Читать книгу Kelter Media Adventskalender 1 - Michaela Dornberg - Страница 21

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Antonia Laurin war an diesem Morgen die Letzte, die das Haus verließ. Sie stand in der Küche und sah sich lächelnd um. Die Kinder hatten sich wirklich selbst übertroffen! Die Küche war über und über mit Bildern, Willkommensgrüßen, Blumengirlanden und Liebeserklärungen dekoriert. Selbst die sechzehnjährigen Zwillinge Kaja und Konstantin, die sich normalerweise viel zu erwachsen für solchen ›Kinderkram‹ fühlten, hatten begeistert mitgemacht.

»Endlich bist du wieder da!«, stand unter einem Bild, das eine strahlende sechsköpfige Familie zeigte. Sie war sicher, dass Kyra, ihre Jüngste, es gemalt hatte.

Auf einem anderen Blatt stand: »Das wurde aber auch Zeit, Simon!« Das konnte nur Kevin, ihr Dreizehnjähriger geschrieben haben. Überall fanden sich solche und ähnliche Sprüche, die die Erleichterung darüber ausdrückten, dass Simon Daume an diesem Tag zu ihnen zurückkehrte.

Kaja hatte bunte Girlanden gebastelt und in der ganzen Küche aufgehängt, Konstantin hatte Fotos gemacht: Chaos in den Kinderzimmern, ein unaufgeräumtes Wohnzimmer mit Staubflusen in den Ecken, eine Küche, die aussah, als hätte der Blitz eingeschlagen, ein Garten, in dem das Unkraut andere Pflanzen überwucherte. Er hatte aber auch kleine Szenen mit seinen Geschwistern gestellt, die allesamt ausdrückten, wie verzweifelt sie ohne ihren ›Haushaltsmanager‹ gewesen waren: Kaja vor ihrem leeren Kleiderschrank, weil sie nicht daran gedacht hatte, rechtzeitig zu waschen. Kyra, die vereinsamt in der Küche vor einem leeren Glas saß – normalerweise kam sie als Erste aus der Schule und bekam von Simon einen frisch gepressten Saft hingestellt. Kevin ausgehungert vor dem leeren Kühlschrank – niemand hatte eingekauft. Konstantin selbst mit einem völlig verkohlten Schnitzel …

Er hatte auch seine Eltern Antonia und Leon eingespannt für seine kleine Fotoserie. Kaja hatte sie beide mit allerlei Hilfsmitteln künstlich altern lassen, ihnen Falten geschminkt und weißen Puder in die Haare gearbeitet, sie hatten zerschlissene Kleidung anziehen – wo war die eigentlich hergekommen? – und grämlich dreinblicken müssen. Das Bild hatte Konstantin mit dem Kommentar versehen: »Unsere Eltern sind vor Kummer über deine Abwesenheit stark gealtert und halten sich nur noch mühsam auf den Beinen.«

Tatsächlich waren sie in der Zeit ohne Simon besser zurechtgekommen als befürchtet, aber eins stimmte: Sie hatten ihn an jedem einzelnen Tag schrecklich vermisst, und es war eine starke Untertreibung, wenn sie sagten, dass sie sich über seine Rückkehr freuten. Eher war es so, dass sie vor Freude völlig aus dem Häuschen waren – und zwar ohne Ausnahme.

Simon Daume führte Familie Laurin den Haushalt, seit Antonia wieder als Kinderärztin arbeitete. In den vergangenen Wochen aber war er in der Kayser-Klinik, die Leon leitete, als Koch eingesprungen.

David Burgmüller, der die Klinik-Küche in kürzester Zeit bekannt und berühmt gemacht hatte, war nämlich in einem Urlaub in Bangkok an einer schweren Lungenentzündung erkrankt und länger als geplant ausgefallen. Sein Küchenteam wäre wohl auch ohne ihn und seine talentierte Frau Lucie eine Zeitlang zumindest einigermaßen zurechtgekommen, aber ein neuer Koch, der sich nicht genug gewürdigt fühlte, hatte versucht, die Arbeit seiner Kolleginnen und Kollegen mit unfairen Mitteln zu torpedieren: Es hatte völlig ver­salzene Speisen gegeben, ausgetrockneten Fisch, faseriges, zähes Fleisch, viel zu süße Desserts. Die Verpflegung war tagelang ungenießbar gewesen.

So hatte Leon Laurin, zunehmend verzweifelt, die Idee gehabt, Simon könnte vielleicht der Retter in der Not sein. Nach anfänglicher entschiedener Ablehnung hatten seine Kinder schließlich zugestimmt, das Kochen in die eigenen Hände zu nehmen und eine Zeitlang auf Simons Kochkunst zu verzichten.

Das Experiment war ein Erfolg gewesen. Simon hatte den zerstörerischen Koch entlarvt und so dafür gesorgt, dass sich das Team der Klinikküche wieder auf seine Stärken besinnen konnte. Er hatte Planung und Einkauf übernommen, ein paar seiner eigenen Rezepte, die nicht zu schwierig für eine Großküche waren, vorgeschlagen, und so war in der Klinikküche bald wieder Ruhe eingekehrt.

Und heute kam er also wieder zu Laurins zurück. Simon war erst zweiundzwanzig Jahre alt, und in jeder Hinsicht ein ungewöhnlicher Mensch: Vor drei Jahren waren kurz nacheinander seine beiden Eltern gestorben, seitdem war er für seine beiden jüngeren Schwestern verantwortlich. Er hatte darum kämpfen müssen, mit ihnen zusammenbleiben zu dürfen, und er hatte sich durchgesetzt. Er war verantwortungsbewusst, liebenswürdig und eben ein unglaublich talentierter Koch. Und nun war er bei Laurins angestellt und würde bei ihnen bleiben, solange er noch für seine Schwestern sorgen musste. Die Arbeit machte ihm Spaß, er lernte viel und durfte in der Küche alles ausprobieren, wonach ihm der Sinn stand. Später wollte er sein eigenes Restaurant eröffnen.

Noch einmal ließ Antonia ihren Blick durch die Küche schweifen. Schade, dass niemand hier war, um Simons Reaktion zu sehen, wenn er kam, aber das ließ sich nicht ändern. Die Kinder waren natürlich in der Schule, Leon war schon früh in die Klinik gefahren, die er nicht nur leitete, sondern in der er auch weiterhin in seinen zwei medizinischen Fachgebieten tätig war, der Gynäkologie und der Chirurgie – und sie selbst musste sich jetzt schleunigst auf den Weg in ihre Praxis machen.

Diese war an die Klinik angeschlossen, sie hatte in Maxi Böhler eine Praxispartnerin gefunden, mit der sie sich vom ersten Augenblick an gut verstanden hatte. Maxi war nur wenige Jahre älter als sie, sie lebte nach ihrer Scheidung allein, ihre Kinder waren bereits erwachsen.

Antonia verließ das Haus. Auf dem Weg zur Praxis wanderten ihre Gedanken von Simon zu Maxi, denn in deren Leben veränderte sich auch gerade einiges, wenn sie das richtig sah. Sie vermutete, dass Maxi sich verliebt hatte, aber sicher war sie nicht. Eine Zeitlang hatte Maxi oft von Filip Mazur gesprochen, aber nun fiel ihr auf, dass schon länger nicht mehr die Rede von ihm gewesen war.

Das wäre schade, dachte Antonia, er scheint ein netter Mann zu sein, aber wenn der Funke nicht überspringt …

*

Maxi Böhler lief langsam durch den Park zur Praxis. Sie war viel zu früh wach geworden, hatte gefrühstückt und war dann losgegangen. Oft fuhr sie mit dem Fahrrad, manchmal auch mit dem Auto, aber heute hatte sie laufen wollen. Sie brauchte frische Luft, und sie musste nachdenken.

Über sich. Und über Filip Mazur. Ihr erstes Zusammentreffen konnte man nur als dramatisch bezeichnen: Er war Wochen zuvor, als Antonia und Leon einen Kurzurlaub in der fränkischen Schweiz verbrachten und sie selbst gerade die Praxis hatte verlassen wollen, dort aufgetaucht und vor ihren Augen bewusstlos zusammengebrochen, bevor er auch nur ein Wort hatte sagen können. Sie erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Natürlich hatte sie ihn sofort in die Notaufnahme der Kayser-Klinik bringen lassen, wo festgestellt worden war, dass Filip eine weit fortgeschrittene Blinddarmentzündung hatte. Der Blinddarm war bereits aufgebrochen, Eiter hatte sich in die Bauchdecke ergossen, eine lebensbedrohliche Bauchfellentzündung hatte sich entwickelt.

Er war gerade noch rechtzeitig operiert worden, sie war mehrmals bei ihm in der Klinik gewesen, er betrachtete sie als seine Lebensretterin. Das Problem aber war gewesen: Filip war damals zur Fahndung ausgeschrieben, die Polizei suchte ihn, weil er verdächtigt wurde, mehrere Überfälle auf Tankstellen verübt zu haben. Mehrere Zeugen hatten ihn sehr genau beschrieben, es war sogar eine Gegenüberstellung gemacht worden, alle hatten übereinstimmend erklärt, er sei der gesuchte Mann.

Nur: Er hatte für mindestens einen der Überfälle ein Alibi, weil er da nämlich gar nicht Deutschland gewesen war, sondern in Polen, in Stettin, bei seinen Eltern. Dieses Alibi war von mehreren Seiten überprüft worden. Und dann hatte es noch einen Überfall gegeben, als Filip schon in der Klinik gelegen hatte, das war ein weiteres Indiz für seine Unschuld.

Sie versuchte seitdem, sich über ihre Gefühle für ihn klarzuwerden. War sie in ihn verliebt? Ja, sagte sie sich jetzt, während sie durch die klare, kühle Herbstluft lief. Sie war in ihn verliebt, und sie vermutete, dass er auch in sie verliebt war. Sie waren beide nicht mehr jung, aber eben auch noch längst nicht alt, Filip war vor kurzem fünfzig geworden – und plötzlich war es wieder da, dieses so lange vermisste Gefühl, dass der Himmel, wie es so schön hieß, voller Geigen hing.

Unter normalen Umständen, begriff sie schlagartig, wären sie längst ein Liebespaar geworden. Aber die Umstände waren eben nicht normal. Filip stand nicht mehr unter Verdacht, aber ein Rest Unsicherheit war geblieben, denn der Tankstellenräuber hatte bislang nicht gefasst werden können. Und noch etwas begriff sie, während sie mit langen Schritten den Park durchquerte: Es lag weniger an ihr, dass sie sich noch nicht nähergekommen waren, als an Filip. Er war es, der einen handfesten Beweis für seine Unschuld brauchte, er war es, der sich ihr nicht nähern würde, so lange immer noch eine entfernte Möglichkeit bestand, dass er, wie auch immer, eben doch mit diesen Überfällen zu tun hatte.

Sie hätte ihm so gerne beigestanden, wusste jedoch nicht, wie. Sie konnte seine Unschuld nicht beweisen, das lag nicht in ihrer Hand, obwohl sie fest daran glaubte. Sie hatte sich oft genug mit ihm getroffen, nach seiner Entlassung aus der Klinik, sie hatten lange Gespräche geführt, über seine Kindheit in Polen, sein Leben in Deutschland, wohin er schon als Teenager übergesiedelt war. Sie hatte eine Vorstellung von ihm als Mensch, sie wusste ganz sicher, dass er kein Krimineller war. Er war aufrichtig, davon war sie überzeugt, und sie wusste einfach: Er war ein guter Mensch. Außerdem hatte er einen guten Job als Ingenieur. Warum hätte er Tankstellen überfallen sollen?

Beunruhigend war allein ein Gedanke, den sie gerade in den letzten Wochen öfter gehabt hatte: dass es, trotz allem, vielleicht etwas gab, das er ihr nicht erzählte. Dass er ein Geheimnis vor ihr hatte, ein Geheimnis, das er vor ihr eigentlich nicht hätte haben sollen. Aber wieso dachte sie das? Er war ihr nichts schuldig, nur weil sie ihm als Ärztin seinerzeit sofort zu Hilfe gekommen war. Das war schließlich ihre Pflicht gewesen. Er durfte ihr verschweigen, was immer er wollte. Sie waren Freunde geworden, mehr nicht, obwohl sie sich das wünschte. Aber vielleicht gab es ein Hindernis dafür, dass sie ein Paar wurden.

Dieser Gedanke schmerzte sie. Wenn er eine Frau, eine Familie hatte, vielleicht in Polen, dann sollte er es ihr möglichst bald sagen. Oder sollte sie ihn danach fragen?

Nein, entschied sie, sie würde es ihm überlassen, wann er mit ihr über das redete, was ihm offenkundig zu schaffen machte, ohne dass er bislang auch nur ein Wort darüber verloren hätte.

Als sie sich der Praxis näherte, ging sie langsamer. Sie sah jetzt klarer, das würde ihr helfen. Es war Filip, der noch Zeit brauchte, nicht sie.

Aber sie würde für ihn da sein, ihn unterstützen, wenn er Unterstützung brauchte.

Sie hatte die Praxis schon fast erreicht, als sie bemerkte, dass Antonia davorstand und auf sie wartete.

»Du warst aber weit weg mit deinen Gedanken, Maxi.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Maxi.

Antonia fragte nicht weiter nach. Sie legte Maxi einfach den Arm um die Schultern, und so betraten sie die Praxis, wo Carolin Suder, ihre umsichtige junge Praxisorganisatorin, bereits an ihrem Platz saß und sie mit ihrem fröhlichen Lächeln begrüßte.

Die Arbeit konnte beginnen.

*

»Alles Gute, Lucie«, sagte Leon Laurin, als Lucie Burgmüller sich am ersten Arbeitstag nach ihrem zwangsweise verlängerten Aufenthalt in Bangkok bei ihm zurückmeldete. »Ich bin froh, dass ihr wieder hier seid und dass David bald wieder gesund sein wird. Und nun geh in die Küche, du wirst schon sehnsüchtig erwartet! Über alles, was ihr erlebt habt, reden wir bei anderer Gelegenheit.«

»Ich danke dir, Leon, auch für die Unterstützung aus der Ferne. Das hat uns sehr geholfen.«

»War selbstverständlich. David soll sich bei Gelegenheit noch einmal hier blicken und durchchecken lassen. Nicht, dass ich denke, die Kolleginnen und Kollegen in Bangkok hätten nicht alles für ihn getan, was möglich war, aber ich vergewissere mich lieber selbst, dass alles in Ordnung ist.«

»Das hat er sowieso vor!«

Leon verließ das Chefbüro und eilte mit klopfendem Herzen Richtung Klinikküche. Als sie sie betrat, blieb sie wie angewurzelt stehen. Das gesamte Team hatte sich aufgestellt und begrüßte sie strahlend und mit kräftigem Applaus, vor allem aber mit einem riesengroßen selbst gestalteten Plakat: »Willkommen zurück, Lucie!«

Sie war so gerührt, dass ihr Tränen in die Augen traten, und natürlich endete die kleine Willkommenszeremonie damit, dass sie nacheinander alle umarmte. Sie war ja schon im Bilde über das, was sich während ihrer und Davids Abwesenheit in der Klinik-Küche abgespielt hatte, und so wusste sie auch, wie sehr sie in Simon Daumes Schuld standen. David und sie hatten schon in Bangkok angefangen zu überlegen, wie sie ihm ihre Dankbarkeit für seinen großartigen Einsatz ausdrücken konnten.

»Wir müssen noch ein bisschen ohne David auskommen«, sagte sie schließlich, »aber das haben wir ja schon einmal geschafft, und er lässt euch ausrichten, dass er es kaum erwarten kann, wieder hier zu sein und mit euch zusammen weitere Gerichte zu entwickeln. Immerhin hat er, als es ihm besser ging, in Bangkok doch noch einiges ausprobieren können und schon ein paar Ideen entwickelt. Und jetzt informiert mich bitte, was ihr für heute geplant habt.«

Kurt Kleibowitz, der Saucier, übernahm das, und schon nach einer Stunde kam es allen in der Küche so vor, als wäre Lucie nie weg gewesen. Zwar fehlte David noch immer, aber sie wussten ja nun, dass auch er bald wieder in der Küche stehen würde, und sie freuten sich darauf.

»Und später, wenn wir hier etwas mehr Ruhe haben«, sagte Lucie irgendwann in die allgemeine Hektik hinein, »will ich einen ausführlichen Bericht über alles, was sich hier ereignet hat. Wir wissen das bisher ja nur über den Klinikchef, aber ihr wart schließlich dabei.«

»Und die Leidtragenden!«, rief Luis Badstuber, der pummelige Auszubildende, der unter Davids Anleitung enorm dazugelernt hatte und viel selbstbewusster geworden war. »Mach dich auf etwas gefasst, Lucie – du wirst einiges zu hören kriegen.«

Lucie lachte. Es war so schön, wieder in München zu sein, ohne Sorgen um Davids Gesundheit, und an ihrem Arbeitsplatz, den sie um nichts in der Welt mit einem anderen hätte tauschen mögen.

*

Simon hatte es an diesem Morgen weniger eilig als sonst. Er wollte alles genießen, und so ließ er sich schon Zeit, als er auf dem Fahrrad saß, mit dem er bei einigermaßen gutem Wetter zu Laurins fuhr. Er nahm in Gedanken vorweg, was ihn an seinem Arbeitsplatz erwarten würde: Bestimmt hatten die Kinder aufgeräumt, damit er am ersten Tag nicht gleich von der Arbeit überrollt wurde. Wahrscheinlich hatten sie sogar einen Plan gemacht, was gekocht werden sollte, aber darauf würde er sich nicht einlassen, denn er hatte so viele Ideen gesammelt, dass er unbedingt sofort damit anfangen musste, sie zu verwirklichen. Zu Hause sein würde niemand, die Kinder mussten in die Schule, ihre Eltern arbeiten. Er würde also das Haus für sich haben und erst einmal einen Rundgang machen können, um sich wieder daran zu gewöhnen.

Die Wochen in der Klinik waren interessant, aber auch aufreibend gewesen: ein erhellender Einblick in die Zwänge einer Klinikküche, die den Anspruch erhob, nicht nur gesund zu sein, sondern auch delikat. Keine Massenküche also, sondern Klinikküche auf Sterneniveau. David Burgmüller war ja früher ein Sternekoch gewesen, hatte aber irgendwann dringend etwas Neues machen wollen. Simon hatte ihn schon vorher bewundert, jetzt verehrte er ihn. Was David in der Klinik geschaffen hatte, konnte, davon war er überzeugt, das Krankenhausessen in Deutschland revolutionieren.

Als er die Straße erreicht hatte, in der Laurins Haus stand, stieg er vom Rad und ging die restlichen Meter zu Fuß.

Er ließ seine Blicke schweifen, entdeckte hier und da in einem Vorgarten etwas Neues und erreichte endlich sein Ziel, das Haus von Familie Laurin. Vorne sah alles ganz gut aus, er erspähte etwas Unkraut zwischen den Sträuchern, mehr nicht, und der Boden kam ihm sehr trocken vor, aber das ließ sich ja schnell beheben. Bevor er das Haus betrat, ging er an der Seite nach hinten und staunte: Der Garten sah großartig aus, da würde er ja gar nicht viel machen müssen! Dabei hatte er sich vorgestellt, dass dort am ehesten die Arbeit vernachlässigt worden war, schließlich hatten die Laurin-Kinder während seiner Abwesenheit das Kochen übernommen und waren damit neben der Schule gewiss schon ziemlich ausgelastet gewesen. Und ihre Eltern waren es sowieso.

Er kehrte zur Haustür zurück und betrat endlich das stille Haus. Er schnupperte. Roch es nach Reinigungsmitteln? Die Kinder würden doch nicht noch saubergemacht haben vor seiner Rückkehr? Aber es sah schwer danach aus. Er rannte die Treppe hinauf nach oben, sah in jedes Zimmer: Alles war aufgeräumt, die Betten waren gemacht. Nicht einmal in Kevins Zimmer lag etwas herum.

Er schüttelte den Kopf. Ein bisschen Unordnung, stellte er zu seiner eigenen Verwunderung fest, hätte er ganz nett gefunden. Das wirkte ja sonst so, als hätte er gar nicht zu kommen brauchen. Wenn sie ohne ihn alles im Griff hatten, war er hier doch schlicht überflüssig!

Er lief wieder nach unten, warf einen Blick ins Wohnzimmer, dort lag einiges herum. Wenigstens das!

Dann betrat er die Küche und blieb wie vom Donner gerührt stehen, denn sie sah aus, als wäre sie für eine große Party dekoriert worden. Überall hingen bunte, selbstgebastelte Girlanden und Willkommenssprüche, er entdeckte eine witzige Fotocollage, die ihm bewies, wie sehr er vermisst worden war, und er las, ein wenig ungläubig, lauter Botschaften, die vor allem eines waren: Liebeserklärungen.

Überwältigt ließ er sich auf einen Stuhl sinken und sah, dass auf dem Tisch ein richtiger Brief an ihn lag. »Lieber Simon, wir haben Dich schrecklich vermisst. Eigentlich wollten wir für Dich kochen, aber Mama hat gesagt, das würdest Du nicht wollen, Du hättest bestimmt schon einen fertigen Plan für heute Abend, und wir sollen Dir auf ­keinen Fall dazwischenfunken. Also koch, wozu Du Lust hast, aber Du und Lili, Ihr sollt mit uns essen, und Du sollst uns erzählen, wie es war in der Kayser-Klinik. Wir hoffen, dass Ihr nicht schon andere Pläne gemacht habt und sind ganz verrückt vor Freude auf heute Abend.«

Darauf folgten viele rote und rosa Herzchen und die Namen aller vier Kinder.

Er sprang auf, plötzlich von unbändigem Tatendrang erfüllt. Viel zu putzen gab es heute offenbar nicht, also würde er sich vor allem dem Kochen widmen. Die Küche würde er lassen, wie sie war, nur da, wo die Dekoration störte, würde er sie ein wenig beiseiteräumen. Bevor er kochen konnte, musste er natürlich einkaufen, er hatte tatsächlich einen fertigen Plan für das Abendessen ausgearbeitet. Und den Vorgarten musste er wässern, das Unkrautzupfen würde er auf den nächsten Tag verschieben.

Er schickte Lili eine Nachricht, dass sie zum Abendessen eingeladen waren, und verließ das Haus wieder. Zu putzen gab es an diesem Tag nicht viel, aber wenn das heute Abend ein richtiges Festessen werden sollte, hatte er dennoch genug zu tun, und plötzlich war sie wieder da: die überschäumende Freude, die er stets empfand, wenn er sich wieder einmal nach allen Regeln der Kunst am Herd austoben durfte. Das war in der Klinik natürlich nicht möglich gewesen, da hatte er einen klar umrissenen Auftrag zu erfüllen gehabt, aber hier und jetzt …

Er dachte, während er seine Einkäufe machte, an seine kleine Schwester Lisa, die für ein Jahr in den USA bei Verwandten war. Erst gestern Abend hatten Lili und er wieder ein längeres Videotelefonat mit ihr geführt. Es ging ihr gut, sie hatte nur noch selten Heimwehattacken, und in der Schule kam sie problemlos mit. Mittlerweile hatte sie schon drei Freundinnen gefunden, mit denen sie nach der Schule oft zusammen war, und sie hatte stolz erklärt, dass eine Lehrerin ihr bescheinigt hatte, ›zu sprechen wie eine Amerikanerin‹. Er war unglaublich erleichtert gewesen über Lisas Munterkeit und ihr offenbar wachsendes Selbstbewusstsein.

Alles fügte sich zum Guten. Seine Schwestern und er hatten keine Eltern mehr, aber sie hatten einander, und sie waren dabei, ihren Platz in der Welt zu finden. Sie hatten allen Grund, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken.

*

Leon hatte an diesem Tag seine gynäkologische Sprechstunde, die so voll war wie schon lange nicht mehr. Er war mit den unterschiedlichsten Problemen beschäftigt, darunter auch einem Fall von Verdacht auf Gebärmutterhalskrebs, der ihm besonders zu schaffen machte. Er klärte seine Patientinnen seit Jahren darüber auf, aber noch immer musste er feststellen, dass viele von ihnen völlig ahnungslos waren, was diese gefährliche Erkrankung betraf. Dabei gab es eine Impfung dagegen!

Die letzte Patientin an diesem Tag war Pina Attak, eine junge, idealistische Rechtsanwältin, die sich gerade selbstständig gemacht hatte. Sie war fest entschlossen, die Ungerechtigkeit in dieser Welt durch ihre Arbeit zu verringern, und er hoffte von Herzen, dass sie bei diesem Bemühen erfolgreich sein würde.

Antonia und er übten ihren Beruf mit ähnlicher Begeisterung aus, aber ihm war nicht entgangen, dass viele junge Leute heutzutage mit einem anderen Bewusstsein ins Berufsleben eintraten. Da ging es eher darum, möglichst viel Geld mit möglichst wenig Arbeit zu verdienen. Dazu, fand Leon, waren aber ihre Berufe nicht geeignet. Sie verlangten Leidenschaft und Einsatz: für die Rettung menschlichen Lebens, und, im Fall seiner jungen Patientin, um dem Recht zur Geltung zu verhelfen.

Pina Atak hatte türkische Eltern, die schon als junge Menschen nach Deutschland gekommen und hiergeblieben waren. Sie war eine schöne junge Frau mit langen, dichten, schwarzen Haaren und großen, fast schwarzen Augen. Sie war temperamentvoll, lachte gern, und schien überhaupt mit so viel Lebensfreude ausgestattet zu sein, dass sie leicht für zwei gereicht hätte. Er freute sich immer, sie zu sehen, sie unterhielten sich, wenn die Zeit es zuließ, in der Regel angeregt. Heute war die junge Frau zu einer Vorsorgeuntersuchung gekommen.

»Wie läuft Ihre Kanzlei?«, fragte er, als sie ihr Vorgespräch beendet hatten und sie auf dem Untersuchungsstuhl Platz nahm.

Sie kicherte. »Kanzlei ist gut. Ich habe nicht einmal eine Sekretärin, Herr Dr. Laurin! Aber wenigstens habe ich in einer Bürogemeinschaft einen Raum mieten können, so habe ich also Leute um mich herum, mit denen ich reden kann, wenn mir der Himmel auf den Kopf fällt. Und es wirkt offizieller, als wenn ich in meiner Wohnung ein Zimmer als Büro nutze.«

»Ihnen fällt manchmal der Himmel auf den Kopf? Warum, wenn ich fragen darf?«

»Weil ich natürlich fast nichts verdiene. Zu mir kommen lauter arme Menschen, die Hilfe brauchen, aber nicht viel dafür bezahlen können. Mir war ja vorher schon klar, dass es viel Ungerechtigkeit auf der Welt gibt, aber dass es so schlimm ist, habe ich nicht für möglich gehalten.«

»Zum Beispiel?«

»Ärger mit Ämtern, die Sozialhilfeempfängern zu viel Geld abziehen und wo es keine Leute gibt, die etwas anderes als Deutsch sprechen, überhöhte Mieten, Abschiebedrohungen, überschuldete alleinerziehende Mütter oder auch Väter, Kinder, die in der Schule gemobbt werden, wogegen es angeblich kein Mittel gibt, Stalking, junge Männer, die ständig kontrolliert werden, weil sie nicht blond und blauäugig sind … und übrigens auch ärztliche Kunstfehler, die vertuscht werden sollen. Solche Sachen.«

Leon seufzte. »Das mit den ärztlichen Kunstfehlern trifft mich natürlich besonders«, gestand er, »aber ich weiß, wie schwer es ist, in solchen Fällen zu seinem Recht zu kommen.«

»Das können Sie laut sagen.«

Leon beendete seine Untersuchung. »Sie können sich wieder anziehen, Frau Atak«, sagte er. »Ich sehe mir den Abstrich noch unter dem Mikroskop an.«

Sie nickte und verschwand in der Umkleidekabine. Der Abstrich war in der Ordnung, stellte er erleichtert fest.

Als er ihr das gleich darauf sagte, lächelte sie. »Ich habe nichts anderes erwartet«, erklärte sie. »Mir geht’s echt gut, Herr Dr. Laurin.«

Wieder einmal stellte er fest, dass er auch deshalb so gern Gynäkologe war, weil er es in diesem Bereich der Medizin überwiegend mit gesunden Frauen zu tun hatte und, was noch schöner war, mit neuem Leben. Das war in der Chirurgie natürlich ganz anders.

Da sie die letzte Patientin des Tages war, lehnte er sich zurück und fragte sie noch ein bisschen nach ihrem beruflichen Alltag aus. Und wie immer ging sie gern darauf ein.

*

Eckart Sternberg, Chefarzt der Chirurgie in der Kayser-Klinik im Münchener Südwesten, war nach der Ultraschalluntersuchung, die er soeben vorgenommen hatte, sehr zufrieden.

»Das sieht gut aus, Herr Mazur, ich denke, Sie können sich jetzt wieder als gesunden Menschen ansehen.«

Filip Mazur fuhr sich durch die dichten blonden Haare. »Endlich!«, sagte er. »Letztes Mal haben Sie mir ja noch gesagt, dass ich mich weiter schonen soll, aber allmählich werde ich unruhig. Ich brauche Bewegung und auch wieder Sport.«

»Übertreiben mit körperlicher Anstrengung sollten Sie es immer noch nicht, aber Sie können sich jetzt schon wieder mehr zumuten. Fangen Sie mit dem Sport langsam an, dann geht das schon. Es ist alles wirklich gut verheilt, die Blutwerte sind auch in Ordnung, und Sie sehen viel besser aus als noch vor zwei Wochen.«

»Ich fühle mich auch besser« erklärte Filip. »Denken Sie, ich kann jetzt auch wieder längere Strecken mit dem Auto fahren? Allein, meine ich?«

Eckart Sternberg antwortete mit einer Gegenfrage: »Was sind für Sie längere Strecken?«

Filip zögerte, die Wahrheit wollte er nicht sagen, also blieb er mit seiner Antwort im Vagen. »Na ja, nach Norddeutschland zum Beispiel.«

»Ich würde eine solche Fahrt noch nicht allein machen. Sie haben sich gut erholt, aber Sie waren dem Tod ziemlich nahe. Lassen Sie es lieber langsam angehen. Sie haben ja auch Gewicht verloren. Geben Sie sich ein bisschen Zeit.«

»In Ordnung«, sagte Filip, »war ja nur eine Frage.«

»Sie arbeiten doch auch noch nicht wieder, oder?«

»Nächste Woche soll es losgehen.«

»Dann wünsche ich Ihnen alles Gute.«

Filip verabschiedete sich mit einem festen Händedruck.

Was er Dr. Sternberg nicht erzählt hatte, war, dass er unbedingt nach Polen zu seinen Eltern fahren musste, denn er hatte etwas erfahren, dem er auf den Grund gehen wollte. Um jedoch festzustellen, ob es sich um mehr als ein Gerücht handelte, würde er ein persönliches Gespräch mit seinen Eltern führen müssen. Das, was es herauszufinden galt, konnte er nicht vorm Bildschirm sitzend erfragen, zumal seine alten Eltern mit der Technik noch immer fremdelten.

Zwar hatten sie jetzt schon recht viele Videotelefonate geführt, doch er sah seinen Eltern an, wie unwohl sie sich dabei führten. Und da er in dem bevorstehenden Gespräch Fragen stellen musste, die ihnen mit Sicherheit unangenehm waren, blieb ihm wohl keine andere Wahl, als den Weg nach Stettin auf sich zu nehmen.

Aber wenn Dr. Sternberg schon von einer Fahrt nach Norddeutschland abriet … Es war wirklich sehr weit von München nach Stettin, wie er aus Erfahrung wusste. Die Strecke war er schließlich schon oft genug gefahren.

Ich fliege, dachte er, während er dem Ausgang zustrebte. Wieso habe ich daran nicht sofort gedacht? Ich fliege zu meinen Eltern, das kostet auch viel weniger Zeit, und ich kann es mir leisten. Und je nachdem, was ich in Stettin herausfinde, kann ich dann endlich mit Maxi reden.

Ja, Maxi …

Er war so in Gedanken, dass er am Ausgang der Klinik beinahe mit einer schönen, schwarzhaarigen jungen Frau zusammenstieß, die ihn vergnügt angrinste. »Sie haben es offenbar genau so eilig wie ich, hier rauszukommen«, stellte sie fest.

Ihre Fröhlichkeit war ansteckend, er lächelte auch. »Ja, komisch, nicht? Ich werde hier immer gut behandelt, bekomme seit einer ziemlich schlimmen Operation eigentlich nur gute Nachrichten über meine Gesundheit zu hören – und trotzdem bin ich jedes Mal froh, wenn ich wieder gehen kann.«

»Ich glaube, das ist bei Kran­kenhäusern normal. Oh, sehen Sie mal …«

Ihr Lächeln war verschwunden und hatte einem Ausdruck größter Bestürzung Platz gemacht. Er folgte ihrem Blick und sah, was sie schon vor ihm gesehen hatte: Eine ältere Frau taumelte auf sie zu, ihr Gesicht war blutig, ihre Kleidung zerrissen. Sie stieß unartikulierte Laute aus, es war nicht zu verstehen, was sie sagen wollte.

»Sagen Sie in der Notaufnahme Bescheid?« Filips Gesprächspartnerin war bereits bei der Frau, stützte sie, sprach beruhigend auf sie ein.

Er eilte zurück in die Klinik, und rief der Dame am Empfang zu, vor der Klinik sei eine hilfsbedürftige Person, die in die Notaufnahme müsse. Die Dame nickte nur, das Telefon bereits am Ohr. Filip rannte zurück nach draußen.

Die Frau lag mittlerweile ausgestreckt am Boden. »Hilfe kommt«, sagte Filip.

»Sie ist verletzt, offenbar ist sie überfallen worden. Sehen Sie mal, sie hat eine Wunde am Kopf, als hätte sie jemand geschlagen.«

»Sie kann auch gestürzt sein.«

»Aber die zerrissenen Kleider?«

»Sie muss in die stabile Seiten­lage, damit sie sich nicht verschluckt«, erklärte Filip. »Helfen Sie mir mal.«

Behutsam drehten sie die Frau auf die Seite, die sich das unter weiteren Klagelauten gefallen ließ.

Gleich darauf kamen zwei Pfleger aus der Klinik, mit einer Trage. »Kommen Sie bitte mit uns«, sagte der Ältere von ihnen, »die Ärzte haben vielleicht Fragen an Sie.« Behutsam, schnell und geschickt hoben sie die Verletzte auf die Trage, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass sie lebte und atmete. Noch immer stieß die Frau Laute aus, die nicht zu verstehen waren.

»Ich bin übrigens Filip Mazur«, sagte Filip, als sie den Pflegern in die Notaufnahme folgten.

»Pina Atak«, sagte sie. »Wie Attacke, aber nur mit einem ›t‹ und ohne ›e‹ am Ende.«

In der Notaufnahme wurden sie von einem Assistenzarzt namens Michael Hillenberg befragt, konnten ihm aber nur sagen, dass die Patientin ihnen direkt vor der Klinik praktisch in die Arme gelaufen war. Nach wenigen Minuten konnten sie sich schon wieder verabschieden, da sie über die alte Dame nichts wussten.

Vor der Klinik sagte Filip: »Wie wäre es mit einem Kaffee auf den Schrecken? Ich merke, dass ich Stress immer noch nicht gut vertrage, ich habe richtig weiche Knie.«

»Ich auch«, gestand Pina. »Und ich brauche zum Kaffee ein dickes Stück Kuchen – ein Zuckerschock ist jetzt genau das Richtige. Kommen Sie mit, ich kenne das richtige Café für uns, es ist nicht weit von hier.«

Er folgte ihr und entschied sich auch für den von ihr ersehnten Zuckerschock, was eine gute Entscheidung war, wie er bald wusste. Der Kuchen schmeckte ausgezeichnet.

Er fand Pina nett und erfreulich unkompliziert, und er horchte auf, als er hörte, dass sie sich gerade als Rechtsanwältin selbstständig gemacht hatte. »Das ist ja sehr interessant«, sagte er und dachte, dass er vielleicht juristischen Beistand brauchen würde.

»Schon, aber auch mühsam. Ich bin ja keine, zu der Leute mit Geld gehen, um sich von mir vertreten zu lassen. Erstens habe ich keine Berufserfahrung, zweitens keinen Ruf wie Donnerhall, weil ich noch keinen spektakulären Mordprozess gewonnen habe, und drittens müsste sich herumsprechen, dass ich gut bin, was aber nicht passiert, weil die Leute, die zu mir kommen, bis über beide Ohren in Schwierigkeiten stecken und gar nicht daran denken, irgendwo zu erwähnen, wie engagiert ich mich für sie einsetze. Und ob ich gut bin oder nicht, merken sie vermutlich gar nicht.«

»Das wäre bei einem spektakulären Mordfall natürlich anders.«

»Und ob. Außerdem muss ich mich noch spezialisieren, das ist für den Ruf auch wichtig. Es gibt Anwälte, die machen zum Beispiel nur Mietsachen. Oder eben die Strafverteidiger, die sich Fälle raussuchen, mit denen sie Aufmerksamkeit erregen. Aber das ist nicht mein Ding.«

»Welches ist es denn?«

Sie stieß einen sehr langen Seufzer aus, ihre glatte Stirn legte sich in genau drei Falten. »Ich weiß, wie blöd und naiv das klingt, aber ich bin Juristin geworden, weil ich Gerechtigkeit will – und zwar für alle. Und auch in Fällen, die angesichts der großen Fragen der Menschheit vielleicht nicht so weltbewegend klingen.«

»Zum Beispiel?«

»Ich habe vor kurzem eine zweiundneunzigjährige Frau vertreten, die von dem Typen, der das Haus gekauft hat, in dem sie seit über fünfzig Jahren wohnt, vergrault werden soll. Seine Anwälte und er schrecken vor gar nichts zurück. Die alte Dame ist noch gut beieinander, und zum Glück hat sie sich jetzt mit drei anderen Mietparteien zusammengetan. Allmählich kommt Bewegung in die Sache, der Typ bekommt schlechte Presse, woran ich nicht ganz unschuldig bin, und das passt ihm natürlich überhaupt nicht. Aber ausgestanden ist die Sache noch längst nicht.«

»Verstehe«, murmelte Filip. Er lächelte sie an. »Ich glaube Ihnen, dass Sie gut sind.«

Sie antwortete mit einem Seufzer. »Aber bewiesen habe ich es noch nicht.«

»Ich habe mich falsch ausgedrückt. Sie sind bestimmt gut.«

»Wie wollen Sie das wissen?«

»Bauchgefühl«, erklärte Filip. »Sie sind engagiert, Sie sind klug, Sie haben das Studium geschafft. Ihnen fehlt vielleicht die Erfahrung, aber das ist ja etwas, das sich mit der Zeit ändert. Und was Ihnen sonst noch fehlt, das machen Sie durch Ihre Begeisterung wett.«

Sie strahlte ihn an. »Sie sind ja ein richtiger Mutmacher, Herr Mazur!«

»Freut mich, das zu hören.«

»Was machen Sie beruflich?«

»Ich bin Ingenieur.«

»Und welche schreckliche Operation haben Sie hinter sich?«

Er erzählte ihr, wie er in einer Kinderarztpraxis zusammengebrochen war, zu seinem Glück vor den Augen einer Ärztin, die sofort alles Nötige getan hatte, damit er Hilfe bekam. »Und dann war ich ziemlich lange in der Klinik, das war eine zähe Geschichte. Es geht mir viel besser, aber richtig fit bin ich immer noch nicht.«

»Sie sehen aber fit aus, finde ich.«

Er lächelte. »Ich würde sagen, ich nähere mich meinem früheren Normalzustand allmählich wieder an.«

»Sind Sie angestellt oder arbeiten Sie freiberuflich?«

»Ich bin angestellt, zum Glück, sonst wäre meine Situation jetzt deutlich schlimmer. Ich werde ab nächster Woche wieder arbeiten und freue mich sehr darauf, die Arbeit hat mir gefehlt, die Kollegen haben mir gefehlt – das ganze Drumherum eben. Aber …« Er merkte selbst nicht, wie sich sein Gesicht verdüsterte bei dem Gedanken an den Verdacht, der eigentlich ausgeräumt war, aber irgendwie immer noch über ihm schwebte. Und bevor er selbst es richtig mitbekam, war er schon dabei, Pina Atak seine Geschichte zu erzählen.

Sie hörte ihm so gebannt zu, dass sie sogar vergaß, ihren Kuchen weiter zu essen. »Das ist ja ein Ding!«, sagte sie atemlos, als er seinen Bericht beendet hatte.

»Ja, und leider klingt die Geschichte nicht unbedingt glaubwürdig. Ich habe mir schon oft überlegt, was passiert wäre, wenn ich nicht ein Alibi für einen der Überfälle gehabt hätte. Außerdem hat es einen weiteren Überfall gegeben, während ich im Krankenhaus lag, aber das könnte natürlich, nach Meinung der Polizei, auch ein sogenannter Trittbrettfahrer gewesen sein.«

Pina nickte nachdenklich. »Das heißt, eigentlich stehen Sie nicht mehr unter Verdacht, aber irgendwie schwebt er noch im Raum.«

»Offiziell nicht, aber dieser Typ, der mir offenbar zum Verwechseln ähnlichsieht, hat mitbekommen, dass ich im Augenblick rein körperlich nicht in der Verfassung wäre, Tankstellen zu überfallen, und jetzt hält er still.«

»Was die Polizei auf die Idee bringen könnte, dass mit Ihrem Alibi vielleicht etwas nicht stimmt?«

»Die Idee hatten sie natürlich von Anfang an, deshalb hat die polnische Polizei meine Familie in Polen wirklich genau unter die Lupe genommen. Es gab aber so viele Beweise für meinen Aufenthalt in Stettin, dass sie mir schließlich notgedrungen geglaubt haben. Außerdem fehlt mir ein Motiv für Überfälle auf Tankstellen. Ich verdiene mehr als genug Geld, es geht mir gut. Und so viel Spaß machen Überfälle vermutlich nicht, dass man sie nur zum Vergnügen begeht. Und reich wird man damit auch nicht, wie es scheint.«

Pina aß ihren Kuchen weiter, ihr Gesicht war nachdenklich. Sie kramte in ihrer Tasche und schob ihm ihre Karte über den Tisch. »Würden Sie mich auf dem Laufenden halten? Der Fall interessiert mich. Und falls sie eine talentierte, engagierte junge Rechtsanwältin ohne jegliche Erfahrung brauchen können …«

Er steckte die Karte ein. »Ich rufe Sie an, wenn sich Neues ergibt. Ich … ich fliege vermutlich nach Stettin, weil ich etwas gehört habe, über das ich mehr erfahren will. Aber darüber möchte ich erst reden, wenn es so weit ist.«

»In Ordnung, aber wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt?«

Er holte nun seinerseits eine Karte aus seiner Tasche. »Bitte sehr. Wenn Sie finden, dass mein Anruf zu lange auf sich warten lässt, melden Sie sich. Ich werde mich nicht verleugnen lassen, versprochen.«

»Gut!« Zufrieden steckte sie die Karte ein. »Haben Sie noch weiche Knie?«

»Kein bisschen.«

»Dann können wir ja gehen.« Sie strahlte ihn an. »Es war wirklich interessant, mit Ihnen zu reden.« Das Strahlen verschwand. »Hoffentlich geht’s der alten Dame wieder besser.«

»Die Notaufnahme in der Kayser-Klinik ist großartig, wie ich aus Erfahrung weiß. Dort haben sie ihr bestimmt helfen können.«

Filip bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen. »Ich verdiene mehr Geld als Sie«, sagte er. »Und vielleicht brauche ich ja bald ihre Hilfe, dann können Sie sich revanchieren, indem Sie mir helfen, meinen Namen wieder völlig reinzuwaschen.«

»Das würde mir großen Spaß machen«, versicherte Pina.

Sie verabschiedeten sich in bestem Einvernehmen voneinander. Sobald er nach Hause zurückgekehrt war, buchte Filip einen Flug nach Stettin, nachdem er sich vorsorglich noch einmal bei der Polizei erkundigt hatte, ob das in Ordnung war. Es gab offenbar keine Probleme, was ihn beruhigte. Erst danach rief er seine Eltern an, um ihnen seinen Besuch anzukündigen.

Später war er mit Maxi verabredet, er würde ihr sagen, dass er nach Stettin flog, aber nicht, welches Gerücht ihm zu Ohren gekommen war, dem er dort nachgehen wollte. Das musste warten.

Er liebte Maxi, und das tat er unabhängig davon, dass ihre schnelle Hilfe ihm vermutlich das Leben gerettet hatte. Er liebte sie, weil sie war, wie sie war: ein dem Leben und anderen Menschen zugewandter und aufgeschlossener Mensch voller Humor und Tatendrang, eine attraktive Frau mittleren Alters, die sich von verschiedenen Schicksalsschlägen nicht hatte unterkriegen lassen. Aber er konnte ihr seine Liebe nicht gestehen, so lange er das Gefühl hatte, dass sein Name mit einem Makel behaftet war.

*

Felix Siebenschön unterdrückte einen Seufzer, als die elegante blonde Dame mittleren Alters vor ihm Platz genommen und gesagt hatte: »Es geht um meinen Mann.«

Noch eine Frau, die ihren Mann der Untreue verdächtigte und nun Beweise brauchte, um bei der Scheidung möglichst viel Geld herauszuholen. Die Dame trug nicht nur teure Kleidung, sondern auch viel blitzenden Schmuck, sie war mit einem Wagen vorgefahren, dessen Gegenwert ihn leicht zwei Jahre lang ernährt hätte, also hatte sie ohne Beweise offenbar etwas zu verlieren, und er, als Detektiv ohne Berufserfahrung, musste sich glücklich schätzen, dass sie den Weg zu ihm gefunden hatte, damit er ihr half.

Er gestand sich ein, dass er sich den Beruf des Detektivs interessanter vorgestellt hatte. Bislang lief es in achtzig Prozent aller Fälle auf eine Überwachung wegen des Verdachts auf Untreue hinaus. Das war öde, er hatte mit mehr Abwechslung und auch mit interessanteren Fällen gerechnet. Aber als Berufsanfänger musste man nehmen, was man kriegen konnte, diese Lektion hatte er bereits gelernt.

Die Dame stellte sich als Maria Grünewald vor, und danach folgte für Felix die erste Überraschung.

»Besser gesagt, es geht um seinen Bruder, meinen Schwager.«

Felix wartete auf die Fortsetzung. War er vorschnell gewesen mit seinem Urteil?

»Mein Mann ist zu gut für diese Welt«, fuhr Frau Grünwald fort. »Ich glaube, dass sein Bruder ihn nach Strich und Faden betrügt. Ich habe ihm das schon öfter gesagt, aber er bringt es nicht über sich, etwas zu unternehmen.«

Felix lauschte ihr mit wachsendem Interesse. Frau Grünewald war nicht geschwätzig, sie fasste sich kurz, und sie drückte sich klar und deutlich aus. Die beiden Brüder, erzählte sie, hatten zusammen eine Firma gegründet, eine Firma für Software-Entwicklung, die schnell erfolgreich geworden und es bis heute geblieben war. Als sie den Namen sagte, erkannte Felix ihn. Keine große Firma, aber doch eine bekannte, mit einem guten Ruf. Ein Familienunternehmen, von dem öfter in einschlägigen Veröffentlichungen öfter die Rede war.

»Mein Mann ist der Ältere, Herr Siebenschön, er ist der Besonnene und auch der, der etwas von Technik versteht. Sein Bruder ist fünfzehn Jahre jünger und will mit dem Kopf durch die Wand, möglichst bald die Firma verkaufen, reich sein, von da an das Leben ohne Arbeit genießen. Es gibt Angebote von größeren Konkurrenten, und seitdem hat mein Schwager nur noch Dollarzeichen in den Augen. Meinen Mann macht die Situation krank, er hat es schon länger am Herzen. Er will nicht verkaufen, die Firma ist sein Lebenswerk, seine Angestellten sind ihm wichtig. Aber sein Bruder lässt nicht locker, er macht ihm das Leben schwer.«

»Wie?«, fragte Felix.

Marie Grünewald zögerte, bevor sie leise antwortete: »Er setzt ihn unter Druck, bestimmte Familiengeschichten zu veröffentlichen, wenn mein Mann nicht nachgibt.«

»Was sind das für Geschichten?«

»Mein Mann war mir früher untreu, er hatte eine Affäre. Mein Schwager versucht jetzt, mit der Frau gemeinsame Sache zu machen. Das jedenfalls ist meine Vermutung.«

»Und was soll ich tun?«

»Mein Mann und ich, wir haben uns damals ausgesprochen, er hat mir erklärt, warum er sich zu dieser Frau hingezogen gefühlt hat. Und er hat sie unterstützt, mit meiner Zustimmung, als sie einmal in Not geraten ist. Sie hat keinen Grund, ihm jetzt in den Rücken zu fallen, er hat mit ihr von Anfang an offen geredet, das hat er mir selbst erzählt.«

»Sie hat vermutlich trotzdem gedacht, er würde sich von Ihnen scheiden lassen und sie stattdessen heiraten. So scheint es in den meisten Fällen zu sein.«

»Mein Mann sagt, er habe ihr gesagt, dass er das nicht tun würde. Wir haben nämlich viel miteinander durchgemacht, er und ich.« Sie biss sich auf die Lippen. »Wenn mein Mann unter Druck die Firma verkauft, wird er ein unglücklicher Mensch sein. Sie ist das Kind, das unserer Ehe versagt blieb. Wenn man ihm dieses Kind wegnimmt, dann …« Sie biss sich erneut auf die Lippen, während sie mehrmals schluckte, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

»Und sein Bruder?«

»Der hat sich vor kurzem zum zweiten Mal scheiden lassen. Er hat nie Kinder gewollt, und was aus der Firma wird, ist ihm gleichgültig.«

»Wäre es für Sie nicht auch schöner, wenn Sie viel Geld hätten und Ihr Mann nicht mehr arbeiten müsste?«

»Nein!«, erklärte Maria Grünewald entschieden. »Ohne die Firma wäre mein Mann todunglücklich, er braucht sie wie die Luft zum Atmen. Und wenn er unglücklich ist, bin ich es auch.«

»Dann erzählen Sie mir jetzt bitte, was Ihr Schwager Ihrer Ansicht nach unternimmt, um Ihren Mann zum Verkauf der Firma zu zwingen.«

Sie holte eine Mappe aus ihrer Tasche und reichte sie ihm. Er schlug sie auf, überflog die Papiere, die sie enthielt und hob dann den Kopf.

»Wie sind Sie gerade auf mich gekommen, Frau Grünewald? Sie wissen doch sicher, dass ich noch nicht viel Erfahrung habe und …«

Sie hob eine Hand, um ihn am Weiterreden zu hindern. »Genau deshalb«, sagte sie. »Ich denke mir, Sie werden sich besonders anstrengen, weil Sie sich noch einen Namen machen müssen. Und eine meiner Freundinnen war bei Ihnen, weil sie dachte, dass ihr Mann sie betrügt. Sie war sehr beeindruckt von Ihrer Arbeit, und deshalb bin ich heute hier.«

Maria Grünewald hatte sich längst verabschiedet, Felix hatte ihre Papiere bereits ausführlich studiert, als ihm aufging, dass er nach ihrem ersten Satz einen Fehler begangen hatte, von dem er sich vornahm, ihn kein zweites Mal zu begehen: Er hatte ein Urteil gefällt, bevor er Informationen gehabt hatte. Er war nach ihrem Aussehen, ihrer Kleidung, ihrem Auftreten, dem Schmuck, dem Auto gegangen und hatte sich eingebildet, diese Hinweise reichten für ein Urteil aus. Stattdessen hatte er sich von Klischees und Vorurteilen leiten lassen. Das, schwor er sich, würde ihm nie wieder passieren.

Sie war eine Frau, die ihren Mann liebte und die ihm das Leben erhalten wollte, das er liebte. Er würde ihr, soweit es in seiner Macht stand, dabei helfen.

*

»Ich bin noch mit Filip verabredet«, sagte Maxi, als sie sich nach dem Ende der Sprechstunde von Antonia verabschiedete. Es war für sie beide ein eher ruhiger Tag gewesen, ohne Notfälle, ohne schwer erkrankte Kinder, ohne überängstliche Eltern, die ihnen manchmal das Leben schwermachten.

»Du sagst das, als … als wäre es keine normale Verabredung«, erwiderte Antonia. Sie wollte nicht aufdringlich erscheinen, deshalb drückte sie sich so vorsichtig aus.

»Das ist es auch nicht, glaube ich«, sagte Maxi zögernd. »Ich glaube, ihn treibt etwas um, worüber er mit mir nicht reden will, und das beunruhigt mich. Es kann sein, dass ich ganz falsch liege mit diesem Gefühl, aber irgendwie …«

Antonia beschloss, sich nun doch ein bisschen weiter vorzuwagen. »Du meinst aber nicht, dass das, worüber er nicht reden will, mit diesen Überfällen zu tun hat, oder?«

»Doch, das vermute ich schon. Ich glaube, er fühlt sich noch immer nicht ganz freigesprochen, so, als hinge noch ein Rest von Verdacht über ihm.«

»Ist das denn so?«

»Woher soll ich das wissen? Ich denke eigentlich nicht, aber etwas treibt ihn um – und was sollte das sonst sein?«

»Hast du ihn mal ganz direkt danach gefragt?«

Maxi schüttelte den Kopf. »Ich traue mich nicht, stell dir vor. Ich mag ihn sehr, er ist der erste Mann seit meiner Scheidung, den ich wirklich gernhabe.«

Antonia wagte sich noch weiter vor. »Ist es nicht mehr als Gernhaben?«, fragte sie.

Maxi errötete, wich aber nicht aus. »Doch«, antwortete sie leise. »Es ist mehr als das. Auf jedes unserer Treffen freue ich mich unbändig. Aber … es gibt eben diese unsichtbare Grenze, die ich nicht überwinden kann.«

»Ich glaube«, sagte Antonia langsam, »ich an deiner Stelle würde ihn fragen. Es wäre einen Versuch wert. Er wird es dir schon sagen, wenn er dir nicht antworten will – und vielleicht sogar, warum er das nicht will. Dann wärst du zumindest diese Unsicherheit los.«

Maxi nickte zögernd. »Überlegt habe ich mir das auch schon«, gestand sie.

»Sag mal, du denkst aber nicht, dass er tatsächlich etwas mit den Tankstellenüberfällen zu tun haben könnte, oder?«

Da lachte Maxi plötzlich und sah aus wie befreit. »Wirklich nicht!«, rief sie. »Diese Idee ist einfach absurd!«

Diese Antwort beruhigte Antonia, aber das Gespräch mit Maxi verfolgte sie noch, bis sie zu Hause eintraf. Dort jedoch wurden die Sorgen ihrer Kollegin durch das Wiedersehen mit Simon in den Hintergrund gedrängt – und durch das unfassbar gute Essen, das er den ganzen Tag über mit Hingabe für Laurins, seine Schwester Lili und sich selbst gekocht hatte.

Es wurde ein schöner Abend, mit viel Gelächter, vielen weiteren Liebeserklärungen an Simon, die er halb verlegen, halb stolz über sich ergehen ließ, und mit etlichen Anekdoten aus der Klinikküche, die seine Sympathie für die Küchenbrigade zum Ausdruck brachten: Er hatte sich dort wohlgefühlt und war sehr dankbar, dass er diese Erfahrung hatte machen dürfen.

»Aber jetzt«, brachte Kevin es schließlich auf den Punkt, »bist du wieder hier, und da bleibst du auch erst einmal!«

»Aber ihr seid doch gut klargekommen ohne mich«, wandte Simon ein.

Kevin war um eine Antwort nicht verlegen. »Ja, aber doch nur, weil wir uns deinetwegen so angestrengt haben. Wir wollten nicht, dass du auch noch mit uns Stress hast!«

Was natürlich eine weitere Liebeserklärung an Simon war, der Kevins Worte auch genauso auffasste und sich sehr darüber freute.

*

Maxi kam gar nicht dazu, Antonias Rat zu befolgen, denn Filip war schneller. Er hatte sie zum Essen in eine Tapas-Bar eingeladen und sagte direkt nach der Bestellung: »Ich fliege morgen für zwei Tage nach Stettin, ich muss da etwas klären, es ist wichtig für mich.«

»Geht es noch um diese Überfälle?«

»Ja, natürlich. Der Täter ist nicht gefasst worden, und mir ist etwas zu Ohren gekommen, dem ich nachgehen muss. Wahrscheinlich hätte ich dir schon früher davon erzählen sollen, aber ich habe es nicht fertiggebracht. Und tatsächlich ist es so, dass ich lieber darüber reden würde, wenn ich weiß, ob an dem Gerücht, das ich gehört habe, etwas Wahres dran ist.«

Maxi atmete tief durch. »Ich habe gespürt, dass es etwas gibt, das du mir nicht sagen willst, das hat mir zu schaffen gemacht.«

»Das habe ich befürchtet, es tut mir sehr leid. Ich will dich ganz bestimmt nicht auch noch mit meinen Problemen belasten.«

Sie griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand, ohne lange zu überlegen. »Es belastet mich mehr, wenn ich mit meinen Gedanken allein bin«, sagte sie ruhig.

Er legte seine andere Hand auf ihre. »Hattest du jemals Zweifel daran, ob ich dir die Wahrheit sage?«

Sie lächelte. »Nein, nicht einmal ganz am Anfang, als ich noch sehr viel weniger über dich wusste. Seltsam, oder?«

»Vielleicht ist es seltsam, für mich ist es vor allem schön. Und ich schwöre dir, ich werde dich niemals anlügen.«

Die Kellnerin kam, sie lösten ihre Hände voneinander, und dann sprachen sie über andere Dinge. Sie hatten von Anfang an gut miteinander reden können, und das konnten sie auch an diesem Abend. Beide wussten sie, dass Filip berichten würde, was er in Stettin erfuhr oder auch nicht erfuhr. Darüber mussten sie jetzt kein Wort mehr verlieren und taten es auch nicht.

Später, vor dem Haus, in dem Maxi wohnte, küssten sie sich zum ersten Mal, und dass das passieren würde, hatten sie ebenfalls vorher gewusst. Danach hielt Filip Maxi noch eine Weile in den Armen, bevor er leise fragte: »Verstehst, dass ich mich auch innerlich frei fühlen muss, bevor ich es zulassen kann, dass wir uns näherkommen? Ich will, dass der Mann, der die Überfälle begangen hat, dafür ins Gefängnis kommt. Ich will, dass auch die letzten Zweifel an meiner Unschuld ausgeräumt sind. Vorher …« Er brach ab, bevor er langsam weitersprach. »Vorher kann ich nicht frei atmen. Es ist, als läge mir ein Felsbrocken auf der Brust, der mir die Luft abschnürt.«

»Natürlich verstehe ich das«, erwiderte Maxi. »Und uns drängt ja nichts, oder? Wir haben Zeit.«

Sein Blick war zunächst ungläubig, dann begann er zu lächeln. »Es ist schön, dass du das gesagt hast. Wir haben Zeit. Ich dachte bisher immer …« Wieder unterbrach er sich.

»Du hast falsch gedacht«, sagte sie sanft. »Natürlich willst du diesen Druck, den du verspürst, so schnell wie möglich loswerden, aber meinetwegen musst du dich nicht beeilen.«

»Ich melde mich sofort, wenn ich zurück bin.«

»Tu das«, erwiderte Maxi, und dann küsste sie ihn zum Abschied noch einmal.

*

Pina hatte viel zu tun. Drei neue Fälle – viel Arbeit, wenig Geld, wie immer – würden sie vermutlich über diese Woche hinaus beschäftigen. Außerdem hatte sie in Erfahrung gebracht, dass es sich bei der alten Dame, die verletzt vor der Kayser-Klinik aufgetaucht war, um die demente Bewohnerin eines Pflegeheims handelte, die schon öfter weggelaufen war, nur hatte sie bislang das Glück gehabt, dass ihr nichts passiert war. Dieses Mal aber hatte offenbar ein unachtsamer Radfahrer sie angefahren und anschließend die Flucht ergriffen. Es gab mehrere übereinstimmende Zeugenaussagen. Nach dem Radfahrer wurde noch gefahndet. Der alten Dame ging es schon wieder recht gut, sie würde bald in ihre gewohnte Umgebung zurückkehren können.

Jetzt lief Pina zum Libanesen, um eine Teigtasche mit pikanter Füllung zu kaufen, denn sie hatte keine Zeit, um sich etwas zu kochen. Natürlich stand eine Schlange dort, aber die Abfertigung war fix, wie sie aus Erfahrung wusste. Vor ihr stand ein schlaksiger Blonder, der, als er sich einmal umdrehte, freundlich auf sie heruntergrinste. Da fiel ihr erst auf, dass er ihr in den letzten Tagen schon einige Male über den Weg gelaufen war, während sie ihn vorher noch nie in dieser Gegend gesehen hatte.

»Bist du neu hier?«, fragte sie.

Er nickte. »Vor vier Wochen hergezogen«, antwortete er. »Ich habe das Detektivbüro vorne an der Ecke aufgemacht.«

»Ach, du bist das? Mir ist der Name aufgefallen.«

Sein Grinsen wurde breiter. »Felix oder Siebenschön?«

»Spinner. Ich bin Pina Atak und habe mich gerade als Anwältin selbstständig gemacht.«

»Das ist ja wunderbar!«, rief er aus.

»Wieso das?«

»Na, wir können uns bei bestimmten Fällen bestimmt gegenseitig helfen. Willst du dich nicht vielleicht auf kostspielige Ehescheidungen spezialisieren? Ich habe nämlich mittlerweile das Gefühl, dass ich mein Berufsleben vor allem mit dem Aufspüren von Beweisen für die Untreue von Ehefrauen und Ehemännern zubringen werde. Eine wirklich düstere Aussicht. Geteiltes Leid wäre halbes Leid.«

Pina musste lachen, zugleich rümpfte sie die Nase. »Da bist du bei mir leider ganz falsch. Ich habe doch nicht Jura studiert, um so was zu machen. Ich will mich für mehr Gerechtigkeit einsetzen.«

Sein Blick wurde nachdenklich. »Ich eigentlich auch«, gestand er. »Wollen wir zusammen essen? Dann sag mir, was du willst, ich bin gleich dran.«

»Ich nehme die Nummer fünf«, sagte sie. »Viel Zeit habe ich nicht, ich muss schnell wieder an die Arbeit, aber eine halbe Stunde kann ich rausschinden.«

Gleich darauf wanderten sie mit ihren Teigtaschen zum nahegelegenen Park, wo sie sich auf eine Bank setzten.

Pina erzählte Felix von den Menschen, denen sie zu helfen versuchte, er erzählte ihr, ohne allzu sehr in die Einzelheiten zu gehen, von Maria Grünewald und ihrem Anliegen. »Als sie hereinkam, dachte ich sofort: Noch eine Ehefrau mit untreuem Mann, den ich überwachen soll. Hinterher habe ich mich sehr geschämt, weil ich meinen eigenen Vorurteilen aufgesessen bin. Das ist im Augenblick mein Hauptfall, aber der ganze Rest ist, wenn ich ehrlich sein soll, ziemlich öde. Ich hatte vorher keine Ahnung, wie viele Männer in gehobener Posi­tion eine Affäre mit ihrer Sekretärin haben. Ich dachte sogar, dass es im digitalen Zeitalter kaum noch Sekretärinnen gibt, aber da habe ich mich offenbar gründlich getäuscht.«

»Die heißen jetzt Assistentinnen«, erklärte Pina. »Du bist also frustriert.«

»Ein bisschen schon. Du nicht?«

»Doch. Wenn ich nämlich so weitermache wie bisher, werde ich finanziell nie auf einen grünen Zweig kommen, dafür aber spätestens mit Mitte dreißig überlegen, mir einen anderen Beruf zu suchen.«

»Über diese Aussicht habe ich auch schon nachgedacht.«

»Du hast aber, im Gegensatz zu mir, wenigstens einen richtig großen Fall, der dir im Zweifel auch ordentlich Geld einbringt. Und wenn nicht, dann aber wenigstens einen guten Ruf.«

»Nur, wenn ich erfolgreich bin«, murmelte Felix. »Dieser Bruder des Ehemannes ist ein richtiger kleiner Halunke, nach allem, was ich bis jetzt zusammengetragen habe.«

»Und was ist das?«

Er erklärte es ihr, immer bemüht, nichts zu verraten, woraus sie auf die Identität von Frau Grünewald hätte schließen können.

»Der ist ja offenbar richtig kriminell!«

»Ist er, und ich habe schon angefangen, ein paar Beweise zu sammeln. Er ist zwar gerissen, aber er bildet sich ein, schlauer zu sein als alle anderen. Das wird ihm zum Verhängnis werden.«

»Hast du schon mit der Frau gesprochen? Der Affäre?«

»Ich beschatte sie vorsichtshalber nur. Wenn sie nämlich mit dem Bruder gemeinsame Sache macht, will ich sie nicht kennenlernen, weil sie ihm dann sofort erzählt, dass ein Detektiv hinter ihm her ist. Er soll sich sicher fühlen.«

Sie warf ihm einen anerkennenden Blick zu, woraufhin er sie fragte: »Wie hoch ist dein Stundensatz?«

»Willst du mich engagieren?«

»Warum nicht, wenn es uns beiden helfen könnte?«

Sie sah, dass er es ernst meinte, und plötzlich fragte sie sich: Warum nicht? Sie hatte sich ja auch immer vorgestellt, dass sie sich nicht allein selbstständig machen würde, sondern mit einer Partnerin, weil sie gern im Team arbeitete, nur hatte sie bis jetzt die passende Person nicht gefunden. Die Zusammenarbeit mit Felix würde anders sein als geplant, aber warum sollte sie nicht funktionieren? Einen Versuch war es vielleicht wert.

Felix war zwar kein Jurist, aber sein Arbeitsgebiet überschnitt sich an etlichen Stellen mit ihrem – und bei dem Fall, um den es ging, konnte er juristischen Rat mit Sicherheit gut gebrauchen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, setzte er hinzu: »Ich bin übrigens auch Jurist, also, beinahe jedenfalls. Ich habe kurz vor dem ersten Examen gekniffen, mir war das alles zu anstrengend. Also ich … na ja, ich habe nicht besonders fleißig studiert, muss ich gestehen. Meine Eltern waren natürlich sauer und haben ihre Zahlungen eingestellt, aber ich habe mich nicht überreden lassen. Ich hatte ein paar schlecht bezahlte Jobs, bis mir der Gedanke kam, mich als Detektiv selbstständig zu machen … Besonders stolz bin ich nicht drauf, dass ich das Studium nicht beendet habe.«

»Das machst du aber noch«, sagte Pina. »Wie blöd ist das denn, kurz vor dem Abschluss abzubrechen?«

»Hör mal, ich hätte jetzt überhaupt nicht mehr die Zeit …« Felix brach ab, als er Pinas funkelnde Augen sah.

»Wenn wir zusammenarbeiten wollen, machst du deinen Abschluss!«, sagte sie. »Du bist gut, das habe ich schon gemerkt, als du von deinem großen Fall erzählt hast. Wieso warst du so faul im Studium?«

Sie brachte ihn in Verlegenheit, aber er bemühte sich um eine ehrliche Antwort. »Es gab so viel anderes, was mich mehr interessiert hat. Wenn du es genau wissen willst: Ich ärgere mich mittlerweile selbst grün und blau über mich, und ich hatte auch schon überlegt, noch einmal anzutreten, aber irgendwie hat mir der letzte Anstoß gefehlt.«

»Den hast du jetzt«, sagte Pina. »Ich glaube nämlich, wir wären ein gutes Team.«

Seine Augen wurden groß vor Überraschung. »Du meinst, nicht nur bei meinem aktuellen Fall?«

»Genau das meine ich. Ich bin eigentlich besser im Team, als Einzelkämpferin habe ich mich bislang nicht gesehen. Ich habe nach einer Partnerin Ausschau gehalten, aber keine gefunden, mit der ich mich so gut verstanden habe, dass ich mein Arbeitsleben mit ihr teilen wollte. Ich glaube, mit dir würde das gehen.«

»Bist du immer so schnell mit deinen Entscheidungen?«

Sie nickte. »Ja, wenn mein Bauch sagt: ›Mach das!‹, dann höre ich auf ihn. Melde dich gleich heute wieder an der Uni an – und mach denen klar, dass du jetzt fleißiger sein wirst als bisher.«

Er hatte noch immer Mühe mit ihrem Tempo. »So einfach, wie du dir das vorstellst, ist das nicht, ich muss zuerst …«

Sie unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Ist mir egal, was du musst. Du schreibst dich ein, und ich helfe dir bei deinem Fall ohne Bezahlung. Danach wissen wir dann wenigstens, ob wir es überhaupt aushalten, wenn wir zusammenarbeiten. Und jetzt komm mit, ich zeige dir, wo mein Büro ist. Und dann will ich deines sehen.«

»Du gehst ja ganz schön ran!«, stellte er fest.

»Ich weiß nur, was ich will. Und noch besser weiß ich, was ich nicht will! Hm, das war lecker. Ich hätte zwei von diesen Teigtaschen nehmen sollen.«

Sie erinnerte ihn an eine Katze, die gerade einen Sahnetopf ausgeschleckt hatte. Er musste lachen. Sie gefiel ihm, sehr sogar. Eine Frau wie sie war ihm bis jetzt noch nicht über den Weg gelaufen. Er kannte sie gerade mal eine halbe Stunde, aber dem Gefühl nach war sie bereits eine sehr gute Freundin.

Er gab ihr in seinem Büro ein paar Unterlagen über den Fall Grünewald mit, die sie bis zum nächsten Tag lesen würde. Er seinerseits würde sich mit der juristischen Fakultät der Uni in Verbindung setzen. Insgeheim schüttelte er über sich selbst den Kopf. Was war denn auf einmal in ihn gefahren? Wieso hatte er jetzt das Gefühl, er werde das Examen schon schaffen, obwohl er mittlerweile arbeiten musste, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, also viel weniger Zeit hatte, um sich auf eine Prüfung vorzubereiten?

»Ich muss verrückt geworden sein«, sagte er vor sich hin, als Pina sich verabschiedet hatte. Aber er sagte es mit einem Lächeln und fühlte sich großartig dabei.

*

Filip buchte seinen Rückflug um, nachdem ihm klargeworden war, dass seine Nachforschungen in Stettin mehr Zeit als die eingeplanten zwei Tage in Anspruch nehmen würden. Er hatte angenommen, er müsse seinen Eltern nur berichten, was ihm zu Ohren gekommen war, und schon würden sie ihm erzählen, was sie wussten – falls sie etwas wussten. Das war, wie ihm nun klar geworden war, mehr als naiv gewesen.

Vor allem sein Vater Leo hatte wie versteinert gewirkt, als Filip seinen Eltern den wahren Grund für diesen Besuch mitgeteilt hatte. Am Telefon hatte er ihnen nur gesagt, er wolle sich, bevor er wieder arbeitete, bei ihnen noch ein paar Tage lang von seiner Notoperation und deren Folgen erholen, und natürlich waren sie überglücklich über seinen angekündigten Besuch gewesen.

Seine Mutter Anna, so war es ihm zumindest vorgekommen, hatte insgeheim erleichtert reagiert, dass ein heikles Thema, über das seit Jahrzehnten eisern geschwiegen wurde, endlich zur Sprache gekommen war, aber solange sein Vater schwieg, würde auch sie kein Wort sagen, so viel stand fest.

Filip machte einen langen Spaziergang, ließ sich dieses und jenes durch den Kopf gehen und startete, als er in sein Elternhaus zurückgekehrt war, einen neuen Versuch. Wie erwartet, regte sich sein Vater gleich wieder auf, aber damit hatte Filip gerechnet. Er würde seine Eltern um Hilfe bitten müssen, damit sie verstanden, in welcher Situation er sich befand. Sie wussten zwar, dass gegen ihn ermittelt worden war, schließlich war die polnische Polizei bei ihnen gewesen, um seine Angaben noch einmal in allen Einzelheiten zu überprüfen, aber offenbar waren sie davon ausgegangen, dass er alle Sorgen los war, da er ja für mindestens einen der Überfälle ein wasserdichtes Alibi hatte vorweisen können: Er war zum fraglichen Zeitpunkt bei ihnen in Stettin gewesen.

»Von mir wirst du über diese Sache nichts hören!«, rief Leo Mazur. »Das liegt so lange zurück, es hilft niemandem, das jetzt wieder ans Licht zu holen. Die Familie hat zusammengehalten, wir …«

»Aber ich brauche eure Hilfe«, sagte Filip. »Versteht ihr das nicht? Könnt ihr euch nicht vorstellen, was diese polizeilichen Ermittlungen für mich bedeutet haben? Ich hatte zum Glück ein Alibi, aber dieser Verdacht hängt trotzdem noch in der Luft, der Fall ist nicht aufgeklärt, und so lange er das nicht ist …«

»Er wird nie aufgeklärt sein!«, erklärte sein Vater hitzig. »Dieser Mensch existiert nicht für uns, begreifst du das nicht?«

»Für euch vielleicht nicht, für mich aber schon. Er hat mich zu einem Verbrecher gemacht!« Filip hatte heftiger gesprochen als beabsichtigt, und zum ersten Mal schien sein Vater zu erschrecken und zu begreifen, welche Gefahr seinem Sohn gedroht hatte.

Seine Mutter kam ihm zu Hilfe. »Ich finde, wir sollten Filip die Wahrheit sagen, Leo. Wo er doch nun sowieso schon das Gerücht gehört hat …«

»Von wem eigentlich?«, fragte sein Vater.

»Es war ein anonymer Brief, der mich in München erreicht hat«, sagte Filip. »Zuerst habe ich gedacht, da erlaubt sich jemand einen üblen Scherz, aber dann sind mir einige Dinge von früher wieder eingefallen. Unterhaltungen, die plötzlich verstummt sind, wenn ich ins Zimmer gekommen bin, ein geflüstertes Gespräch, das ich mal belauscht habe, ein Streit, den du mit Onkel Marek hattest, Papa. Ihr habt euch schrecklich angebrüllt, aber wenig später, als Tante Danuta kam, habt ihr so getan, als wäre nichts gewesen.«

Sein Vater presste die Lippen zusammen, es war offensichtlich, dass er an solche Vorkommnisse nicht erinnert werden wollte.

»Ihr habt doch mit Maxi gesprochen«, fuhr Filip leiser fort. »Der Ärztin, die mir das Leben gerettet hat, weil sie sofort erkannt hat, dass ich Hilfe brauchte. Ich habe mich in sie verliebt, aber ich kann nicht mit ihr zusammen sein, wenn ich eine solche Last auf der Seele habe. Ich muss wissen, wer der Mann ist, der diese Überfälle begangen hat – und warum er das getan hat. Verstehst du das nicht, Papa? Ich will endlich glücklich sein, und mit Maxi könnte es mir gelingen. Aber nicht, wenn ich weiß, dass es in München immer noch Menschen gibt, die an meiner Unschuld zweifeln, Alibi hin oder her.«

»Welche Menschen? Bei der Polizei?«

»Da auch, aber ich bin nicht sicher, wie es in meiner Firma aussieht. Der Tankstellenräuber scheint mir ja wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein. Kein Wunder, dass es manchen Menschen schwerfällt, mir zu glauben, dass ich es nicht gewesen bin.«

»Und diese … Maxi?«, fragte seine Mutter tastend. »Sie hat uns ja angerufen, sie spricht sehr gut Polnisch, das muss ich schon sagen. Und sie war auch sehr nett. Glaubt sie dir?«

»Ja, sie glaubt mir, aber ich will, dass auch alle anderen mir glauben. Ich will Beweise für meine Unschuld.«

Seine Eltern wechselten Blicke. Die seiner Mutter waren flehend, die seines Vaters unsicher, verzweifelt. Dennoch sagte Leo Mazur schließlich mit brüchiger Stimme: »Also gut, wir erzählen dir die Geschichte. Möge mein Bruder mir verzeihen, dass ich das Versprechen breche, das ich ihm gegeben habe.«

*

Pina feierte ihren ersten Erfolg mit einer Mieterin, die sich gegen ihre überhöhte Miete zur Wehr gesetzt hatte. Es war ein verblüffend leichter Sieg gewesen: Schon kurz nach Eingang des Schreibens, das Pina aufgesetzt hatte, kam der Bescheid der Wohnungsgesellschaft, man werde die Mieterhöhung zurücknehmen und die zu viel gezahlte Miete erstatten. Pina konnte es kaum glauben, aber schon bald ahnte sie, warum es so leicht und schnell gegangen war: Die Wohnungsgesellschaft hatte eindeutig zu viel Geld verlangt und hoffte, durch ihr rasches Entgegenkommen den Fall zu den Akten legen zu können. Möglichst geräuschlos, natürlich.

Da habt ihr euch aber geschnitten, dachte Pina. So einfach werdet ihr nicht davonkommen, denn was ihr mit meiner Mandantin gemacht habt, habt ihr garantiert auch mit anderen gemacht. Das wird hohe Wellen schlagen, verlasst euch drauf.

Ihre Mandantin war eine Frau von siebenundsechzig Jahren, die mit einer sehr schmalen Rente auskommen musste. Nie würde Pina ihr glückliches Gesicht vergessen, als sie begriff, dass sie nicht nur nicht mehr zahlen, sondern sogar noch Geld zurückbekommen würde.

»Das sage ich gleich meinen Freundinnen, die in der gleichen Lage sind«, rief sie überglücklich. »Die schicke ich alle zu Ihnen, Frau Atak. Oder wäre Ihnen das nicht recht?«

»Aber natürlich, ich weiß ja jetzt, wie es geht«, erklärte Pina, »und ein Artikel in der Zeitung würde wahrscheinlich auch nicht schaden, um diesen Wucherern ein bisschen mehr Dampf zu machen. Je mehr öffentliche Aufregung, desto besser.«

Ihre Mandantin war nur zu gern bereit, ›ihre Heimatzeitung‹, wie sie sich ausdrückte, zu informieren, und verabschiedete sich, noch immer vor Freude strahlend.

Wenn sie ihre Ankündigung wahrmachte und noch einige Freundinnen mit dem gleichen Problem zu ihr schickte, würde sich die Angelegenheit am Ende vielleicht sogar noch lohnen, dachte Pina und beschloss, sich für diesen ersten Erfolg abends mit einem besonders guten Essen zu belohnen.

Aber sie musste nur an ihre andere Mandantin denken, die hochbetagte Dame, die aus ihrer Wohnung vergrault werden sollte, schon wurde ihr wieder klar, dass ihr noch viel mühselige Arbeit bevorstand, bevor sich vielleicht, irgendwann, doch etwas änderte und solche Machenschaften von vornherein verhindert werden konnten.

Sie wandte sich den Unterlagen zu, die Felix ihr gegeben hatte und studierte sie aufmerksam, wobei sie sich Notizen machte und gelegentlich etwas im Gesetzbuch nachschlug. Das war in der Tat eine interessante Geschichte! Sie hoffte, Felix und sie würden Marie Grünewald und ihrem Mann helfen können.

Diese Arbeit hatte sie abgeschlossen, als sie einen Anruf bekam, von Filip Mazur. »Erinnern Sie sich an mich?«, fragte er.

»Machen Sie Witze?«, rief sie. »Sie ahnen gar nicht, wie oft ich seit unserer Begegnung vor der Klinik an Sie habe denken müssen. Haben Sie Neuigkeiten?«

»Ja!«, sagte er. »Ich bin noch in Stettin, meine Nachforschungen haben länger gedauert als gedacht, aber jetzt weiß ich, wer die Überfälle begangen hat. Nicht, dass mir das viel weiterhilft, aber ich denke, Sie können mit dem, was ich herausgefunden habe, vielleicht etwas anfangen. Ich allein jedenfalls werde den Mann kaum finden.«

»Erzählen Sie mir wenigstens kurz, was Sie wissen«, bat sie.

Das tat er. Während sie ihm zuhörte, arbeitete ihr Gehirn auf Hochtouren. Es erschien ihr jetzt wie eine schicksalhafte Fügung, dass sie Felix kennengelernt hatte, denn die Fähigkeiten eines guten Detektivs würden sie brauchen, wenn sie Filip Mazur helfen wollten. Es fiel ihr nicht einmal auf, dass sie ganz selbstverständlich davon ausging, dass sie auch im Fall von Filip Mazur zusammenarbeiten würden.

»Können Sie morgen bei mir vorbeikommen?«, fragte sie.

»Morgen ist Samstag, arbeiten Sie da auch?«

»An diesem Fall schon. Wir haben es ja eilig, oder?«

»Um zehn?«

»Passt perfekt. Um zehn in meinem Büro.«

Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, lehnte sie sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schloss die Augen. Eine Weile dachte sie nach, dann rief sie Felix an.

*

»Leon!«, sagte David Burgmüller überrascht, als er den Klinikchef vor seiner Wohnungstür stehen sah. »Willst du dich vergewissern, dass ich wirklich noch nicht arbeiten kann oder ist das ein Freundschaftsbesuch?«

»Es ist der Besuch eines Arztes und Freundes«, erklärte Leon. »Ich untersuche dich, nehme dir Blut ab, wir überprüfen noch einmal die Werte. Lieber wäre es mir gewesen, du hättest dich ein paar Tage freiwillig in die Klinik begeben, damit wir dich in Ruhe noch einmal durchchecken können, aber du hast dich ja geweigert.«

»Ich will so schnell wie möglich wieder arbeiten, das kannst du dir doch sicher vorstellen! Und im Krankenhaus war ich in Bangkok lange genug, ich habe von Krankenhäusern genug.«

»Das glaube ich dir. Lässt du mich trotzdem rein?«

»Entschuldige bitte, natürlich.«

»Du hast Gewicht verloren«, stellte Leon fest.

»Ja, eine Erholung war der Bangkok-Aufenthalt nicht«, seufzte David. »Aber seit ich hier bin, ist schon ein Kilo wieder drauf. Lucie ist sehr ehrgeizig, was das betrifft, sie stopft mich mit den köstlichsten Sachen voll, so dass ich nicht widerstehen kann, auch wenn ich keinen großen Appetit habe. Die Arbeit fehlt mir sehr, Leon.«

»Warten wir die Ergebnisse der Blutuntersuchung ab. Ich untersuche jetzt deine Lunge noch einmal. Das hier ist ein mobiles Ultraschallgerät.«

»Also, die haben doch meine Lunge dauernd untersucht und hätten mich nicht entlassen, wenn …«

»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«, sagte Leon ruhig, daraufhin ließ David die Untersuchung ebenso widerstandslos über sich ergehen wie die Blutabnahme.

»Ich rufe dich an, wenn die Laborergebnisse vorliegen«, sagte Leon. »Deine Lunge ist in Ordnung, aber du musst es auf jeden Fall am Anfang langsam angehen lassen, David.«

»Wird mir gar nichts anderes übrigbleiben, so schlapp, wie ich mich fühle«, murrte David. »Lucie wollte mich zuerst nicht einmal aus dem Haus gehen lassen, aber allmählich beruhigt sie sich wieder. Jetzt laufe ich jeden Tag durch den Park, damit meine Puddingbeine allmählich verschwinden.«

Leon blieb noch eine halbe Stunde, in der sie über andere Dinge als Krankheiten sprachen, was David sichtlich guttat.

Zurück in der Klinik bekam Leon überraschenden Besuch von Marie Laube. Marie war die älteste Schwester der Kayser-Klinik, sie war schon hier gewesen, als Leons Schwiegervater, Professor Joachim Kayser, die Klinik gegründet hatte. Marie war also eine Institution, jemand hatte sie einmal ›die Seele der Klinik‹ genannt, und daran war viel Wahres. Schon als ganz junge Schwester hatte Marie einen besonderen Draht zu den ihr anvertrauten Menschen gehabt, die Patientinnen und Patienten vertrauten ihr Geheimnisse an, über die sie sonst mit niemandem sprachen, und vieles von dem, was sie ihr nicht verrieten, erfasste Marie instinktiv.

»Ich glaube, Chef, wir haben ein Problem«, sagte Marie.

Leon hatte sich länger bei David aufgehalten als geplant, er war bereits unter Zeitdruck, aber wenn Schwester Marie von einem Problem sprach, war die Lage ernst. Er bat sie in ein Büro.

»Nehmen Sie Platz und sagen Sie mir, was los ist.«

»Sie haben von der verwirrten und verletzten alten Dame gehört, die vor der Klinik aufgetaucht ist?«

»Ja, natürlich, ich bin sogar schon bei ihr gewesen. Da war sie allerdings nicht ansprechbar. Frau Stadler, richtig?«

Marie nickte.

»Ist sie noch bei uns?«, fragte Leon verwundert. »Sie sollte doch längst wieder in ihrem Pflegeheim sein.«

»Ich habe das verhindert«, erklärte Marie. »Ich glaube nämlich, dass sie da nicht gut behandelt wird. Sie hatte wundgescheuerte Hand- und Fußgelenke – und mittlerweile denke ich, dass sie gar nicht dement ist, sondern einfach so mit Medikamenten vollgepumpt war, dass sie deshalb so einen verwirrten Eindruck gemacht hat. Es waren jetzt schon zweimal Leute von dem Heim da, die es sehr eilig hatten, sie abzuholen. Die haben mir überhaupt nicht gefallen, und die Frau Stadler hat geschrien vor Angst, als sie sie gesehen hat. Ich habe die Leute weggeschickt, aber ich bin sicher, beim nächsten Mal kommt ein Verwandter und nimmt sie mit. Da stimmt was nicht, das spüre ich.«

»Und was vermuten Sie?«

»Frau Stadler ist reich, glaube ich. Gestern hatte ich Nachtdienst, und sie war ziemlich munter, da hat sie mir ein bisschen was erzählt, und ich kann nur sagen, dass sie kein bisschen verwirrt gewirkt hat. Ihr Vater hat ein Textilunternehmen gegründet und ist damit reich geworden. Die Leitung der Firma ist nach dem Tod der Eltern von Frau Stadlers Bruder und danach von dessen Sohn übernommen worden, Frau Stadler besitzt Anteile. Der Bruder hat das Unternehmen noch vergrößert, ist dann aber relativ früh gestorben, jetzt ist sein Sohn, also Frau Stadlers Neffe, am Ruder, seitdem geht es steil bergab. Die Firma soll daher, so lange sie überhaupt noch einen Wert hat, verkauft werden. Dagegen sträubt sich Frau Stadler, sie denkt, eine andere Leitung würde das Unternehmen wieder auf Erfolgskurs bringen können. Der Neffe und seine Frau haben sich an ihren aufwändigen Lebensstil so gewöhnt, dass sie weiterhin auf großem Fuß leben, obwohl sie sich das im Grunde schon länger nicht mehr leisten können. Diese beiden könnten Diejenigen sein, die die lästige alte Tante, die ihren Plänen im Wege steht, loswerden wollen.«

»Das ist Ihr Verdacht.«

»Ja, Beweise habe ich nicht, aber, Chef, es gab doch zwei Leute, die Frau Stadler vor der Klinik geholfen haben. Eine davon war eine Rechtsanwältin, sie hat ihre Karte hiergelassen und auch noch einmal angerufen, um zu hören, wie es Frau Stadler geht. Das fand ich sehr nett. Pina Atak heißt sie.«

»Ach«, sagte Leon, »die kenne ich.«

Marie lächelte nur und wartete.

Leon erinnerte sich an sein letztes Gespräch mit Pina Atak und entschied sich schnell.

»Ich schlage vor, wir machen Folgendes, Marie …«, sagte er.

Pina und Felix wussten es noch nicht, aber wenig später würden sie, noch bevor ihre Zusammenarbeit richtig begonnen hatte, ihren dritten größeren gemeinsamen Fall haben.

*

»Gibt es Neuigkeiten von Filip?«, fragte Antonia, als Maxi und sie an diesem Freitagmittag einen Salat beim Italiener aßen.

»Ja«, antwortete Maxi, »er kommt heute Abend zurück, mit Neuigkeiten. Offenbar weiß er jetzt, wer die Überfälle begangen hat.«

»Was?«, rief Antonia überrascht.

»Es muss eine längere Geschichte sein, die er mir erst erzählen will, wenn er wieder hier ist. Er hat sehr aufgewühlt gewirkt, offenbar hat er alte Wunden wieder aufgerissen, und es gab erheblichen Widerstand gegen seine Nachforschungen.«

»In der Familie?«

»Ich glaube schon. Er konnte nicht lange reden, wir haben unser Gespräch auf heute Abend verschoben. Seine Maschine landet gegen acht, ich werde ihn am Flughafen abholen. Ich bin ziemlich aufgeregt, muss ich gestehen.«

»Das kann ich gut nachvollziehen. Hast du Angst?«

»Das auch, ein bisschen zumindest. Ich zermartere mir seit seinem Anruf das Hirn, was er wohl in Erfahrung gebracht haben könnte, aber mir fällt nichts ein, das Sinn ergibt.«

»Dann versuch, diese Gedanken zu verdrängen, du machst dich nur verrückt damit. Heute Abend ist früh genug für die Lüftung des Geheimnisses.«

Maxi lächelte abwesend. »Das stimmt natürlich, aber du weißt ja, wie das ist, wenn dir eine Geschichte einfach nicht aus dem Kopf will. Und hinzu kommt noch …«

Sie brach ab, aber Antonia hatte sie auch so verstanden. »Dazu kommt, dass du ihn liebst und Angst hast, er könnte dir etwas sagen, das dir nicht gefällt.«

Maxi biss sich auf die Lippen. »Ja«, gab sie leise zu.

»Ich denke, das ist normal. Ihr kennt euch noch nicht lange, du weißt bislang nicht viel über ihn. Er hat dir gleich gefallen, aber man weiß ja, dass Liebe blind macht und Gefühl in die Irre führen können«, sagte Antonia ruhig. »Aber du bist nicht blind in diese Geschichte gestolpert, und er auch nicht. Ich finde es bemerkenswert, dass er versucht, die Sache aufzuklären, obwohl er offiziell gar nicht mehr unter Verdacht steht.«

Maxi nickte nur, sie hatte plötzlich Tränen in den Augen.

Antonia widmete sich dem Salat, um ihrer Kollegin die Möglichkeit zu geben, sich wieder zu fassen.

Sie blickte erst auf, als Maxi mit ihrer normalen Stimme: »Dankeschön«, sagte.

»Da nich‘ für, wie die Norddeutschen sagen«, lächelte Antonia.

Bevor sie sich auf den Rückweg zur Praxis machten, umarmten sie einander.

*

Beim Familien-Abendessen berichtete Leon von Schwester Maries Verdacht, dass eine Patientin der Kayser-Klinik in ihrem Pflegeheim durch gewaltsame Maßnahmen und schädliche Medikamente nach und nach ›ruhiggestellt‹ würde.

»Du meinst, sie soll umgebracht werden?«, fragte Kyra.

Leon hatte den Fall bewusst ­zurückhaltend und allgemein geschildert, aber er sah nun, dass die Kinder genau verstanden hatten, welche Tragweite er hatte. »Das ist­ Schwester Maries Verdacht«, räumte er ein.

Kyra war blass geworden, auch die anderen sahen entsetzt aus. »Und was macht ihr jetzt, Papa?«, fragte Kyra.

Er wusste mittlerweile ein bisschen mehr als zum Zeitpunkt seines Gesprächs mit Schwester Marie, weil er festgestellt hatte, dass das bewusste Heim schon öfter in die Schlagzeilen geraten war. Dabei war es ein eher teures Heim. Aber offenbar war der Mangel an Pflegekräften so groß, dass auch Leute eingestellt wurden, die den Anforderungen des Berufs vor allem charakterlich in keiner Weise genügten. Und die Arbeitsüberlastung war so hoch, dass es einzelnen Personen gelingen konnte, unterm Radar zu bleiben, wenn sie die ihnen anvertrauten Menschen nicht so behandelten, wie sie es hätten tun sollen.

»Wir behalten sie in der Klinik, und ich habe eine Anwältin eingeschaltet«, sagte er. »Außerdem habe ich mit Andy gesprochen, wie wir verhindern können, dass jemand sie gegen ihren und unseren Willen aus der Klinik holt.«

Kriminaloberkommissar Andreas Berg war sein Schwager, der Mann seiner Schwester Sandra, der auch mit dem Fall von Filip Mazur beschäftigt war – beziehungsweise mit den Überfällen auf Tankstellen, die noch immer nicht hatten aufgeklärt werden können.

»Die alte Dame ist jedenfalls nicht dement, das steht schon einmal fest«, fuhr Leon fort. »Sie hat ein paar alterstypische Gedächtnis- und Orientierungsschwächen, aber sie gehört keineswegs auf eine Station für demente Menschen. Ich bin nach dem Gespräch mit Marie bei ihr gewesen und habe alles, was sie mir vorher erzählt hat, bestätigt gefunden. Mit guter Unterstützung könnte sie noch immer in ihrem Haus wohnen. Offenbar betreiben der Neffe und seine Frau ihre Entmündigung, und sie haben sich ein Heim gesucht, in dem Leute arbeiten, die bereit sind, ihnen bei der Erreichung dieses Ziels zu helfen. Wer weiß, was sie denen dafür bezahlen. Vermutlich mehr, als die sonst in ihrem ganzen Leben verdient hätten.«

»Meinst du, das kommt oft vor, Papa?«, fragte Kyra.

»Klar«, antwortete Kevin an Leons Stelle. »Wenn es um viel Geld geht, drehen viele Leute durch. Sie denken, wenn sie nie mehr arbeiten müssen, werden sie bis an ihr Lebensende glücklich sein. Und später stellen sie fest, dass sie sich geirrt haben.«

»Ekelhaft«, stellte Konstantin fest.

»Und kriminell«, setzte Kaja hinzu. »Kriegt ihr diese Leute, die dahinterstecken, Papa?«

»Ich hoffe, die Polizei kriegt sie. Oder die Anwältin. Die kenne ich zufällig, sie hat mir erzählt, dass sie jetzt mit einem Detektiv zusammenarbeitet. Eine sehr kluge junge Frau, die ihren Beruf voller Begeisterung ausübt. Sie ist eine von den Anwältinnen, die Ungerechtigkeit nicht vertragen und deshalb kämpft sie wie eine Löwin, wenn sie denkt, dass jemandem ein Unrecht geschieht. Übrigens solltet ihr über diese Geschichte nicht außerhalb der Familie reden.«

»Das war jetzt aber echt überflüssig, Papa«, sagte Kevin. »Willst du uns beleidigen?«

»Das wollte ich auch gerade fragen«, setzte Kaja hinzu.

»Ich auch«, sagten Kaja und Konstantin wie aus einem Mund.

Leon hob entschuldigend beide Hände. »Ich dachte nur, ich erinnere euch noch einmal daran. Diese Geschichte unterliegt zwar nicht direkt der ärztlichen Schweigepflicht, es ist ja, wie es aussieht, eher eine Kriminalgeschichte, aber trotzdem …«

»Aber trotzdem könnten wir jetzt beleidigt sein«, fand Kevin.

»Kommt nicht wieder vor, ich bitte euch in aller Form um Entschuldigung.«

»Ich will auf jeden Fall wissen, wie das weitergeht«, sagte Kyra.

»Ist das nicht auch ein Fall für die Medien?«, fragte Kaja. »Wenn dieses Heim schon mehrmals ins Gerede gekommen ist, stürzen die sich doch bestimmt darauf.«

»Ich schätze, die junge Anwältin und der junge Detektiv kommen auch auf diese Idee«, sagte Leon. »Die alte Dame ist reizend, und ich bin nur froh, dass bei uns Menschen wie Schwester Marie arbeiten.«

Daraufhin machte Kaja ein betrübtes Gesicht. »Bis ich fertige Ärztin bin und in der Klinik arbeite, ist Schwester Marie nicht mehr da«, sagte sie.

Antonia lächelte ihrer großen Tochter zu.

»Bis dahin ist vielleicht eine nachgewachsen, die jetzt noch jung ist, die sich aber an Schwester Marie ein Beispiel genommen hat.«

Kajas Blick war skeptisch, schließlich jedoch nickte sie, und ganz allmählich wandte sich das Tischgespräch anderen Themen zu. Aber allen war anzumerken, dass die Geschichte der angeblich dementen alten Dame, die ihren Verwandten im Weg war, noch in ihnen nachhallte.

So war es auch bei Antonia und Leon, die noch einmal über den Fall sprachen, als die Kinder bereits oben in ihren Zimmern waren. »Das ist eine schreckliche Geschichte, Leon«, sagte Antonia. »Wie muss diese alte Dame sich fühlen? Einsam, verlassen, verfolgt von Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen als ihren baldigen Tod …«

Leon zog sie an sich und hielt sie fest. »Wir werden gemeinsam mit der Anwältin und Andy dafür sorgen, dass ihr nichts passiert!«, sagte er. »Das ist ein Versprechen, Antonia.«

*

Maxi und Filip sprachen kaum auf dem Weg vom Flughafen zu Maxis Wohnung. Schon zur Begrüßung hatten sie einander lange umarmt, ohne viel zu reden. Maxi war gleich aufgefallen, wie blass Filip war, wie müde er aussah – als hätte er in den vier Tagen, in denen er weggewesen war, nicht geschlafen.

Sie hatte einen Gemüseauflauf vorbereitet, aber Filip sagte, als sie ihre Wohnung erreicht hatten: »Ich kann jetzt nichts essen, Maxi, ich muss dir zuerst die Geschichte erzählen.«

»Ist mir recht, im Augenblick habe ich auch keinen Hunger. Komm, wir setzen uns ins Wohnzimmer.«

Sie tranken Wasser, Filip versuchte, sich zu sammeln. Als er anfing zu reden, kamen die Worte nur stockend, aber allmählich wurde sein Bericht flüssiger.

»Mein Vater hat einen älteren Bruder, meinen Onkel Marek. Die beiden haben einander immer sehr nahegestanden. Das blieb auch noch so, als Marek seine Frau Danuta geheiratet hat. Mein Vater mochte Danuta, und Danuta war froh, dass die beiden Brüder so ein gutes Verhältnis hatten. Danuta und Marek haben drei Töchter und einen Sohn bekommen. Mir kamen sie immer wie die perfekte Familie vor, ich war oft bei ihnen, weil ich ja keine Geschwister hatte.«

Filip unterbrach sich, suchte erneut nach Worten. »Ich war noch ziemlich klein, als mir auffiel, dass sich etwas geändert hatte, aber nach einer Weile schien es dann so, als sei alles wieder wie immer, deshalb habe ich es dann wohl vergessen. Es war während einer von Tante Danutas Schwangerschaften. Mein Vater und sein Bruder stritten einige Male, ich hörte ein Gespräch zwischen meinen Eltern, das ich nicht verstand und das sie abbrachen, als sie mich bemerkten. Und Danuta hat sich einmal bei meiner Mutter ausgeweint, ich weiß nicht, worüber. Wie gesagt, diese kleinen Begebenheiten hatte ich völlig vergessen, bis ich vor kurzem einen anonymen Brief hier in München bekam, in dem stand, dass es in meiner Familie ein Geheimnis gibt, dem ich nachgehen sollte, wenn ich wissen wollte, wer mein Doppelgänger ist.«

Maxi zog hörbar die Luft ein, sagte aber nichts.

»Ich habe gar nicht erst versucht, am Telefon etwas aus meinen Eltern herauszubekommen, denn ich wusste, ich würde keinen Erfolg haben, deshalb bin ich nach Stettin geflogen. Zuerst haben meine Eltern gemauert, vor allem mein Vater, bis ich ihnen erläutert habe, was der nicht ganz ausgeräumte Verdacht, unter dem ich gestanden habe, für mich bedeutet. Herausgekommen ist, dass mein Onkel Marek während Danutas dritter Schwangerschaft eine Affäre mit einer jungen Frau aus einer benachbarten Kleinstadt hatte – und dass diese Frau einen Sohn von ihm bekommen hat. Danuta hatte damals nur einen Verdacht, meine Eltern aber haben die Wahrheit herausbekommen. Marek hat sie beschworen, ihn nicht zu verraten, und meine Eltern haben sich darauf eingelassen. Irgendwie ist es Marek gelungen, Danuta zu besänftigen, bis sie ihm geglaubt hat, dass er wirklich nur geschäftlich so viel unterwegs war, und meine Eltern haben ihr Versprechen gehalten. Bis jetzt.«

»Und dieser Sohn ist …?«

»Ja, offenbar. Ich habe ein paar Fotos von ihm gesehen, als Kind und als sehr junger Mann. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass meine Mutter es übernommen hat, Kontakt zu Mareks Freundin aufzunehmen und sie ebenfalls zu besänftigen, damit sie ihm keine Schwierigkeiten macht. Sie haben ihr wohl auch Geld gegeben, damit sie stillhält. Auf den Fotos, die ich gesehen habe, also … das hätte auch ich sein können. Er ist ja etwas jünger als ich, ein paar Jahre, aber die Ähnlichkeit ist verblüffend.«

»Aber wieso sollte er in München Tankstellen überfallen? Denkst du, das ist Zufall? Oder ist er deinetwegen hierhergekommen?«

»Das habe ich meine Eltern auch gefragt. Meine Mutter hat erzählt, dass er immer wissen wollte, wer sein Vater ist, aber seine Mutter hat es ihm nie sagen wollen. Es scheint so, als hätte er einen unbändigen Hass auf unsere Familie entwickelt, die ihn verleugnet und seine Mutter mit Geld abgespeist hat. Er hat jedenfalls offenbar die Wahrheit herausgefunden und wohl auch, dass er einen Cousin hat, dem er sehr ähnlichsieht und dass dieser Cousin, also ich, in München lebt. Es könnte sein, dass das sein Rachefeldzug an unserer Familie ist.«

»Aber mit dir trifft er den Falschen.«

»Das weiß er vielleicht nicht. Ich schätze, wenn du aufwächst in dem Bewusstsein, dass der eigene Vater dich verleugnet und dass eine ganze Familie deine Existenz verschweigt, entwickelst du vielleicht so viel Hass auf alle, die zu dieser Familie gehören, dass es dir gleichgültig ist, wen von ihnen du triffst. Er muss schon als Jugendlicher schwierig gewesen sein und ist dann bald aus Stettin weggegangen. Seine Mutter lebt nicht mehr, sie ist schon vor Jahren an Krebs gestorben. Jetzt hat er also nur noch die Familie, die nichts von ihm wissen will. Es ist auch gut möglich, dass er psychische Probleme hat.«

»Und was willst du mit dieser Geschichte anfangen?«

»Das weiß ich noch nicht genau. Hier sieh mal, meine Mutter hat mir die Fotos gegeben. Und das hier, das bin ich in dem Alter.«

Maxi betrachtete die Fotos, die Ähnlichkeit war in der Tat verblüffend. »Armer Kerl«, sagte sie.

»Ja, aber auch als armer Kerl darf er keine Tankstellen überfallen.«

»Wie heißt er?«

»Pawel Lewinski. Er ist nicht in München gemeldet, aber ich hoffe, die junge Anwältin wird ihn trotzdem finden.«

»Welche Anwältin?«

Filip lächelte müde. »Noch eine Geschichte, die ich dir erzählen muss. Aber weißt du was? Jetzt habe ich doch Hunger, kann ich sie dir beim Essen erzählen?«

»Ja, natürlich.«

Sie stellte den Gemüseauflauf in den Ofen, griff nach einer Flasche Wein, wobei sie ihn fragend ansah. Er nickte.

Sie aßen beide mit gutem Appetit, ohne viel zu reden.

Maxi musste zuerst die Geschichte, die er ihr erzählt hatte, verarbeiten, und stellte fest, dass sie noch viele Fragen hatte. Auch Filip, stellte sich heraus, wollte weiterreden, und so kehrten sie nach dem Essen auf das Sofa im Wohnzimmer zurück, und nahmen ihr Gespräch wieder auf.

»Also, welche Anwältin?«

Das Essen hatte Filip neue Kräfte verliehen, und so bekam Maxi nun eine weitere Geschichte zu hören.

»Meine Güte, Filip!«, sagte Maxi.

Er nickte und warf einen Blick auf seine Uhr. »So spät schon! Ich bin um zehn mit der Anwältin verabredet, in ihrem Büro«, sagte er. »Vorher sollte ich unbedingt noch ein bisschen schlafen, sonst kriege ich bei ihr keinen vernünftigen Satz heraus.« Er machte Anstalten, sich zu erheben, doch Maxi hielt ihn zurück.

»Schlaf hier, auf dem Sofa«, sagte sie. »Es ist doch Quatsch, jetzt noch Zeit damit zu verschwenden, dass du zu dir fährst. Soll ich morgen früh mit dir zu der Anwältin gehen?«

»Würdest du das tun?«

»Sonst hätte ich es nicht angeboten.«

Er nickte nur, sie sah, dass ihm vor Erschöpfung beinahe die Augen zufielen, und so sagte sie: »Ich habe ein Gästezimmer, aber du darfst auch gern bei mir schlafen, wenn du möchtest.«

Da blitzten seine Augen auf, und er sagte: »In dein Bett komme ich gern, aber erst, wenn ich wieder bei Kräften bin. Für heute Nacht ist das Gästezimmer genau das Richtige, glaube ich.«

Sie hatte sogar eine Zahnbürste für Gäste, mit der verschwand Filip im Bad, während Maxi in der Küche aufräumte. Als sie sich umdrehte, stand er in der Tür. »Danke, Maxi«, sagte er leise, drehte sich um und ging.

Sie sah später, dass er die Tür des Gästezimmers hatte offenstehen lassen, und so warf sie einen Blick hinein. Er schlief fest. Als sie ihn so daliegen sah, wehrlos und erschöpft, tat ihr das Herz weh, um seinetwillen.

Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihm zu helfen.

*

Pina zeigte nicht, wie überrascht sie war, als Filip Mazur an diesem Samstagmorgen nicht allein zu ihr ins Büro kam, sondern in Begleitung einer attraktiven Frau mittleren Alters, die er ihr als Dr. Böhler vorstellte: die Ärztin, vor deren Augen er seinerzeit zusammengebrochen war und die er als seine Lebensretterin ansah.

Es erwies sich als sehr hilfreich, dass Maxi Böhler ihn begleitet hatte, denn sie kam ihm öfter zu Hilfe, wenn er vergessen hatte, eine wichtige Einzelheit der Geschichte zu erwähnen, die er in Stettin in Erfahrung gebracht und ihr offenbar bereits ausführlich geschildert hatte.

Pina machte sich Notizen, stellte eine Menge Fragen und sagte schließlich zusammenfassend: »Wir müssen also diesen Mann finden, der offenbar nicht nur Ihr Cousin, sondern auch Ihr Doppelgänger ist. Und wir brauchen Beweise dafür, dass er die Überfälle begangen hat und nicht Sie.«

Filip Mazur nickte. Seine Wangen waren eingefallen, er hatte dunkle Ränder um die Augen und wirkte sehr viel älter als an dem Tag, an dem sie vor der Kayser-Klinik auf die alte Frau Stadler gestoßen waren. Der Aufenthalt in Stettin hatte offenbar stark an seinen Kräften gezehrt.

»Weiß die Polizei von der Geschichte?«

»Nein, mir wäre es lieber, ich hätte etwas mehr in der Hand, bevor ich noch einmal zu Oberkommissar Brink gehe und ihm berichte, was ich jetzt weiß.«

Pina sah ihn prüfend an, dann wanderte ihr Blick weiter zu Maxi Böhler und wieder zurück. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Herr Mazur? Erholen Sie sich, machen Sie das Wochenende nur schöne Sachen und überlassen Sie die weitere Arbeit meinem Partner und mir. Wir treffen uns gleich, und wir werden alles tun, um diesen Mann zu finden, das schwöre ich Ihnen.«

»Aber wie denn?«, fragte Maxi Böhler. »Vielleicht wohnt er nicht in München, er ist hier nicht gemeldet. Jedenfalls nicht unter seinem Namen. Er kann im Umland untergeschlüpft sein, er wird ja nicht einfach draußen herumspazieren und riskieren, dass ihn jemand erkennt.«

»So wie ich«, sagte Filip mit bitterem Unterton. »Ich traue mich nur noch mit Sonnenbrille und Mütze auf die Straße, trotzdem habe ich ständig das Gefühl, dass misstrauische Blicke auf mir ruhen.«

Pina hatte nicht die Absicht, sich zum jetzigen Zeitpunkt auf eine Diskussion einzulassen, denn eine Idee hatte sie noch nicht. Deshalb würde sie sich ja gleich im Anschluss an diese Begegnung mit Felix treffen, damit sie gemeinsam eine entwickeln konnten! »Erholen Sie sich!«, wiederholte sie. »Sie haben es nötig, und nur das ist jetzt für Sie wichtig. Überlassen Sie uns den Rest.«

Maxi Böhler schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich aber anders. Sie nickte, stand auf und sagte sanft: »Frau Atak hat Recht, Filip. Du hast getan, was du konntest, nun müssen die Fachleute an die Arbeit. Wir werden es uns einfach schön machen heute und morgen.«

Zum ersten Mal lösten sich seine Gesichtszüge. Er sah sie an, lächelte und stand auf. Dann reichte er Pina die Hand. »Ich bin froh, dass wir uns getroffen haben, Frau Atak, und ich hoffe, Sie und Ihr Partner können uns helfen.«

»Wir werden Ihnen helfen«, erklärte Pina mit Nachdruck. »Verlassen Sie sich drauf!«

Maxi Böhler schenkte ihr zum Abschied ein Lächeln und sagte ihr mit ihrem festen Händedruck, dass sie ihr vertraute.

Pina war entschlossen, dieses Vertrauen zu rechtfertigen.

*

»Und jetzt?«, fragte Filip, als Maxi und er sich auf den Rückweg zu Maxis Wohnung machen. Es stand nicht zur Debatte, dass er in seine eigene Wohnung zurückkehrte, und wenn er ehrlich war: Nichts zog ihn dorthin. Er wollte bei Maxi bleiben, und sie wollte offenbar auch, dass er blieb.

»Jetzt frühstücken wir erst einmal richtig, denn das, was du heute Morgen mühsam hinuntergewürgt hast, hat den Namen ›Frühstück‹ ja wohl kaum verdient. Und ich war auch zu aufgeregt vor dem Termin bei Frau Atak, um richtigen Appetit zu entwickeln.«

»Frühstück klingt gut«, gab Filip zu. »Es stimmt, vorhin habe ich fast nichts hinuntergebracht. Aber sag, hast du keine anderen Pläne für dieses Wochenende?«

»Nein, stell dir vor. Ich stehe dir uneingeschränkt zur Verfügung.« Maxi blinzelte ihn an.

Er fühlte sich besser als morgens, kurz nach dem Aufstehen. Da war er beim Anblick seines Gesichts im Badezimmerspiegel so erschrocken, dass er sich am liebsten gleich wieder ins Bett gelegt hätte. Dabei hatte er geschlafen wie ein Baby. Maxi hatte Mühe gehabt, ihn zu wecken, sie wären sogar um ein Haar zu spät zu seinem Termin mit Pina Atak gekommen.

Aber die Erschöpfung, die ihn befallen hatte, seit er die verschwiegene Familiengeschichte kannte, die wie eine nie verheilende Wunde das Leben mehrerer Menschen vergiftet hatte, war durch eine erholsame Nacht wohl nicht zu vertreiben gewesen. Außerdem erfüllte ihn der Gedanke an diesen unbekannten Cousin, dessen Hass auf seine, Filips, Familie mit den Jahren vermutlich immer größer geworden war, mit tiefer Trauer und, ja, auch Mitgefühl, obwohl er der Leidtragende von Pawel Lewinskis Taten war.

Beim Frühstück kehrten seine Lebensgeister allmählich zurück. Maxi beobachtete ihn lächelnd, wie er mit gutem Appetit aß, zuerst Orangensaft trank und dann Kaffee, und wie sich seine Gesichtszüge allmählich lösten.

»So gefällst du mir schon wieder viel besser«, sagte sie.

»Ich mir auch«, erwiderte er. »Als ich mich heute Morgen im Spiegel gesehen habe, bin ich ­richtig zurückgezuckt. Ich sah aus wie ein heruntergekommener alter Mann.«

»Du übertreibst«, erwiderte Maxi gelassen. »Du warst jetzt ziemlich lange krankgeschrieben und solltest dich eigentlich noch schonen. Stattdessen hast du einen Ausflug nach Stettin gemacht, der dich emotional völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Kein Wunder, dass du erschöpft bist.«

»Ich kenne das von mir nicht«, sagte Filip. »Ich hatte bislang immer eine unverwüstliche Gesundheit, also mehr oder weniger jedenfalls. Körperliche Schwäche oder so ein Erschöpfungszustand wie jetzt, das ist neu für mich.« Er lehnte sich zurück. »Das war das beste Frühstück seit Jahren, Maxi.«

»Ich frühstücke am Wochenende immer so.«

Filip fuhr sich über seine stoppeligen Wangen. »Ich muss mich rasieren«, murmelte er. »So fühle ich mich nicht wohl.«

»Willst du ein paar Sachen aus deiner Wohnung holen?«, fragte sie.

»Ein paar Sachen? Nicht nur einen Rasierapparat?«

Er hielt ihren Blick fest, sie standen fast gleichzeitig auf, fassten sich an den Händen, er zog sie an sich. »Erschöpft bin ich zwar immer noch«, murmelte Filip mit den Lippen in Maxis Haaren, »aber wenn du mir noch einmal einen Platz in deinem Bett anbieten würdest, würde ich ihn nicht noch einmal ablehnen.«

Sie nahm eine Hand und zog ihn mit sich.

*

Felix war fassungslos, als Pina ihm ihre Neuigkeiten auftischte. Sie hatte ihn sofort angerufen, nachdem Filip Mazur und Maxi Böhler gegangen waren, er war daraufhin innerhalb von Minuten bei ihr aufgetaucht.

»Wir haben jetzt auf einen Schlag drei große Fälle?«, fragte er ungläubig. »Meine Frau Grünewald, den angeblichen Tankstellenräuber mit dem verheimlichten Cousin, und dann noch die alte Dame, die von ihren gierigen Verwandten entmündigt werden soll? Aber wir wissen doch noch nicht einmal, ob wir uns überhaupt verstehen, wenn wir zusammenarbeiten. Und jetzt steigen wir gleich ganz groß ein?« Er fühlte sich ein wenig schwindelig, das ging ihm alles zu schnell.

»Wir müssen«, sagte Pina sachlich. »Wir haben keine Wahl, Felix. Mir wäre es auch lieber, wir hätten es etwas langsamer angehen lassen können, und ich weiß, ich habe gesagt, du sollst dich zuerst vor allem um deinen Studienabschluss kümmern, aber diese Sachen hier gehen vor. Wir müssen diesen Menschen helfen, oder nicht?«

Sie hatte natürlich Recht. »Ja«, sagte er, während er versuchte, sich auf die neue Situation einzustellen. Sie würden mehr Arbeit haben, als sie leisten konnten, fürchtete er.

Pina fuhr fort: »Und alle drei Sachen sind eilig. Wenn du allerdings jetzt doch lieber deinen Fall allein machen und mich mit meinen beiden Fällen sitzen lassen willst …«

Er hatte sich bereits gefangen, sein Kopf war wieder klar. »Will ich nicht!«, sagte er. »Lass uns mit Frau Grünewald anfangen, das scheint mir der einfachste Fall zu sein, oder siehst du das anders?«

»Nein, genauso. Hier, ich habe aufgeschrieben, was mir dazu eingefallen ist. Wir haben Glück, weil der gierige Bruder ihres Mannes so ein Idiot ist, der hat lauter Spuren hinterlassen, aus denen man ihm einen Strick drehen kann. Der ist ja nicht einmal vor Urkundenfälschung zurückgeschreckt.«

Sie arbeiteten den Fall Grünewald hochkonzentriert durch, verteilten die verschiedenen Aufgaben und stellten schließlich erschöpft fest, dass sie, bevor sie weitermachen konnten, etwas essen mussten.

»Libanese?«, fragte Felix. »Ich könnte natürlich schnell hinlaufen, aber ich fände es besser, wir würden beide hingehen, weil wir außer Essen auch Sauerstoff und Bewegung brauchen.«

»Da hast du Recht«, gab Pina zu, und so machten sie sich auf den Weg zu den leckeren Teigtaschen, die Pina auch dieses Mal wieder wählte, und Felix schloss sich ihr an. Und wie beim ersten Mal gingen sie wieder in den Park, nahmen auf einer Bank Platz und ließen es sich schmecken. Felix hatte auch noch zwei Flaschen Wasser gekauft.

»Das hat echt gutgetan«, stellte Pina fest, »aber lass uns auch noch ein bisschen laufen, dabei kann ich besser denken.«

»Ich auch«, sagte Felix.

Während des Essens hatten sie die Arbeit nicht erwähnt, nun aber sagte er: »Im Fall des Pflegeheims und der vermutlich verbrecherischen Verwandten sollten wir eine gute Journalistin einschalten, ich kenne eine, die sich sehr gern hinter solche Fälle klemmt. Und du solltest die alte Dame besuchen, möglichst heute noch.«

»Das habe ich auch vor. Dr. Laurin hat mir gesagt, dass sie sie verlegt haben. Und dass ich mich an eine Schwester Marie wenden soll, die hat heute Nachmittag Dienst und ist Diejenige, mit der Frau Stadler geredet hat.«

»Was machen wir, wenn die Verwandten sie aus der Klinik holen wollen?«

»Frau Stadler wird dann angeblich ins Koma gefallen sein«, sagte Pina.

»Echt?«, fragte Felix.

»Ja, Dr. Laurin hat gesagt, sie tun alles, um die alte Dame zu retten, wir sollen uns aber bitte beeilen, weil er nicht weiß, wie lange das durchzuhalten ist. In so einer Klinik kann natürlich immer mal etwas durchsickern …«

»Mannomann«, murmelte Felix. »Gut, dann gehst du in die Klinik, sicherst dir alle Beweise, die es dafür gibt, dass Frau Stadler misshandelt und mit Medikamenten vollgepumpt wurde, und ich rede mit der mir bekannten Journalistin. Danach erstatten wir Anzeige. Oder Anzeigen.«

Pina nickte. »Und nun zu Filip Mazur und seinem Doppelgänger. Das ist der heikelste Fall und für uns der schwierigste.«

»Ich fürchte auch.«

»Offiziell steht er nicht mehr unter Verdacht, aber sein Gefühl ist ein anderes. Er will Beweise für seine Unschuld. Das heißt, er will diesen Mann finden, der offenbar sein Cousin ist und ihm so ähnlichsieht, dass es zu der folgenschweren Verwechslung gekommen ist. Und ich glaube, er würde auch Kontakt zu ihm aufnehmen und mit ihm reden wollen, um besser zu verstehen, was den Mann angetrieben hat.«

»Das würde mir an seiner Stelle genauso gehen«, stellte Felix fest. »Aber dieser Cousin ist, wie du sagst, nicht in München gemeldet.«

»Pawel Lewinski«, murmelte Pina. »Wie findet man in einer Großstadt oder im Umland jemanden, der nicht gemeldet ist? Das hört sich verflixt nach der berühmten Nadel im Heuhaufen, fürchte ich.«

»Aber du hast mir doch erzählt, dass der Herr Mazur nur für einen Überfall oder für zwei ein Alibi hatte. Die anderen haben zu Zeitpunkten stattgefunden, als er allein zu Hause war. Richtig?«

»Richtig«, sagte Pina. »Worauf willst du hinaus?«

»Der Cousin scheint ja einen Hass auf die ganze Familie zu haben, und dieser Hass macht sich an Herrn Mazur fest. Es ist doch also ziemlich wahrscheinlich, dass der Cousin ihn ausspioniert hat, zum Beispiel, um festzustellen, was für Gewohnheiten er hat und ob sie einander wirklich so ähnlichsehen, wie er das von wem auch immer gehört hat. Und wenn der Herr Mazur dann allein zu Hause war, hat der Cousin schnell wieder eine Tankstelle überfallen …« Felix brach ab und grinste. »Ganz so einfach wird es nicht gewesen sein, aber ich versuche, mich in diesen Cousin hineinzuversetzen, und ungefähr so könnte er vorgegangen sein.«

»Das heißt, du meinst, er taucht bei Gelegenheit wieder auf. Da können wir aber unter Umständen lange warten«, gab Pina zu bedenken.

»Das ist mir klar, und es ist auch eine unsichere Sache, deshalb gehen wir parallel auf die Suche nach Herrn Lewinski. Wenn ich diesem Oberkommissar Brink sage, dass wir im Auftrag von Mazur ebenfalls auf der Suche nach dem Täter sind, ist er vielleicht zu irgendeiner Form von Zusammenarbeit bereit. Ich würde nämlich gerne mal die Aussagen der Leute durchgehen, die Herrn Mazur erkannt haben wollen, vielleicht wäre da etwas Interessantes dabei.«

»Ich glaube, die Überwachung seiner Wohnung verspricht eher Aussicht auf Erfolg«, seufzte Pina, »aber versuchen kannst du es.«

»Und die betroffenen Tankstellen werde ich noch einmal abklappern …«

»Davon habe ich eine Liste gemacht«, sagte Pina.

»Hat er eigentlich viel erbeutet?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Und er hat doch einen Überfall begangen, als Herr Mazur noch in der Klinik lag, oder?«

»Ja, da hat die Polizei einen Trittbrettfahrer vermutet.«

»Vielleicht war das aber doch unser Freund, und vielleicht bedeutet es, dass er in Geldnöten ist«, sagte Felix nachdenklich.

Sie kehrten langsam in Pinas Büro zurück, wo Pina Felix die Liste mit den überfallenen Tankstellen und Filip Mazurs Adresse gab. Danach trennten sich ihre Wege. Pina wolltegleichzur Kayser-Klinik aufbrechen, Felix würde versuchen, Andreas Brink zu erreichen.

Aber beide zögerten, bevor sie sich trennten.

»Ich glaube, wir können gut miteinander arbeiten, Pina«, sagte Felix.

Sie nickte. »Sehe ich auch so.«

»Und außerdem«, setzte er hinzu, während er sie unverwandt ansah, »kann ich dich ziemlich gut leiden, das möchte ich an dieser Stelle festhalten.«

Ganz langsam breitete sich eine helle Röte auf ihrem Gesicht aus, die ganz allmählich dunkler wurde. Schließlich erwiderte sie hastig: »Ich dich auch«, drehte sich um und lief eilig davon.

Felix sah ihr lächelnd nach, dann rief er im Polizeipräsidium an und hatte Glück: Oberkommissar Brink war im Dienst und bereit, ihn zu empfangen.

*

»Interessante Geschichte – und interessante Theorie«, sagte Andreas Brink nachdenklich, als Felix seinen Bericht beendet hatte. »Herr Mazur hatte uns übrigens gesagt, dass er nach Stettin fliegt, aber seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Diese Familiensache ist uns also neu.«

»Er hat gesagt, er will zuerst mehr in der Hand haben, bevor er Ihnen sagt, was er in Erfahrung gebracht hat. Das kann ich verstehen.«

»Ich auch, aber er steht wirklich nicht mehr unter Verdacht.«

»Das weiß er, aber er will eine richtig reine Weste haben. Mir würde es an seiner Stelle genauso gehen.«

»Und Sie denken, der Cousin taucht irgendwann vor der Wohnung von Herrn Mazur auf?«

»Ja. Der ist schließlich, wenn Sie so wollen, sein eigentliches Opfer, und man hat das ja öfter, dass Täter an den Tatort zurückkehren. Hier sind die Tatorte zwar woanders, aber das Opfer kann er sich weiterhin ansehen …«

»Der Fall ist offenbar sehr viel verwickelter, als er auf den ersten Blick ausgesehen hat«, murmelte Andreas. »Was also wollen Sie von mir?«

»Kann ich Einblick in die Aussagen der Zeugen nehmen, die Herrn Mazur zweifelsfrei erkannt haben?«

»Im Gegenzug würden Sie uns sofort benachrichtigen, sollten Sie den Cousin irgendwo sehen?«

Felix nickte. »Ja, natürlich. Je eher der Mann gefunden wird, desto besser für alle Beteiligten – auch für die Polizei, denke ich.«

»Da haben Sie ein wahres Wort gesprochen. Mir scheint, dieser Fall verlangt nach einem unkonventionellen Vorgehen«, sagte Andreas Brink und wollte zum Telefon greifen, um die Akte ›Felix Mazur‹ anzufordern.

»Moment«, bat Felix, »wir haben noch zwei weitere Fälle, von denen Sie wissen sollten. Mindestens einer davon ist ebenfalls supereilig, es handelt sich um eine alte Dame namens Senta Stadler …«

»Mein Schwager hat mich schon informiert, wir sind vorgewarnt, die alte Dame ist erst einmal sicher in der Kayser-Klinik.«

»Ihr Schwager?«, fragte Felix verblüfft.

»Der Klinikchef«, erklärte Andreas Brink. »Ach, das wussten Sie nicht?«

»Ich hatte keine Ahnung«, antwortete Felix.

Es kam ihm so vor, als hinge in diesen drei Fällen, mit denen Pina und er sich beschäftigten, irgendwie alles mit allem zusammen …

*

Marie Laube atmete auf, als Pina Atak sich vorstellte.

Frau Stadler brauchte jede Unterstützung, die sie bekommen konnte, und Marie, von der manche in der Klinik behaupteten, sie könne Menschen in die Seele blicken, war sofort überzeugt davon, dass die junge Anwältin die richtige Person war, um der alten Dame zu helfen.

»Schwester Marie«, sagte Pina, »ich will gleich zur Sache kommen und Ihnen sagen, was ich brauche, damit wir Frau Stadler schützen können.«

Marie überflog die Liste und atmete ein weiteres Mal auf. »Wir haben Fotos gemacht«, sagte sie, »und ich habe einen Laborbericht hier, aus dem hervorgeht, womit Frau Stadler ruhiggestellt worden ist. Medikamente übrigens, die auch für Verwirrungszustände sorgen, was die Verwandten ja offenbar auch beabsichtigt hatten. Außerdem hat Frau Stadler uns Ihnen gegenüber von der ärztlichen Schweigepflicht befreit.«

Die junge Anwältin strahlte. »Sie haben uns ja schon eine Menge Arbeit abgenommen«, sagte sie. »Die Polizei ist auch schon informiert.«

»Reden Sie mit Frau Stadler, die hat noch viel zu erzählen«, sagte Schwester Marie. »Fragen Sie sie vor allem nach ihrem Haus. Sie sagt, sie hat Angst, dass der Neffe und seine Frau es leer räumen, sobald es ihnen gelungen ist, sie zu entmündigen. Vielleicht sogar schon vorher.«

Pina pfiff leise durch die Zähne. »Moment«, sagte sie, griff nach ihrem Telefon und gab diese letzte Information durch. Dann wartete sie einen Moment, hörte zu, was am anderen Ende der Leitung gesagt wurde und sagte nur: »Okay, danke.«

Sie steckte das Telefon wieder ein. »Mein Partner«, erklärte sie. »Er ist gerade bei der Polizei, das trifft sich gut. Es kommt gleich jemand und holt den Schlüssel ab, damit die Polizei ins Haus kann. Leider kann natürlich jemand, der noch nie in dem Haus war, nicht beurteilen, ob etwas fehlt.«

Marie dachte nach. »Die Polizei müsste Fotos machen, wenigstens von der Einrichtung. Die könnten wir Frau Stadler vorlegen, dann hätten wir schon einmal einen Hinweis darauf, wie eilig diese kriminellen Verwandten es haben«, sagte sie. »Können Sie das weitergeben?«

Pina telefonierte noch einmal, dann sagte sie: »Wenn Sie eines Tages keine Lust mehr haben, hier zu arbeiten, stelle ich Sie als Ermittlerin ein, Schwester Marie. Sie hätten eine große Zukunft vor sich.«

Marie gab ein glucksendes Lachen von sich, in das Pina einstimmte, dann öffnete sie die Tür zu Senta Stadlers Zimmer.

Pina unterhielt sich sehr angeregt mit der alten Dame, die sie kaum wiedererkannte. War das wirklich die blutende, verwirrte, unverständliche Worte brabbelnde Person, die Filip Mazur und ihr vor der Klinik in die Arme gelaufen war, vor Tagen erst? Sie konnte es nicht glauben.

Sie erfuhr noch etliche interessante Einzelheiten und verließ eine halbe Stunde später voller Tatendrang die Klinik. Hatte sie jemals daran gezweifelt, den richtigen Beruf gewählt zu haben? Diese Zweifel waren verflogen, und sie war wild entschlossen, sie nie wieder aufkommen zu lassen.

Sie würde ihr Leben dem Kampf um Gerechtigkeit widmen – und wenn sie Glück hatte, würde sie diesen Kampf zusammen mit Felix führen können. Aber das war Zukunftsmusik, darüber wollte sie jetzt noch nicht allzu intensiv nachdenken.

Im Augenblick hatten Felix und sie Wichtigeres zu tun.

*

Filip konnte es nicht fassen, als er die Augen aufschlug und feststellte, dass Maxi neben ihm lag und schlief. Wie spät war es? Hatten sie tatsächlich den ganzen Nachmittag im Bett verbracht? Geschlafen jedenfalls hatten sie nur in der letzten Stunde, davor hatten sie sich geliebt, und es kam ihm so vor, als wäre das eine Art Verjüngungskur gewesen. Vermutlich sah er noch genauso fertig aus wie zuvor, aber er fühlte sich nicht mehr so, im Gegenteil …

Er drehte sich auf die Seite und sah sie an. Wie schön sie war! Sie hatte ein Gesicht, dem man ansah, dass sie schon einiges erlebt hatte, und genau das war es, was ihm besonders gut gefiel. Außerdem liebte er ihre warmen dunklen Augen, ihr Lächeln, ihre weiche Haut, die Art, wie sie ihn ansah, wenn sie ihm zuhörte. Was für ein Glück, dass es gerade diese Frau gewesen war, vor der er mit seinem entzündeten Blinddarm schließlich zusammengebrochen war!

Unvermittelt schlug sie die Augen auf, sah ihn an, lächelte. Er erwiderte ihr Lächeln, streckte einen Arm aus und fuhr sanft mit einem Finger über ihre Wange. »Habe ich dich geweckt?«

»Nein, nicht richtig jedenfalls. Ich habe nur gedöst. Wie spät ist es?«

Als er es ihr sagte, richtete sie sich mit einem Ruck auf. »Der Tag ist schon fast rum?«, rief sie.

Er zog sie wieder nach unten und schloss sie in die Arme. »Na und?«, fragte er. »Ich fand es wunderbar.«

»Ach, Filip«, seufzte Maxi. »Ich auch.«

Und dann sprachen sie nicht mehr, sie hatten Besseres zu tun. Später standen sie auf und machten sich etwas zu essen.

»Unglaublich, wie hungrig ich bin«, staunte Filip, als sie am Tisch saßen. »Als hätte ich seit Tagen nichts zu essen bekommen.«

»Mir geht es ähnlich. Du siehst übrigens völlig verändert aus«, stellte Maxi fest.

»Wie denn?«

Sie betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf, lächelte. »Glücklich«, sagte sie.

*

»Es gibt Neuigkeiten«, verkündete Leon am Samstagabend beim Essen. »Ihr wolltet ja wissen, wie es mit der alten Dame weitergeht, die verwirrt und verletzt bei uns in der Klinik gelandet ist.«

Sofort richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf ihn. »Ihr habt ja selbst schon festgestellt, dass es eine sehr traurige Geschichte zu sein scheint, und das hat sich bestätigt. Es ist nämlich nicht nur so, dass die Verwandten der alten Dame sie in ein Pflegeheim gebracht haben, wo zwei bestechliche Pflegekräfte gegen viel Geld dafür sorgen sollten, dass sie falsche Medikamente nimmt und deshalb einen zunehmend verwirrten Eindruck macht. Es ist außerdem so, dass diese Verwandten bereits angefangen haben, Wertsachen aus ihrem Haus zu stehlen und zu Geld zu machen. Euer Onkel Andy hat ein paar Polizisten hingeschickt, die Fotos von jedem Raum gemacht haben. Un­sere Patientin hat sofort sagen ­können, welche Bilder, silbernen Leuchter, Skulpturen und so weiter fehlen. In den nächsten Tagen wird einer unserer Pfleger mit der alten Dame und einem Polizisten in ihr Haus fahren, damit sie selbst in den Schränken nachsehen kann, was sonst noch fehlt. Der Schaden scheint schon jetzt riesig zu sein.«

»Das hört sich an wie ein Krimi!«, rief Kevin aus.

»Ja, das habe ich auch gedacht, Kevin. Außerdem hat der fleißige junge Detektiv, der mit der Anwältin zusammenarbeitet, einige der gestohlenen Sachen im Internet ausfindig gemacht, wo sie zum Verkauf angeboten werden. Die beiden Verwandten dürften bereits festgenommensein, für die Polizei ein guter Fang.«

»Hoffentlich sperren sie sie lange ein!«, sagte Kyra, die vor Aufregung ganz rot im Gesicht geworden war.

Kaja und Konstantin nickten Beifall. »Was für ekelhafte Menschen es gibt!«, setzte Kaja hinzu.

»Die beiden Verwandten der alten Dame werden viel Zeit haben, ihre Taten zu bereuen, schätze ich«, sagte Leon. »Gleiches gilt für die Leitung des Pflegeheims, dort ist man offensichtlich taub und blind zugleich gewesen. Es scheint so zu sein, dass es schon vor diesem Fall durchaus Hinweise auf die kriminellen Machenschaften der beteiligten Pflegekräfte gegeben hat, aber die Leitung hat wohl nichts hören und sehen wollen.«

»Die anderen, die Anständigen, können einem richtig leidtun«, sagte Konstantin. »Die schuften und mühen sich ab, werden schlecht bezahlt, und dann kommen noch solche schwarzen Schafe daher und sorgen dafür, dass auch auf die Anständigen ein schlechtes Licht fällt.«

»Der Fall wird hohe Wellen schlagen«, fuhr Leon fort. »Und ich denke eigentlich nicht, dass er auf engagierte Pflegekräfte ein schlechtes Licht wirft, sondern eher auf Pflegeheime, in denen es nur darum geht, Geld mit den alten Leuten zu verdienen. Ich hoffejedenfalls, dass endlich ein Umdenken einsetzt, was die Pflege angeht.«

»Das gilt ja auch für Krankenhäuser«, warf Konstantin ein. »Guck dir doch an, wie es da häufig zugeht.«

»Ich weiß.« Plötzlich fühlte sich Leon müde.

Es lag so vieles im Argen, dass er manchmal kurz davor war, den Mut zu verlieren. Was nützte es, wenn sie in der Kayser-Klinik versuchten, es besser zu machen, aber das Gesundheitssystem an sich unverändert blieb? Es lief ja auch nicht alles schlecht, aber seiner Meinung nach eben doch vieles in die falsche Richtung.

»Geht es der alten Dame denn jetzt wieder besser?«, fragte Kevin und riss Leon damit aus seinen trüben Gedanken.

»Ja, sie lebt richtig auf. Sie wird natürlich nicht in dieses Heim, sondern in ihr Haus zurückkehren, und es gibt offenbar schon eine Frau aus der Nachbarschaft, die bereit ist, sich um sie zu kümmern. Denn unsere Patientin braucht überhaupt keine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Es würde genügen, wenn sie ein paar Stunden am Tag Gesellschaft hätte und wenn jemand ihr beim Duschen hilft und vielleicht das Einkaufen für sie übernimmt. Sie kocht sogar noch gern selbst.«

Er freute sich darüber, dass die Kinder am Schicksal seiner Patientin so lebhaft Anteil nahmen und als er Antonias Blick begegnete, sah er, dass es ihr genau so ging.

Der kurze Anflug von Mutlosigkeit war bereits wieder vorüber. Er würde sich weiter mit aller Kraft dafür einsetzen, dass diese Welt ein bisschen besser würde – zumindest in dem Bereich, den er beeinflussen konnte. Und das war schließlich gar nicht so wenig. In seiner Klinik arbeiteten viele engagierte Menschen, und mit ihnen zusammen konnte er Berge versetzen!

*

»Mist, ich habe mein Handy bei mir in der Wohnung liegenlassen«, sagte Filip.

Maxi und er saßen noch in der Küche, sie waren ins Reden gekommen, hatten dazu Wein getrunken und nicht auf die Zeit geachtet – so war es ja schon den ganzen Tag über gewesen. Sie ließen sich einfach dahintreiben, die Außenwelt blieb weitgehend ausgeblendet. Doch nun war er unruhig.

»Meine Eltern müssen mich erreichen können, sie machen sich sonst Sorgen«, setzte er hinzu.

»Dann hol es doch schnell«, schlug sie vor. »Das dauert keine halbe Stunde, wenn du dich beeilst.«

Er lächelte sie zärtlich an. »Und wie ich mich beeilen werde«, beteuerte er. »Bitte lauf mir in der Zwischenzeit nicht weg!«

Sie lachte. »Sehe ich so aus, als hätte ich das vor?«

»Bei schönen Frauen kann man nie wissen, was in ihren Köpfen vor sich geht.«

»Keine Sorge, ich laufe nicht weg. Oder soll ich dich begleiten?«

»Nein, dann müsstest du dich anziehen, das wäre zu viel Aufwand. Und, ehrlich gesagt, im Augenblick bist du mir so wie jetzt am liebsten … Geh doch einfach wieder ins Bett und warte dort auf mich.«

Sie trug nur einen Morgenmantel, nichts darunter und wurde unter seinem Blick tatsächlich rot wie ein junges Mädchen. Einerseits fand sie das peinlich, andererseits fühlte sie sich so jung wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Wann war sie zuletzt verliebt gewesen? Ach, es musste in einem anderen Leben gewesen sein!

Um von ihrer Verlegenheit abzulenken, fragte sie: »Hättest du etwas dagegen, wenn ich zuerst ein Bad nehme und erst danach wieder ins Bett gehe? Müde bin ich eigentlich nicht, aber wahnsinnig faul, wenn ich ehrlich bin.«

Er ging zu ihr, küsste sie und sagte: »Bleib doch in der Badewanne, ich würde glatt dazukommen, wenn ich darf. In zwanzig Minuten bin ich wieder da!« Er küsste sie noch einmal, dann verließ er die Wohnung.

Sie ging ins Bad, um das Wasser einlaufen zu lassen.

Sie räumte noch die Küche auf, bevor sie sich mit einem glücklichen Seufzer in das warme Wasser gleiten ließ. Wann hatte sie das letzte Mal einen so rundum wundervollen Tag erlebt? Sosehr sie auch in ihren Erinnerungen kramte: Ihr fiel nichts auch nur halbwegs Vergleichbares ein.

*

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir heute so weit gekommen sind«, sagte Felix am späteren Samstagabend, nachdem er Pina zu einem weiteren Spaziergang durch den Park überredet hatte. Bis dahin hatten sie nur gearbeitet. Sie schlenderten langsam, während sie den Tag noch einmal Revue passieren ließen. »Die Sache mit Frau Stadler ist jetzt mehr oder weniger in den Händen der Polizei, ihr geht es gut, die Übeltäter können keinen weiteren Schaden anrichten. Auch gegen Frau Grünewalds Schwager wird bereits ermittelt, fehlt nur noch …«

»Der Cousin von Herrn Mazur«, sagte Pina. Sie warf einen Blick auf die Uhr, es war nach elf. »Aber nicht mehr heute«, sagte sie. »Ich bin stehend k.o. und wenn ich gleich nach Hause komme, falle ich nur noch ins Bett.«

»Ich begleite dich«, sagte Felix. »Wer weiß, was für finstere Gestalten sich um diese Zeit draußen herumtreiben.«

»Spinnst du? Ich habe bis jetzt sehr gut allein auf mich aufpassen können, und …«

Felix blieb stehen und tat etwas, womit er selbst nicht unbedingt gerechnet hatte: Er nahm sie in die Arme und verschloss ihren Mund mit einem Kuss, der sie so überraschte, dass sie ihn erwiderte.

»Anders bist du ja nicht zum Schweigen zu bringen«, sagte er, als er ihre Lippen ganz kurz freigab, nur um sie dann erneut zu küssen.

»Du gehst ja ganz schön ran«, murmelte Pina. »Wir wollten doch nur zusammenarbeiten!«

»Wir wollten zusammenarbeiten, und das tun wir. Von ›nur‹ war nicht die Rede!«

Er brachte Pina nach Hause, aber schon auf dem Weg machte sie ihm klar, dass er an diesem Abend mehr als Küsse nicht zu erwarten hatte.

»Wer sagt dir, dass ich mehr wollte?«, fragte er. »Schlaf schön, Pina, bis morgen. Wir haben noch viel Arbeit vor uns!«

Er wartete, bis sie im Haus war, dann beschloss er, sein Auto zu holen und zur Wohnung von Filip Mazur zu fahren. Später, aber das ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, würde er sagen, es sei eine Art Eingebung gewesen.

Jedenfalls hatte er das Auto ein wenig abseits des Hauses geparkt, aber so, dass er es gut im Blick hatte und erst wenige Minuten dort zugebracht, als ihm aufging, dass er nicht der Einzige war, der auf der Lauer lag. In einer dunklen Toreinfahrt gegenüber dem Haus, in dem praktisch in jeder Etage Licht brannte, nur in einer nicht, stand ein Mann und behielt es im Blick, genau wie er. Er sah den Mann erst, als dieser sich eine Zigarette anzündete. Die dunkle Wohnung lag im ersten Stock, dort wohnte Filip Mazur. Er war also nicht zu Hause.

Felix spürte ein Kribbeln in den Fingerspitzen. Natürlich konnte es Zufall sein, dass dort dieser Mann stand und das Haus beobachtete. Es konnte aber auch sein, dass er das unwahrscheinliche Glück hatte und durch reinen Zufall auf Pawel Lewinski gestoßen war …

Er überlegte nicht lange und rief die Nummer an, die ihm Oberkommissar Brink für alle Fälle gegeben hatte, doch er hatte das kurze Gespräch gerade erst beendet, als die Ereignisse sich zu überschlagen begannen. Am Ende der Straße tauchte ein weiterer Mann auf, der so schnell lief, als wäre jemand hinter ihm her. Er steuerte geradewegs auf das Haus zu und betrat es. Kaum eine Minute später wurde in einem Zimmer der bisher unbeleuchteten Wohnung im ersten Stock Licht gemacht.

Fast im selben Moment schoss der Mann aus der Toreinfahrt, und für ein paar Schrecksekunden war Felix überzeugt davon, dass er entdeckt worden war und dass der Mann direkt auf ihn zukam, um ihn zu fragen, warum er ihm nachspionierte. Doch der Mann beachtete ihn nicht einmal, sondern schoss an ihm vorbei auf ein Motorrad zu, das Felix bis dahin nicht aufgefallen war, setzte einen Helm auf, schwang sich auf den Sitz und fuhr los.

Felix folgte ihm und telefonierte erneut, um durchzugeben, dass der Mann sich in ziemlich schneller Fahrt von dem Haus entfernte, in dem Filip Mazur wohnte und dass er ihm folgte.

Es war seine erste Verfolgungsfahrt, bislang kannte er so etwas nur aus Filmen. In Wirklichkeit, stellte er fest, war es gar nicht so einfach, sich nicht abhängen zu lassen, gleichzeitig aber nicht aufzufallen. Er konnte von Glück sagen, dass Samstagabend war, denn auf Münchens Straßen war verhältnismäßig viel los. Das Glück war aber zugleich sein Pech, denn der Motorradfahrer vor ihm schlängelte sich geschickt durch den Verkehr, und einmal rutschte er gerade noch bei ›dunkelgelb‹ über eine Ampel. Felix und zwei weitere Autofahrer folgten ihm.

Sie fuhren etwa eine halbe Stunde aus der Stadt heraus. Mittlerweile wusste Felix, dass er nicht mehr allein war, mehrere Zivilfahrzeuge der Polizei folgten dem Mann auf dem Motorrad ebenfalls.

Gerade als er hörte: »Sie können sich jetzt zurückfallen lassen, Herr Siebenschön«, bog der Motorradfahrer ab – eine einsame Tankstelle bildete eine Lichtinsel in der sie umgebenden Dunkelheit.

Felix fuhr weiter, sein Herz schlug wie wild. Er konnte nur hoffen, dass sie den Doppelgänger von Filip Mazur gefunden hatten.

*

Annika Berthold war sauer, weil sie an diesem Samstagabend hatte einspringen müssen.

Ihr Chef kannte da kein Pardon, obwohl sie versucht hatte, ihm klarzumachen, wie wichtig es für sie war, an diesem Samstag endlich mal frei zu haben. Sie war jetzt drei Wochen lang hintereinander eingesprungen, weil Ricky, dieser faule Sack, jedes Mal eine andere Ausrede parat gehabt hatte. Zuerst konnte er nicht laufen, dann hatte er die Grippe gehabt, dann war sein Opa gestorben …

Außerdem hatte sie mit Marco zusammen Dienst, der ein Oberlangweiler war. Mit anderen konnte man sich wenigstens unterhalten, wenn an der Tankstelle nichts los war, aber Marco war immer beschäftigt. Er wollte sich beim Chef unentbehrlich machen, das war ihr schon klar.

Als der Motorradfahrer reinkam, fand sie es komisch, dass er einen Helm trug, der sein Gesicht völlig verdeckte – und dass er ihn geschlossen ließ. Im nächsten Moment wusste sie, dass er nichts Gutes im Schilde führte: Er hatte nämlich eine Waffe in der Hand und machte eine unmissverständliche Handbewegung in Richtung Kasse, ohne ein Wort zu sagen. Sie fühlte sich plötzlich so steif, dass sie sicher war, keinen Schritt gehen zu können, und sie hätte sich gern nach Marco umgesehen, aber wenn man den brauchte, war er natürlich nicht zu finden. Wahrscheinlich räumte er mal wieder das Lager auf, um den Chef morgen darauf hinzuweisen, was dort wieder für ein Chaos geherrscht hatte, so dass er sich dringend darum hatte kümmern müssen.

Der Motorradfahrer machte eine ungeduldige Handbewegung, und Annika stellte fest, dass sie sich trotz der plötzlichen Steifheit bewegen konnte. sogar ziemlich schnell, weil die Angst sie mit einem Mal wie eine Riesenwelle überschwemmte.

Bis eben hatte sie kaum etwas gespürt, aber jetzt, stellte sie erstaunt fest, zitterten sogar ihre Hände, und sie schaffte es vor lauter Zittern erst beim dritten Anlauf, die Kasse zu öffnen. Es war viel Geld drin, klar, war ja Samstagabend. Bevor alle feiern gingen und teure Getränke in irgendwelchen Clubs zu sich nahmen, deckten sie sich erst einmal hier ein und glühten schon mal vor … Sie machte das auch immer, man konnte auf diese Weise eine Menge Geld sparen.

Während sie hastig die Kasse ausräumte und alles in eine Tüte stopfte, die der Typ ihr gegeben hatte, änderte sich die Situation schon wieder: Bewaffnete Polizisten stürmten die Tankstelle, und das ging so schnell, dass der Motorradfahrer ohne seine Waffe am Boden lag, bevor er überhaupt begriff, was passiert war. Und sie begriff es auch nicht, denn sie hatte die Polizei ja nicht gerufen, und sonst war niemand da gewesen, der das hätte tun können. Es herrschte viel Chaos und Geschrei und Aufregung, aber irgendwann ging Annika auf, dass sie das Geld wieder aus der Tüte nehmen und zurück in die Kasse legen konnte. Immerhin, dachte sie, war es heute zur Abwechslung vielleicht doch in der Tankstelle mal aufregender gewesen als zusammen mit ihren Freundinnen und Freunden.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte eine Polizistin, die kaum älter war als sie.

»Ich bin ein bisschen zittrig«, antwortete Annika.

»Kein Wunder«, erwiderte die Polizistin, während sie gelassen auf das noch immer herrschende Durcheinander blickte. »Hier, das ist heißer Tee, trinken Sie den, der wird Ihnen gut tun. Wollen Sie einen Moment mit rauskommen und mal ein bisschen frische Luft schnappen?«

Annika blickte auf die Kasse. »Ich kann den Laden doch jetzt nicht einfach allein lassen«, sagte sie.

»Allein?« Die Polizistin lachte. »Gucken Sie sich doch mal um! Dem Laden passiert nichts, keine Sorge, da passen meine Kolleginnen und Kollegen schon auf.«

Annika nickte, das war natürlich richtig. Und dann tauchte, genau in dem Augenblick, da sie sich entschlossen hatte, der jungen Beamtin zu folgen, Marco auf, mit einem Besen in der Hand. Fassungslos blickte er auf das Durcheinander im Laden und fragte: »Was ist denn hier los?«

Annika verdrehte die Augen, ohne zu antworten. Sie folgte der Polizistin nach draußen, nippte an ihrem Tee, holte mehrmals tief Luft und dachte, dass sie von diesem Abend irgendwann einmal ihren Enkeln erzählen würde.

*

Pina blickte verschlafen auf ihre Uhr. Wieder mal ein paar Betrunkene, die sich einen Spaß daraus machten, nachts an fremden Türen zu klingeln! Besonders an den Wochenenden nahm diese Art ›Spaß‹ regelmäßig überhand.

Dieses Mal jedoch waren die Leute besonders hartnäckig, sie klingelten nämlich wieder und wieder, bis sie schließlich voller Zorn ihr Bett verließ und durch die Sprechanlage schimpfte: »Verschwindet endlich!«

»Pina!«, sagte eine ihr bekannte Stimme. »Ich bin’s, Felix, ich habe Neuigkeiten.«

Sie drückte auf den Türöffner und nutzte die Zeit, bis er oben war, um sich rasch etwas über ihr Nachthemd zu ziehen. »Wenn das ein Trick sein soll …«, begann sie, als er vor ihr stand.

Er schüttelte den Kopf. »Filip Mazurs Doppelgänger!« Er war außer Atem, als sei er eine große Strecke gerannt. »Sie haben ihn gerade festgenommen.«

Pina wollte ihm zuerst nicht glauben, aber nachdem er ihr von seinem Abstecher zur Wohnung von Filip Mazur und der anschließenden Verfolgungsjagd samt Telefonaten mit der Polizei erzählt hatte, schwand ihr Misstrauen. »Und ich war nicht dabei!«, klagte sie.

»Ich ja auch nicht, bei dem eigentlichen Zugriff, meine ich. Sie wollten natürlich so wenige Leute wie möglich an der Tankstelle haben, falls er bewaffnet war. Er hatte aber nur eine Spielzeugpistole dabei, die allerdings wohl ziemlich echt aussah.«

»Und er sieht aus wie Filip Mazur?«

»Die Polizei sagt ›ja‹. Ich kann das nicht beurteilen, aber ich denke, der Fall kann sofort zu den Akten gelegt werden.«

Pina war jetzt wieder richtig wach. »Wenn es nicht überheblich klingen würde, würde ich jetzt sagen: Wir sind genial«, sagte sie. »Drei große Fälle, und im Grunde sind wir schon durch damit, Felix.«

»Glaub nur nicht, dass es so bleibt«, warnte er. »Das war Anfängerglück, wahrscheinlich lösen wir nie wieder einen Fall so schnell.«

»Jetzt verdirb mir nicht die Freude!«

»Tu ich doch gar nicht, ich will nur nicht, dass du übermütig wirst.«

»Warum nicht? Lass mich doch wenigstens heute Nacht übermütig sein.« Sie funkelte ihn an.

Er musste lachen. »Na, schön, von mir aus, dann sei übermütig. Und ich gehe jetzt nach Hause, ich dachte nur, diese guten Nachrichten würdest du bestimmt sofort hören wollen.«

»Da hattest du recht.« Ihr Lächeln war mutwillig, ihre Augen glitzerten. »Also, wo du nun schon mal da bist …«, begann sie.

Er erwiderte nichts, näherte sich ihr aber, wenn auch äußerst langsam. Sie rührte sich nicht, bis er ganz dicht vor ihr stand, sie mit beiden Armen umschlang und an sich zog. »Man muss dir also nur gute Nachrichten überbringen«, sagte er leise, »und schon wird man nicht mehr abgewiesen. Ich werde mir das merken.«

»Das gilt nur für dich – von wegen ›man‹!«, widersprach sie. »Aber eigentlich ist es mir vorhin schon sehr schwergefallen, dich wegzuschicken, und noch einmal bringe ich diese Energie nicht auf.«

»Es war sehr gut, dass du mich vorhin weggeschickt hast, denn sonst wäre ich ja nicht noch einmal zu Herrn Mazurs Haus gefahren.«

»Mhm«, machte Pina und lehnte sich an ihn.

Eine Weile standen sie so, ganz still, sie mit dem Kopf an seiner Brust, er mit dem Mund in ihren Haaren, deren Duft ihn ebenso verwirrte wie alles andere. Wie war es Pina gelungen, sich so schnell einen Platz in seinem Herzen zu erobern? Und wieso hatte er nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie die Frau war, mit der er zusammen sein wollte – nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft?

Sie hob den Kopf, lächelte ihn an, und dann küsste er sie, und sie küsste ihn, bis sie im Schlafzimmer auf ihrem Bett lagen, und er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

*

Maxi und Filip erfuhren erst am nächsten Morgen, was sich in der Nacht ereignet hatte. Filip wollte es zuerst nicht glauben, dass sein Doppelgänger tatsächlich gefasst worden war.

»Stell dir vor, ich hätte mein Handy nicht noch geholt – vielleicht hätte er dann auf den Überfall verzichtet«, sagte er zu Maxi, nachdem er zwei Anrufe bekommen hatte, einen von Pina Atak und einen von der Polizei.

»Vielleicht aber auch nicht, er scheint doch auch Geld gebraucht zu haben. Was willst du jetzt tun?«

Darüber hatte Filip vorher schon nachgedacht. »Erst einmal nichts. Wenn ich mich mit ihm treffe – falls er einem solchen Treffen überhaupt zustimmt – muss ich einigermaßen vorbereitet sein. Ich muss wissen, welche Fragen ich ihm stellen möchte, und ich will auch nicht voller Zorn auf ihn sein.«

»Du willst ihn nicht anklagen, sondern von ihm hören, warum er so gehandelt hat.«

Filip nickte. »Die Anklage überlasse ich der Justiz, aber ich möchte begreifen, was in ihm vorgegangen ist.«

»Wie fühlt sich das jetzt für dich an?«

»Im Moment fühle ich überhaupt nichts, wenn ich ehrlich bin. Es kam zu plötzlich. Ich schätze mal, die Erleichterung folgt später.« Er strich zärtlich über Maxis Wange, sie saßen noch beim Frühstück. »Außerdem habe ich schon so viele Gefühle im Moment, da ist für weitere nicht mehr viel Platz.«

Sie hielt seine Hand fest und drückte sie an ihre Wange, bevor sie sie wieder freigab. »Es eilt ja auch nicht«, sagte sie nachdenklich. »Dein Cousin wird sicherlich in Untersuchungshaft bleiben müssen.«

Filip nickte. »Für meine Tante Danuta tut es mir leid. Onkel Marek hat sie ihr Leben lang belogen, das stelle ich mir bitter vor. Sie wird sich fragen, mit wem sie eigentlich die ganze Zeit verheiratet gewesen ist.«

»Ist sie eine Kämpferin?«

»Eher nicht, glaube ich. Sie wird Angst haben, dass ihr ihr ganzes Leben um die Ohren fliegt.«

»Sie wird auch gegenüber deinen Eltern misstrauisch sein, wenn sie erfährt, dass sie alles gewusst haben.«

Filip nickte. »Ja, da kommt noch einiges auf die Familie zu. Ehrlich gesagt, ich bin froh, dass ich so weit weg bin, ich werde das nur am Rande mitbekommen. Aber natürlich wird es von jetzt an anders sein für mich, wenn ich in Stettin bin.«

»Ich war noch nie in Stettin«, sagte Maxi.

»Würdest du gern hinfahren?«

»Mit dir? Gerne.«

Wieder streckte er die Hand aus und legte sie an ihre Wange. Er sagte nichts, aber das musste er auch nicht. Sie konnte ihm von den Augen ablesen, was er dachte.

*

Am Montag wurde Senta Stadler aus der Kayser-Klinik entlassen. Abgeholt wurde sie von der Nachbarin, die sich um sie kümmern würde, Angela Würth, die schon in den vergangenen Tagen häufig in der Klinik gewesen war, um sich zu vergewissern, dass sich die alte Dame gut erholte. Bei der Gelegenheit hatte sie bereits mehrere Gespräche mit den behandelnden Ärzten und auch mit Schwester Marie geführt.

Marie war sehr angetan von Angela Würth, die eine fröhliche, zupackende Frau mittleren Alters war und bei deren Auftauchen die Augen von Senta Stadler jedes Mal aufleuchteten. Bei einem ihrer Besucher hatte Frau Würth zu Schwester Marie gesagt: »Diese Verwandten von Frau Stadler haben mir von Anfang an nicht gefallen, und Frau Stadler mochte sie auch nicht, das hat sie mir einmal anvertraut. Aber wir sind beide im Traum nicht auf die Idee gekommen, dass sie zu solchen Mitteln greifen würden, um ihr Ziel zu erreichen. Ich habe Frau Stadler mehrmals im Pflegeheim besucht und war erschüttert über ihren Zustand. Die haben mir doch glatt erzählt, dass sie mehrere Schlaganfälle gehabt hätte und nie wieder nach Hause zurückkehren könnte. Und ich dumme Kuh habe denen das geglaubt!«

»Frau Stadler war in einem sehr kritischen Zustand, als sie hier aufgetaucht ist, Frau Würth. Niemand hier hat erwartet, dass sie sich so schnell erholt und dass sich dann herausstellt, dass ihr im Grunde genommen gar nichts fehlt. Sie ist nur alt, mehr nicht.«

Senta Stadler saß fertig angezogen auf ihrem Bett, als Angela Würth kam, um sie abzuholen. Sie hatte, auf Anraten von Schwester Marie, einen Rollstuhl dabei – den durfte sie von der Klinik ausleihen, bis Frau Stadler einen eigenen bekam.

»Ich kann doch laufen, Frau Würth!«, rief die alte Dame entrüstet und bewies die Richtigkeit dieser Behauptung, indem sie aufstand, sich kurz am Bettgestell festhielt und dann auf ihre Nachbarin zuging.

»Das weiß ich, Frau Stadler, aber Sie sollen sich noch schonen. Den Rollstuhl nehmen wir nur zur Vorsicht.«

Damit war Senta Stadler schließlich einverstanden. Sie wurde mit großem Bahnhof verabschiedet, als Letzte drückte Schwester Marie ihre beiden Hände und wünschte ihr alles Gute.

»Wenn Sie wüssten, wie ich mich freue, wieder nach Hause zu kommen!«, rief Senta Stadler. Sie strahlte über das ganze Gesicht, als ihre Nachbarin sie zum Aufzug schob.

»Gut gemacht«, sagte eine leise Stimme neben Schwester Marie.

Sie sah auf. »Danke, Chef, aber das war ich ja nicht allein.«

»Sie haben die Sache in die Wege geleitet«, erwiderte Leon. »Und ich kann nur sagen: Ein Glück, dass Sie es getan haben. Sie haben der alten Dame hoffentlich noch ein paar schöne, erfüllte Jahre in ihrem Haus beschert.«

Marie lächelte. »Wenn es so sein sollte, wäre ich froh.«

*

»Ich weiß nicht, wie Sie das so schnell hingekriegt haben, Herr Siebenschön«, sagte Marie Grünewald, als sie einige Zeit später wieder einmal in Felix‹ Büro saß. »Ehrlich, mir kommt das wie ein Wunder vor.«

»Es war kein Wunder, sondern das Ergebnis einer guten Kooperation mit Frau Atak, der Rechtsanwältin, mit der ich ab sofort eng zusammenarbeite. Sie hat sofort gesehen, dass Ihr Schwager jede Menge krumme Touren gedreht hat – und es waren dann ja noch ein paar mehr, als zunächst angenommen. Zum Glück hat er es sehr dumm angestellt, es war einfach, Beweise gegen ihn zu sammeln.«

»Er ist wahrscheinlich leichtsinnig geworden, weil er all die Jahre ohne Probleme Erfolg hatte mit seinen Betrügereien. Wie gesagt, mein Mann ist zu gut für diese Welt.«

»Wie hat er es aufgenommen, dass sein eigener Bruder ihn nach Strich und Faden betrogen hat?«

Sie zögerte, bevor sie gestand: »Zuerst war er böse auf mich, glaube ich, aber dann ist ihm wohl aufgegangen, dass ich nicht die Person bin, auf die sich sein Zorn richten sollte. Und eins muss ich sagen: Mein Mann ist ein sehr langmütiger Mensch, doch wenn er einmal zornig ist, dann funkt es aber so richtig. Sein Bruder hat versucht, ihn weichzuklopfen, aber er ist auf taube Ohren gestoßen. Sein Anwalt hat ihn auch sitzenlassen, als klar war, dass er kein Geld mehr hat, um ihn zu bezahlen. Er wird sich noch umgucken, wenn er merkt, wie sich das Leben anfühlt, wenn man nicht mehr mit Geld nur so um sich werfen kann. Seine schöne junge Freundin hat sich, wie ich höre, auch schon von ihm abgewandt. Er wird es in den nächsten Jahren nicht leicht haben.«

Sie sagte das ganz sachlich, ohne Häme. Maria Grünewald gefiel ihm immer besser. Und noch einmal dachte er an seinen ersten Eindruck von ihr. Wie hatte er ihr seinerzeit Unrecht getan!

Als sie sich erhob, um sich zu verabschieden, sagte sie: »Ich habe Sie übrigens wärmstens weiterempfohlen – und keine Angst, es sind nicht nur Damen, die ihre Männer der Untreue verdächtigen.«

Er fühlte sich ertappt und reagierte entsprechend verlegen. »Oh, wie … wie kommen Sie darauf, dass …«

Er wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte, und so brach er ab, noch verlegener als zuvor.

Sie lächelte fein. »Ich bin eine ganz gute Beobachterin, Herr Siebenschön, und mir ist Ihr stummer Seufzer nicht entgangen, als ich das erste Mal bei Ihnen war. Ich habe das dann ziemlich schnell verstanden. Wahrscheinlich haben Sie vor allem mit Untreue zu tun?«

»Ja«, gab er zu, »und Sie können sich vielleicht vorstellen, dass das auf Dauer ziemlich deprimierend ist.«

»Kann ich«, sagte sie, immer noch mit ihrem feinen Lächeln.

»Ich habe Sie damals falsch eingeschätzt und mir vorgenommen, dass mir das nie wieder passiert.«

Jetzt lachte sie frei heraus, wurde jedoch bald wieder ernst. »Meine beste Freundin hat auch einen Auftrag für Sie. Sie wird von einem Unbekannten verfolgt, der ihr immer Pakete mit Sachen schicken lässt, die sie nicht bestellt hat. Er hat, denkt sie mittlerweile, ihren Computer gehackt, aber die Polizei scheint ziemlich machtlos zu sein.«

Felix hörte ihr mit leuchtenden Augen zu. Das klang nach einem interessanten Fall.

Wenig später machte er sich auf den Weg, um Pina abzuholen. Wie sich herausstellte, wartete sie bereits auf ihn. Als sie ihn sah, flog sie in seine Arme, und er hielt sie fest.

»Was ist denn los?«, fragte er. »Du bist ja ganz aufgeregt.«

»Ja, bin ich«, sprudelte sie heraus, »weil ich zwei neue Fälle habe, bei denen wir super zusammenarbeiten können.

Er lachte.

»Ich habe immerhin einen«, sagte er. »Aber jetzt will ich von Arbeit nichts mehr hören. Morgen fängt das Wochenende an. Was unternehmen wir?«

»Nichts«, schlug sie vor. »Das Wetter soll scheußlich werden, und ich hätte nichts dagegen, mehr oder weniger im Bett zu bleiben und vielleicht ab und zu etwas Leckeres zu essen. Was meinst du?«

Er zog sie an sich und küsste sie. »Ich habe gehofft, dass du so etwas vorschlagen würdest«, flüsterte er ihr danach ins Ohr. »Schade, dass das Wochenende nicht gleich jetzt beginnt.«

»Wer sagt das denn?«, fragte sie. »Zufällig habe ich schon ein paar leckere Sachen eingekauft, und bis zu meiner Wohnung ist es ja nicht allzu weit, also …«

Sie fassten sich an den Händen und rannten los wie zwei Kinder, vor denen sechs wundervolle Ferienwochen lagen.

Kelter Media Adventskalender 1

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