nicht wenigstens von dem Baby erzählen, bevor sie sich endgültig von ihm trennen?«, fragte Sophia.

»Ich will nicht, dass er sich dem Kind und mir verpflichtet fühlt.«

»Er sollte sich aber verpflichtet fühlen, es ist sein Kind«, sagte Lydia. »Das ist er, richtig?«, fragte sie, als das Telefon läutete, das neben dem Laptop auf dem Tisch lag. Sie kannte die Nummer der Klinik.

»Ich will aber nicht mit ihm reden, nicht jetzt«, sagte Barbara und drehte das Telefon um, damit sie das Display nicht mehr sehen musste. »Aber ich danke Ihnen beiden, dass Sie sich so für Georg und mich einsetzen. Sie haben Ihre Freizeit geopfert, um uns zu helfen. Ich weiß gar nicht, wie ich mich überhaupt dafür bedanken kann.«

»Genau wie unser Boss wollen auch wir, dass es unseren Patienten gutgeht. Und in Ihrem Fall sind wir beide einfach auch der Meinung, dass Sie und Georg wirklich gut zueinander passen«, erklärte Lydia lächelnd.

»Georg scheint da wohl anderer Meinung.«

»Wie Sie gerade sagten, es scheint so zu sein, aber ist es auch wirklich so?«, fragte Sophia und fing Barbaras Blick auf.

»Gut, ich werde morgen mit ihm reden, aber nicht am Telefon. Ich will sehen, wie er reagiert, wenn ich ihn mit dem konfrontiere, was ich inzwischen weiß.«

»Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen nach diesem Gespräch morgen besser geht«, sagte Lydia.

»Das wünsche auch ich Ihnen«, schloss sich Sophia ihrer Freundin an.

Ein paar Minuten später verabschiedeten sich Lydia und Sophia von Barbara und ließen sie wieder allein. Sie hofften beide, dass Barbara bei ihrem Entschluss blieb, am nächsten Tag mit Georg zu sprechen.

»Wenn sie ihn wirklich liebt, dann wird sie es tun«, versicherte Lydia Sophia, als sie auf dem Parkstreifen vor dem Haus in ihr Auto stiegen.

»Ich würde Markus jedenfalls nicht einfach so aufgeben, egal, wie viele Irinas bei ihm auftauchen würden«, sagte Sophia, als sie sich auf den Beifahrersitz des schwarzen Mini Coopers setzte.

»Nein, du würdest ihn nicht aufgeben, genauso wenig wie ich Thomas aufgeben würde. Was hältst du davon, wenn wir zum Tennisclub fahren? Die beiden sind doch heute zum Tennis verabredet.«

»Wollen wir uns davon überzeugen, dass dort keine Irinas sind?«, fragte Sophia lachend.

»Ja, das sollten wir unbedingt tun«, entgegnete Lydia.

Als sie wenig später im Tennisclub eintrafen, hatten Markus und Thomas gerade ihre erste Partie beendet. So herzlich und liebevoll, wie sie ihre Freundinnen in der Öffentlichkeit begrüßten, mussten sich Lydia und Sophia um ihre Liebe keine Sorgen machen.

*

Barbara fühlte sich wieder müde und abgeschlagen, als sie am nächsten Morgen auf dem Sofa aufwachte. Wieder hatten sie Albträume geplagt, und sie hatte äußerst schlecht geschlafen. Aber sie hatte kein Fieber mehr, deshalb wollte sie auch wieder zur Arbeit gehen. Wenigstens war sie dann für ein paar Stunden von ihrem Kummer abgelenkt.

Sie hatte sich den Wecker auf sieben Uhr gestellt. Falls sie vor der Arbeit noch in die Klinik wollte, um mit Georg zu sprechen, musste sie spätestens um acht Uhr das Haus verlassen. Als sie eine halbe Stunde später in ihrem hellblauen Leinenkleid mit den langen Ärmeln und den dunkelblauen Ballerinas in der Küche stand und an einer Tasse Kaffee nippte, fragte sie sich, ob sie sich diesen Besuch wirklich antun sollte. Aber Lydia und Sophia hatten sich so viel Mühe gegeben, ihre Beziehung zu retten, jetzt sollte auch sie ihren Teil dazu beitragen. Wie es dann letztendlich ausging, würde sie bald wissen.

Um halb neun stellte sie ihr Auto auf dem Parkplatz des Krankenhauses ab. Fünf Minuten später betrat sie die Klinik und stand wenig später vor Georgs Tür. Sie zögerte einen Augenblick, bis sie den Mut aufbrachte, anzuklopfen.

»Ja, bitte!«, hörte sie Georg antworten. »Babs, mein Schatz, wo warst du? Ich habe zwei Tage nichts von dir gehört«, sagte er, als sie die Tür aufschob.

»Ich bin nicht davon ausgegangen, dass du mich vermisst.«

»Wie kommst du denn darauf?«, entgegnete Georg verwundert.

»Im Moment hast du doch offensichtlich mehr Interesse an deiner Exfrau.«

»An Irina?«

»Richtig, an Irina«, sagte Barbara. Er sieht schon fast wieder gesund aus, dachte sie, als sie Georg ansah. Er saß aufrecht im Bett, hatte die Arme auf der Bettdecke ausgestreckt und schien ehrlich verwundert über ihre Eröffnung. »Du telefonierst seit einiger Zeit mit ihr, und vorgestern habe ich sie hier in diesem Zimmer getroffen, als ich dich vor der Arbeit besuchen wollte. Sie hat mir klar gemacht, dass ich hier nicht mehr erwünscht bin.«

»Was hat sie?«, fragte Georg verblüfft und sah Barbara an, die am Fußende seines Bettes stehen geblieben war.

»Sie meinte, dass ihr beide es noch einmal versuchen wollt. Sie hat mir einen Anruf vorgespielt, den sie aufgezeichnet hat. Dass ihre Liebe das größte Geschenk für dich sei, dass du niemals so glücklich warst«, erzählte sie ihm, was sie gehört hatte.

»So etwas habe ich nie zu ihr gesagt. Warum sollte ich das auch tun? Meine Liebe gehört dir, nicht Irina. Das mit ihr ist lange vorbei«, versicherte ihr Georg.

»Für mich stellt sich das aber anders dar.«

»Diese Liebe ist das größte Geschenk, und ich war niemals so glücklich«, wiederholte Georg nachdenklich.

»Das sagte ich doch gerade.«

»Babs, hör zu, das habe ich nicht über sie gesagt, sondern über dich, als ich Irina erzählte, wie glücklich ich mit dir bin«, sagte Georg, als er sich wieder an dieses Gespräch erinnerte, in dessen Verlauf er Irina von Barbara erzählt hatte.

»Lass es gut sein, Georg, zögere den Abschied nicht hinaus. Wenn du nichts mehr von ihr willst, warum telefonierst du dann ständig mit ihr?«

»Ihr Freund hat sich von ihr getrennt, und sie brauchte jemanden zum Reden.«

»Und da sucht sie sich ausgerechnet dich aus?«

»Sie hat wohl gehofft, dass ich ihr einen guten Rat geben könnte, wie sich die Sache wieder einrenken lässt. Mark, ihr Lebenspartner, und ich kennen uns doch schon aus der Schule.«

»Ich dachte, du hättest keinen Kontakt mehr mit ihm, seitdem sie dich wegen ihm verlassen hat.«

»Ich habe ihn seitdem auch weder gesehen noch gesprochen.«

»Weißt du, dass seine Firma in Konkurs gegangen ist und dass es Irina war, die ihn verlassen hat?«

»Nein, das wusste ich nicht. Woher weißt du denn davon?«, wunderte sich Georg.

»Ich habe es gestern erfahren und nicht nur das, es gibt da wohl noch mehr, was du mir bisher verschwiegen hast«, sagte Barbara und erzählte ihm von Lydias und Sophias Besuch am Abend zuvor.

»Ich hatte eine ganz bestimmte Vorstellung davon, in welchem Rahmen ich dir von dieser beruflichen Veränderung erzählen wollte, letztendlich habe ich auch noch gar nicht wirklich zugesagt, weil ich erst mit dir darüber reden wollte. Ich hatte mir das alles so schön ausgemalt, aber jetzt…«

»Das heißt, zwischen dir und Barbara ist wirklich gar nichts passiert, und du planst auch nicht, mich zu verlassen?«

»Ich liebe dich, Babs, ich habe nicht vor, dich zu verlassen.«

»Nein?«

»Nein, komm zu mir, mein Schatz«, bat Georg und streckte die Arme nach ihr aus.

»Du bist ganz sicher, dass du mit mir zusammen sein willst? Ich meine absolut sicher?«, fragte sie ihn erneut, als sie sich zu ihm aufs Bett setzte.

»Aber ja, absolut sicher«, versicherte er ihr und zog sie zärtlich an sich.

»Du willst uns also beide?«, sagte sie leise und sah ihn mit einem geheimnisvollen Lächeln an.

»Euch beide?«

»Ja, uns beide«, sagte sie, umfasste seine Hand und legte sie auf ihren Bauch.

»Wir werden Eltern?«

»So ist es«, flüsterte sie und küsste ihn zärtlich auf die Wange. Ganz offensichtlich hatte sie sich von Irina täuschen lassen. Georg hatte nicht vor, sich von ihr zu trennen, das war ihr jetzt klar. Danke, Lydia und Sophia, dachte sie und schmiegte sich in Georgs Arme.

Ein paar Minuten später klopfte es erneut an Georgs Tür. Es war Irina, die ihr Werk, ihn für sich zu gewinnen, fortsetzen wollte. »Was ist hier los?«, fragte sie und starrte Barbara an.

»Alles ist so, wie es sein sollte. Wir sprechen gerade über unseren Nachwuchs«, sagte Georg.

»Nachwuchs?«

»Die Frau, die ich liebe und die für mich das größte Glück ist, erwartet unser Kind.«

»Du glaubst also wirklich, du könntest mit deiner Bibliothekarin glücklich werden?«

»Mit ihr und unseren Kindern. Leb wohl, Irina.«

»Na dann, wenn du meinst, dass du mit ihr glücklich wirst«, sagte Irina und ließ die Tür hinter sich zufallen.

»Denkst du, sie wird es noch einmal bei dir versuchen?«

»Was auch immer sie in dieser Richtung versuchen würde, sie hätte keinen Erfolg. Und jetzt sollten wir über das sprechen, was ich dir nicht in einem Krankenzimmer sagen wollte.«

»Nein, warte, du hattest einen Plan für dieses Geständnis. Ich kann noch ein paar Tage warten«, sagte sie und betrachtete ihn mit einem liebevollen Blick.

»Wie war es? Wann findet eure Verlobung statt?«, fragte Sandra, Irinas Freundin, die auf dem Parkplatz auf sie gewartet hatte und an der Motorhaube des silberfarbenen Sportwagens lehnte.

»Die Sache hat sich erledigt, er hat sich für den Bücherwurm entschieden.«

»Tut mir leid, aber ich …«

»Ja, ich weiß, du hast es vorher gewusst. Fahren wir zu unserem Fototermin. Georg ist nicht der einzige vermögende und gutaussehende Mann, den es auf dieser Welt gibt«, sagte Irina und setzte sich hinter das Steuer des Sportwagens.

*

Barbara verließ um kurz nach vier am Nachmittag die Bibliothek. Sie fuhr zur Bäckerei Listner, kaufte eine Großpackung von ihren besten Pralinen und brachte sie in die Praxis Norden.

»Das ist nur eine kleine Aufmerksamkeit. Sobald Georg das Krankenhaus verlassen hat, werden wir uns mit einem Abendessen bei allen bedanken, die uns geholfen haben, diese schwierigen Tage zu überstehen«, sagte sie, als sie vor Lydia und Sophia am Empfangstresen stand.

»Sie müssen sich nicht bedanken, Frau Brand, wir haben gern geholfen«, versicherte ihr Sophia.

»Ja, das weiß ich, aber wir möchten es gern. Wir melden uns«, sagte sie, verabschiedete sich von den beiden und verließ die Praxis.

Drei Tage später wurde Georg aus dem Krankenhaus entlassen. Eigentlich hatte er vorgehabt, mit Barbara in die Berge zu fahren, um mit ihr über ihre gemeinsame Zukunft zu sprechen, aber so lange wollte er jetzt nicht mehr warten. Nachdem Barbara ihn aus dem Krankenhaus abgeholt hatte, brachte sie ihn nach Hause und fuhr danach in den Supermarkt. Georg nutzte diese Zeit, die er allein zu Hause war, um einige Vorbereitungen zu treffen.

»Georg, was hast du vor?«, fragte Barbara, als sie mit zwei Einkaufstüten nach Hause kam, das Wohnzimmer abgedunkelt war, auf dem Boden rote Rosenblätter verstreut lagen und auf den Tischen brennende Kerzen standen.

»Ich konnte nicht mehr länger warten«, sagte Georg. Er nahm ihr die beiden Einkaufstüten ab, stellte sie in die Küche, führte Barbara ins Wohnzimmer und umfasste ihre linke Hand. »Barbara Brand, willst du meine Frau werden?«, fragte er sie, als sie inmitten des flackernden Kerzenlichtes standen.

»Ja, Georg, ich will«, antwortete sie, ohne zu zögern.

»Und wärst du auch bereit, mit mir in Kanada ein neues Leben anzufangen?«

»Bibliotheken gibt es dort doch auch.«

»Dann kommst du mit mir?«

»Unser Kind und ich kommen mit dir«, sagte sie und lehnte ihren Kopf an seine Brust, als er sie in seine Arme nahm.

Eine Woche danach luden Barbara und Georg Daniel, Olivia und Ophelia, Lydia und Thomas und Sophia und Markus zum ­Essen zu Adriano, dem italienischen Restaurant in der Fußgängerzone, ein. Als sie gemeinsam an einem großen Tisch saßen, bedankte sich Georg noch einmal bei allen für ihre Hilfe, und danach verkündete er seine Verlobung mit Barbara.

»Dieser Ausgang der Geschichte gefällt mir ausgesprochen gut«, sagte Lydia, und dieser Feststellung stimmten alle ohne Einschränkung zu.

Kelter Media Adventskalender 1

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