Читать книгу Kelter Media Adventskalender 1 - Michaela Dornberg - Страница 15
Оглавление»Mußt du wirklich morgen schon zurückfliegen?« fragte Alexander von Ravensburg die schöne blonde Frau in seinen Armen. »Sieh mal, Sabrina, ich muß erst in einer Woche nach Bahia. Das heißt, ich bleibe hier in Rio, und du fliegst nach Berlin zurück. Was für eine Verschwendung! Überleg doch nur mal, wie herrlich das wäre, wenn wir…«
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn leise. »Aber ich kann es doch nicht ändern. Ich muß einfach zurück, Alex, ich habe Prüfungen, und die darf ich nicht versäumen.«
Er sah ihre traurigen Augen und änderte sofort den Tonfall. »Entschuldige«, bat er. »Ich bin gedankenlos. Wir machen einfach das Beste aus unserem letzten Abend und unserer letzten Nacht!«
»Und bis du nach Berlin kommst, sind es ja nur ein paar Monate«, sagte sie in dem rührend vergeblichen Bemühen, sich ihre Verzweiflung nicht allzusehr anmerken zu lassen.
Er nickte, antwortete jedoch nicht. Er hatte Sabrina wirklich gern, verflixt gern sogar, aber er konnte ihr unmöglich sagen, daß das mit ihm und den Frauen leider nie für lange war. Ein Abschied wie dieser war ihm nichts Unbekanntes.
Allerdings ertappte er sich dieses Mal dabei, daß er selbst auch traurig war. Sabrina war etwas ganz Besonderes, er war gern mit ihr zusammen. Aber war er nicht mit all seinen Freudinnen gern zusammen gewesen? Er wußte einfach, daß es schon bald eine andere schöne Frau in seinen Armen geben würde. Jedenfalls war es bisher immer so gewesen, und es würde dieses Mal nicht anders sein.
Der blonde Alexander von Ravensburg war der Typ Mann, von dem viele Frauen träumen: Er war groß, durchtrainiert und sah ausgesprochen gut aus mit seinem klassischen Profil, den immer etwas zu langen Haaren und den blauen Augen, die so übermütig blitzen konnten wie bei einem kleinen Jungen. Er war außerdem charmant und klug, und er hatte eine ausgesprochen attraktive Stelle bei einem Institut in Brasilien, das deutschen Geschäfts- und Privatleuten den Einstieg in das fremde Land erleichterte. Er mußte viel im Land herumreisen und verfügte über genügend Geld, um sich das Leben so angenehm wie möglich zu machen.
Eigentlich war er also perfekt – fast zumindest. Denn treu war er nicht, und ehrlich war er, zumindest Frauen gegenüber, ebenfalls nicht. Wenn er das gewesen wäre, hätte er mit ihnen sicher nicht so leichtes Spiel gehabt. Sein Kollege Volker Henstein, der oft mit ihm zusammen an den gleichen Projekten arbeitete, schüttelte über Alexanders Frauengeschichten regelmäßig den Kopf und sagte: »Du wirst eines Tages noch mal richtig auf die Nase fallen, Alex! Auf Dauer kann das nicht gutgehen, was du da machst.«
»Was später ist, interessiert mich nicht, im Augenblick geht es jedenfalls sehr gut«, erwiderte Alexander in solchen Fällen regelmäßig. »Was will ich mehr? Die Welt ist voller wunderbarer schöner Frauen – warum soll ich mich mit einer einzigen zufriedengeben?«
Daraufhin zuckte Volker gewöhnlich die Achseln, und wechselte das Thema. Er selbst war mit einer Brasilianerin verheiratet, hatte bereits drei Kinder und war ein begeisterter Familienvater. Er gehörte nicht zu denen, die Alexander wegen seiner zahlreichen Abenteuer beneideten – viele Kollegen, die weniger Glück bei Frauen hatten, taten das. Nein, Volker Henstein bedauerte den anderen insgeheim sogar ein wenig, aber das behielt er für sich. Eines Tages würde selbst Alexander vernünftig werden – zumindest hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß das passieren würde.
Und nun stand also Alexanders Abschied von Sabrina bevor. Nachdenklich sah er die junge Frau an. In den letzten vier Wochen waren sie unzertrennlich gewesen. Sie hatte sich hilfesuchend an das Institut gewandt, für das Alexander arbeitete, weil sie eine brasilianische Großmutter gehabt hatte, die allerdings bei ihrer Geburt schon nicht mehr am Leben war. Jedenfalls hatte sich Sabrine in den Kopf gesetzt, die Spuren dieser Großmutter in Rio de Janeiro zu suchen – und das hatte sie dann auch mit so viel Ausdauer getan, daß er davon höchst beeindruckt gewesen war. Tatsächlich hatte sie noch Leute gefunden, die ihre Großmutter gekannt hatten, und darüber war sie so glücklich gewesen wie ein Kind.
Sabrina Schirmbeck, dachte er. Sie war erst fünfundzwanzig und studierte in Berlin Sprachen, weil sie davon träumte, die ganze Welt zu bereisen. Sie kam ihm sehr viel jünger vor als er selbst, obwohl sie nur sieben Jahre auseinander waren. Aber sie schien ihm so unverbildet zu sein, so begeisterungsfähig. War er im Vergleich dazu nicht geradezu zynisch und illusionslos?
Er zog sie näher an sich. Es würde merkwürdig sein nach ihrer Abreise. Offenbar hatte er sich tatsächlich ein wenig an sie gewöhnt. Fast hätte er über sich selbst gelacht, er kannte sich schließlich. Spätestens zwei Tage nach ihrer Abreise würde die nächste Frau in seinen Armen liegen…
»Alex?« fragte Sabrina. »Was meinst du dazu?«
Er küßte sie zärtlich. »Entschuldige, ich habe nicht zugehört.«
»Das habe ich gemerkt. Du hast ein ganz komisches Gesicht gemacht«, stellte sie fest und fuhr ihm mit den Fingern sanft über die Wange. »Ich habe dich gefragt, ob du nachher noch einmal mit mir auf den Zuckerhut fährst. Ich weiß, daß dich die Touristenmassen da oben nerven, aber ich möchte noch einmal auf die Stadt hinuntersehen und mir den Anblick ganz fest einprägen, damit ich ihn niemals vergesse – falls ich nicht irgendwann zurückkomme.«
Er schüttelte den Kopf. »Wir waren schon dreimal da oben, Sabrina«, meinte er. »Du mußt den Anblick doch schon auswendig kennen. Außerdem: Du kommst doch gerantiert nach Rio zurück?«
»Wer weiß?« fragte sie leise. »Bitte, Alex!«
Wieder küßte er sie. »Na, schön, ich schenke dir zum Abschied einen Besuch auf dem Zuckerhut.«
Als er das Wort »Abschied« aussprach, zuckte sie zusammen, und er bereute seinen Leichtinn sofort, doch Sabrina lächelte ihn tapfer an und sagte: »Danke. Ein schöneres Geschenk hättest du mir nicht machen können!«
Verdammt dachte er, wieso rührt mich diese Frau so? Warum kommen mir fast die Tränen, wenn ich sie so traurig sehe wie jetzt? Ärgerlich verscheuchte er diese Gedanken. »Dann laß uns mal langsam losgehen!« schlug er mit betont fröhlicher Stimme vor.
Sie nickte nur, schlang einen Arm um seine Hüften und dann machten sie sich auf den Weg. Morgen ist sie weg, dachte er, und wieder kroch ein ganz merkwürdiges Gefühl in ihm hoch, das er sich nicht erklären konnte.
Was war nur mit ihm los? Sie war eine tolle Frau, sicher, aber davon gab es nun wirklich eine ganze Menge – niemand wußte das besser als er.
*
Stefanie Wagner betrat das Büro ihres Chefs und sagte freundlich: »Guten Morgen, Herr Wingensiefen.«
Er sah verdrießlich aus, das bemerkte sie sofort, und sie stöhnte leise. Das fehlte ihr gerade noch, daß er heute schlechte Laune hatte, wo sie ihn ausnahmsweise mal um einen Gefallen bitten wollte – normalerweise war es ja immer umgekehrt.
Andreas Wingensiefen war der Direktor des exklusiven King’s Palace Hotels in Berlin. Die Angestellten des Hauses sahen jedoch in Stefanie Wagner, seiner Assistentin, die eigentliche Chefin des Hauses, denn sie war es, bei der alle Fäden zusammenliefen. Und sie war es auch, die im Zweifelsfalle bis zum Umfallen arbeitete, während der Direktor zwar gern repräsentierte, die eher unangenehme und mühsame Kleinarbeit aber doch lieber anderen überließ.
Er war ein charmanter Mann, der erhebliche Anziehungskraft auf Frauen ausübte und das auch sehr genoß. Stefanie kam in der Regel ganz gut mit ihm klar, zumal sie es zu schätzen wußte, daß er sie so selbständig arbeiten ließ. Sie hätte keinen Chef ertragen können, der ihr ständig Vorschriften machte. So hatte also die Zusammenarbeit mit Andreas Wingensiefen für sie sowohl Vor- als auch Nachteile.
Er sah sie trotz seiner offensichtlich schlechten Laune wohlgefällig an, was er eigentlich immer tat. Er wußte es zu schätzen, eine so schöne, und dabei so zuverlässige und kluge Mitarbeiterin zu haben. Stefanie war elegant wie immer – im hellgrauen Kostüm mit dunkelgrauen Pumps. Die dichten blonden Locken fielen ihr bis auf die Schultern, das Make-up war dezent, aber perfekt. Das Schönste an ihr waren ihre Augen, deren Blau ein wenig ins Violette spielte – sie erinnerten an Veilchen.
»Nun, Frau Wagner?« fragte er. »Was gibt’s denn?«
»Eine Freundin von mir kommt morgen aus Rio zurück, und ich würde sie gern vom Flughafen abholen«, erklärte Stefanie. »Das bedeutet allerdings, daß ich gegen achtzehn Uhr das Haus verlassen müßte.« Normalerweise ging sie immer erst im Laufe des Abends. Sie war sich nicht sicher, ob ihr Chef das überhaupt wußte, aber es spielte auch keine Rolle. Sie ging eben immer erst, wenn sie das Gefühl hatte, ihre Arbeit wirklich getan zu haben.
Er sah sie prüfend an, und einen schrecklichen Augenblick lang dachte sie, er werde rundheraus ablehnen.
Schrecklich wäre das gewesen, weil sie genau wußte, das sie ihm in dem Fall deutlich die Meinung gesagt hätte – und das wäre bestimmt sehr unangenehm geworden. Sie war ein geduldiger Mensch, aber wenn sie erst einmal wütend war, dann war sie so leicht nicht mehr zu bremsen. Auch Andreas Wingensiefen hatte das schon erlebt…
Jedenfalls legte sie im Moment keinen gesteigerten Wert auf Streß, und den hätte sie mit Sicherheit gehabt, wenn sie ihrem Chef mal wieder gründlich die Meinung hätte sagen müssen.
Doch er zeigte ihr sein charmantestes Lächeln und sagte: »Natürlich können Sie um sechs gehen, Frau Wagner. Sie bleiben ja oft genug bis in den Abend hinein, da wird es wohl auch einmal ohne Sie gehen.«
»Das denke ich auch, aber das bedeutet, daß Sie morgen den Empfang der amerikanischen Delegation übernehmen müßten«, erwiderte Stefanie und bemerkte sofort, daß er daran nicht gedacht hatte.
Solche Aufgaben überließ er mit Vorliebe ihr, es sei denn, er konnte sich bei der Gelegenheit ins rechte Licht rücken. Da sie seine Eitelkeit kannte, fügte sie rasch hinzu: »Die Presse wird auch da sein, Sie wissen ja, die geplante Fusion eines deutschen und eines amerikanischen Unternehmens hat eine Menge Wirbel gemacht. Es wäre also schon wichtig, daß jemand von der Direktion anwesend ist…«
Das waren die richtigen Worte gewesen. Wenn die Presse kam, bestand die Möglichkeit, daß sein Bild am nächsten Tag in der Zeitung erschien, und diese Aussicht gefiel ihrem Chef. »Schon gut, ich übernehme das«, erklärte er lässig. »Müssen wir sonst noch etwas besprechen?«
»Von meiner Seite aus nicht«, sagte Stefanie und verabschiedete sich höflich. Auf dem Weg zu ihrem Büro dachte sie darüber nach, warum ein so kluger Mann wie Andreas Wingensiefen trotzdem so berechenbar war. Es war zweifellos auch sein Verdienst, daß das King’s Palace eines der ersten Häuser in Berlin war, aber nachdem er ein paar Jahre lang die Ärmel aufgekrempelt hatte, schien ihn jetzt ein wenig die Lust verlassen zu haben.
Oder ich nehme ihm zuviel ab, und er hat sich daran gewöhnt, dachte sie, als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete.
Aber das ist jetzt erst einmal gleichgültig. Ich kann Sabrina morgen abholen, das ist die Hauptsache!
*
Dr. Adrian Winter, der junge Chefarzt, der die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg leitete, war in der Cafétéria des Krankenhauses in eine heftige Diskussion mit seinem älteren Kollegen Dr. Christian Halberstett vertieft.
Der achtundfünfzigjährige Gynäkologe war normalerweise die Liebenswürdigkeit in Person, doch im Augenblick wirkte er so erregt wie selten. »Was ist das denn wieder für eine Idee von der Verwaltung?« rief er. »Ich dachte, seit wir diesen tüchtigen neuen Verwaltungsdirektor haben, würden diese unsinnigen Sparmaßnahmen endlich aufhören – und nun das! Bei uns werden mehr Kinder zur Welt gebracht als in jedem anderen Krankenhaus der Stadt – und sie streichen uns eine Stelle. Ist denn das die Möglichkeit?« Er schaffte es nicht, sich wieder zu beruhigen.
»Ich bin ja ohnehin nicht so sicher, ob Thomas Laufenberg wirklich der tüchtige Verwaltungsdirektor ist, für den ihr alle ihn haltet«, meinte Adrian und fuhr sich mit der Hand durch die dichten dunkelblonden Haare.
»Ach, komm schon, Adrian«, meinte sein älterer Kollege, »natürlich ist er tüchtig. Und engagiert dazu. Diese Geschichte ist bestimmt nicht auf seinem Mist gewachsen. Du vergißt, daß er nicht einfach machen kann, was er will, sondern daß er einen Verwaltungsrat hat, den er überzeugen muß, worum immer es auch geht.«
Adrian schwieg. Er hatte monatelang eine Art Kleinkrieg gegen Thomas Laufenberg geführt, weil er ihn im Verdacht gehabt hatte, die rigorose Sparpolitik seines Vorgängers ohne Rücksicht auf Verluste fortsetzen zu wollen. Erst ganz allmählich war ihm aufgegangen, daß er dem anderen vielleicht Unrecht getan hatte.
Und dann waren seine Zwillingsschwester und er auch noch rein zufällig hinter ein gut gehütetes Geheimnis von Thomas Laufenberg gekommen. Der Verwaltungsdirektor spielte in seiner Freizeit gelegentlich in einer Jazzband als Pianist – und er hatte sich unter den Kennern in Berlin bereits einen hervorragenden Namen gemacht. Das sprach, fand Adrian, ganz eindeutig für den Mann, und ganz allmählich hatte er begonnen, ihn mit anderen Augen zu sehen. Aber nun war schon wieder eine Stelle gestrichen worden…
»Ich werde selbst mit Herrn Laufenberg sprechen«, sagte Christian Halberstett in diesem Augenblick. Er war noch immer sehr erregt. »Er soll mir erklären, wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist. Und dann werde ich ihm ein paar Zahlen vorlegen, die er seinem Gremium zeigen kann. Wir wollen doch mal sehen, ob in dieser Sache bereits das letzte Wort gesprochen wurde.«
»Viel Glück, Christian«, meinte Adrian. »Ich kann nur hoffen, daß du Erfolg hast. Wenn das nämlich wieder losgeht mit den Stellenstreichungen, dann gehe ich auch auf die Barrikaden, das kannst du mir glauben. Wir sind in der Notaufnahme chronisch unterbesetzt, das ist allgemein bekannt, trotzdem ändert sich an diesem Zustand nichts.«
Der andere nickte. »Ja, ich weiß, bei euch ist es besonders schlimm. Aber immerhin versucht doch Herr Laufenberg, euch mit AIPlern zu helfen, oder?«
»AIPler« waren Ärzte im Praktikum, junge Mediziner also, die ihr Studium abgeschlossen, aber noch kaum praktische Erfahrung gesammelt hatten.
»Ja, stimmt«, gab Adrian zu. »Aber du weißt doch selbst, wie das ist. Mal haben wir Glück,
mal nicht. Mit manchen hat man mehr Arbeit, als sie einem abnehmen.«
Sein älterer Kollege sah auf die Uhr und sprang auf. »Du lieber Himmel, da sitze ich hier mit dir, diskutiere und vergesse darüber die Zeit. Tschüs, Adrian, bis später!«
»Tschüs, Christian!« Adrian blieb noch ein paar Minuten sitzen und trank in Ruhe seinen Kaffee aus. Sein Dienst in der Notaufnahme war noch lang, er mußte neue Kräfte sammeln. Doch schließlich erhob er sich und kehrte an seinem Arbeitsplatz zurück, in Gedanken noch immer bei dem Gespräch, das er mit Christian Halberstett geführt hatte. Die Kurfürsten-Klinik stand eigentlich finanziell ganz gut da, er konnte nur hoffen, daß nicht erneut die endlosen Debatten auf das medizinische Personal zukamen, die sie alle unter Thomas Laufenbergs Vorgänger so zermürbend empfunden hatten.
Bloß nicht, dachte er. Die sollen uns gefälligst Bedingungen schaffen, unter denen wir unsere Arbeit gut verrichten können – darum geht es nämlich, um nichts anderes. Ein Krankenhaus kann nicht in erster Linie daran interessiert sein, Gewinne zu erwirtschaften. Wir sind für unsere Patienten da!
Doch er wußte nur zu gut, daß nicht alle seine Meinung teilten.
*
Esther Berger, Adrian Winters Zwillingsschwester, war Kinderärztin an der berühmten Berliner Charité. Wie ihr Bruder Adrian hing sie sehr an ihrem Beruf, und sie hätte ihn um nichts auf der Welt gegen einen anderen eintauschen mögen.
Esther war eine temperamentvolle, hübsche Frau mit ganz kurzen, hellblonden Haaren und blauen Augen. Sie sah jünger aus, als sie war, was nicht zuletzt daran lag, daß sie sehr zierlich war. Ihrem Zwillingsbruder reichte sie gerade bis zur Schulter, was er öfter zum Anlaß nahm, sie »Kleine« zu nennen. Dabei war Esther ein paar Minuten älter als er.
Man sah ihnen zwar an, daß sie Geschwister waren, doch für Zwillinge hätte sie niemand gehalten, der sie nicht näher kannte. Auch im Wesen waren sie recht unterschiedlich. Während Adrian in der Regel eher ruhig und abwägend war, wirbelte Esther unablässig herum und war eigentlich nur zufrieden, wenn sie Bewegung hatte.
Sie war meistens guter Laune, doch an diesem Tag strahlte sie so, daß eine ihrer Kolleginnen sie fragte: »Sag mal, hast du im Lotto gewonnen oder den Mann deines Lebens getroffen? Du sprühst ja förmlich Funken.«
»So?« fragte Esther in gleichmütigem Ton, wandte aber rasch ihr Gesicht ab, damit die andere nicht sah, wie ihr eine verräterische Röte ins Gesicht stieg. »Ich kann dich beruhigen, Maria: Weder Geld noch Mann!«
»Dann bist du ein beneidenswerter Mensch«, stellte ihre Kollegin fest, »wenn du völlig ohne Grund so strahlen kannst!«
Als sie wieder allein war, lächelte Esther in sich hinein. Natürlich hatte sie einen Grund, sich zu freuen, aber den würde sie bestimmt nicht Maria, dieser alten Klatschtante, auf die Nase binden… Vergnügt dachte sie daran, daß es ihr gelungen war, an diesem Abend eine Karte für das Lokal zu ergattern, in dem der Verwaltungsdirektor der Kurfürsten-Klinik, Thomas Laufenberg, mal wieder einen seiner seltenen Auftritte haben würde. Sie war schon ganz kribbelig vor lauter Vorfreude.
Seit Adrian und sie zufällig herausgefunden hatten, wer der geheimnisvolle Pianist der »Kultband« war, deren Konzerttermine immer nur durch Mundpropaganda veröffentlicht wurden, beschäftigte sie dieser Thomas Laufenberg. Sie hatte Adrian einige Male nach ihm gefragt, doch natürlich war ihr Bruder aufmerksam geworden, und das gefiel ihr nicht. Sie wollte keine Fragen beantworten, sie wußte ja selbst nicht, warum sie sich für Thomas Laufenberg interessierte. Jedenfalls würde sie ihn an diesem Abend noch einmal spielen hören, und sie würde es irgendwie schaffen, ihn kennenzulernen, das hatte sie sich vorgenommen. Und dann würde sie weitersehen…
Esther war geschieden, ihr Mann war Amerikaner gewesen, und sie hatte die Trennung zunächst nur schwer verkraftet. Sie hatte seitdem sehr zurückgezogen gelebt, aus Angst vor neuen seelischen Verletzungen. Thomas Laufenberg war der erste Mann seit ihrer Scheidung, der sie anzog, dabei hatte sie ihn bisher nur auf der Bühne gesehen. Sie wußte nur deshalb ein bißchen über ihn, weil Adrian gelegentlich von seinen Zusammenstößen mit dem neuen Verwaltungsdirektor berichtet hatte.
Sie kannte Thomas Laufenberg also praktisch nicht, aber allein die Art, wie er Klavier spielte, zog sie magisch an. Sie fragte sich, was er wohl sagen würde, wenn sie sich mit den Worten vorstellte: »Ich bin die Zwillingsschwester von Dr. Winter – den kennen Sie doch…«
Natürlich würde sie nichts dergleichen sagen, aber es machte ihr großen Spaß, es sich auszumalen.
»Frau Dr. Berger? Bitte, kommen Sie schnell, die kleine Nora hat hohes Fieber…«
Sie folgte der Schwester eilig und verbannte jeden weiteren Gedanken an Thomas Laufenberg aus ihrem Kopf. Dafür war später noch genug Zeit.
*
Sabrina saß mit feuchten Augen auf ihrem Fensterplatz und blickte nach unten. Irgendwo unter ihr war Alex zurückgeblieben, und sie war ganz sicher, daß er das Flugzeug mit den Blicken verfolgte, bis es verschwunden war. Es würde Monate dauern, bis sie ihn wiedersah! Er hatte ihr erzählt, daß er jedes zweite Jahr eine gewisse Zeit in Deutschland verbrachte – zum Glück in Berlin, wo sie selbst auch wohnte. Und da er letztes Jahr nicht in Deutschland gewesen war, würde er also in diesem Jahr kommen.
In Berlin hatte das Institut, für das Alex arbeitete, seinen Stammsitz. Dorthin mußten alle Mitarbeiter regelmäßig reisen, um über ihre Arbeit zu berichten und sich über neue Entwicklungen informieren zu lassen. Außerdem fanden die Direktoren, daß Mitarbeiter im Ausland den Kontakt zur Heimat halten mußten, um ihre Arbeit wirklich gut verrichten zu können.
Ein paar Monate, dachte Sabrina, und fragte sich, wie sie das aushalten sollte. Sie liebte Alex, bei ihr war es die berühmte Liebe auf den ersten Blick gewesen, obwohl er eigentlich nicht ihr Typ war. Zu blond, zu gut aussehend, zu unbekümmert. Aber ihr Herz hatte gesprochen, und sie hatte überhaupt nichts dagegen tun können.
War es bei ihm ähnlich gewesen? Sie glaubte es nicht. Er hatte sicher ständig wechselnde Freundinnen, so wie er aussah. Und sie hatte durchaus bemerkt, wie die Frauen ihn schwärmerisch musterten… aber dann hatte er sich in sie verliebt, und das war echt gewesen, daran hatte sie keinen Zweifel.
Sie weinte ein bißchen. Die vor ihr liegenden Monate in Berlin kamen ihr trostlos vor. Sie würde Alex schreiben, sie würde ab und zu mit ihm telefonieren – nicht zu oft natürlich, das konnte sie sich nicht leisten – aber sie würde ihn nicht sehen, ihn nicht berühren können. Ein paar Monate ohne Alex waren für sie eine Ewigkeit.
Sie wischte sich energisch die Tränen aus den Augen. Er würde sie bestimmt auslachen, wenn er sie so sähe! Zum Glück hatte Steffie versprochen, sie abzuholen, das war ein großer Trost.
Stefanie Wagner war ein paar Jahre älter als sie, sie kannten einander von früher. Und seit Sabrina in Berlin studierte, hatte sie sich enger an Stefanie angeschlossen, die sie sehr bewunderte, weil sie so schön und erfolgreich war. Nur den richtigen Mann hatte Stefanie noch nicht gefunden.
Aber ich, dachte Sabrina. Ich habe ihn gefunden! Sie zog einen Block und einen Stift aus der Tasche und begann, den ersten Brief an Alex zu schreiben.
*
»Sie ist also weg?!« stellte Volker Hentstein fest, als Alexander langsam ins Büro schlenderte.
Er war wie Alexander groß und blond, aber dennoch ein ganz anderer Typ: Man sah ihm an, wie gern er aß, denn er hatte gut und gern zehn Kilo zuviel, doch das schien ihm nicht das Geringste auszumachen. Seine Haare begannen sich bereits zu lichten, und in seinem Gesicht schien nichts zueinander zu passen, es sah aus wie ein Puzzle, bei dem einzelne Teile falsch zusammengesetzt worden waren.
Doch Volker war ein so liebenswerter und interessanter Mensch, daß man das überhaupt nicht mehr bemerkte, wenn man erst einmal angefangen hatte, sich mit ihm zu unterhalten. Er war von heiterem Gleichmut, vergötterte seine Frau und seine Kinder und behauptete von sich selbst, einer der glücklichsten Menschen der Welt zu sein.
»Ja«, bestätigte Alexander. »Sie ist weg. Vor einer Stunde abgeflogen.«
Volker warf ihm einen scharfen Blick zu, den Alexander jedoch nicht bemerkte. Dann fragte er, scheinbar beiläufig: »Und? Steht die Nachfolgerin schon fest?«
Alexander schüttelte den Kopf, fast ein wenig unwillig, fand Volker. »Tu doch nicht so, als ob ich ein Wüstling wäre!« sagte er stirnrunzelnd. »Nach dem Motto. Kaum ist die eine weg, steht die nächste schon auf der Matte!«
Jetzt war Volker ehrlich erstaunt, und es gelang ihm nicht, das zu verbergen. »Aber so war’s doch die ganze Zeit – oder etwa nicht? Wie hieß noch die vorige? Angela? Oder war es Monika? Die war jedenfalls noch keine zwei Tage weg, da bist du schon mit Sabrina losgezogen…«
»Na und?« knurrte Alexander. »Das war reiner Zufall, daß sie mir über den Weg gelaufen ist. Aber solange ich mit einer Frau zusammen bin, suche ich doch nicht schon nach der nächsten!«
»Du meinst, du mußtest nicht suchen, weil sie sowieso schon Schlange standen«, stellte Volker trocken fest. Wieder warf er seinem Kollegen und Freund einen prüfenden Blick zu. Etwas war anders dieses Mal. Normalerweise lief Alexander, wenn er sich von einer Frau getrennt hatte, mit fröhlicher Miene durch die Gegend, voller Vorfreude auf das neue Abenteuer, das irgendwo schon wieder auf ihn wartete.
Doch diesmal war von Vorfreude nichts zu merken, und das kam Volker merkwürdig vor.
»Jetzt hör endlich auf, darüber zu reden!« verlangte Alexander so heftig, daß Volker tatsächlich verstummte. Er tat es aber nicht, weil er darum gebeten worden war, sondern weil ein ganz ungeheuerlicher Gedanke ihm die Sprache verschlug: War es denkbar, daß es Alex endlich richtig erwischt hatte?
Diese Überlegung zauberte ein vergnügtes Lächeln auf Volkers Gesicht. Er hatte Sabrina kennengelernt und sofort ins Herz geschlossen. Er fand, daß sie ganz anders als die Frauen war, mit denen Alexander sonst umherzog. Vielleicht war sie ja endlich die richtige Frau für ihn?
Bei diesem Gedanken pfiff Volker vergnügt vor sich hin und wandte sich wieder seiner Arbeit zu, ohne sich weiter um seinen Kollegen zu kümmern.
Alexander warf ihm einen mißtrauischen Blick zu und fragte sich, was eigentlich mit ihm selbst los war, daß er an diesem strahlend schönen Tag so grottenschlecht gelaunt war.
*
»Guten Abend, Herr Dr. Winter«, grüßte Thomas Laufenberg mit verbindlichem Lächeln. Immerhin waren der Notaufnahmechef und er dazu übergegangen, einander höflich zu behandeln. Er rechnete es dem anderen hoch an, daß er eisernes Stillschweigen über diese, Laufenbergs gelegentliche Auftritte als Jazzpianist bewahrt hatte.
Nicht, daß er das Gefühl hatte, diese Auftritte verschweigen zu müssen. Er hatte die Erlaubnis für seine »Nebentätigkeit« ordnungsgemäß beim Verwaltungsrat der Klinik eingeholt, und niemand hatte etwas dagegen einzuwenden gehabt. Schließlich trat er höchstens ein- bis zweimal im Monat auf, und er achtete mit peinlicher Sorgfalt darauf, daß seine Arbeit nicht vernachlässigt wurde. Aber es war ihm auf jeden Fall lieber, wenn in der Klinik nicht darüber geredet wurde, was er in seiner Freizeit tat.
»Guten Abend, Herr Laufenberg. Haben Sie einen Augenblick Zeit? Ich habe nämlich gehört, daß es jetzt schon wieder losgeht mit den Stellenkürzungen hier an der Klinik. Mein Kollege Halberstett hat mir berichtet, daß eine Gynäkologenstelle gestrichen werden soll…«
Während der Arzt weitersprach, schielte Thomas unauffällig auf seine Uhr und unterdrückte ein leises Stöhnen. Er stritt sich in letzter Zeit recht gern mit Dr. Winter – seit sie einander nicht mehr so feindselig begegneten wie noch vor wenigen Monaten, machten die Rededuelle mit dem engagierten Arzt ihm richtig Spaß. Doch leider war heute ein denkbar ungeeigneter Zeitpunkt dafür. Er würde abends auftreten, und er war ohnehin schon spät dran. Er mußte noch ein bißchen spielen, um sich zu lockern und die Belange der Klinik allmählich aus seinen Gedanken zu vertreiben.
Doch er wollte nicht zugeben, daß er es eilig hatte, denn immer noch befürchtete er, daß man ihm seine gelegentlichen Auftritte vorwerfen könnte mit dem Hinweis, seine eigentliche Arbeit leide darunter. Aus diesem Grunde gab er also seine heutige Verpflichtung nicht als Entschuldigung an, um sich entfernen zu können, sondern harrte geduldig aus.
»Darüber ist das letzte Wort noch längst nicht gesprochen, Herr Dr. Winter«, erwiderte er höflich, als der andere schwieg. »Wir haben darüber diskutiert im Verwaltungsrat, das stimmt allerdings.« Er unterbrach sich und fragte dann: »Woher wissen Sie das überhaupt? Eigentlich sollte aus unseren Sitzungen gar nichts nach draußen dringen!«
Adrian zuckte mit den Schultern. »Da müssen Sie sich bei Dr. Halberstett erkundigen, er hat mir davon erzählt. Aber welche Haltung nehmen Sie denn in der Sache ein?«
Thomas gab sich einen Ruck. Wenn er jetzt anfing, seinen Standpunkt zu erläutern, dann würde er noch in einer Viertelstunde hier stehen, und ihm bliebe schließlich kaum noch genug Zeit für seine Vorbereitungen. »Sie müssen entschuldigen, Herr Dr. Winter, aber ich habe es heute Abend ausnahmsweise ziemlich eilig. Sie wissen, ich diskutiere sonst immer gern mit Ihnen – aber jetzt muß ich wirklich gehen! Wir reden ein anderes Mal darüber, ja?« Er nickte noch einmal freundlich und lief dann hastig davon.
Adrian sah ihm verblüfft nach. »Was ist denn in den gefahren?« murmelte er. »Sonst geht er doch keinem Streit aus dem Weg…« In Gedanken versunken, betrat er den Aufzug.
*
»Steffie, was für ein Glück, daß du wirklich da bist!« Mit diesem Ausruf fiel Sabrina ihrer Freundin um den Hals, und dann brach sie in Tränen aus. Schluchzend umklammerte sie Stefanie Wagner und konnte sich überhaupt nicht mehr beruhigen. »Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn du nicht gekommen wärst!«
Stefanie war erschrocken über diese Begrüßung – das hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Aus Sabrinas zwei kurzen Anrufen aus Rio hatte sie geschlossen, daß es ihrer jüngeren Freundin dort sehr gut ging – sie hatte Leute gefunden, die ihre Großmutter noch gekannt hatten, und offenbar gab es auch einen Mann, dem es gelungen war, sich in Sabrinas Herz zu stehlen. Warum aber dann diese geradezu verzweifelten Tränen?
»Sabrina«, sagte sie liebevoll, »jetzt laß uns erst einmal zu mir nach Hause fahren, ja? Du kannst bei mir übernachten – und dann erzählst du mir in aller Ruhe, was los ist. Einverstanden?«
Sabrina nickte, noch immer schluchzend. Stefanie übernahm es, den Gepäckwagen zum Ausgang zu schieben. Ihre Freundin folgte ihr mit gesenktem Kopf.
Eine knappe Stunde später saßen sie in Stefanies Wohnzimmer, jede in einen gemütlichen Sessel gekuschelt, vor sich einen delikaten kalten Imbiß, den Stefanie vorausschauend aus dem Hotel mitgebracht hatte. Sie kochte selten, weil sie ohnehin fast nie zu Hause war, und wenn sie während der Arbeit der Hunger überkam, ließ sie sich eine Kleinigkeit aus der Küche bringen. Aber natürlich mußte sie Sabrina nach dem langen und anstrengenden Flug etwas vorsetzen.
Doch diese hatte noch keinen Bissen angerührt. Ab und zu nippte sie an ihrem Wein, aber das war auch alles.
»Also, was ist passiert?« erkundigte sich Stefanie. »Ich habe eigentlich damit gerechnet, eine strahlende Sabrina abzuholen – statt dessen siehst du schrecklich traurig aus.«
»Ich hab’ mich verliebt«, antwortete Sabrina, und es klang so, als berichte sie über ihre eigene Hinrichtung.
»Und was ist daran so schrecklich?« fragte Stefanie lächelnd. »Freu dich doch darüber – es gibt nichts Schöneres, als verliebt zu sein.« Noch während sie das sagte, fing ihr Herz plötzlich ganz unvernünftig an zu klopfen. Ausgerechnet ich muß das sagen, dachte sie.
»Ich sehe ihn erst in ein paar Monaten wieder! Er arbeitet in Brasilien – ach, Steffi, ich hab’ ihn so schrecklich gern! Ich kann gar nicht an ihn denken, ohne daß mir das Herz weh tut vor Sehnsucht.«
Es ist ihr ernst, dachte Stefanie, und unwillkürlich begann sie sich Sorgen zu machen. Sabrina war erst fünfundzwanzig, sie hatte das ganze Leben noch vor sich. Was für ein Mann war das, der ihr solchen Kummer bereitete? War er der Richtige für die junge Frau? Wußte er, was er ihr bedeutete? Und, die wichtigste Frage von allen, bedeutete ihm Sabrina ebenso viel wie er ihr?
»Erzähl mir von ihm«, bat sie mit sanfter Stimme, und das war offensichtlich das richtige Stichwort, denn augenblicklich begannen Sabrinas Augen zu leuchten. »Er heißt Alexander von Ravensburg«, begann sie, »und er arbeitet für ein deutsches Institut in Brasilien…« In den leuchtendsten Farben schilderte sie den Mann, in den sie sich so heftig verliebt hatte. Stefanie fragte sich unwillkürlich, ob es einen solchen Menschen überhaupt geben konnte. Er schien überhaupt keine Fehler zu haben! Gut aussehend, intelligent, charmant, mit einem interessanten Job und Verbindungen in die ganze Welt. Offenbar war er erst seit ein paar Jahren in Brasilien, davor war er jahrelang in Afrika gewesen, erzählte Sabrina.
»Hat er eigentlich auch Fehler?« wagte Stefanie irgendwann zu fragen.
Sabrina sah sie ratlos an. »Das weiß ich nicht«, gab sie nach längerem Nachdenken zu. »Ich habe keine feststellen können, Steffi. Ich habe ihm im Flugzeug einen zehn Seiten langen Brief geschrieben.«
Stefanie schluckte eine Erwiderung hinunter. Ihre Sorge um die Freundin wuchs. Wenn dieser Alexander wirklich so ein Ausbund an Charme und Attraktivität war, wie Sabrina ihn schilderte, dann war er mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit auch ein Frauenheld. Und genau das wäre ja schon der entscheidene Fehler des Supermanns, dachte Stefanie bedrückt.
Er wird noch ein paarmal anrufen, danach wird er die Sache ganz allmählich im Sande verlaufen lassen. Und während er schon mit der nächsten Freundin unterwegs ist, weint sich Sabrina hier seinetwegen die Augen aus!
»Warum guckst du auf einmal so böse?« fragte Sabrina erschrocken. »Hab’ ich was Falsches gesagt, Steffi?«
»Nein, nein«, beeilte sich Stefanie zu versichern. »Ich hab’ nur nachgedacht. Hast du immer noch keinen Hunger?«
»Doch, ein bißchen schon«, meinte Sabrina schüchtern. »Danke, daß du mir so geduldig zugehört hast, Steffie, mir geht’s jetzt schon viel besser. Aber ich bin froh, daß ich heute Nacht hier schlafen kann – allein in meiner Wohnung würd’ ich jetzt garantiert die Wände hochgehen.«
»Aber du bist doch wahrscheinlich gar nicht müde, oder?«
»Nein, aber das macht nichts. Du kannst ruhig schlafen gehen. Ich muß sowieso noch meinen Brief an Alex zu Ende schreiben, das dauert seine Zeit.«
Stefanie unterdrückte ein Gähnen. »Gut, ich bin tatsächlich ziemlich müde. Ich habe in letzter Zeit zuviel gearbeitet, glaube ich.«
Sabrina gluckste ein bißchen, sie sah jetzt viel munterer aus. »In letzter Zeit ist gut, Steffie! Du arbeitest doch immer zuviel – jedenfalls, seit ich hier in Berlin bin.«
»Ja, stimmt«, meinte Stefanie. »Aber Ich nehme mir oft vor, endlich damit aufzuhören.«
»Machst du nicht, du brauchst das!« stellte Sabrina voller Überzeugung fest.
»Freche Göre!« Stefanie stand auf und streckte sich. »Ich glaube, ich nehme noch ein Bad.«
»Ja, tu das.« Sabrina kramte bereits wieder nach ihrem Block. »Und ich schreibe meinen Brief!«
Als Stefanie später ihren Kopf ins Wohnzimmer steckte, sah sie Sabrinas Hand emsig über das Papier fliegen. »Gute Nacht«, sagte sie leise. »Bis morgen, Sabrina.«
»Bis morgen, Steffie, und danke für alles.« Sabrina sah nur kurz auf, ein abwesendes Lächeln auf den Lippen. Im nächsten Augenblick schrieb sie bereits weiter.
Sorgenvoll zog sich Stefanie in ihr Schlafzimmer zurück. Hoffentlich geht das gut, dachte sie. Hoffentlich ist dieser Alex anders, als ich denke…
*
Esther Berger hatte es geschafft, einen Platz zu ergattern, der es ihr erlaubte, den Pianisten Thomas Laufenberg während des Konzerts aus nächster Nähe zu betrachten. Sie war außerordentlich zufrieden mit sich und stellte fest, daß sie ziemlich aufgeregt war – aber es war ein gutes Gefühl. Sie war schon lange nicht mehr so unternehmungslustig gewesen. Außerdem war die Stimmung in dem völlig überfüllten Lokal großartig.
Wie üblich spielte die Band zunächst ohne Piansten – er kam meistens erst nach ungefähr einer halben Stunde. Es schien immer noch voller zu werden, dabei hatte man schon seit einiger Zeit das Gefühl, daß nicht einmal die bereits Anwesenden noch genügend Raum hatten, um auch nur tief Luft zu holen.
Was Adrian wohl sagen würde, wenn er wüßte, wo sie sich imAugenblick befand? Sie lächelte bei diesem Gedanken – und genau da trat Thomas Laufenberg auf die Bühne. Er war ihr so nah, daß sie ihn beinahe hätte berühren können. Ihre Blicke trafen sich, und er erwiderte ihr Lächeln, das ihm eigentlich nicht gegolten hatte. Doch das konnte er ja nicht wissen.
Esther fühlte ein leichtes Prickeln in der Magengegend, als er sich ans Klavier setzte. Hatte er einfach nur so gelächelt, weil man das eben tut, wenn man auf eine Bühne tritt – oder hatte er sie ganz persönlich gemeint? Ihr war es so vorgekommen… Hatte er nicht sogar dabei ein wenig gezwinkert?
Unglaublich, daß er Verwaltungsdirektor der Kurfürstenklinik war! Er trug Jeans und ein Hemd, dessen Kragen offen stand, die Ärmel waren aufgekrempelt. Er wirkte sehr lässig, wahrscheinlich lief er in der Klinik nur im Anzug herum. Sie fand, daß er sehr gut aussah mit seinen braunen Haaren, die an den Schläfen bereits einen grauen Schimmer hatten. Und dieser energische Mund…
Am besten aber gefielen ihr seine Hände, die nun leicht über die Tasten glitten und sein Publikum sofort in Begeisterung versetzten.
Auch Esther ließ sich von seinem Spiel und dem der Band mitreißen. Sie klatschte und trampelte am Ende jedes Stücks mit den Füßen, damit die Leute auf der Bühne weiterspielten. Einmal wandte Thomas Laufenberg den Kopf und sah sie direkt an – und dieses Mal, da war sie ganz sicher, meinte er sie, nur sie und niemand anders. Er lächelte sie an, und jetzt war sie es, die sein Lächeln erwiderte.
Viel später, als das Konzert längst zu Ende war und die Leute allmählich das Lokal verließen, stand er plötzlich neben ihr. »Ich frage mich«, sagte er, »ob Sie wohl Lust hätten, in den nächsten Tagen mit mir einmal einen Kaffee zu trinken?«
Sie konnte einfach nicht anders. Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Klar!« antwortete sie. »Ich habe mich gerade gefragt, wie ich es anstellen soll, mit Ihnen einen Kaffee zu trinken – für den Fall, daß Sie mich nicht angesprochen hätten, meine ich.«
Er lachte aus vollem Hals über ihre umwerfende Ehrlichkeit. Dann streckte er ihr seine Hand entgegen und sagte: »Ich bin Thomas Laufenberg.«
»Weiß ich doch«, erwiderte sie. »Mein Name ist Esther Berger.« Daß sie Adrians Zwillingsschwester war, mußte sie ihm ja nicht unbedingt sofort erzählen, fand sie. »Wie wäre es denn am Wochenende?«
Er machte ein verwirrtes Gesicht, und sie setzte erklärend hinzu: »Der Kaffee, den wir zusammen trinken wollen. Wäre es Ihnen am Wochenende recht? Samstag zum Beispiel?«
Was für eine wunderbare Frau, dachte Thomas. Diese Offenheit ist einfach hinreißend. »Ja«, antwortete er lächelnd. »Am Samstag würde es mir sehr gut passen!«
*
»Alex, du mußt sofort ins Amazonengebiet, wir haben ein paar Schwierigkeiten da oben«, sagte Alexanders Vorgesetzter am Tag nach Sabrinas Abflug. »Ich weiß nichts Genaues, aber es ist nötig, daß jemand von uns vor Ort ist und sich ein Bild über die Lage macht.«
»Schwierigkeiten?« fragte Alexander mit hochgezogenen Brauen. »Was soll das heißen?«
Sein Chef wich ihm aus. »Ich hab’s dir doch gerade gesagt, daß ich nichts Genaues weiß. Aber mir scheint, daß es in unserem Büro in Manaus drunter und drüber geht – ich bekomme den Büroleiter einfach nicht ans Telefon. Dafür landen bei mir jede Menge Beschwerden von Leuten, die in Manaus offenbar nur sehr unzureichend beraten worden sind. Ich würde selbst fliegen, aber ich kann im Augenblick einfach nicht weg hier. Mach dich bitte heute noch auf den Weg, es gehen noch einige Flüge. Und nimm dir ausreichend Sachen mit – es kann sein, daß du länger bleiben mußt.«
»Warum ich?« murrte Alexander.
Der andere sah ihn erstaunt an. »Was ist denn mit dir los? Sonst bist du doch derjenige, der immer gern reisen will! Ich dachte eigentlich, daß ich dir einen Gefallen tue, wenn ich dich bitte, diese Reise zu unternehmen.«
Alexander hatte sich bereits in sein Schicksal gefügt. »Ich mach’s ja«, sagte er. »Keine Ahnung, warum ich im Augenblick nicht so aufs Reisen versessen bin. Gibt es Unterlagen, die ich mir ansehen könnte?«
Der andere nickte. »Komm mit in mein Büro«, sagte er, und Alexander folgte ihm.
Sie setzten sich eine halbe Stunde zusammen, dann hatte er eine ungefähre Vorstellung von dem Problem, das möglicherweise auf ihn zukam. Nach diesem Gespräch ging er in sein Büro und versuchte, Sabrina anzurufen. Eigentlich hatte er etwas länger mit diesem ersten Anruf warten wollen, aber er wollte einfach gern ihre Stimme hören. Doch solange er es auch klingeln ließ, sie meldete sich nicht. Das wunderte ihn, schlimmer noch, es beunruhigte ihn sogar. Aber er hatte keine Lust, darüber nachzudenken, was diese verwirrenden Gefühle zu bedeuten hatten.
Volker kam herein. »Du fährst in den Norden, hab’ ich gehört«, sagte er.
»Ja, irgendwelche Schwierigkeiten in unserem Büro in Manaus«, erwiderte Alexander. »Sag mal, könntest du mir einen Gefallen tun, Volker?«
»Sicher, das weißt du doch. Worum geht’s?«
So gleichgültig wie möglich sagte Alexander. »Falls Sabrina anruft, würdest du ihr dann sagen, daß ich überraschend nach Manaus mußte? Ich weiß nicht, wie es da oben aussieht und ob ich dazu komme, mich in den nächsten Tagen bei ihr zu melden.«
Volker Henstein hatte sich perfekt in der Gewalt, er verbarg seine Überraschung und antwortete ruhig: »Klar, kann ich machen. Wann brichst du denn auf? Ich hörte, es soll ziemlich brennen da oben.«
»Ja, das hab’ ich auch gehört. Ich fliege heute noch.«
»Dann alles Gute. Hoffentlich kommst du bald wieder. Du solltest doch nächste Woche ohnehin in den Norden.«
»Ja, aber nach Bahia, und das wäre mir auch viel lieber gewesen«, meinte Alexander. »Manaus liegt mir nicht so.«
»Viel Glück«, wünschte Volker.
»Danke. Bis bald!«
Ohne ein weiteres Wort verließ Alexander das Büro. Er hatte nicht mehr viel Zeit, da er noch nach Hause mußte, um seine Sachen zu packen. Er war zwar ein Meister im rasend schnellen Kofferpacken, aber das mußte er in diesem Fall auch sein…
Wo war Sabrina nur gewesen? Nach einem so langen Flug und bei einer solchen Zeitverschiebung mußte sie doch einfach noch geschlafen haben! Wieso hatte das Klingeln des Telefons sie dann nicht geweckt?
Ärgerlich über sich selbst schüttelte er den Kopf. Er sollte besser aufhören, an Sabrina zu denken, denn sie gehörte unwiderruflich der Vergangenheit an. So war es bisher immer gewesen, und daran würde sich auch jetzt nicht plötzlich etwas ändern! Wie hatte Volker es ausgedrückt? Die nächsten schönen Frauen standen bereits Schlange, um Sabrinas Nachfolge anzutreten.
Merkwürdig war nur, daß er sich so gar nicht darauf freute.
*
Sabrina verließ Stefanies Wohnung erst im Laufe des Tages. Sie war müder, als sie gedacht hatte. Aber schließlich stand sie doch auf, duschte und frühstückte dann in aller Ruhe. Sie schrieb Stefanie ein paar Zeilen des Dankes, rief sich ein Taxi und ließ sich dann mitsamt ihrem Gepäck in ihre Wohnung bringen. Hier roch es muffig, obwohl ihre Nachbarin sicherlich regelmäßig gelüftet hatte. Ihre Blumen jedenfalls lebten alle noch, und die Post lag fein säuberlich auf dem Wohnzimmertisch gestapelt.
Doch für all das hatte Sabrina keinen Blick. Das Telefon zog sie magisch an. Sie rechnete aus, wie spät es jetzt ungefähr in Rio war, dann wählte sie auch schon Alex’ Büronummer. Nur ganz kurz, sagte sie sich, während ihr Herz heftig klopfte. Nur kurz hören, wie er leise lacht, wenn ich meinen Namen sage!
Es meldete sich jedoch eine weibliche Stimme, und Sabrina fragte: »Kann ich bitte Herrn von Ravensburg sprechen? Hier ist Sabrina Schirmbeck.«
»Alex?« fragte die Stimme am anderen Ende gedehnt, und Sabrina versuchte sich zu erinnern, ob sie die dazugehörige Frau jemals gesehen hatte. Aber sie glaubte es nicht. Sie war ja nur wenige Male in Alex’ Büro gewesen. Seinem Kollegen Volker Henstein war sie dort begegnet. Der war ein unglaublich netter Mann, sie hatte ihn sofort gern gehabt – aber sonst hatte sie niemanden kennengelernt.
»Ja, bitte!« sagte sie jetzt ein wenig ungeduldig, weil sich die andere gar so viel Zeit ließ. Schließlich war das ein ziemlich teures Telefongespräch. »Ich rufe aus Berlin an«, setzte sie hinzu, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen.
»Alex ist nicht mehr in Rio«, teilte ihr die Frau mit. »Außerdem ist es keine gute Idee, ihn im Büro anzurufen, kann ich Ihnen nur sagen. Uns nervt es ziemlich, wenn seine Freundinnen hier ständig anrufen.«
Sabrinas Herz fing an zu hämmern, sie wollte so etwas nicht hören. »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte sie kühl und fragte sich selbst, woher sie die Kraft dazu nahm, »dies ist kein privater Anruf.«
Die andere lachte verächtlich. »Ach, glauben Sie vielleicht, ich wüßte nicht, wer Sie sind? Sie sind doch gestern erst abgeflogen. Jedenfalls ist er nicht da. Sie haben Pech gehabt.«
»Dann möchte ich Herrn Henstein sprechen«, verlangte Sabrina mit fester Stimme. Sie würde dieser gräßlichen Frau nicht die Genugtuung geben, am Telefon in Tränen auszubrechen.
»Der ist auch nicht da«, teilte die andere ihr mit gehässiger Stimme mit. »Haben Sie sonst noch Wünsche?«
»Ja, ich bitte um Rückruf. Und Ihnen danke ich für die äußerst professionellen Auskünfte!« Mit diesen Worten knallte Sabrina den Hörer auf die Gabel. Dann ging sie zum Fenster und starrte nach draußen auf die Straße. Ganz ruhig bleiben, sagte sie sich immer wieder. Das war nur eine blöde Ziege, die wahrscheinlich in Alex verliebt ist und sich deshalb so benommen hat. Er kann schließlich nichts dafür, daß er ein attraktiver Mann ist.
Sie versuchte nach besten Kräften, sich zu beruhigen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Zwar sagte die Vernunft ihr, daß es besser wäre, solches Gerede mit Nichtachtung zu strafen, aber ein verräterischer Stachel hatte sich dennoch in ihr festgesetzt. »Es nervt uns, wenn seine Freundinnen hier anrufen…« Seine Freundinnen!
Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Natürlich hatte er Freundinnen gehabt, jede Menge wahrscheinlich. Sie hatten nicht darüber gesprochen, aber es war ihr dennoch klar gewesen. Doch das hatte ja nichts mit ihr zu tun, denn mit ihr und Alex, das war etwas ganz Besonderes, daran zweifelte sie nicht. Und er auch nicht… Oder doch?
Sie griff zum Telefon, um Steffie anzurufen. Sie brauchte dringend den Rat einer guten Freundin.
*
Als Volker Henstein in sein Büro zurückkehrte, fragte er: »Irgendwelche Anrufe, Anja?«
Die hübsche dunkelhaarige junge Frau schüttelte den Kopf. »Nein, nichts. Jedenfalls nichts Berufliches.«
Er sah sie erstaunt an. Sie war noch relativ neu im Team, und er hatte sich noch kein abschließendes Urteil über sie gebildet. Sie arbeitete als Sekretärin, war aber eigentlich überqualifiziert. Soweit er wußte, hatte sie studiert, nach dem Studium jedoch keinen Job bekommen. Wie sie nach Rio de Janeiro gekommen war, wußte er nicht.
Etwas sagte ihm, daß er vor ihr auf der Hut sein mußte. Es war nur ein vages Gefühl, und er hätte nicht erklären können, woher es kam – es war etwas in ihren Augen, das ihm nicht gefiel. Außerdem änderte sie ihr Verhalten völlig, sobald jemand auftauchte, der Macht hatte, und er hatte im Laufe seines Lebens gelernt, sich vor solchen Menschen in acht zu nehmen. Er war zudem davon überzeugt, daß sie ein Auge auf Alex geworfen hatte, wobei das allerdings nichts Besonderes war, denn das hatten fast alle Frauen, die er kannte.
»Was meinen Sie mit ›Nichts Besonderes‹?«
»Irgend so’ne Tussi hat für Alex angerufen.«
Er ärgerte sich über ihre Wortwahl, und auch ihr Tonfall gefiel ihm nicht. Deshalb erwiderte er schärfer, als es sonst seine Art war: »Wenn eine Dame für Herrn von Ravensburg anruft, dann notieren Sie den Namen und die Telefonnummer auf einem Zettel und legen ihm diesen auf seinen Schreibtisch. Oder Sie geben ihm die Angaben telefonisch durch, wenn Sie das nächste Mal mit ihm sprechen. Wie hieß die Dame?«
Sie zuckte zusammen, aber ihr Gesicht nahm einen gehässigen Ausdruck an, der ihm überhaupt nicht gefiel. »Keine Ahnung. Ich bin hier schließlich nicht als Privatsekretärin angestellt«, sagte sie spitz.
»Hat die Dame gesagt, daß es sich um einen privaten Anruf handelt?« fragte er barsch.
»Nein, aber…«
»Es ist nicht Ihre Aufgabe, sich über die Art der Anrufe Gedanken zu machen, Anja. Machen Sie einfach nur Ihre Arbeit – und machen Sie sie gut!« Mit diesen Worten schloß er die Tür hinter sich und ließ sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen. Diese blöde Ziege! Er war sicher, daß sie intrigant war. So eine Frau konnten sie hier nicht gebrauchen. Sie waren ein sehr gutes Team, das seit Jahren vertrauensvoll zusammenarbeitete – da konnte eine Frau wie Anja viel Schaden anrichten, wenn man sie gewähren ließ.
Er rief sich selbst zur Ordnung. Noch hatte sie sich ja, streng genommen, nichts zuschulden kommen lassen außer einer pampigen Antwort und einer flapsigen Ausdrucksweise. Er durfte nicht übertreiben – aber dennoch hatte sich das ungute Gefühl ihr gegenüber durch diesen kurzen Wortwechsel noch deutlich verstärkt. Er beschloß, bei Gelegenheit mit seinem Chef über die junge Frau zu sprechen.
*
»Hast du Lust, am Samstag zum Essen zu kommen, Esther?« fragte Adrian Winter seine Zwillingsschwester ohne jede weitere Begrüßung am Telefon.
»Willst du etwa kochen?« fragte sie, und es hörte sich fast erschrocken an.
»Natürlich nicht, es war Frau Senftlebens Idee, sie meinte, sie hätte dich so lange nicht gesehen.«
Carola Senftleben war Adrians Nachbarin, zu der er ein ausgesprochen gutes Verhältnis hatte. Sie war fast siebzig, erfreute sich einer guten Gesundheit und war geistig überaus rege. Sie lud ihn öfter zum Essen ein. Ihr machte das Kochen Spaß, und sie verstand mehr davon als mancher Sterne-Koch, außerdem aß sie lieber in Gesellschaft.
Das tat Adrian auch, aber er kochte nun einmal weder gern noch gut, und so lag diese Regelung in ihrer beider Interesse. Seine Schwester jedenfalls, die es mit dem Kochen so ähnlich hielt wie er, beneidete ihn glühend um seine Nachbarin.
»Es ist höchst verlockend, von Frau Senftleben zum Essen eingeladen zu werden«, seufzte Esther, »aber leider kann ich am Samstag nicht. Ich bin schon verabredet, Adrian. Zu jeder anderen Zeit gern – aber nicht an diesem Samstag.«
»Schade«, meinte er, »ich hatte mich schon richtig gefreut. Am Sonntag geht’s nämlich auch nicht, da ist Frau Senftleben in der Oper. Was hast du denn vor?«
Die Frage überrumpelte Esther, obwohl sie sie eigentlich hätte erwarten können. »Ich bin mit einer Freundin verabredet, die ich länger nicht gesehen habe«, nuschelte sie. »Ich kann ihr schlecht absagen.«
Sie hörte selbst, wie falsch ihre Stimme klang, aber sie wollte ihrem Bruder jetzt nicht erzählen, daß sie sich mit dem Verwaltungsdirektor der Kurfürsten-Klinik treffen würde. Das hatte Zeit, fand sie. Adrian würde es natürlich als erster erfahren – aber noch nicht jetzt! Außerdem wußte ja auch Thomas Laufenberg nichts von ihrer engen Verwandtschaft mit dem Notaufnahmechef der Kurfürsten-Klinik. Sie amüsierte sich bereits bei dem Gedanken an die Überraschung, die sie den beiden Männern irgendwann bereiten würde.
Adrian hatte offenbar nicht bemerkt, daß seine Zwillingsschwester ihn angelogen hatte. »Na ja, dann geh’ ich mal zu Frau Senftleben und sage ihr ab«, meinte er. »Zumindest für dich. Vielleicht erbarmt sie sich ja und lädt einen armen, alleinstehenden und völlig überarbeiteten Notaufnahmearzt trotzdem ein…«
»Mir kommen gleich die Tränen«, spottete Esther. »Wir holen es bald nach, Adrian. Was macht die Arbeit?«
»Relativ ruhig im Augenblick, obwohl schon wieder Gerüchte umgehen, daß wir mit neuen Stellenstreichungen zu rechnen haben. Aber es ist mir nicht gelungen, mit unserem Verwaltungsdirektor darüber zu sprechen. Dabei ist er sonst ja eher streitlustig!«
Esther mußte sich heftig auf die Lippen beißen, um ihren Vorsatz nicht zu brechen. Es wäre eigentlich sehr nett gewesen, Adrian jetzt zu erzählen, mit wem sie am Samstag verabredet war!
Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile, bevor sie sich voneinander verabschiedeten. Danach ging Adrian zu seiner Nachbarin, um ihr zu sagen, daß der schöne Samstag-Plan geändert werden mußte – und Esther dachte über ihr bevorstehendes Treffen mit Thomas Laufenberg nach.
*
Sabrina hatte sich mit Stefanie Wagner in deren knapp bemessener Mittagspause verabredet.
»Komm doch im Hotel vorbei, Sabrina«, hatte Stefanie gesagt. »Wenn es dir nichts ausmacht, meine ich. Hier kriegen wir was zu essen, und ich verliere keine Zeit durch irgendwelche Fahrten.«
Nun saßen sie in einer Ecke des Restaurants und nahmen einen kleinen Imbiß zu sich. Sabrina war jetzt seit mehreren Tagen wieder in Deutschland, und sie sah ungewöhnlich blaß aus, wie Stefanie sofort beunruhigt feststellte. Sie hatten zwar oft miteinander telefoniert, sich aber seit Sabrinas Ankunft nicht mehr gesehen.
»Er ruft also nicht an«, stellte sie fest, während sie ihrer jüngeren Freundin dabei zusah, wie diese in ihrem Salat herumstocherte.
»Nein, er ruft nicht an.« Sabrinas Stimme klang resigniert – so kannte Stefanie sie gar nicht. »Und zu Hause ist er auch nicht.«
»Im Büro willst du es nicht noch einmal versuchen?« fragte Stefanie. »Wegen dieser Frau, die sich so unmöglich benommen hat?«
Sabrina nickte. »Das eine Mal hat mir gereicht, Steffie. Das brauche ich nicht noch einmal. Ich habe Alex den Brief geschickt, den ich ihm auf dem Flug geschrieben habe, und ich habe ein paarmal versucht, ihn zu Hause anzurufen – ich weiß nicht, was ich noch tun soll.«
»Was ist mit diesem netten Kollegen, von dem du mir erzählt hast? Warum rufst du den nicht mal privat an? Der weiß doch bestimmt, wo dein Alex steckt.«
»Wahrscheinlich, aber ich habe keine Ahnung, wo er wohnt, Steffie. Außerdem will ich ihn nicht anrufen – das sieht irgendwie so aus, als liefe ich hinter Alex her. Wenn er mich sprechen wollte, dann würde er anrufen, oder?«
Stefanie antwortete nicht. Ihre schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten – allerdings schneller, als sie angenommen hatte.
Sabrina hatte ihre Fotos mittlerweile entwickeln lassen, und der Anblick des Mannes neben ihr auf den Fotos vom Strand in Rio hatte Stefanie in ihrer Ansicht bestärkt: Alexander von Ravensburg war geradezu unverschämt attraktiv, die Frauen machten es ihm sicherlich mehr als leicht – warum sollte er sich mit einer zufrieden geben, wenn er alle haben konnte?
So ungefähr schätzte Stefanie ihn ein. Das freche Blitzen seiner Augen, das siegessichere Lächeln, seine ganze Haltung bestärkten sie in der Annahme, daß ihre jüngere Freundin einem professionellen Verführer zum Opfer gefallen war.
»Ja«, stimmte sie schließlich zu, »ich denke auch, wenn er mit dir sprechen wollte, würde er sich bei dir melden.«
Die erste Träne tropfte auf Sabrinas Teller, aber Stefanie tat so, als sähe sie sie nicht. Ruhig fuhr sie zu sprechen fort. »Trotzdem würde ich versuchen, ihn telefonisch zu erreichen, Sabrina. Du hast ein Recht darauf, daß er dir sagt, was los ist – und ich finde, er kann sich nicht einfach in Luft auflösen und so tun, als hätten die vergangenen vier Wochen gar nicht stattgefunden.«
Sabrina hob den Kopf und sah sie fassungslos an. »Das glaubst du? Daß für ihn alles gar nicht so ernst war?«
Stefanie überlegte sich ihre Antwort gründlich, doch schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als zu nicken und zu sagen: »Ja, das glaube ich. Alles spricht dafür, Sabrina.«
Merkwürdigerweise hörte ihre Freundin nach diesen Worten auf zu weinen. Energisch wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich glaube das nicht«, sagte sie mit fester Stimme. »Er ruft mich nicht an, weil es im Augenblick nicht geht. Er liebt mich, Steffie!« Schwungvoll häufte sie Salat auf ihre Gabel und fing endlich an, mit gutem Appetit zu essen. »Ich hatte nur einen vorübergehenden Schwächeanfall«, erklärte sie der verwirrten Stefanie. »Aber jetzt geht’s mir wieder gut, ehrlich. Du mußt dir um mich keine Sorgen mehr machen.«
»Na dann«, murmelte Stefanie, noch immer reichlich durcheinander. Sie konnte Sabrinas raschem Stimmungsumschwung nicht folgen, aber das war ja auch nicht nötig. Dennoch machte sie sich weiterhin Sorgen um ihre Freundin. Wenn sie sich nicht gründlich täuschte, dann kam auf Sabrina eine ziemlich harte Zeit zu.
*
»Warum machst du denn so ein saures Gesicht?« erkundigte sich der Assistenzarzt Dr. Bernd Schäfer bei Adrian Winter. Er hatte in dieser Woche Dienst in der Notaufnahme, wo er sehr gern arbeitete, da ihn mit Adrian ein freundschaftliches Verhältnis verband. »Das kennt man ja gar nicht von dir!«
»Man wird mich bald noch ganz anders kennenlernen, wenn das so weitergeht!« schimpfte der sonst so ruhige und zurückhaltende junge Chefarzt. »Da gerät ja der friedlichste Mensch außer sich!«
»Wovon redest du, Adrian? Drück dich endlich ein bißchen klarer aus, damit ich dir folgen kann!« bat sein fülliger Kollege, während er sich den letzten Bissen eines fetten Brötchens in den Mund schob.
»Wenn ich diesen Laufenberg in die Finger kriege«, fuhr Adrian aufgebracht fort, »dann kann er was erleben, Bernd. Die wollen nämlich nicht nur in der Gynäkologie eine Stelle streichen, sondern auch in der Notaufnahme. Hast du das gewußt?«
Stumm schüttelte Bernd Schäfer den Kopf.
»Ich kann mir nur vorstellen, daß sie jetzt auf einmal alle verrückt geworden sind, sonst dürfte man nämlich auf so eine schwachsinnige Idee gar nicht verfallen«, wütete Adrian weiter. »Lauter Verrückte müssen in der Verwaltung sitzen – und nicht ein einziger vernünftiger Mensch.«
»In der Notaufnahme eine Stelle streichen?« fragte Bernd etwas ungläubig. »Das halte ich für ganz ausgeschlossen, das muß ein Irrtum sein, Adrian – es ging doch in letzter Zeit immer darum, ob das Personal hier endlich aufgestockt werden könne. Aber von Stellenabbau hat niemand etwas gesagt.«
»Jetzt doch!« Adrians Stimme klang geradezu erbittert. »Und ich sage dir, wenn sie das machen, dann trete ich in Hungerstreik – oder ich mache etwas Spektakuläres. Aber ich werde mir das nicht bieten lassen. Sie entziehen uns die Grundlagen vernünftiger Arbeit, das ist Sabotage. Und unverantwortlich den Patienten gegenüber ist es sowieso!«
Zwei Sanitäter kamen mit einem Verletzten zur Tür herein und riefen schon von weitem: »Dieser Mann hat versucht, sich umzubringen, ist aus dem fünften Stock gesprungen – mehrere Knochenbrüche, innere Verletzungen…«
Die beiden Ärzte unterbrachen ihr Gespräch und konzentrierten sich sofort voll auf ihre Arbeit. Schon nach dem ersten Blick auf den etwa fünfzigjährigen Patienten wußte Adrian, daß der Mann in Lebensgefahr schwebte und daß es eines Wunders bedurfte, ihn zu retten.
»Er muß in den OP, sobald er stabil ist«, sagte er, während er rasch den Bauch des Verletzten abtastete. »Walli?«
Die energische Oberschwester stand bereits hinter ihm. »Soll ich oben anrufen, daß sie einen OP vorbereiten?«
»Ja, und sag Ihnen, daß sie sich beeilen müssen, wenn der Mann auch nur eine winzig kleine Chance haben soll!«
*
Esther war ziemlich außer Atem, als sie das Lokal betrat, in dem sie mit Thomas Laufenberg verabredet war. Er wartete bereits auf sie und erhob sich, als sie näherkam. »Hallo!« sagte sie und strahlte ihn an. »Gerade habe ich mich gefragt, ob Sie auch wirklich kommen.«
»Warum sollte ich nicht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es hätte doch sein können, daß Sie es sich anders überlegen«, meinte sie unbefangen.
»Und Sie? Hätte Ihnen das nicht auch passieren können?« fragte er, ohne zu erwähnen, daß er durchaus ähnliche Befürchtungen gehabt hatte wie sie.
Er war aus dem Alter heraus, wo man eine flüchtige Affäre suchte, und schon lange war ihm keine Frau mehr über den Weg gelaufen, die ihn interessierte – wobei er zugeben mußte, daß er in letzter Zeit auch nicht allzu eifrig danach Ausschau gehalten hatte. Die neue Stelle als Verwaltungsdirektor der Kurfürsten-Klinik nahm ihn sehr in Anspruch, allerdings hatte er das Gefühl, daß er die Anfangsschwierigkeiten allmählich gemeistert hatte. Aber es gab natürlich jeden Tag neue Probleme, die bewältigt werden mußten.
»Ach, ich war viel zu neugierig auf Sie«, sagte Esther mitten in seine Gedanken hinein. »Ich hätte bestimmt nicht freiwillig darauf verzichtet, Sie zu treffen. Das habe ich mir schon gewünscht, als ich Sie zum ersten Mal spielen hörte.«
»Machen Sie sich nur keine falschen Vorstellungen von mir«, bat er. »Ich meine, daß ich ein aufregendes Künstlerleben führe – oder etwas in der Art. Das ist nämlich nicht der Fall.«
Jetzt muß ich es ihm sagen, dachte Esther mit leichtem Bedauern. Sie hätte ihr Geheimnis gern noch ein wenig für sich behalten – aber wenn sie es ihm später erzählte, würde er es ihr vielleicht übel nehmen. Oder es sogar mißverstehen und glauben, sie stecke mit Adrian unter einer Decke:
»Ich weiß ganz gut über Ihr Leben Bescheid«, erklärte sie und lächelte.
»Ach, wirklich?« Er erwiderte ihr Lächeln, aber sie sah ihm an, daß er ihr nicht glaubte.
»Sie sind Verwaltungsdirektor der Kurfürsten-Klinik«, sagte sie deshalb.
Nun staunte er. »Wie haben Sie das denn herausbekommen«, fragte er. »Das weiß zum Glück kaum jemand – und ich bin ganz froh darüber. In der Klinik kann ich nämlich keinen Wirbel wegen meiner Pianistentätigkeit gebrauchen, das können Sie sich bestimmt vorstellen.«
Sie ließ ihn nicht aus den Augen, während sie seine Frage beantwortete: »Ich habe, als ich Sie das erste Mal gehört habe, meinen Bruder mit in das Konzert geschleppt. Meinen Zwillingsbruder. Er hat Sie erkannt, weil er auch an der Kurfürsten-Klinik arbeitet.«
»Und wie heißt Ihr Bruder?«
»Adrian Winter«, antwortete Esther. »Ich hoffe, das ist kein Anlaß für Sie, sich jetzt gleich zu erheben, und diesen Raum zu verlassen.«
Thomas schluckte. Mit dieser Antwort hatte er wirklich nicht gerechnet. Ausgerechnet Adrian Winter, dachte er. Der Mann, der mir gegenüber noch immer Vorbehalte hat, obwohl ich mehr für seine Notaufnahme kämpfe, als er ahnt.
»Das ist ein Schock, was?« fragte Esther in diesem Augenblick vergnügt. »Adrian würde im Dreieck springen, wenn er wüßte, daß wir beide jetzt hier zusammensitzen.«
»Er weiß also nichts davon?« fragte Thomas, als er sich wieder gefaßt hatte.
»Natürlich nicht!« rief sie temperamentvoll. Dann fing sie an zu kichern wie ein Schuldmächen. »Er hat mich zum Essen eingeladen heute Abend und wollte wissen, mit wem ich mich treffe. Ich habe eine alte Freundin erfunden…«
»Und warum wollten Sie ihm nicht die Wahrheit sagen?« fragte Thomas ruhig.
Sie errötete ein wenig. »Ich fand, das hätte noch Zeit«, antwortete sie dann.
Er sah ihr in die Augen, und die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. Nachdenklich nickte er. »Ja, das finde ich auch«, sagte er. »Ich finde übrigens, wir sollten das Lokal wechseln. Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Essen einlade – wo Sie doch meinetwegen schon eine Einladung ausgeschlagen haben!«
»Angenommen!« Esther freute sich sehr. »Ich bin froh, daß Sie nicht böse auf mich sind, weil ich Ihnen das mit Adrian nicht gleich gesagt habe.«
»Dann wollen wir mal hoffen, daß er auch nicht böse ist, wenn er davon erfährt«, erwiderte er. Er winkte die Bedienung heran, um zu bezahlen, und kurze Zeit später verließen sie das Lokal. Sie waren beide ein wenig verwirrt, weil sie nicht genau wußten, worauf sie sich einließen – aber beide waren zugleich auch von prickelnder Vorfreude auf die unbekannte Zukunft erfüllt.
*
Alexander hatte in Manaus eine katastrophale Situation vorgefunden: Der Büroleiter war offenbar korrupt gewesen, jedenfalls hatte er Schmiergelder angenommen und seine Mitarbeiter sowie die Kunden, die sich hilfesuchend an das Institut gewandt hatten, nach Strich und Faden betrogen. Als er erfahren hatte, daß jemand aus Rio de Janeiro unterwegs war, um sich vor Ort ein Bild von der Situation zu machen, hatte er die gesamte Büroeinrichtung – vor allem die Computer und die Telefone – auf einen Lastwagen verladen lassen und war geflohen. Außerdem hattte er Unterlagen vernichtet, die ihn eventuell hätten belasten können.
Das war die Lage bei Alexanders Ankunft gewesen, und daran hatte sich bisher noch nicht allzu viel geändert. Er arbeitete Tag und Nacht, um den schlimmsten Schaden vom Institut abzuwenden, aber es gab vieles, das er nicht mehr verhindern konnte. Es stand bereits fest, daß er noch mehrere Monate in Manaus würde bleiben müssen – sein Einsatz in Bahia war gestrichen worden, jemand anders würde diese Aufgabe an seiner Stelle übernehmen. Er ahnte, daß er bis zu seinem Deutschlandbesuch in Manaus würde bleiben müssen – vielleicht mußte er die Reise sogar verschieben. Bisher war nicht abzusehen, was dem Institut durch den flüchtigen Büroleiter an Schaden zugefügt worden war, doch er war erheblich größer als zunächst angenommen.
Natürlich war auch die Polizei eingeschaltet worden, und er konnte nur hoffen, daß man ihnen wegen dieser Vorfälle in Deutschland keine der dringend benötigten Fördergelder streichen würde. Ihre Arbeit überall auf der Welt war wichtig, davon war er überzeugt, und er durfte gar nicht daran denken, daß viele ihrer Projekte jetzt vielleicht durch einen einzigen korrupten Mitarbeiter in Gefahr geraten waren.
Ein Gutes jedoch hatte die Situation für ihn: Er schaffte es beinahe, Sabrina zu vergessen, und darüber war er erleichtert. Er wollte nicht von einer Frau abhängig sein und voller Sehnsucht ständig an sie denken. Diese Gefahr hatte bei Sabrina bestanden, er hatte sie nicht so leicht wie all die anderen Frauen aus seinen Gedanken vertreiben können. Nun halfen ihm die Ereignisse in Manaus, die ihn geradezu überrollten. Er kam nicht mehr dazu, über sein Privatleben zu grübeln, geschweige denn in Deutschland anzurufen. Und so gelang es ihm schließlich, jeden Tag weniger an die schöne Blonde aus Berlin zu denken.
Manchmal allerdings, wenn er völlig erschöpft und ausgepumpt spätabends endlich in sein Hotelbett gefallen war, sah er ihr Gesicht vor sich und hörte ihre Stimme. Und dann kam es vor, daß er sich fragte, ob sie ihn tatsächlich so leicht vergessen würde, wie er sich das einbildete. Hatte er nicht manches Mal, wenn er sie in den Armen gehalten hatte, darüber nachgedacht, ob sie ihn nicht vielleicht wirklich liebte? Und wie sollte man die verwirrenden Gefühle nennen, die er selbst hatte, wenn er an sie dachte?
Bevor er einschlief, wurde ihm bewußt, daß es schön war, sich an Sabrina zu erinnern – und daß er ihr nicht weh tun wollte. Doch wenn er am nächsten Morgen in aller Frühe aufstand, dann bedrängten ihn bereits wieder die zahlreichen Probleme, denen er sich an diesem Tag würde stellen müssen. Und eine knappe Stunde später saß er wieder in irgendeiner Bank und versuchte verzweifelt, einen Direktor davon zu überzeugen, daß außer dem Büroleiter niemand in seinem Institut korrupt war.
Dann begann alles wieder von vorn. Er kam nicht zum Nachdenken, und deshalb rief er nie in Berlin an.
*
Sabrinas Herz klopfte sehr laut – so laut, daß sie glaubte, die grauhaarige Frau mit den freundlichen Augen, die ihr gegenübersaß, müsse es hören können. Sie kannte Frau Dr. Mahlmann, seit sie in Berlin war, und hatte großes Vertrauen zu ihr.
»Sie sind schwanger, Frau Schirmbeck«, sagte die Ärztin ruhig. »Aber das wissen Sie bereits, oder?«
Sabrina nickte. »Ich habe es mir zumindest gedacht.«
»Sie haben sich aber viel Zeit gelassen mit Ihrem Besuch bei mir«, stellte Frau Dr. Mahlmann fest. Ihr Blick hing prüfend an Sabrinas Gesicht.
»Ja, ich weiß. Irgendwie hab’ ich gedacht, es sei weniger wahr, solange ich es noch nicht offiziell bestätigt bekommen habe«, sagte Sabrina leise. »Das ist natürlich blöd, das ist mir klar.«
»Es handelt sich also um eine ungewollte Schwangerschaft?«
Sabrina nickte stumm. Sie fühlte sich sehr verloren in diesem Moment.
»Was ist mit dem Vater?«
»Ich habe keine Nachricht von ihm.« Es kostete die junge Frau große Mühe, ruhig zu bleiben, das merkte die Ärztin, und sie wollte es ihr nicht noch schwerer machen. Dennoch gab es noch etwas, das sie zu sagen hatte, aber noch zögerte sie. »Werden Sie es denn allein schaffen?« fragte sie behutsam.
»Ganz bestimmt!« Sabrina schluckte, fuhr dann jedoch tapfer fort: »Mir war klar, daß ich das Kind unbedingt haben will, wenn sich herausstellen sollte, daß ich tatsächlich schwanger bin.«
Noch immer zögerte die Ärztin, dann sprach sie es endlich aus. »Die Kinder, Frau Schirmbeck.«
»Wie bitte?«
»Es ist nicht nur ein Kind, es sind zwei. Sie bekommen Zwillinge. Das ist ganz eindeutig.«
Alles Blut wich aus Sabrines Gesicht. »Zwillinge«, murmelte sie abwesend. Sie saß sekundenlang völlig regungslos auf ihrem Stuhl, dann sank sie ganz langsam zur Seite.
Es dauerte einen Augenblick, bis die Ärztin begriff, daß ihre junge Patientin ohnmächtig geworden war. In letzter Sekunde fing sie sie auf, bevor sei zu Boden fallen konnte. Mit Hilfe ihrer eilig herbeigerufenen Sprechstundenhilfe bettete sie Sabrina auf eine Liege und flößte ihr eine scharf schmeckende Flüssigkeit ein. Zugleich klopfte sie ihr auf die Wangen und sagte: »Hallo, Frau Schirmbeck!«
Sabrina öffnete die Augen. »Was ist passiert?«
»Ich habe Sie offenbar so erschreckt, daß Sie mir einfach vom Stuhl gefallen sind«, erklärte Frau Dr. Mahlmann lächelnd und griff nach der Hand ihrer jungen Patientin. »Bleiben Sie so lange liegen, bis Sie sich ein wenig erholt haben. Ich möchte aber nicht, daß Sie danach allein nach Hause gehen. Kann nicht jemand Sie abholen und in den nächsten Stunden ein Auge auf Sie haben? Eine Freundin vielleicht?«
Sabrina überlegte und nannte ihr dann Stefanie Wagners Telefonnummer im Hotel. Sie wollte selbst auf keinen Fall allein sein in dieser Situation.
*
»Wird das jetzt eine Dauereinrichtung?« erkundigte sich Direktor Wingensiefen unwillig, als Stefanie ihm mitteilte, sie müsse für ungefähr zwei Stunden das Haus verlassen. Sie hatte nicht erst um seine Zustimmung oder Erlaubnis gebeten, sondern es ihm einfach mitgeteilt, weil sie keine Zeit für taktische Überlegungen gehabt hatte – und Lust auch nicht. Sie hatte sich in den letzten Monaten oft genug über ihn ärgern müssen, weil er sie mit Arbeit überhäuft hatte, ohne auch nur einmal ein Wort des Dankes zu finden.
»Ich habe ungefähr dreihundert Überstunden«, versetzte sie kühl. »Wenn ich jemals auf die Idee kommen sollte, die alle abzufeiern, können Sie den Laden hier dicht machen.« Mit diesen Worten rauschte sie hinaus, und sie schaffte es sogar, die sonst völlig geräuschlos schließende Tür einigermaßen lautstark hinter sich zuzuknallen. Wütend rannte sie in ihr Büro zurück, sagte ihrer Sekretärin, sie sei für zwei Stunden nicht da, und verließ das Hotel.
Sie beruhigte sich erst, als sie im Auto saß und ein paar Minuten gefahren war. Eigentlich mochte sie Andreas Wingenseifen ja ganz gern – es gab schlimmere Chefs als ihn. Er war wenigstens klug, und wenn er arbeitete, dann arbeitete er gut. Pech war nur, daß er in der letzten Zeit immer bequemer geworden war, weil das Hotel auch so hervorragend lief.
Ja, dachte Stefanie, weil ich wie eine Verrückte schufte, deshalb läuft es so gut. Vielleicht muß ich ihm das ab und zu einfach mal etwas deutlicher unter die Nase reiben, damit er sich überhaupt erinnert, was er an mir hat.
Sie bog in die Straße ein, in der Sabrinas Ärztin ihre Praxis hatte, und konzentrierte sich in ihren Gedanken jetzt voll auf die Freundin. Ohnmächtig war Sabrina geworden – offenbar, weil ihr die Ärztin eröffnet hatte, daß sie Zwillinge erwartete. Zwillinge!
Stefanie versuchte sich vorzustellen, was das bedeutete, doch es fiel ihr schwer. Natürlich war es genauso gewesen, wie sie befürchtet hatte: Sabrina hatte von diesem fabelhaft aussehenden Alex nie wieder etwas gehört. Sie schrieb ihm offenbar nach wie vor, aber er hatte keinen einzigen ihrer Briefe beantwortet – und angerufen hatte er auch nicht. Sabrina war lediglich ein Abenteuer für ihn gewesen, auch wenn sie selbst das noch immer heftig bestritt.
Erst vor zwei Tagen hatten sie wieder einmal darüber gesprochen. »Aber wenn er dich liebt, warum meldet er sich dann nicht, Sabrina?«
»Das weiß ich nicht, aber es gibt bestimmt einen Grund, Steffie!«
Sie stellte den Wagen ins Halteverbot, betrat eilig das Haus und wenig später die Praxis. Als sie ihren Namen nannte, wurde sie sofort in einen der Behandlungsräume geführt.
»Hallo, Steffie«, sagte Sabrina, die noch immer ziemlich blaß war, sich aber offensichtlich schon wieder ein wenig erholt hatte. »Bin ich froh, dich zu sehen.«
Stefanie beugte sich über sie und gab ihr einen Kuß. »Du machst vielleicht Sachen, Sabrina.«
»Ja, nicht wahr? Hast du schon gehört, daß ich Zwillinge erwarte?«
»Ja, es hat sich bis zu mir herumgesprochen«, antwortete Stefanie trocken. »Kannst du schon aufstehen, damit ich dich in meine Wohnung bringen kann? Du bleibst in den nächsten Tagen am besten bei mir, bis du wieder richtig fit bist!«
»Aber wenn…«
»Ich hoffe, du wolltest sagen: ›Wenn Alex anruft‹«, erwiderte Stefanie grimmig. »Dazu hatte er in den letzten beiden Monaten mehr als genug Zeit, finde ich. Wenn er sich ausgerechnet die drei Tage aussucht, an denen du mal nicht zu Hause bist, dann hat er eben Pech gehabt. Soll er es später wieder versuchen, wenn es ihm auf einmal so wichtig ist!«
Sabrina schwieg. Es hatte keinen Sinn, mit Stefanie über Alex zu streiten, das wußte sie. Steffies Urteil über ihn stand fest, und alles schien ihre Meinung zu bestärken. Es war ja auch wirklich unverständlich, daß Alex nichts von sich hören ließ, aber sie würde sich dadurch nicht entmutigen lassen…
Mühsam stand sie auf und stützte sich auf ihre Freundin. Frau Dr. Mahlmann kam noch einmal herein und erkundigte sich besorgt, ob sie sich auch wirklich schon kräftig genug fühle, die Praxis zu verlassen – und dann führte Stefanie Sabrina behutsam zu ihrem Wagen.
»Alles okay mit dir?« fragte sie, als sie sich in den Verkehr einfädelte.
»Ja, alles okay«, antwortete Sabrina. »Ich weiß nur nicht, wie ich mein Leben mit Zwillingen organisieren soll, Steffie. Hoffentlich meldet sich Alex bald – die Kleinen brauchen schließen ihren Vater!«
Stefanie biß sich so kräftig auf die Zunge, daß es schmerzte. Aber wenn sie aus Versehen gesagt hätte, was sie dachte, dann hätte sie das kleine Unschuldslamm neben sich vermutlich nur erschreckt, und das wollte sie nicht. Es kamen ohnehin harte Zeiten auf Sabrina zu, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel.
*
Unter den Ärzten der Kurfürsten-Klinik herrschte Unruhe – die Gerüchte über Stelleneinstreichungen wollten nicht verstummen. Es verging kein Tag, an dem sich Thomas Laufenberg nicht mit mehreren aufgeregten Anrufen zu diesem Thema auseinandersetzen mußte. Er tat das mit größtmöglicher Geduld, aber oft genug fiel es ihm schwer sich zu beherrschen. Natürlich konnte er niemandem erzählen, daß er selbst im Verwaltungsrat mit dem Rücken zur Wand kämpfte – er war der einzige, der sich strikt gegen die Stellenstreichungen ausgesprochen hatte, doch es schien so, als werde er sich nicht durchsetzen können. Und dann würde er natürlich wieder der Buhmann sein.
Als es klopfte und er »Herein!« rief, klang seine Stimme ungeduldig, und er bemerkte es selbst.
»Störe ich?« fragte Adrian Winter mit hochgezogenen Augenbrauen, als er das Zimmer betrat. »Es klang so!«
»Ich bin genervt!« bekannte der Verwaltungsdirektor in schöner Offenheit, was ihn selbst am meisten wunderte. Schließlich war sein Verhältnis zu Dr. Winter zwar besser geworden als früher, aber deshalb noch längst nicht gut.
Und nun kam noch hinzu, daß er sich schon mehrfach mit der Zwillingsschwester des Arztes getroffen hatte, wovon dieser nichts ahnte.
Dabei bin ich ganz schön verliebt in Esther, dachte Thomas plötzlich und erschrak über seinen eigenen Gedanken. Bisher hatte er sich selbst das noch nicht so deutlich eingestanden.
»Warum sind Sie genervt?« Die Frage klang sachlich, und das half Thomas, sich ein wenig zu entspannen.
»Wegen dieser unsinnigen Diskussion um die Stellenstreichungen«, antwortete er. »Aber das ist natürlich alles streng geheim, und ich sollte deshalb besser meinen Mund darüber halten.«
Der andere betrachtete ihn schweigend. »Sie sind nicht dafür, daß Stellen gestrichen werden«, stellte er schließlich fest.
»Erwarten Sie nicht, daß ich etwas dazu sage«, bat Thomas. »Aber im Augenblick könnte ich mir wirklich ständig die Haare raufen vor Wut, das können Sie mir glauben.«
»Mehr wollte ich eigentlich nicht wissen«, meinte Adrian nachdenklich. »Ich hatte Sie schon im Verdacht, daß Sie sich jetzt doch auf die andere Seite geschlagen haben und die Geldkeule schwingen…«
Thomas winkte ab. »Es geht nicht wirklich ums Geld«, sagte er müde, »obwohl dieses Argument natürlich im Vordergrund steht. Ich glaube eher, daß es um Psychologie geht. Die Ärzte sollen in Angst und Schrecken gehalten werden, damit sie nicht übermütig werden mit ihren Forderungen.« Er verstummte und sagte schließlich: »Aber das bleibt unter uns. Es fehlte mir gerade noch, daß jemand mich dabei erwischt, wie ich so etwas laut sage.«
»Ich hatte vor, in Hungerstreik zu treten, falls in der Notaufnahme eine Stelle gestrichen wird«, teilte Adrian ihm mit. »Aber es ist schon eine Weile her, daß das Gerücht, auch bei uns würde gespart, durchs Haus lief. Ich weiß gar nicht mehr, was ich glauben soll, jeden Tag wird etwas anderes erzählt.«
»Hungerstreik ist eine gute Idee«, sagte Thomas und grinste unwillkürlich über das ganze Gesicht. »Ich sehe schon die Schlagzeilen in der Boulevardpresse vor mir. Chefarzt zum Skelett abgemagert – Stellen bleiben erhalten – oder so ähnlich.«
Adrian stand schon wieder an der Tür. »Sie sind doch anders, als ich dachte«, meinte er. »Auf Wiedersehen.«
Als Thomas endlich rief: »Was dachten Sie denn, wie ich bin?« war Adrian längst verschwunden.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. »Störe ich Sie?« fragte Esther Berger, nachdem Thomas sich gemeldet hatte.
»Überhaupt nicht«, antwortete Thomas. »Sie können mich gar nicht stören. Ihr Bruder war gerade hier.«
Es folgte eine kleine Pause. Dann sagte Esther kleinlaut: »O je, ich sollte wohl bald mal mit ihm reden, was?«
»Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Ja, tun Sie das bitte.«
»Mach ich. Haben Sie Lust, heute abend mit mir essen zu gehen?«
»Ja!« antwortete er. »Ich habe immer Lust mit Ihnen essen zu gehen, das sollten Sie allmählich wissen.«
Als er aufgelegt hatte, war sein Ärger völlig verschwunden. Er summte vor sich hin und fand, daß die Welt trotz allem wunderbar war.
*
»Volker? Hier ist Alex. Ich brauche unbedingt ein paar Unterlagen – die Polizei hier in Manaus besteht darauf.«
»Sag mir, was du brauchst, ich schicke es dir mit dem nächsten Flugzeug«, antwortete Volker Henstein ruhig. Er notierte sich, was Alex diktierte. Es wurde eine recht lange Liste.
»Das war’s«, sagte Alexander schließlich. »Tut mir leid, daß ich euch so viel Umstände machen muß.«
»Ist nicht so schlimm, irgendwie wird’s schon gehen. Manaus und die Aufklärung des Falles haben im Augenblick Vorrang. Blöd ist nur, daß wir unsere neue Sekretärin schon wieder los sind.«
»Anja? Warum denn?«
»Sie war zu neugierig, und sie hat sich verschiedenen Leuten gegenüber am Telefon ausgesprochen pampig benommen. Eine von deinen früheren Freundinnen – Monika, die Rothaarige, erinnerst du dich? – hat sich beschwert, und dann sind wir dem mal ein bißchen nachgegangen. Anja hatte offenbar die Absicht zu bestimmen, wer hier anrufen darf und wer nicht.«
»Mhm«, brummte Alex. »Sag mal, Volker – Sabrina hat sich nicht mal gemeldet?«
»Sabrina? Nein!« Volker war anzuhören, wie überrascht er war. »Soll das heißen, der Kontakt zwischen euch ist abgebrochen?« Er biß sich auf die Lippen. Schließlich brach Alex’ Kontakt zu seinen Freundinnen immer ab, das war ja nicht weiter etwas Besonderes. Es war nur so, daß er selbst angenommen hatte, diesmal sei alles anders…
Alex versuchte gelassen zu klingen. »Sicher ist er abgebrochen, du kennst mich doch.« Er brachte sogar ein kleines Lachen zustande. »Aber ich dachte, sie hätte sich vielleicht mal gerührt…«
»Nein, ich habe nichts von ihr gehört«, erklärte Volker wahrheitsgemäß.
»Gut, also, du schickst mir die Akten so schnell wie möglich, ja?«
»Sicher. Wie läufts denn eigentlich bei euch da oben? Ich muß sagen, daß ich richtig Mitleid mit dir habe wegen dieses Einsatzes.«
»Mit Recht«, erwiderte Alex müde. »Ich habe noch nie in ein solches Wespennest aus Betrug, Korruption, Schlamperei, und Faulheit gestochen wie hier, das kannst du mir glauben.«
»Laß dich trotzdem nicht unterkriegen«, meinte Volker. »Wir brauchen dich hier noch.«
»Danke«, murmelte Alex. »Bis bald, Volker, ich ruf wieder mal an.«
Nachdenklich starrte Volker auf den Hörer, bis er sich wieder des Auftrags entsann, den Alex ihm gegeben hatte.
Eilig sprang er auf und fing an, die entsprechenden Akten zu suchen. Doch wärend er suchte, dachte er weiter über das Gespräch nach. Alex hatte müde und resigniert geklungen – das war völlig untypisch für ihn. Er war kein Mensch, der schnell aufgab. Hing es mit dieser überaus unerfreulichen momentanen Arbeitssituation zusammen? Immerhin steckte er jetzt schon seit Monaten in Manaus fest wegen dieser Geschichte.
Aber eigentlich glaubte Volker nicht, daß es die Arbeit war, die Alex niederdrückte. Er hatte eine völlig andere Theorie…
*
»Also, wie stellst du dir nun deine nähere Zukunft vor, Sabrina?« fragte Stefanie abends, als sie aus dem Hotel nach Hause gekommen war.
Sabrina lag auf dem Sofa unter einer warmen Decke, Stefanie saß ihr gegenüber. »Ich weiß es nicht, das ist alles noch zu neu«, antwortete Sabrina leise.
»Das glaube ich dir nicht. Du mußt doch schon seit einiger Zeit wissen, daß du schwanger bist – zumindest mußt du geahnt haben, daß diese Möglichkeit besteht.«
»Ja, aber ich habe immer noch gedacht, es könnte auch eine Störung im Zyklus sein, die durch die Reise hervorgerufen worden ist, das kommt schließlich durchaus vor.«
»Ja, ich weiß. Aber es ist ja nun keine Störung, sondern eine Schwangerschaft. Du muß anfangen zu planen. Du wirst bald einem Dreipersonenhaushalt vorstehen, Sabrina! Das klingt zwar unglaublich, aber es ist so.«
»Aber…«, begann Sabrina, doch Stefanie unterbrach sie sofort.
»Bitte, sag jetzt nicht, daß ihr zu zweit sein werdet? Es wird Zeit, daß du aufhörst, dir etwas vorzumachen. Du hast von Alex nichts gehört, seit du wieder in Deutschland bist. Was erwartest du denn jetzt noch von ihm? Er hat vermutlich längst die nächste Freundin in Rio.« Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, bereute sie sie auch schon, aber nun war es zu spät.
»Das glaube ich nicht«, widersprach Sabrina, doch sie war wieder sehr blaß geworden. »Ich weiß nicht, warum er sich nicht meldet, Steffie, aber er hat sicher seine Gründe.«
»Und warum rufst du ihn nicht an und fragst, was los ist?« erkundigte sich Stefanie. »Und vor allem. Warum rufst du ihn nicht an und erzählst ihm, daß er Vater von Zwillingen wird?«
Sabrina schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde ihn nicht damit unter Druck setzen«, sagte sie. »Ich habe ihm mehrere Briefe geschrieben, irgendwann wird er schon antworten.«
»Und wirst du ihm wenigstens schreiben, daß du schwanger bist?«
»Mal sehen«, antwortete Sabrina leise. »Ich weiß es noch nicht, Steffie. Aber ich verspreche dir, daß ich anfangen werde zu planen, sobald ich mich besser fühle. Außerdem kommt Alex bald – das habe ich dir doch erzählt.«
»Gut«, sagte Stefanie liebevoll. »Dann quäle ich dich jetzt nicht länger. Außerdem bin ich ja auch noch da, um dir zu helfen.«
»Zum Glück. Ohne dich käme ich mir im Augenblick ziemlich verlassen vor, Steffie.«
Stefanie antwortete nicht. Sie machte sich mehr Sorgen um Sabrina und die Zukunft der beiden Kinder, als diese selbst es offenbar tat. Das liegt daran, daß ich ein paar Jahre älter bin, dachte sie. Sabrina ist blauäugig darüber, was auf sie zukommt mit zwei Babies, für die sie demnächst ganz allein sorgen muß.
Dabei ist sie mit ihrem Studium noch nicht fertig, und Platz hat sie in ihrer winzigen Wohnung auch nicht. Wie soll das bloß alles klappen?
Aber dann dachte sie daran, daß es immer einen Ausweg gab, man mußte sich nur bemühen, ihn auch zu finden.
»Wir schaffen das schon irgendwie!« murmelte sie aufmunternd.
Von Sabrina kam keine Antwort. Stefanie stellte fest, daß ihre Freundin eingeschlafen war. Sehr jung sah sie aus, sehr schmal – und sehr verletzlich.
»Ich helfe dir, Sabrina!« sagte Stefanie laut in die Stille hinein und sie wußte, daß das ein Versprechen war, das sie halten würde.
*
Alexander konnte sich die innere Unruhe nicht erklären, die ihn an diesen Tagen umtrieb. Eigentlich war er viel zu erschöpft, um auch noch unruhig zu sein. Wenn er spätabends in sein Hotelzimmer zurückkehrte, dann schlief er in der Regel sofort ein, um nach höchstens fünf Stunden wieder aufzuwachen und sich erneut an die Arbeit zu machen. Das war nun schon seit Wochen so, und daran hatte sich nichts geändert.
Wie lange war er jetzt eigentlich in Manaus? Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit in diesem feucht-heißen Klima, das er haßte. Und noch immer war ein Ende seiner Mission nicht abzusehen. Zwar trug seine Arbeit allmählich Früchte, der betrügerische Büroleiter war gefaßt worden, und es war Alexander gelungen, das Vertrauen einiger Kunden zurückzugewinnen – doch noch immer gab es unendlich viel zu tun. Er konnte weder nach Rio zurückkehren, noch seinen geplanten Deutschlandbesuch verwirklichen. Alle seine Pläne waren über den Haufen geworden worden – alles hatte er verschieben müssen.
Er wußte selbst nicht genau, warum er plötzlich zum Telefon griff und Sabrina anrief. Es mußte Nacht sein in Deutschland, aber die Sehnsucht nach ihrer Stimme war so groß, und er war so sicher, daß sie froh sein würde über seinen Anruf, daß er seine Gedanken einfach abschaltete und wählte.
Doch solange er es auch klingeln ließ, am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand. Schließlich legte er den Hörer wieder auf und stützte den Kopf in beide Hände. Wo war Sabrina um diese Zeit? Konnte es sein, daß sie verreist war?
Dann wurde ihm bewußt, daß er keinerlei Recht zu solchen Überlegungen hatte. Dies war erst ein zweiter Versuch, sie zu erreichen – und hatte er nicht bei ihrem Abflug fest vorgehabt, den Kontakt zu ihr ganz sanft einschlafen zu lassen, so wie er es immer gehalten hatte mit seinen Freundinnen?
Bei diesem Gedanken überkam ihn völlig unerwartet eine heftige Verzweiflung. Es ist alles meine Schuld, dachte er. Wenn ich sie verloren habe, dann habe ich es mir selbst zuzuschreiben. Mit Sabrina war es anders als mit allen anderen. Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß sie einfach wieder aus meinem Leben verschwindet. Wie konnte ich so dumm sein, das nicht von Anfang an zu wissen?
Erschrocken stellte er fest, daß ihm Tränen in die Augen traten. Hatte er als erwachsener Mann überhaupt schon einmal geweint? Er konnte sich nicht daran erinnern.
*
»Das war ein sehr schöner Abend«, sagte Thomas Laufenberg, als er Esther nach Hause gebracht hatte und sich von ihr verabschieden wollte.
Sie siezten einander noch immer und hielten such sonst vorsichtige Distanz, obwohl sie in den letzten Wochen recht häufig miteinander ausgegangen waren. Aber beiden war es recht, die Dinge in der Schwebe zu halten. Beide hatten Angst vor einer Enttäuschung, deshalb waren sie ganz besonders zurückhaltend.
»Ja, das finde ich auch«, erwiderte Esther und lächelte ihn an.
Wieder einmal stellte er fest, wie jung sie aussah und wie gut sie ihm gefiel. Schon mehrfach hatte er sich zwingen müssen, sie nicht einfach in die Arme zu nehmen und zu küssen. Aber es war ihm jedesmal gelungen, sich zu beherrschen. Er wollte sie nicht erschrecken, und er wollte nichts überstürzen. Schließlich waren sie beide keine Zwanzig mehr. Doch allmählich schien ihm seine Vorsicht übertrieben zu sein. Er war schrecklich verliebt in sie, das wurde ihm immer klarer – und wenn sie sich gar nichts aus ihm gemacht hätte, wäre sie dann wohl so oft mit ihm ausgegangen?
Er sah sie an, geradewegs in ihre blauen Augen, und was er darin las, ließ ihn jegliche Vorsicht vergessen. Er legte beide Arme ganz fest um sie und zog sie zu sich heran. Dann beugte er sich zu ihr hinunter – sie war so unglaublich zierlich! – und küßte sie ganz sanft.
Sie reagierte unerwartet temperamentvoll. Stürmisch schlang sie ihr Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuß. Sein Herz pochte fast schmerzlich gegen seine Rippen. Ich lasse sie einfach nicht wieder los, dachte er. Ich halte sie fest und lasse sie nicht mehr los. Aber irgendwann lösten sie sich doch voneinander. Esther strahlte ihn an und sagte mit einer Stimme, in der er ein unterdrücktes Lachen wahrnahm. »Ich dachte, du traust dich nie!«
Im ersten Augenblick erstarrte er, dann lachte er laut und sie stimmte ein. Als sie sich beruhigt hatten, beugte er sich erneut zu ihr. »Das lasse ich mir nicht zweimal sagen«, murmelte er, bevor er sie erneut küßte. Diesmal fiel sein Kuß bedeutend leidenschaftlicher aus.
*
Sabrina hielt sich an das Versprechen, das sie ihrer Freundin Stefanie gegeben hatte: Als sie nach ein paar Tagen in ihre Wohnung zurückgekehrt war, begann sie tatsächlich sofort, ihre Zukunft zu planen.
Sie hatte sich bisher schon regelmäßig kleiner Übersetzungsaufträge angenommen, um finanziell besser über die Runden zu kommen. Jetzt begann sie sich um die Voraussetzungen zu kümmern, in Zukunft etwas mehr arbeiten zu können – schließlich mußte sie ihre Kinder ernähren. Und auch wenn sie noch immer damit rechnete, von Alex spätestens zu hören, sobald er in Deutschland eintreffen würde, so wollte sie doch nicht auf seine Hilfe angewiesen sein.
Sie sprach mit ihrer Vermieterin und ihren Professoren, erkundigte sich nach Möglichkeiten, die Kinder tagsüber, wenn sie Vorlesungen hatte, unterzubringen – und sie fing an, sich bei Freunden und Bekannten zu erkundigen, ob sie abgelegte Babysachen hatten, die sie ihr überlassen konnten, denn natürlich kam es nicht in Frage, daß sie alles neu kaufte. Dafür hatte sie überhaupt kein Geld.
Ihre Vermieterin war alles andere als begeistert, als sie hörte, daß Sabrina Zwillinge erwartete, aber sie legte ihr auch nicht nahe, die Wohnung aufzugeben. Doch insgeheim beschloß Sabrina, sich um eine andere Wohnung zu kümmern. Sie wollte nicht, daß sie und ihre Kinder unerwünscht wären. Doch das Wohnungsproblem war nicht drängend, das würde sie später lösen, wenn sie mehr Zeit hatte.
Manchmal überkam sie abends Sehnsucht nach Alex – und, was viel schlimmer war, sie begann an ihm zu zweifeln. Wahrscheinlich hatte Steffie doch Recht mit ihrer Annahme, Alex habe sich längst über ihren Verlust hinweggetröstet. Denn wie sonst sollte sie sich erklären, daß er weder ihre Briefe beantwortete noch sie anrief?
Oft war sie nahe daran, noch einmal selbst in seinem Büro anzurufen. Wenn sie ihn dort nicht antraf, dann war vielleicht Volker Henstein da und konnte ihr Auskunft geben. Doch würde er ihr wirklich die Wahrheit sagen – falls Alex tatsächlich eine neue Freundin hatte?
Regelmäßig wurde sie böse auf sich selbst, wenn sie eine Weile solchen Gedanken nachgehangen hatte. Alex liebte sie, das wußte sie ganz sicher. Und welchen Grund es auch immer für sein langes Schweigen geben mochte: Mangelnde Liebe zu ihr war es nicht! Sie verbot sich, noch einmal an ihm zu zweifeln, doch je länger sie nichts von Alex hörte, desto häufiger wurden die Zweifel in ihr wach. Dennoch weigerte sie sich, einen Schlußstrich unter ihre Liebe zu diesem Mann zu ziehen. Sie hatte ihr Herz an ihn verloren. Daran konnte auch sein monatelanges Schweigen nichts ändern.
*
Adrian war erst eine halbe Stunde zu Hause, als es an seiner Wohnungstür klingelte. Frau Senftleben konnte es nicht sein, denn sie war auf dem Weg ins Theater gewesen, als er müde die Treppen hinaufgestiegen war.
Er öffnete und rief erstaunt: »Esther! Was verschafft mir denn dieses unerwartete Vergnügen?«
»Darf ich hereinkommen?« erkundigte sie sich, da er mitten im Türrahmen stand und keine Anstalten machte, sie hereinzubitten.
Er sprang zur Seite und rief: »Ja, natürlich. Du hast Glück, mich anzutreffen, ich bin noch gar nicht lange hier. Hast du Hunger?«
»Ja, schon, aber…«
»Ich auch. Sollen wir essen gehen? Ich hab’ nichts Vernünftiges da, und Frau Senftleben ist…«
»… im Theater, ich weiß«, vollendete sie seinen Satz lächelnd. »Ich gehe gern mit dir essen, aber erst nach unserem Gespräch.«
»Gespräch?« fragte er mit hochgezogenen Brauen. »Das hört sich ja richtig offiziell an. Gibt’s was Neues?«
»Ja. Ich habe mich verliebt«, antwortete sie schlicht.
»Nein.« Völlig überrascht starrte er sie an. Dann war er mit zwei Schritten bei ihr, umarmte sie und wirbelte sie einmal im Kreis herum. Da er mindestens einen Kopf größer war als sie, fiel ihm das nicht schwer.
»Esther, das ist wunderbar! Ich hatte ja überhaupt keine Ahnung, daß es einen Mann in deinem Leben gibt! Wieso hast du mir nicht schon früher von ihm erzählt? Das läuft doch nicht erst seit gestern zwischen dir und ihm – oder?«
»Nein«, gab sie zu. »Wir treffen uns schon eine ganze Zeit, aber wir waren beide sehr vorsichtig. Du weißt ja, daß ich ein gebranntes Kind bin seit meiner Scheidung.«
Er nickte, fuhr dann aber ungeduldig fort: »Wer ist er? Was macht er? Wie alt? Wo kommt er her? Wie hast du ihn kennengelernt?«
»Um mit deiner letzten Frage anzufangen: Du warst dabei, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Aber damals ist natürlich überhaupt noch nichts gewesen.«
»Ich war dabei«, fragte er ungläubig. »In einerm Restaurant? Im Kino? In einer Kneipe?«
»Bei dem Jazzkonzert«, antwortete sie und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Bei dem…«, wiederholte er, brach dann aber ab und kniff die Augen zusammen. Er schüttelte den Kopf. Schließlich fragte er: »Wer ist es?«
»Du kennst ihn«, antwortete sie. »Es ist der Pianist.« Auf einmal strahlte sie über das ganze Gesicht.
Noch immer verstand er nicht. »Der Pianist?« fragte er. Dann endlich fiel der Groschen. Er schlug sich mit der flachen Hand vor der Stirn und rief: »Unser Verwaltungsdirektor? Du redest von Thomas Laufenberg, Esther? Du hast dich ausgerechnet in unseren Verwaltungsdirektor verliebt?«
Sie nickte und strahlte noch mehr.
Adrian ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Ich glaube es einfach nicht!« ächzte er. »Von allen Männern, die frei herumlaufen, mußt du dir den einen aussuchen, zu dem ich ein etwas zwiespältiges Verhältnis habe. Mit den meisten Leuten verstehe ich mich gut, er war eine von den wenigen Ausnahmen…«
»War – das hast du selbst gesagt«, warf sie ein. »In letzter Zeit kommt ihr doch ganz gut miteinander aus.«
Er betrachtete sie prüfend. »Ich erinnere mich, daß mir dein Interesse an ihm aufgefallen ist. Du hast dich immer so betont unauffällig nach ihm erkundigt. Aber das habe ich wieder vergessen, weil du in letzter Zeit überhaupt nicht mehr von ihm gesprochen hast. Jetzt weiß ich also, warum.«
»Ja«, bestätigte sie, »jetzt weißt du, warum.« Sie setzte sich neben ihn und griff nach seiner Hand. »Nicht böse sein, Adrian, daß ich es dir nicht früher erzählt habe, aber ich war mir so unsicher. Und ich hatte auch ein wenig Angst vor deiner Reaktion, ich wußte ja, daß es zwischen euch einige Unstimmigkeiten gegeben hat.«
»Deshalb hat er jetzt manchmal einen etwas unsicheren Eindruck gemacht«, stellte Adrian fest und lächelte in sich hinein. »Ich habe mich schon gefragt, was das wohl zu bedeuten hat.« Er legte Esther einen Arm um die Schultern und zog sie an sich. Dann gab er ihr einen liebevollen Kuß auf die Wange. »Alles Gute, Kleine! Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt – aber ob ich mich deshalb mit Herrn Laufenberg anfreunden kann, weiß ich noch nicht.«
»Das mußt du doch auch gar nicht«, beteuerte Esther rasch. »Wenn ihr euch nur nicht mehr gegenseitig die Köpfe abreißt, dann bin ich schon zufrieden.«
Adrian sprang auf und zog sie ebenfalls in die Höhe. »Wir gehen heute fein essen!« sagte er. »Diesmal lade ich dich ein, und dabei erzählst du mir ganz genau, wie das alles angefangen hat. Und auch«, fügte er mit einem verschmitzten Seitenblick hinzu, »wo es hinführen soll.«
Sie errötete heftig. »Dazu ist es viel zu früh«, wehrte sie ab. »Über so etwas reden wir nicht, Thomas und ich.«
»Na schön, dann erzählst du mir eben alles andere«, erwiderte er großzügig. »Komm schon, Esther, ich sterbe vor Neugier.«
Sie verließen die Wohnung, und schon auf dem Weg begann Esther zu erzählen. Adrian sah sie immer wieder von der Seite an, ohne daß sie es bemerkte. Sie strahlte so viel Glück und Lebensfreude aus, daß er unwillkürlich davon angesteckt wurde. Und ganz von selbst kam ihm wieder Stefanie Wagner in den Sinn, jene Frau, die ihn schon bei ihrem ersten Zusammentreffen bezaubert hatte, und die er immer wieder einmal traf, ohne daß er es wagte, sich ihr zu nähern…
»Adrian? Du hörst mir ja gar nicht zu!«
»Doch!« versicherte er hastig. »Ich höre jedes Wort. Also, er ist direkt an deinen Tisch gekommen – und dann?«
»Und dann haben wir uns verabredet«, antwortete Esther. Sie brauchte noch den ganzen Abend, um Adrian den bisherigen Verlauf ihrer Liebesgeschichte zu schildern, und er ertappte sich dabei, daß ihn eine merkwürdige Sehnsucht überkam, während er ihr zuhörte.
*
Es war mehrere Wochen später, als eines Morgens die Tür zum Büro von Volker Henstein aufgestoßen wurde. Volker wandte den Kopf und sprang im selben Moment auf. Er umarmte den Ankömmling herzlich. »Alex! Endlich bist du wieder da. Meine Güte, das war ja eine endlose Mission.«
»Das kannst du laut sagen«, erwiderte Alexander. »Ich habe zum Schluß die Tage gezählt, bis ich wieder hierher zurückkehren konnte. Aber nun liegt das ja endlich hinter mir.«
»Und du hast den Karren aus dem Dreck gezogen«, stellte Volker fest. »Das habe ich schon gehört. Alle sind des Lobes voll, wenn sie von dir reden. Du hast großartige Arbeit geleistet. Warst du schon zu Hause?«
Alexander schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte zuerst ins Büro hereinschauen.«
»Und wie geht das jetzt weiter?« erkundigte sich Volker. »Ich meine, in Manaus – aber auch mit dir? Du wolltest doch auch noch nach Deutschland.«
»In Manaus wird ein neuer Büroleiter eingestellt – ich habe ihn schon kennengelernt, er macht einen guten Eindruck. Und ich werde in ungefähr drei Wochen nach Deutschland fliegen, sobald ich alles aufgearbeitet habe, was hier liegengeblieben ist.«
»Wir haben versucht, einiges zu erledigen, aber natürlich konnten wir nicht alles machen«, erklärte Volker. Er warf dem Freund und Kollegen einen prüfenden Blick zu. »Am besten bleibst du einmal ein paar Tage zu Hause und ruhst dich ein bißchen aus. Du siehst ziemlich fertig aus, Alex!«
»Ich sehe nicht nur so aus, Volker!« erwiderte Alexander müde. »Ich bin es auch, das kannst du mir glauben. Vielleicht wäre es wirklich das beste, ein paar Tage auszuspannen.«
»Nicht vielleicht, sondern ganz bestimmt!« Volkers Stimme klang energisch. »Und wenn einer unserer Vorgesetzten etwas dagegen hat, dann werde ich ihm schon das Passende zur Antwort geben – aber ich glaube, niemand wird etwas sagen, die wissen ja alle, was du im letzten Vierteljahr geleistet hast.«
»Mach mich nicht verlegen, Volker«, sagte Alexander. »Ich geh’ dann mal nach Hause. Sobald ich mich etwas frischer fühle, rufe ich an, dann können wir vielleicht mal in Ruhe über die Arbeit reden, die anliegt.«
»Machen wir«, erwiderte Volker. »Hast du übrigens etwas von Sabrina gehört?«
Ein Schatten flog über Alexanders Gesicht. »Nein!« antwortete er knapp. Im nächsten Augenblick hatte er sich bereits umgedreht und das Büro verlassen.
*
Sabrina hatte das Gefühl, daß sie sich schwerfälliger bewegte als zuvor. Sie war etwa in der Mitte ihrer Schwangerschaft, und wenn sie an sich herunterblickte, fragte sie sich beklommen, wie sie wohl am Ende aussehen mochte. Es gab offenbar Frauen, denen man in den ersten sechs Monaten kaum ansah, daß sie schwanger waren – bei ihr war das genaue Gegenteil der Fall. Sie war jetzt bereits ziemlich rund. Aber sie trug ja auch Zwillinge aus.
Sie war in den vergangenen Wochen nicht untätig gewesen, und darüber war sie jetzt froh, denn sie merkte bereits, daß alles anfing, ihr schwerer zu fallen. Das Kreuz tat ihr weh, und auch sonst fühlte sie sich oft schlapp und müde. Aber zum Glück hatte sie die meisten Probleme bereits gelöst, nur eine neue Wohnung hatte sie noch nicht gefunden.
Wann immer sie erzählte, daß sie Zwillinge erwartete, hatten die Leute freundlich, aber bestimmt erklärt, kleine Kinder wollten sie nicht in ihren Wohnungen haben. »Wissen Sie«, hatte der Vermieter in schöner Offenheit gesagt, »kleine Kinder bedeuten, daß man die Wohnung nach wenigen Jahren komplett renovieren muß. Der Fußboden ist ruiniert, die Tapeten müssen erneuert werden, und keine Tür schließt mehr richtig. Und wer sagt mir, daß Sie für die Schäden aufkommen, die Ihre Kinder anrichten? Außerdem sind Sie allein und können Ihre Kinder nicht ordentlich beaufsichten. Nein, nein, das Risiko ist mir viel zu groß. Nehmen Sie es nicht persönlich, ich finde Sie sehr sympathisch, aber Zwillinge? Nein, danke!«
So oder so ähnlich hatten sich fast alle geäußert. Das schlimmste daran war, daß sie die Leute verstehen konnte. Sie hatten sich ihre Wohnungen und Häuser mühsam erarbeitet und wollten natürlich, daß sorgsam mit ihrem Eigentum umgegangen wurde. Kleine Kinder machten nun einmal mehr kaputt als Erwachsene, daran konnte kein Zweifel bestehen, aber wann immer sie versicherte, sie werde für alle eventuellen Schäden aufkommen, erntete sie nur ein müdes Lächeln.
Jetzt war sie wieder einmal auf dem Weg, um eine Wohnung zu besichtigen, aber allzuviel Hoffnung machte sie sich nicht mehr. Sie wußte mittlerweile einfach zu gut, was sie erwartete. Sie war sehr frühzeitig aufgebrochen, weil sie Streß überhaupt nicht mehr vertragen konnte. Die Wohnung lag nur rund zehn Minuten Fußweg von ihrer jetztigen entfernt, aber sie hatte noch fast zwanzig Minuten Zeit, als sie aufbrach.
Das Kreuz tat ihr an diesem Tag besonders weh, und sie fühlte sich auch sonst nicht wohl. Sie hatte undefinierbare Schmerzen im Unterleib und beschloß, nach dem Treffen mit dem Makler sofort nach Hause zurückzukehren, und sich ins Bett zu legen. Sie hätte zwar eigentlich am Nachmittag noch eine Vorlesung besuchen müssen, aber die würde sie ausfallen lassen.
Sie hatte etwa den halben Weg zurückgelegt, als sie auf einmal glaubte, nicht weitergehen zu können. Etwas krampfte sich in ihr zusammen, und ihr wurde schwindelig, so heftig war der Schmerz, der sie auf einmal durchfuhr. Sie stützte sich an einer Hausmauer ab und zwang sich, tief durchzuatmen. Keine Panik Sabrina, befahl sie sich. Es ist alles in Ordnung, du mußt nur noch ein paar Schritte weitergehen. Gleich geht dieses scheußliche Gefühl vorbei, dann ist alles wieder gut.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte eine besorgte Stimme?
Sabrina sah auf und versuchte festzustellen, wer da mit ihr sprach, aber von neuem schnitt der Schmerz wie mit Messern durch ihren Körper, und sie konnte nur Schatten und Schleier erkennen. Trotzdem öffnete sie den Mund, um zu antworten, doch es kam nur ein Stöhnen heraus.
Da endlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Was war mit ihr los, daß sie solche schrecklichen Schmerzen ertragen mußte?
»Laß sie doch, sie ist wahrscheinlich betrunken«, sagte in diesem Augenblick eine andere Stimme.
»Ich bin nicht betrunken!« wollte Sabrina rufen, doch erneut stöhnte sie nur, heftiger dieses Mal, und sie erschrak selbst über die Töne, die sie hervorbrachte.
Wieder zerriß der Schmerz ihren Unterleib. So schrecklich war es jetzt, daß sie laut anfing zu schreien. Sie spürte etwas Klebriges an ihren Beinen hinunterlaufen, hörte noch, wie die erste Stimme erschrocken ausrief: »Oh, mein Gott, sie blutet ja!« – und dann bekam sie nichts mehr mit.
*
Das erste, was Alexander fand, als er seine Wohnung aufschloß, waren Sabrinas Briefe. Er starrte auf das Bündel, das eine Nachbarin ihm auf den Tisch gelegt hatte – sie kümmerte sich um seine Wohnung, wenn er nicht da war, und er war ihr dankbar dafür. Ein paarmal hatte er mit ihr telefoniert in den vergangenen Wochen, aber sie hatte nicht erwähnt, daß Post für ihn angekommen war. Sie hatte ihm immer nur versichert, es sei alles in Ordnung, er müsse sich keine Sorgen machen – und er war froh darüber gewesen, denn Probleme hatte er auch so reichlich gehabt.
Und nun hatte er also Post von Sabrina an seine Privatadresse bekommen. Wenn ihm sonst überhaupt jemand schrieb, dann geschah es stets an seine Dienstadresse, weil dort immer jemand war, um die Post in Empfang zu nehmen. Aber darüber hatte er mit Sabrina nicht gesprochen, und sie hatte ihm deshalb an seine private Anschrift geschrieben.
Er setzte sich an den Tisch und sah sich die Poststempel an. Langsam sortierte er die Briefe nach den Daten, während er zugleich versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Sie hatte sich also sehr wohl gemeldet – aber warum hatte sie ihn nicht angerufen, als keine Antwort auf die Briefe erfolgt war?
Er öffnete den ersten Brief, den sie noch im Flugzeug begonnen hatte, und begann zu lesen. Hier fand er auch die Antwort auf seine Frage. Sie berichtete von einem Anruf im Büro und einer »abweisenden« Sekretärin, die ihr nur gesagt habe, er sei nicht anwesend und Privatgespräche seien unerwünscht.
Heftige Wut stieg in ihm auf, aber er konnte sich schon denken, das sie an Anja geraten war – jene junge Frau, die schon bald darauf wieder entlassen worden war. Hatte Volker nicht Bemerkungen darüber gemacht, daß es Beschwerden über ihr Verhalten am Telefon gegeben hatte? Er las weiter, und je länger er las, desto unruhiger wurde er.
Sabrina liebte ihn, das konnte er aus jeder Zeile herauslesen. Und sie war ganz sicher, daß auch er sie liebte – sie kam offenbar gar nicht auf die Idee, daß er ihre Romanze als etwas nur Vorübergehendes angesehen haben könnte. So sicher war sie, so voller Vertrauen in ihn und seine Liebe zu ihr, daß er sich auf einmal zutiefst schämte. Er hatte in den vergangenen Jahren Verhältnisse mit vielen Frauen gehabt, und vielleicht waren einige darunter gewesen, die ihn wirklich gern gehabt hatten. Wie viele mochte er verletzt haben dadurch, daß er sich nach ihrer Abreise nie wieder bei ihnen gemeldet hatte?
Und nun also Sabrina, diese schöne junge Frau, die ihm trotz voller Arbeit und der damit einhergehenden Erschöpfung in den vergangenen Monaten nicht aus dem Kopf gegangen war. An die er immer wieder hatte denken müssen, auch wenn er es gar nicht gewollt hatte. Sabrina, die er genauso hatte vergessen wollen wie alle anderen – was ihm aber nicht gelungen war.
Während er am Tisch saß und ihre Briefe las, wurde ihm bewußt, daß er sie genauso liebte wie sie ihn und daß es nichts Wichtigeres gab, als ihr das so schnell wie möglich zu sagen. Doch es gab noch einen letzten Brief von ihr, den er lesen mußte. Zuerst sah er auf das Datum und erschrak. Es war schon über sechs Wochen her, daß sie ihn geschrieben hatte – was aber war danach geschehen? Hatte sie aufgehört, an ihn zu glauben? Hatte sie ihr Vertrauen in seine Liebe verloren? Das hätte er ihr nicht einmal verdenken können, schließlich hatte sie nichts mehr von ihm gehört, seit sie aus Rio abgeflogen war. Seitdem waren Monate vergangen. Eigentlich hatten sie sich ja längst in Berlin treffen wollen…
Sabrinas letzter Brief war sehr kurz, sie hatte ihn offenbar in großer Erregung geschrieben. »Es ist etwas Wichtiges passiert, Alex – bitte, melde dich, sobald du diesen Brief bekommen hast.«
Wie benommen eilte er zum Telefon und wählte ihre Nummer. Doch auch diesmal kam keine Verbindung zustande. Was hatte sie ihm vor so vielen Wochen Wichtiges zu sagen gehabt? Daß sie Berlin verlassen würde? Vielleicht war sie schon längst nicht mehr dort?
Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich, aber schließlich gewann einer von ihnen die Oberhand, und er faßte einen Entschluß. Er konnte nicht noch einmal drei Wochen warten, bis er nach Deutschland flog. Er mußte die Reise so schnell wie möglich antreten. Gleich morgen würde er mit Volker und seinen Vorgesetzten darüber reden.
*
»Herr Dr. Winter? Eine junge Frau ist auf der Straße zusammengebrochen, sie wird jeden Augenblick…« Die zurückhaltende Schwester Claudia mit den schönen grauen Augen kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden, denn bereits in diesem Augenblick brachten die Sanitäter die junge Frau, die sie gerade hatte ankündigen wollen.
»Komme Sie, Schwester Claudia, und helfen Sie mir«, sagte Adrian. Gleich darauf wandte er sich mit fragendem Blick den Sanitätern zu.
»Sie ist mit schweren Blutungen auf der Straße zusammengebrochen«, berichtete einer der Männer. »Sie ist schwanger – offenbar schon ziemlich weit fortgeschritten. Sie ist vor Schmerz ohnmächtig geworden, aber ziemlich schnell wieder aufgewacht. Allerdings haben wir nicht allzuviel aus ihr herausbekommen – die Schmerzen müssen ziemlich schlimm sein.«
Sie hoben die Frau auf die Untersuchungsliege in einer der Behandlungskabinen. Sie war sehr blaß und sah völlig verängstigt aus.
Adrian bedankte sich bei den Sanitätern und gab Schwester Claudia die Anweisung, der Patientin eine Infusion zur Stabilisierung anzulegen.
»Sie hat sehr viel Blut verloren«, sagte die Schwester besorgt.
»Ja, eben, wir müssen das Volumen auffüllen – und dann müssen wir die Ursache für diese starken Blutungen herausfinden. Das sieht nach einer beginnenden Plazenta-Ablösung aus. Hoffentlich können wir das Kind retten.«
Schwester Claudia machte sich mit gewohnter Sorgfalt an die Arbeit, und Adrian wandte sich an die Patientin. »Mein Name ist Adrian Winter«, sagte er freundlich und lächelte die junge Frau an, um sie zu beruhigen. »Ich bin Unfallchirurg und leite die Notaufnahme hier in der Kurfürsten-Klinik. Bitte, nennen Sie mir Ihren Namen.«
»Sabrina Schirmbeck«, sagte sie leise. »Was ist mit den Kindern, Herr Doktor?«
Er verstand sie nicht sofort. »Den Kindern?« fragte er und glaubte, sie sei vielleicht von Kindern begleitet worden, als sie zusammengebrochen war.
Doch sie klärte das Mißverständnis sofort auf. »Ich erwarte Zwillinge«, erklärte sie. »Sind sie in Gefahr?«
»Zwillinge?« wiederholte er überrascht, schaffte es aber, seine Besorgnis vor ihr zu verbergen. Ruhig beantwortete er ihre Frage: »Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Im Augenblick zumindest besteht keine Gefahr mehr, aber ich werde sofort einen Kollegen hinzuziehen – einen Gynäkologen, der Sie untersuchen wird, Frau Schirmbeck.« Er lächelte ihr erneut zu. Leise sagte er zu Schwester Claudia, die mit dem Anlegen der Infusion soeben fertig geworden war: »Bitte, versuchen Sie, Dr. Halberstett aufzutreiben, Schwester Claudia. Ich möchte, daß er sich Frau Schirmbeck selbst ansieht. Ich weiß zufällig, daß er Dienst hat. Aber bitte beeilen Sie sich.«
Sie nickte nur und verließ sofort die Kabine.
Adrian begann nun, die junge Frau zu untersuchen. Er mußte sich sehr anstrengen, um sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen. Hoffentlich konnte Christian Halberstett es einrichten, sofort in die Notaufnahme zu kommen.
Als er den Gynäkologen wenige Augenblicke später an der Seite von Schwester Claudia hereineilen sah, atmete er auf.
»Ich habe schon gehört, worum es geht«, sagte Christian Halberstett leise. »Hast du die Patientin untersucht?«
»Ja«, antwortete Adrian. »Aber ich möchte, daß du sie dir genau ansiehst und mir deine Meinung sagst.«
Der andere nickte und stellte sich der Patientin vor. »Sie erwarten Zwillinge, Frau Schirmbeck«, sagte er, während er mit der Untersuchung begann.
»Ja, aber jetzt habe ich schreckliche Angst, daß ich sie verlieren könnte.«
»So schnell verliert hier niemand ein Baby«, erwiderte der Gynäkologe mit Nachdruck. »Und zwei schon gar nicht.« Behutsam setzte er die Untersuchung fort, stellte hier und da eine Frage und schaffte es sogar, die junge Frau soweit abzulenken, daß sie vorübergehend ihre Angst vergaß. Sie beantwortete seine Fragen gewissenhaft, und ihre Gesichtszüge entspannten sich langsam. Jetzt erst war zu erkennen, wie hübsch sie eigentlich war.
Hübsch und noch sehr jung, dachte Adrian. Sie sollte in einer solchen Situation nicht allein sein. »Sollen wir nicht Ihren Mann benachrichtigen, Frau Schirmbeck? Er wird doch sicher in Sorge sein.«
Für einen Kurzen Moment färbten sich ihre Wangen rosa, dann sagte sie leise, aber bestimmt. »Der Vater der Kinder ist im Ausland, er kann jetzt nicht kommen. Ich will nicht, daß er hiervon etwas erfährt. Es würde ihn nur beunruhigen.«
»Aber Ihre Eltern? Oder eine Freundin?« fuhr Adrian fort. »Sie werden möglicherweise eine Weile hierbleiben müssen.«
»Eine Freundin würde ich später gern benachrichtigen«, meinte die Patientin leise. »Aber das entscheide ich erst, wenn ich weiß, was los ist. Es kann doch auch sein, daß Sie mich nachher wieder nach Hause schicken, oder?«
Das war völlig undenkbar, aber die beiden Ärzte schafften es, eine Antwort zu geben, die das zunächst offenließ.
Als Christian Halberstett seine Untersuchung beendet hatte, war sein Gesicht sehr ernst. Er nahm Adrians Arm und zog ihn aus der Kabine.
»Beginnende Plazenta-Ablösung«, sagte er knapp.
»Ja, das dachte ich mir«, erwiderte Adrian. »Wie schlimm ist es?«
»Schwer zu beurteilen. Wir geben ihr sofort Medikamente, und sie darf natürlich nicht mehr aufstehen – unter gar keinen Umständen. Wenn sie die Kinder auf die Welt bringen will, dann muß sie die restliche Schwangerschaft im Liegen verbringen. Wenn sie niemanden hat, der sie versorgt, heißt das, daß sie hier in der Klinik bleiben muß. Darüber sollten wir jetzt mit ihr reden.«
»Könntest du sie auf deiner Station unterbringen?« fragte Adrian. »Habt ihr überhaupt freie Betten?«
»Ein paar freie Betten haben wir schon noch«, antwortete sein älterer Kollege mit grimmigem Gesicht, »aber man hat uns ja nun eine Stelle gestrichen – wir haben zu wenig Ärzte auf der Gynäkologischen, Adrian. Und das ausgerechnet jetzt, wo wir ständig Problemfälle zu behandeln haben!«
Er wollte die Kabine wieder betreten, drehte sich aber noch einmal zu Adrian um. »Über das Thema haben wir ja schon zur Genüge gesprochen. Sobald ich mal ein bißchen Zeit habe, werde ich mich ganz offiziell beschweren, das garantiere ich dir. Und jetzt komm, wir müssen mit Frau Schirmbeck reden und versuchen, ihr den Ernst der Lage so vorsichtig wie möglich klarzumachen.«
Adrian folgte ihm schweren Herzens. Es waren keine guten Nachrichten, die sie der jungen Frau zu überbringen hatten.
*
»Volker, hier ist Alex.«
»Nanu«, wunderte sich Volker Henstein über Alexanders privaten Anruf. »Du sollst dich doch ausruhen – und da hast du nichts Besseres zu tun, als einen Kollegen zu Hause anzurufen? Oder ist etwas passiert?«
»Ja«, antwortete Alex knapp. »Können wir uns noch für eine halbe Stunde irgendwo treffen, Volker? Ich müßte dringend mit dir reden.«
Das war so ungewöhnlich, daß Volker sofort zustimmte, obwohl er wußte, daß er sich dadurch Ärger mit seinen Kindern einhandelte, denen er für diesen Abend eigentlich etwas anderes versprochen hatte.
Sie vereinbarten einen Treffpunkt und eine Uhrzeit, und eine Stunde später saßen sie einander auf der Dachterrasse eines Hotels gegenüber. »Was ist los?« fragte Volker sofort.
»Sabrina hat mir die ganze Zeit, während ich in Manaus war, Briefe geschrieben«, antwortete Alexander.
»Und das hast du nicht gewußt?«
Alexander schüttelte den Kopf.
»Aber Alex, du hast doch jemanden, der sich um deine Wohnung kümmert – bist du denn gar nicht auf die Idee gekommen, mal nachzufragen, ob es was Wichtiges gebe?«
»Nein«, antwortete Alexander. »Fast meine gesamte Post landet im Institut, weil das sicherer ist. Ich habe nicht damit gerechnet, daß Sabrina mir nach Hause schreiben könnte.«
»Und das ist dir jetzt lästig?« fragte Volker, der noch nicht begriffen hatte, warum Alexander so erregt war.
»Nein, im Gegenteil.Volker, ich bin ein solcher Idiot! Ich liebe Sabrina, ich glaube, ich habe sie von Anfang an geliebt, und jetzt will ich nur noch eins: So schnell wie möglich nach Berlin und mit ihr reden. Ich will nicht noch drei Wochen warten. Meinst du, ihr könntet das mit der Arbeit noch ein bißchen länger ohne mich schaffen? Ich muß mit ihr reden und wissen, was los ist.«
»Was los ist?« fragte Volker verwirrt. »Was soll denn los sein?«
»Etwas muß passiert sein – sie hat mir vor sechs Wochen geschrieben, daß sie dringend mit mir reden muß, ich solle mich so schnell wie möglich melden. Danach hat sie nicht mehr geschrieben.« Alexander sah Volker direkt in die Augen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich davor fürchte, daß sie vielleicht einen anderen Mann kennengelernt und mich vergessen hat, weil sie nicht ein einziges Wort mehr von mir gehört hat.«
»Wieso hast du sie denn aber auch nie angerufen«, fragte Volker verständnislos. »Ich habe schon damals gedacht, daß das etwas anderes zwischen dir und ihr als sonst sei – das mußt du doch auch gefühlt haben.«
»Aber ich wollte es nicht wahrhaben!« rief Alexander verzweifelt. »Du kennst mich doch: Ich wollte keine enge Bindung, keine Familie, keine Fesseln! Aber jetzt…«
»… jetzt ist alles anders«, vollendete Volker den Satz, als sein Freund und Kollege plötzlich verstummte.
Alexander nickte. »Ja, jetzt ist alles anders. Hilfst du mir?«
»Wieso fragst du überhaupt? Niemand wird dir Steine in den Weg legen, Alex, wenn du jetzt erst einmal nach Deutschland willst. Die singen hier doch nur noch Loblieder auf dich – mach dir wegen des Instituts keine Sorgen. Fahr nach Berlin, grüß Sabrina von mir und freu dich, daß du endlich dein Herz entdeckt hast.«
Alexander sah ihn erstaunt an. »So siehst du das? Daß ich mein Herz entdeckt habe?«
»Ja, so sehe ich das!« erklärte Volker nachdrücklich. »Und soll ich dir noch was sagen? Ich bin verdammt froh darüber, daß es endlich passiert ist. Sabrina ist eine wunderbare Frau, und ihr paßt zusammen.«
»Wenn sie mich jetzt überhaupt noch will«, murmelte Alexander, und Volker stellte fest, daß er den Freund noch nie zuvor so kleinlaut hatte reden hören.
»Sie wird schon wollen«, meinte er aufmunternd, doch tief in seinem Innern war er sich dessen gar nicht so sicher. Wenn Alex es fertiggebracht hatte, sich monatelang nicht bei Sabrina zu melden, dann wäre es nur allzu verständlich gewesen, wenn sie nichts mehr von ihm hätte wissen wollen.
»Buche einen Flug und mach dich auf den Weg!« riet er. »Vorher ist mit dir doch sowieso nichts mehr anzufangen.«
»Da ist was dran«, meinte Alexander trübsinnig, aber dann lächelte er. Sabrina liebte ihn, das hatte sie mehrfach geschrieben. Sein alter Optimismus brach wieder durch, und er malte sich das Wiedersehen mit ihr in allen Farben aus. Die Vorstellung, sie schon bald wieder in die Arme schließen zu können, war so schön, daß ihm allein bei dem Gedanken daran fast schwindelig wurde.
*
»Frau Schirmbeck«, sagte Dr. Christian Halberstett am Tag nach Sabrinas Einlieferung in die Kurfürsten-Klinik besorgt, »nun seien Sie doch bitte nicht so verzweifelt. Im Augenblick besteht keine Gefahr für Ihre Kinder. Sie liegen jetzt auf der gynäkologischen Station, bei der geringsten Komplikation können wir eingreifen!«
»Aber ich muß ein paar Monate liegen!« sagte sie mit Tränen in den Augen. »Das hält doch kein Mensch aus. Außerdem ist trotzdem nicht sicher, daß die Kinder gesund auf die Welt kommen, das haben Sie selbst zugegeben.«
»Das ist richtig«, erwiderte er ernst. »Eine Garantie kann Ihnen niemand geben. Ihre Kinder sind in Gefahr, und sie werden es bis zur Geburt sein – so ist es leider. Ihnen etwas anderes zu erzählen, wäre unverantwortlich, denn es wäre eine Lüge.«
»Und wie soll ich das aushalten?« flüsterte sie. »Wie soll ich monatelang mit der Gewißheit leben, daß sich meine Kinder in großer Gefahr befinden?«
»Wenn Sie damit nicht leben können, Frau Schirmbeck, dann haben Ihre Kinder nicht die geringste Chance«, erwiderte er ruhig. »Ich will damit nicht ausdrücken, daß jetzt alles von Ihnen abhängt – aber ohne Ihre Mitarbeit geht gar nichts. Sie müssen im Bett bleiben und dürfen es nicht einmal verlassen, um auf die Toilette zu gehen. Eine andere Chance für die Zwillinge gibt es nicht. Die Plazenta, also der Mutterkuchen, droht sich vorzeitig abzulösen, und Sie wissen ja, daß dadurch die Versorgung der Kinder, die Sie erwarten, gefährdet wäre. Wir müssen also auf jeden Fall dafür sorgen, daß die Plazenta dort bleibt, wo sie hingehört. Und deshalb müssen Sie unbedingt ruhig liegen.«
»Ja, das habe ich verstanden. Ich werde versuchen, nicht mehr darüber zu jammern und nicht mehr darüber nachzudenken, daß trotzdem noch Gefahr besteht.«
»Diese Gefahr ist auch deutlich geringer, wenn Sie sich an unsere Anweisungen halten«, meinte er lächelnd. »Sie schaffen das ganz sicher, Frau Schirmbeck. Ich weiß, wie furchtbar die Aussicht ist, sich monatelang praktisch nicht rühren zu können – aber wenn Sie am Ende gesunde Zwillinge in den Armen halten, werden Sie diese Qualen schnell vergessen, das garantiere ich Ihnen. Es war bisher bei allen Frauen so, die das Gleiche mitmachen mußten.«
»Das ist wenigstens ein kleiner Trost«, murmelte Sabrina. »Herr Dr. Halberstett, ich würde jetzt noch gern eine Freundin benachrichtigen, ich brauche ja dringend ein paar Sachen.«
»Sie haben auch noch gar keinTelefon am Bett, wie ich sehe«, bemerkte er.
»Gestern ging alles so schnell, und als ich dann hierher verlegt wurde, wollte ich erst einmal in Ruhe nachdenken, und niemanden sehen oder sprechen«, erklärte Sabrina.
»Ich kümmere mich darum, daß Sie sofort einen Telefonanschluß bekommen. Und Fernsehen vielleicht?«
Sabrina nickte. »Ich muß mich ja irgendwie beschäftigen«, sagte sie.
»Lassen Sie sich außerdem etwas zu lesen bringen, Frau Schirmbeck. Und vielleicht schreiben Sie Tagebuch? Ich bin sicher, die Zeit wird Ihnen schneller vergehen, als Sie jetzt denken.«
»Solange ich nicht ständig Angst um die Kinder haben muß«, erwiderte sie leise.
»Die kann ich Ihnen nicht nehmen«, sagte er ernst. »Glauben Sie mir, das täte ich sehr gern.«
»Ich glaube Ihnen, Herr Dr. Halberstett. Und ich danke Ihnen für alles.«
Er nickte ihr noch einmal zu und verließ das Zimmer.
*
»Sabrina, endlich!« rief Stefanie Wagner aus, als ihre Freundin sich am Telefon meldete. »Ich hab’ gestern öfter bei dir angerufen. Wo hast du denn gesteckt?«
»Ich habe Blutungen bekommen, als ich unterwegs war, um eine Wohnung zu besichtigen, und bin in die Kurfürsten-Klinik eingeliefert worden«, antwortete Sabrina mit leiser Stimme. »Ich liege jetzt auf der gynäkologischen Station.«
»Blutungen?« rief Stefanie entsetzt. »Was bedeutet das? Was ist mit deinen Babies?«
Sabrina schluckte, dann beantwortete sie die Fragen, so gut sie konnte. Sie war mittlerweile so gefaßt, daß sie in der Lage war, ihre Situation einigermaßen ruhig zu beschreiben. Als sie geendet hatte, herrschte einige Sekunden lang Schweigen. Dann atmete Stefanie tief durch und sagte mit beherrschter Stimme: »Das ist zwar hart, aber wenn andere es durchgestanden haben, dann wirst du es auch schaffen. Ich helfe dir, so gut ich kann, Sabrina.«
»Danke«, sagte Sabrina schüchtern. »Ich brauche natürlich eine Menge Sachen. Ich habe mir hier schon Papier und einen Stift ausgeliehen und angefangen, eine Liste zu erstellen. Du mußt bedenken, daß ich überhaupt nichts bei mir habe.«
»Keine Sorge, du bekommst alles, was du brauchst. Ich sehe zu, daß ich in der Mittagszeit zur Klinik fahren kann. Dann gibst du mir deinen Wohnungsschlüssel und die Liste, soweit du sie fertig hast. Und hab’ vor allem nicht allzuviel Angst, Sabrina, das schadet dir nur – und den Babies auch.«
»Ja, du hast recht, aber man hat sich ja nicht immer in der Gewalt. Heute Nacht war es ganz besonders schlimm – jetzt geht es schon besser. Außerdem sind hier alle sehr nett. Der Arzt in der Notaufnahme, Dr. Winter, ist ganz ruhig geblieben und hat sofort den Gynäkologen Dr. Halberstett gerufen. Das ging alles sehr schnell.«
Stefanie war bei Sabrinas Worten erstarrt! Dr. Winter! Wieso hatte sie nicht sofort daran gedacht, daß Sabrina sicher in die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik eingeliefert worden war? Sie hatte Dr. Adrian Winter vor etlichen Wochen zuletzt getroffen, und der Gedanke, an ihn versetzte ihr einen Stich. Seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte – das war bei einem Unfall gewesen, in den sie unverschuldet geraten war –, seitdem jedenfalls standen sie in Verbindung, und sie fühlte sich sehr zu ihm hingezogen. Doch obwohl sie sicher war, daß es ihm ebenso erging, wahrte er höfliche Distanz. Sie wußte nicht, warum es so war, aber sie wurde den Verdacht nicht los, daß es in seinem Leben doch irgendwo eine Frau gab, an die er sich gebunden fühlte. Verheiratet allerdings war er nicht, das hatte sie mittlerweile herausgefunden.
»Steffie?« Sabrinas Stimme klang ängstlich. »Bist du noch da?«
»Ja, natürlich«, antwortete Stefanie rasch.
»Warum sagst du denn nichts mehr?«
»Ich habe nur gerade nachgedacht. Also, es bleibt dabei, ich komme gegen Mittag, dann sehen wir weiter. Laß den Kopf nicht hängen, Sabrina!«
»Ich versuch’s. Bis nachher, Steffie.
*
Adrian beschloß, in seiner kurzen Mittagspause bei Sabrina Schirmbeck vorbeizugehen. Christian Halberstett hatte ihm berichtet, daß die junge Frau zunächst sehr deprimiert gewesen war angesichts der Aussicht, die nächsten Monate liegend verbringen und dennoch fürchten zu müssen, daß sie ihre Kinder nicht gesund auf die Welt bringen könnte.
»Aber jetzt geht es ihr besser. Sie hat eine Freundin angerufen, die ihr einige Sachen vorbeibringt«, hatte Christian erzählt, »sie hat Telefon am Bett und Fernsehen im Zimmer, ich denke, sie beruhigt sich allmählich. Aber wenn du ihr einen Besuch abstattest, freut sie sich bestimmt sehr darüber.«
Adrian verspätete sich, weil in der Notaufnahme plötzlich sehr viel zu tun war. Es war schon nach zwei, als er an Sabrina Schirmbecks Zimmer auf der Gynäkologie klopfte.
Auf ihr erstauntes lebhaftes »Hallo!« trat er ein, blieb jedoch sofort wie angewurzelt stehen, als er die Frau erkannte, die am Bett der Patientin saß. Im ersten Augenblick war er sicher, sich getäuscht zu haben, denn warum sollte ausgerechnet Stefanie Wagner dort sitzen – die Frau, an die er so oft denken mußte?
Doch dann sagte diese fröhlich: »Guten Tag, Herr Dr. Winter!« und das war ja wohl ein Zeichen dafür, daß sie tatsächlich dort saß.
»Frau Wagner, das ist aber eine Überraschung«, sagte er und gab ihr die Hand. »Dann erst begrüßte er Sabrina Schirmbeck, die mit unverhohlenem Erstaunen von ihrer Freundin zu dem Arzt und wieder zurück blickte.
»Ich wußte gar nicht, daß du Herrn Dr. Winter kennst, Steffie«, sagte sie.
Stefanie errötete. »Ich hatte mal einen Unfall«, murmelte sie. »Herr Dr. Winter war zufällig am Unfallort – und ich bin danach hier in die Klinik eingeliefert worden.«
Adrian beschloß, ihr aus der Verlegenheit zu helfen, denn er sah, daß die junge Patientin bereits die nächste verwunderte Frage auf den Lippen hatte.
»Frau Wagner hatte einen sehr schweren Schock«, erklärte er, »weil sie fast einen kleinen Jungen überfahren hätte, der bei Rot mit seinem Fahrrad eine Ampel übersehen hatte. Es war eine äußerst dramatische Situation, die man nicht so leicht vergißt.«
»Ach, so.« Es schien, als habe Sabrina Schirmbeck keine weiteren Fragen. Darüber war Adrian ebenso erleichtert wie Stefanie Wagner.
»Ich wollte nur mal sehen, wie es Ihnen heute geht«, erklärte er. »Aber da Sie ja jetzt Besuch haben, brauche ich danach wohl gar nicht zu fragen. Sie sehen jedenfalls besser aus als gestern.«
»Es geht mir auch besser, wenn ich auch immer noch einen Horror habe vor den Monaten, die vor mir liegen, Herr Dr. Winter.«
»Das wird gar nicht so schlimm werden, wie Sie jetzt annehmen«, versicherte Adrian. »Glauben Sie mir das, Frau Schirmbeck. Es ist sicher nicht angenehm, aber nach einer Weile haben sie sich daran gewöhnt. Und wenn Sie daran denken, daß Sie es für Ihre Kinder tun, dann fällt es Ihnen noch leichter.«
Als er sich von den beiden Frauen verabschiedete, verfing sich sein Blick für einige Sekunden in Stefanie Wagners wunderschönen veilchenblauen Augen, und er spürte, wie sein Herz einen Hüpfer machte. Bevor er es verhindern konnte, sagte er: »Wir sollten wieder einmal zusammen essen gehen, Frau Wagner.«
»Gern«, erwiderte sie, während ihr erneut eine sanfte Röte ins Gesicht stieg.
Als er das Zimmer wieder verlassen hatte, pfiff er leise vor sich hin. Er ahnte nicht, daß Sabrina Schirmbeck in diesem Augenblick die neugierige Frage stellte: »Was war das denn, Steffie? Läuft da was zwischen dir und Herrn Dr. Winter?«
Natürlich verneinte Stefanie Wagner heftig, doch die verräterische Röte auf ihren Wangen vertiefte sich, und Sabrina machte sich ihren eigenen Reim darauf.
*
Mehrere Wochen später stand Alexander von Ravensburg wieder einmal vor dem Haus, in dem Sabrina wohnte, und starrte zu ihren Fenstern empor. Er war, seit er in Berlin war, jeden Tag hier gewesen und hatte bei ihr geklingelt, aber er hatte sie nicht ein einziges Mal angetroffen. Er hatte bei ihr angerufen, und sogar ihrer Nachbarin aufgelauert, um sie zu befragen, aber noch immer wußte er nicht, wo Sabrina war. Die Nachbarin war eine alte, fast taube Dame, die ihn kaum verstanden und immer nur den Kopf geschüttelt hatte.
Sabrina war wie vom Erdboden verschluckt – dabei stand ihr Name nach wie vor am Briefkasten.
Er war allmählich der Verzweiflund nahe. Sein Deutschlandaufenthalt näherte sich bereits dem Ende, und er wußte nicht mehr, wo er Sabrina noch suchen sollte. Er hatte mehrfach in Rio angerufen und Volker gebeten, in seine Wohnung zu fahren, um nach Post zu sehen, aber auch geschrieben hatte sie ihm nicht mehr. Wo konnte sie sein? Was war passiert?
Müde wandte er sich ab und machte sich auf den Rückweg. Wieder einmal dachte er daran, eine Anzeige in die Zeitung zu setzen, denn ihm fiel einfach nichts mehr ein, was er sonst noch hätte tun können. Eine knappe Woche blieb ihm noch, dann mußte er unweigerlich zurück nach Rio.
Mit schwerem Herzen lief er durch die Straßen. Wie anders hatte er sich einen Berlin-Aufenthalt vorgestellt! Voller Hoffnung war er in Rio ins Flugzeug gestiegen. Er hatte Sabrina nicht geschrieben, um sie zu überraschen. Er wollte nicht, daß sie auf ihn vorbereitet war – er wollte sehen, wie sie reagierte, wenn er völlig unerwartet plötzlich vor ihr stand.
Ein Gedanke kam ihn, und er blieb stehen. Sabrinas Name stand noch am Briefkasten – aber diese quoll keineswegs über. Also mußte jemand die ankommende Post herausnehmen! Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Wieso war er nicht schon früher auf die Idee gekommen, Sabrina einen Brief zu schreiben? Sicher, er hatte sich eigentlich nicht ankündigen wollten, aber jetzt war die Situation ja eine völlig andere als vor ein paar Wochen, als er im Flugzeug gesessen und sich ihr Wiedersehen in den schönsten Farben ausgemalt hatte.
Auf einmal hatte er es eilig. Er würde ihr schreiben, und dann würde er warten, was passierte. Ganz sicher würde sie sich melden!
*
Adrian hatte zusammen mit seiner Kollegin, der Internistin Dr. Julia Martensen, Nachtdienst. Es war jedoch so wenig zu tun in der Notaufnahme, daß sie einander gelegentlich verwundert ansahen.
»Kannst du dich erinnern, daß es hier schon einmal so ruhig war?« fragte Julia gegen Mitternacht. »Ich finde es direkt unheimlich.«
»Genieße es, Julia, denn es kann jeden Augenblick damit vorbei sein«, erwiderte Adrian lächelnd. »Warum legst du dich nicht ein bißchen hin und schläfst? Man muß die Zeit nutzen.«
Sie lachte. »Normalerweise würde ich einen solchen Vorschlag nicht ablehnen, aber ausnahmsweise bin ich überhaupt nicht müde«, erklärte sie.
Ihr Gespräch wurde durch das Telefon unterbrochen. »Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte er. »Wahrscheinlich ist es schon vorbei mit der Ruhe.« Dann meldete er sich, und Julia sah sofort, daß tatsächlich etwas passiert sein mußte, denn seine Haltung änderte sich, auf einmal wirkte er gespannt wie eine Feder. Er hörte nur zu und sagte schließlich: »Ich bin sofort da, Christian!«
Danach wandte er sich an Julia und erklärte: »Frau Schirmbeck hat wieder Blutungen und heftige Wehen – Christian muß die Zwillinge holen, aber er ist ganz allein. Du weißt, die Stellenstreichungen…«
»Geh schon«, sagte sie eilig. »Heute Nacht schaffe ich das hier leicht allein, das siehst du ja.«
»Wenn’s so ruhig bleibt«, erwiderte er zweifelnd. »Wenn Not am Mann ist, mußt du anrufen, Julia. Aber Christian braucht unbedingt jetzt sofort Hilfe, eine Zwillings-Notgeburt schaffte er nicht allein, und die Chirurgen sind alle im Einsatz. Bis später.«
»Bis später – und viel Glück.«
Er war bereits losgerannt und hörte sie nicht mehr.
*
Sabrina schrie und stöhnte vor Schmerzen, und zugleich war sie erfüllt von wahnsinniger Angst um ihre Kinder. Sie lag bereits im OP, Dr. Halberstett stand neben ihr und redete beruhigend auf sie ein, aber sie hörte kaum, was er sagte. Zu stark waren die Schmerzen, zu groß ihre Panik.
Dann hörte sie eine andere Männerstimme, die sie schließlich als die von Dr. Winter erkannte. Der junge Notaufnahme-Chef beugte sich über sie und sagte ruhig: »Frau Schirmbeck? Bitte hören Sie mir zu. Wir werden Ihre Kinder jetzt holen, Herr Dr. Halberstett und ich. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja«, preßte sie hervor, »aber… es ist… doch viel zu früh!«
»Sie werden Siebenmonatskinder bekommen«, erklärte nun Dr. Halberstett, »das ist heutzutage überhaupt nichts Besonderes mehr. Unsere Spazialisten für Frühchen sind bereits hier und warten auf Ihre Babies. Versuchen Sie bitte, sich zu entspannen!«
»Ja«, keuchte sie, »ich versuch’s…«
»Wir werden, wenn möglich, keinen Kaiserschnitt machen«, sagte der Gynäkologe nun, »sondern Ihre Kinder auf natürlichem Wege zur Welt bringen. Darüber haben wir ja schon öfter gesprochen.«
Sie nickte, doch eine neue Wehe verhinderte, daß sie ihm antworten konnte. Sie bäumte sich auf und schrie erneut laut auf vor Schmerzen. Jemand griff nach ihrer Hand, und sie klammerte sich fest daran.
»Pressen, Frau Schirmbeck!« rief Christian Halberstett. »Bitte, pressen Sie, so stark Sie können.« Leise sagte er zu Adrian: »Hilf mir, das erste Kind steckt irgendwie fest.«
Adrian ließ die Hand der Patientin los und trat neben seinen Kollegen, um zu tun, worum dieser ihn gebeten hatte. Während Sabrina weiter schrie vor Schmerzen, schob der erfahrene Gynäkologe mit Hilfe seines Kollegen eine Hand unter eine Schulter des ersten Zwillings und begann ganz vorsichtig zu ziehen.
»Hast du’s?« fragte Adrian leise.
»Ja, ich glaube schon, aber wir müssen uns beeilen, ich habe Angst, daß die Sauerstoffzufuhr beeinträchtig ist«, antwortete Christian Halberstett.
»Der Kopf ist zu sehen«, sagte Adrian. »Gleich ist es geschafft.«
Schweigend und konzentriert arbeiteten sie weiter, während Sabrina glaubte, die Schmerzen keine Sekunde länger ertragen zu können.
»Sie machen das sehr gut, Frau Schirmbeck!«
Sie wußte nicht, ob es Dr.Winter war, der das sagte, oder Dr. Halberstett. Denken konnte sie nicht mehr, nur noch fühlen. Doch alles, was sie fühlte, waren Schmerzen und schreckliche Angst.
*
Stefanie stieg eilig aus dem Auto und rannte in das Haus, in dem Sabrina wohnte. Es war ziemlich früh am Morgen, sie wollte noch schnell ins Krankenhaus fahren, bevor sie ins Hotel ging. Sabrina hatte sie am vergangenen Tag gebeten, ihr noch einige Sachen zu bringen. Außerdem wurde es Zeit, daß sie mal wieder nach dem Briefkasten sah. Der dicke Umschlag mit der fremden Handschrift, den sie darin fand, fiel ihr sofort auf – unter anderem deshalb, weil er ohne Briefmarke war. Offenbar hatte ihn jemand persönlich eingeworfen. Als sie ihn umdrehte, um nach dem Absender zu sehen, stand dort nur: Alexander von Ravensburg.
Sieh mal einer an, dachte sie. Nach all der Zeit meldet sich der Typ endlich. Was er jetzt wohl auf einmal von Sabrina will? Sie wußte von ihrer Freundin, daß diese nichts von ihrer Schwangerschaft nach Rio geschrieben hatte? Nach Rio? Offenbar war dieser Alex ja im Augenblick in Berlin und nicht in Rio. Stefanie hoffte, daß er bei Sabrina keine alten Wunden aufreißen würde. In den letzten Wochen hatte die junge Frau kaum noch vom Vater ihrer Kinder gesprochen, und Stefanie war froh darüber gewesen. Es wurde Zeit, daß Sabrina diese Enttäuschung überwand.
Sie eilte in die Wohnung, suchte die Sachen zusammen, um die Sabrina gebeten hatte, und wollte gerade wieder gehen, als es klingelte. Sie riß die Tür auf und sah sich unvermutet einem ausgesprochen attraktiven Mann gegenüber, den sie im ersten Augenblick nicht erkannte. Dann jedoch fiel ihr ein, daß sie bereits Fotos von ihm gesehen hatte. »Sie!« rief sie, und die Abneigung, die sie gegen ihn verspürte, obwohl sie ihn zum ersten Mal persönlich sah, war ihrer Stimme deutlich anzuhören.
Er starrte sie verwundert an. »Wissen Sie denn, wer ich bin?« fragte er. »Ich suche Sabrina Schirmbeck – sie wohnt doch noch hier?«
»Ja, das tut sie«, antwortete Stefanie, die mittlerweile bebte vor Zorn. »Und natürlich weiß ich, wer Sie sind! Sie sind der Mann, der meine Freundin Sabrina unglücklich gemacht hat, obwohl sie das niemals zugeben würde und Sie immer verteidigt hat.«
Er wollte sie unterbrechen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. Mit blitzenden Augen stand sie vor ihm und schimpfte sich alles von der Seele, was sie schon lange bedrückte. »Sabrina liegt schon seit Monaten im Krankenhaus, weil sie Zwillinge von Ihnen erwartet. Wegen einer drohenden Plazenta-Ablösung darf sie nicht aufstehen! Aber davon haben Sie keine Ahnung, weil Sie es nicht für nötig gehalten haben, sich auch nur ein einziges Mal bei ihr zu melden. Was wollen Sie denn jetzt plötzlich?«
Er war sehr blaß geworden bei ihren Worten. »Sie erwartet Zwillinge von mir?« fragte er tonlos. »Aber wieso hat sie mich denn nicht angerufen?«
»Das hat sie ja versucht!« rief Stefanie aufgebracht. »Haben Sie gedacht, sie versucht es noch einmal, wenn ihr eine Sekretärin erklärt, wie lästig es sei, daß Ihre Freundinnen ständig im Büro anrufen?«
Das also hatte Anja gesagt. So genau hatte Sabrina ihm das nicht geschrieben. Doch das alles spielte jetzt keine Rolle mehr. Und es änderte auch nichts daran, daß er selbst die Initiative hätte ergreifen müssen.
»Fahren Sie jetzt zu ihr?« fragte er.
»Das hatte ich vor«, antwortete Stefanie kampflustig.
»Würden Sie mich mitnehmen?« bat er. »Und würden Sie mir im Auto ein paar Minuten lang zuhören? Ich habe nämlich auch etwas zu sagen. Daß ich Fehler gemacht habe, weiß ich selbst. Aber ganz allein meine Schuld ist es nicht, daß Sabrina und ich nichts voneinander gehört haben. Und eines kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Ich liebe Sabrina, auch wenn Sie offenbar vom Gegenteil überzeugt sind.«
Seine Worte entwaffneten Stefanie. Sie forschte mit durchdringendem Blick in seinem Gesicht, und er wandte seine Augen nicht ab. Schließlich nickte sie. »Gut«, meinte sie kurz entschlossen, »kommen Sie mit. Aber wehe Ihnen, wenn Sie mir nicht eine wirklich gute Entschuldigung für Ihr langes Schweigen zu bieten haben!«
Er nickte nur und folgte ihr zu ihrem Wagen. Erst als sie bereits ein paar hundert Meter gefahren waren, fing er an zu sprechen.
*
»Sie sind ja immer noch hier, Herr Dr. Winter«, sagte Sabrina müde. »Es ist doch schon Morgen – haben Sie denn überhaupt noch Dienst?«
»Nein«, gab er zu, »er ist zu Ende, aber ich wollte nicht nach Hause gehen, ohne Ihnen zu sagen, daß es Ihren beiden kleinen Töchtern den Umständen entsprechend gutgeht. Sie liegen im Brutkasten, meine Kollegen sind recht zufrieden mit ihrem Zustand. Sie selbst sehen allerdings sehr müde aus.«
»Das bin ich auch«, gab sie zu. »Ich habe die beiden nur ganz kurz gesehen, danach habe ich etwas geschlafen, aber jetzt bin ich unruhig. Immer denke ich, daß ihnen vielleicht doch noch etwas passiert. Wo bin ich hier eigentlich?«
»Auf der Wöchnerinnen-Station, Dr. Halberstett wollte Sie unter Kontrolle haben. Wir hatten große Sorgen um Sie wegen der Geburt, weil es ja doch sehr lange gedauert hat, bis die Mädchen endlich beide da waren.«
»Eine Ewigkeit«, sagte sie. »Ich dachte, es nimmt überhaupt kein Ende.«
»Das erste Kind lag ein bißchen schief, deshalb hatten wir Probleme«, erklärte Adrian. »Aber es ist ja alles gutgegangen, Frau Schirmbeck. Ich glaube nicht, daß Sie sich jetzt noch große Sorgen machen müssen. Wenn ich Dr. Halberstett richtig verstanden habe, dann müssen die beiden nicht einmal lange im Brutkasten liegen. Er sagte mir, sie machen einen erstaunlich kräftigen Eindruck. Wir haben hier schon viel kleinere Kinder auf die Welt gebracht, glauben Sie mir.«
Sie nickte. Als er sah, daß ihr die Augen schon wieder zufielen, verabschiedete er sich von ihr. Kurz darauf verließ er die Klinik. Er war schon auf der Straße, als er auf der anderen Seite Stefanie Wagner aus einem Auto steigen sah. Sie schien es sehr eilig zu haben, trotzdem wollte er schon ihren Namen rufen, da bemerkte er, daß sie nicht allein war. Ein auffallend attraktiver blonder Mann stieg auf der Beifahrerseite aus. Gleich darauf liefen beide gemeinsam auf die Klinik zu.
Adrian verspürte einen heftigen Stich der Eifersucht, was natürlich völlig unsinnig war. Erstens wußte er nicht einmal, ob der Mann etwas mit Stefanie Wagner zu tun habe. Zweitens ging es ihn nichts an, denn er konnte – leider! – keinerlei Ansprüche an sie stellen. Und schließlich drittens wußte er ja, daß sie einen Freund hatte, einen dunkelhaarigen allerdings. Mit dem hatte er sie vor langer Zeit einmal zusammen gesehen.
Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Was hatte er nur für unsinnige Gedanken? Warum überwand er sich nicht endlich und stellte Stefanie Wagner die eine Frage, auf die er wirklich brennend gern eine Antwort gehabt hätte? Diese Frage lautete: »Sind Sie gebunden, Frau Wagner?«
Wenn Sie es nämlich nicht sein sollte…
*
»Schwester?« fragte Stefanie alarmiert. »Wo ist denn Frau Schirmbeck? Gestern lag sie noch hier, und sie darf doch überhaupt nicht aufstehen!«
Die Schwester machte ein erstauntes Gesicht. »Sie hat doch heute Nacht ihre Zwillinge bekommen! Die Wehen haben plötzlich so stark eingesetzt, daß Dr. Halberstett die Kinder holen mußte…«
»Ist alles gutgegangen?« Es war Alexander, der diese Frage hastig hervorstieß.
»Es war eine sehr schwere Geburt, aber beide Kinder leben. Und Frau Schirmbeck ist oben bei den Wöchnerinnen.«
Sie erklärte Stefanie und Alexander den Weg, und die beiden rannten los. Als sie das Zimmer erreicht hatte, in dem Sabrina lag, blieb Stefanie stehen. »Na, los!« sagte sie. »Nun gehen Sie schon. Ich warte hier.«
»Danke«, sagte er.
Dann klopfte er leise an und öffnete die Tür.
Sabrina hatte die Augen geschlossen. Er schlich auf Zehenspitzen zu ihrem Bett. Die vergangene Nacht hatte Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen, sie sah blaß und erschöpft aus. Er ließ sich auf den Stuhl neben ihrem Bett sinken und griff nach ihrer Hand.
»Steffi?« murmelte Sabrina schläfrig, ohne die Augen zu öffnen. »Tut mir leid, ich konnte dich nicht mehr anrufen gestern – das ging auf einmal alles so schnell.«
»Hallo, Sabrina«, sagte Alexander leise, und mit einem Ruck fuhr ihr Kopf nach oben, und sie öffnete die Augen.
»Alex!« sagte sie fassungslos. »Wo kommst du auf einmal her? Und woher weißt du, daß ich hier bin?«
»Das ist eine sehr lange Geschichte«, antwortete er und streichelte ihre Hand. »Ich erzähle sie dir irgendwann, wenn du nicht mehr ganz so müde bist. Nur eines mußt du unbedingt jetzt sofort wissen: Ich liebe dich, und ich will nicht, daß wir uns noch einmal trennen.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Oh, Alex«, flüsterte sie, »ich liebe dich auch. Ich hab’ immer gewußt, daß du mich nicht vergessen hast, obwohl es schwer war, daran zu glauben, als überhaupt kein Lebenszeichen von dir kam.«
»Verzeih mir«, sagte er. »Es hat ziemlich viele unglaubliche Zufälle gegeben. Und natürlich habe ich auch ein bißchen Schuld an allem.«
»Ich auch«, sagte sie zärtlich. »Ich hätte einfach noch einmal anrufen sollen.« Dann wurde sie ernst. »Wir haben zwei Töchter, Alex, weißt du das schon?«
Er nickte. »Ja, deine Freundin Stefanie hat es mir erzählt, und sie hat mir ordendlich den Kopf gewaschen.« Er beugte sich zu ihr. »Darf ich dir einen Kuß geben – oder bist du zu erschöpft?«
Sabrina lachte leise. Es war ein glückliches Lachen. »So erschöpft kann ich gar nicht sein, daß mich ein Kuß von dir zu sehr anstrengen würde.« Sie umschlag ihn mit beiden Armen. »Ich bin so froh, daß du da bist, Alex. Jetzt bin ich nicht mehr so allein mit meiner Angst um die Kinder.«
Er küßte sie voller Liebe, dann sagte er: »Aber ich hörte, den Mädchen geht es soweit gut…«
»Ja, sicher, aber Komplikationen kann es immer noch geben. Du darfst nicht vergessen, daß sie zwei Monate zu früh auf die Welt gekommen sind.«
Er stand auf. »Ich würde sie gern sehen«, erklärte er. »Und außerdem wartet deine Freundin vor der Tür.«
»Aber bleib nicht so lange weg!« bat sie.
Er schüttelte den Kopf. »Du kannst dich darauf verlassen, daß ich dich von jetzt an nicht mehr aus den Augen lasse.«
»Aber mußt du denn nicht zurück nach Rio?« fragte sie.
»Doch, das muß ich. Aber vielleicht bist du ja bereit, mit den Kindern nachzukommen?«
»Oh«, sagte sie überrascht. Und dann schenkte sie ihm ein so strahlendes Lächeln, daß er sich erneut über sie beugte, um sie zu küssen. »Ich liebe dich, Sabrina«, sagte er. »Vergiß das nie! Ich war ein ziemlicher Idiot, aber ich verspreche dir…«
Rasch legte sie ihm eine Hand auf den Mund. »Nicht nötig, mir etwas zu versprechen, Alex. Ich liebe dich auch, so einfach ist das!«
Lächelnd verließ er das Zimmer und nickte der wartenden Stefanie wortlos zu. Als er sich ein paar Minuten später über seine winzigen Töchter beugte, war ihm die Kehle eng, und er wußte, daß er diesen Tag sein Leben lang nicht vergessen würde.
*
Einige Monate später siedelte Sabrina mit ihren beiden Töchtern Alexandra und Stefanie nach Rio de Janeiro über, wo Alexander bereits ein Haus gemietet hatte, das groß genug für seine Familie war. Sabrina und er hatten während ihrer neuerlichen Trennung jeden Tag miteinander telefoniert. So war ihnen die Zeit nicht allzu lang geworden.
Niemand freute sich mehr für Alexander als Volker Henstein. »Jetzt bist du endlich auch ein Familienvater!« sagte er öfter zu seinem Freund. »Das wurde auch Zeit!«
Alexander widersprach ihm nicht, er war derselben Meinung.
In der Kurfürsten-Klinik sprach man noch lange über Sabrina Schirmbeck, vor allem in der Gynäkologie, und das hatte seinen guten Grund: Die Stellenstreichung wurde rückgängig gemacht, weil Dr. Halberstett anführte, ohne den Einsatz seines Kollegen Adrian Winter wären Frau Schirmbecks Kinder aller Wahrscheinlichkeit nach nicht lebend auf die Welt gekommen. Adrian bestätigte das, und kurz darauf trat ein neuer Gynäkologe seinen Dienst auf Dr. Halberstetts Station an.
Ungefähr ein halbes Jahr nach der Geburt der Zwillinge bekam Adrian einen Anruf von Stefanie Wagner. »
Haben Sie Zeit, ein Glas Champagner mit zu trinken, Herr Winter?« erkundigte sie sich.
»Immer«, antwortete er. »Was feiern wir denn?«
»Sabrina und Alex haben in Rio geheiratet«, sagte sie. »Können Sie mich im Hotel abholen?«
»Gern.«
»Wann können Sie hier sein?«
»Ich fahre sofort los«, erklärte er, während sein Herz die wildesten Sprünge machte. »Bis gleich, Frau Wanger. Wenn Sie wüßten, wie ich mich freue, Sie zu sehen!«
Sie lachte leise. »Es geht mir umgekehrt ganz genauso, Herr Winter!«