Читать книгу Die Hauptstadt des Sex - Michaela Lindinger - Страница 11
TOTE & TÄNZE
ОглавлениеGegen die »schamlose« Mode und den ihr angeblich folgenden moralischen Verfall wetterten die Sittenwächter vergeblich. Als Grund für den Hedonismus im Mittelalter wird häufig die Pest genannt, die das 14. Jahrhundert dominierte. Der Schwarze Tod hatte Europa mit schier unvorstellbarer Wucht getroffen. Binnen weniger Jahre starben an die 25 Millionen Menschen – knapp ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung. Tiefgreifende soziale und politische Umwälzungen gingen mit den massiven demografischen Veränderungen Hand in Hand. Der verantwortliche Seuchenerreger wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt: das Bakterium Yersinia pestis. Wie genau sich dieses Bakterium über Jahrhunderte auf dem Kontinent halten und immer neue Epidemien auslösen konnte, ist eines der großen Rätsel der Medizingeschichte. Nach heutigem Wissensstand wurde der Krankheitserreger ab Mitte des 14. Jahrhunderts in immer neuen Seuchenzügen aus Mittelasien über Handelsrouten nach Europa eingeschleppt. Es könnten Läuse gewesen sein, in denen eine bestimmte Erregervariante so lange überlebt hat. Nachgewiesen ist diese Theorie allerdings noch nicht.
Im Schatten der sich stetig füllenden Massengräber und der sich im selben Maß leerenden Städte war es mit dem Vertrauen in Gott und Kirche jedenfalls vorbei. Geißlergruppen zogen umher und brachten die Pest bis in entlegene Dörfer. Da die Leute wie die Fliegen starben, schossen die Löhne in die Höhe. Arbeitskräfte wurden rar. Man suchte, das eigene Leben so lang wie möglich zu erhalten, und der Blick der Menschen richtete sich allmählich vom Himmel auf die Erde. Der italienische Dichter Giovanni Boccaccio brachte in seinem freizügigen Werk Il Decamerone die Stimmung der Zeit auf den Punkt: »Im Angesicht solcher Not und solchen Elends brach aller Respekt vor den Gesetzen Gottes und der Menschen (…) zusammen.«
Die Brandreden der Prediger, die die Inhaber verfaulender Leiber zur Rettung ihrer Seele aufriefen, fanden immer weniger Gehör. Viele zogen es vor, ihren Körper zu feiern, solange es noch ging. Das Morgen ist ungewiss – carpe diem! Wer es sich leisten konnte, gab sich dem Überfluss hin. Adelige und reiche Kaufleute trugen aufwendige Garderoben, veranstalteten Gelage und frönten dem Tanzvergnügen. Zum Beispiel an den Wiener Tuchlauben.
In dieser sehr alten Straße befand sich ein mittelalterlicher Tanzsaal, ausgeschmückt mit zahlreichen zweideutigen Bildmotiven. Man entdeckte den Raum erst 1979, als eine Wohnung im Haus mit der heutigen Nummer 19 umgebaut wurde. Was zum Vorschein kam, ist für Wien sensationell und einzigartig: Die Szenerien an den Wänden gehen zurück auf die Lieder des bekanntesten deutschsprachigen Sängers des Mittelalters – Neidhart von Reuental, der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts lebte.
Man kann ihn mit den Popstars von heute vergleichen. Zarte Poesie beherrschte er genauso wie derbe Direktheit. Seine Beliebtheit war enorm, und nach seinem Tod nannten sich viele Epigonen, die seine Dichtungen weiterhin vortrugen, ebenfalls Neidhart. Im 16. Jahrhundert wurde der »Liedermacher« sogar sprichwörtlich. Mit »nithart« bezeichnete man zu dieser Zeit einen Grobian.
Neidhart war schon über 150 Jahre tot, als der reiche Wiener Textilhändler und Ratsherr Michel Menschein seinen repräsentativen Festsaal mit den Neidhart-Motiven schmücken ließ. Zweifellos hat jeder seiner Gäste die farbenprächtigen Geschichten im ersten Stock – der »bel étage« – sogleich erkannt und den Hausherrn zu seinem Reichtum und seinem guten Geschmack beglückwünscht.
In den Bildern geht es um die Fruchtbarkeit. Für unsere Vorfahren war die Beobachtung des Himmels und die damit verbundene Abfolge der Jahreszeiten die Grundlage allen Lebens. Man feierte den Beginn des Frühlings, die Sonnenwenden, das Fest der Toten, das immer mit Licht verbunden war, und die ersten länger werdenden Tage mit großen Umzügen und Tänzen. Die Christen haben die meisten dieser Feiern übernommen: Ostern und Weihnachten weisen mit ihren alten Volksbräuchen wie dem Eiersuchen und dem immergrünen Nadelbaum auf die jahrtausendealten Traditionen hin. Auch die größte Katastrophe ihrer Epoche, die Pest, führten die Gelehrten des Mittelalters auf die Planeten und deren gelegentlich unheilvolle Konstellationen zurück.
Der Tod hatte die Welt beherrscht: Doch nun, Anfang des 15. Jahrhunderts, schien die Gefahr fürs Erste vorbei. In den Neidhart-Fresken, die um 1407 entstanden sind, begegnen wir dem Ablauf der Jahreszeiten. Den Meister, der den Zyklus geschaffen hat, kennen wir nicht. Es dürfte sich um einen in Wien ansässigen prominenten Künstler gehandelt haben, da Hausherr Menschein vermutlich weder einen durchziehenden Wandermaler noch einen Unbekannten ohne besondere Qualifikationen mit diesem Auftrag betraut hätte.
Der Ballsaal maß etwa 15 mal 7,5 Meter und wurde über eine hölzerne Stiege betreten. Man sah eine durchgehende Landschaftskulisse vor dem um 1400 charakteristischen schwarzen Hintergrund, der die bunten Farben umso prägnanter hervortreten ließ. Die verschiedenen Jahreszeiten sind in den Landschaftsdarstellungen festgehalten. Vor allem der Frühling – die wichtigste Jahreszeit, in der das Leben neu beginnt – war dem Maler ein Anliegen. Die Szenen folgen den deftigen Liedern und Schwänken des Neidhart. Dem Ablauf des Jahreskreises sind bestimmte Vergnügungen vermögender Leute wie Schlittenfahrt oder Ballspiel zugeordnet. Frühling und Herbst stehen Sommer und Winter gegenüber, eine Anordnung, die an die Sommer- und Winterlieder in Neidharts Schaffen erinnert. Die Sphäre des Erotischen ließ in diesem Zusammenhang schon Sprachwissenschafter zu Zensoren werden.
Beim Ballspiel sieht man ein sich küssendes Liebespaar. In der Szene davor hat eine Dame ihren Ball einem Herrn zugeworfen. Als Nächstes sieht man eine liegende Frau und einen Mann, der sich über sie beugt. Die linke Hand des recht zudringlich dargestellten Herrn macht eine eindeutige Geste, die sich auf ein Lied des Neidhart bezieht:
Ach, dass ich nun soll
Selber meine Schande rügen!
Ihr, die meiner Augen Wonne, griff er an die
Scham!
Blöder Hund (…).
Der unmissverständliche Griff des Mannes wurde von Neidhart als »bäurisch« und »tölpelhaft« angeprangert. Mit der alten aristokratischen Minne habe dies nichts zu tun, kritisierte der Sänger, was im nächsten Bild noch deutlicher wird. Hier erkennt man den »Spiegelraub«. Ein Spiegel gehörte zu den Besitztümern adeliger Damen und wurde als Zeichen höfischer Freude dargestellt. Damals verstand man dieses typische weibliche Accessoire auch als Symbol der Jungfräulichkeit:
Oberhalb ihres Meien
riß er Friderun den Spiegel weg.
Oder:
Ich habe es gesehen,
wie er ihr den Spiegel weggerissen hat.
Tochter, da: tender, lender, lenderlein!
Für die Jahreszeit Sommer ist also wohl ein Handlungsablauf dargestellt: Das Mädchen zeigt dem Ritter seine Gunst, indem sie ihm einen Ball zuwirft. Es folgen Kuss und Sex.
Im Winter geht es mit einer Schlittenfahrt weiter. Im Schlitten erkennt man drei Figuren mit bedecktem Kopf:
Weiber waren stets noch sicher an dem Kopf,
den riß noch keiner ihnen ab.
Geschah was sonstwo, haben sie’s
auch noch überlebt.
Winterliche Ausfahrten in auf Kufen gezogenen Kästen sind für das mittelalterliche Wien belegt. Somit ist die Darstellung auch eine Selbstrepräsentation des Wiener Stadtpatriziats.
Die damals wie heute populärste Geschichte der Neidhart-Überlieferung ist dem Frühling zugeordnet: der Veilchenschwank. Neidhart hat das erste Veilchen des Frühjahrs gefunden. Er bedeckt es mit seinem Hut, damit er es später wieder finden kann. Er will nämlich einem alten Brauch folgend die Herzogin (!) und ihr Gefolge zur Fundstelle führen, damit die hohe Frau das Veilchen pflücken kann: Als Zeichen für viele Nachkommen und ein langes Leben. Leider hat in der Zwischenzeit einer der wiederholt vorkommenden tölpelhaften Dörfler dem Neidhart einen Streich gespielt:
Neidhart, sollst hier von mir wissen,
dass ich das Veilchen hab beschissen (…)
Die Frühlingslandschaft wird durch die zartgrüne Farbgebung und einige rote Blumen in der Wiese dargestellt. Ein Mann hat seine Arme entsetzt hochgereckt, er ist derjenige, der die fäkalische Untat entdeckt hat. Rechts von ihm sieht man eine größere Fehlstelle: dort muss man sich den Sch…haufen und die empörte Herzogin vorstellen.
Danach bietet sich dem Betrachter die älteste Wiener Tanzund Musikszene überhaupt: Ein erhöht stehender Schalmeienspieler folgt einigen Händchen haltenden Paaren, die einen Rundtanz aufführen. Ein Vortänzer trägt einen Tanzstab, wohl einen blühenden Zweig, der wiederum auf die Fruchtbarkeit der jungen Paare hinweisen soll. Heute ist der Ursprung des Tanzes ein wenig in Vergessenheit geraten, aber die feiernden Gäste des Herrn Menschein verstanden die Botschaft an der Wand ohne weitere Erklärungen.
Der deutsche Schriftsteller Eduard Fuchs fasste die Bedeutung des Tanzes einmal so zusammen: »Der Tanz war und ist niemals etwas anderes als in stilisierte Rhythmik umgesetzte Erotik: Buhlen, Werben, Weigern, Versprechen und Erfüllen.« Bereits die frühen Menschen sahen im Tanz einen starken Ausdruck sexueller Hingabe, nicht nur ein erotisches Vorspiel, sondern eine Art Liebesunterweisung durch pantomimische Darbietungen.
Tugendhaftigkeit, Ehrbarkeit, Schamhaftigkeit – Attribute, wie sie christliche Autoritäten den Frauen des Mittelalters zuzuschreiben gedachten, waren im Ballsaal nicht gefragt. Hier ging es um das sinnliche Ausleben der Sexualität, was offiziell nur den Männern zugestanden wurde und auch diesen nur im Umgang mit Prostituierten. In einer »anständigen« ehelichen Beziehung hatte Erotik nichts zu suchen. Sex diente einzig und allein der notwendigen Zeugung von Nachwuchs.
Mönche verfassten Bußkataloge, die sehr aufschluss- und detailreich über Sexualpraktiken informieren. Oral- und Analverkehr (»wie es die Hunde tun«) waren demnach üblich, ebenso der Coitus interruptus. Allerdings durften alle genannten Praktiken von Christen nicht ausgeübt werden. Bei Verstoß mussten Delinquent und/oder Delinquentin genau vorgeschriebene Bußübungen verrichten (Ernährung nur von Wasser und Brot, hohe Almosenspenden …). Lust und Erotik sollten den christlichen Schäfchen gründlich ausgetrieben werden.
Sowohl in der Ehe als auch beim Tanz war die Frau das Objekt. Der Mann führt, er bewegt sich in den Schritten vorwärts, sie weicht nach hinten aus. Bei manchen Tänzen legt sich der Mann regelrecht auf die Frau, etwa beim Tango. Praktisch jeder Tanz ist ein ritualisiertes Duell um den sexuellen Besitz, in dem der Sieger von vornherein feststeht. Es geht um Werbung und Annäherung, die immer zum körperlichen Besitz der Frau führt. Bis vor nicht allzu langer Zeit gab es Tänze, die man nur mit einer Prostituierten oder ihrem Beinahe-Äquivalent, der Geliebten, tanzte – niemals jedoch mit der angetrauten Ehefrau. Der Tango etwa wurde erst nach 1911 gesellschaftsfähig, nachdem er in Europa angekommen war. In Argentinien tanzten ihn die Männer nur mit einer Frau, mit der sie ganz sicher nicht verheiratet waren.
Unverzichtbar bei einer Tanzveranstaltung war die Musik mit passenden erotischen Texten, die die sexuelle Erregung noch mehr betonen sollten. Auffällige Kleidung mit fantasievollem Schmuck sowie sinnliche Parfums wurden bestimmt auch von den in den Festsaal geladenen Frauen eingesetzt, um die Stimmung zu heben und die Aufmerksamkeit der männlichen Tischgesellschaft auf sich zu ziehen.
Symbol für den Herbst ist ein Festmahl. Ein Mann unter einem Baldachin stemmt einen Krug und einen Bratspieß. Im Lied »Neidharts Gefräß« heißt es:
Des loben wir den Herbst gut
(…)
Durch den kragen
Muß alles faren
Wir wollen achten dass wir nichts sparen
(…)
Last frölich leben
Umb hin geben
Offt aufheben von den Reben (…).
»Wein, Weib und Gesang« zeigen im Fall der »Neidhart-Fresken« ein anderes, gar nicht »finsteres« Wiener Mittelalter. Auf Stillstand, Grausamkeit und Ignoranz lassen sich die 1000 Jahre des Mittelalters zwischen 500 und 1500 nicht reduzieren. Und Keuschheitsgürtel waren im Gegensatz zu einer heute weit verbreiteten Legende damals nicht bekannt.
Die Malereien in den Wiener Tuchlauben sind eine der sehr spärlichen weltlichen Quellen über mittelalterliche Liebe und Sexualität. Die Bilder sind von Männern erdacht und führen deren Wunschbilder und Idealvorstellungen vor. Der Ballsaal des Herrn Menschein war ein Platz hauptsächlich männlicher Zusammenkünfte. Frauen waren wohl nur als Servierpersonal und wahrscheinlich zur (erotischen) Unterhaltung der Gäste zugegen.