Читать книгу Die Hauptstadt des Sex - Michaela Lindinger - Страница 13
DAS »ÄLTESTE GEWERBE DER WELT«
ОглавлениеDer Beruf der Hebamme gehörte in den Jahrhunderten des Mittelalters zu den angesehenen Tätigkeiten. Eine Frau, die als Geburtshelferin arbeitete, verfügte über weitreichende medizinische Kenntnisse und soziale Fähigkeiten. Da Hebammen oft gezwungen waren, auch Nachrichten vom Tod eines Kindes zu überbringen, gerieten sie – gerade, wenn die Zeiten ohnehin schon schlecht waren – in den Verdacht, schädliche Zauber (»maleficii«) vollführen zu können. Schadenszauberer wurden seit jeher verbrannt. Man verstand darunter Menschen, denen die Fähigkeit zugeschrieben wurde, anderen Krankheiten oder Unglück »anzuhexen«. Vom »Hexenschuss« sprechen wir bis heute. Unsere Vorfahren nahmen den Ausdruck noch wörtlich und waren überzeugt, dass ein Dämon oder Geist durch einen Stich oder Hieb den Schmerz in ihren Rücken (!) »geschossen« hätte. Ebenso gefürchtet war die krank machende Wirkung des »bösen Blicks«. Auf diese Weise erklärten sich die Leute vor allem Leiden, die plötzlich auftraten und deren Ursache ihnen verborgen blieb. Umgekehrt galt, dass man unsichtbare Wesen, egal ob gut oder böse, durch Magie und Zeremonien dazu bewegen konnte, Krankheiten wieder fortzunehmen. Magische Praktiken gaben den Menschen das Gefühl, Herren der Lage, also handlungsfähig zu sein. Die Götter beziehungsweise die Mächte der Natur sollten durch bestimmte Handlungen oder Formeln zu einer gewünschten Reaktion sozusagen gezwungen werden.
Im Gegensatz dazu stand die christliche Religion: Die Gläubigen sollten Gott um etwas bitten. Zwingen konnte man ihn aber nicht. Obwohl die Ausbreitung des Christentums voranschritt, bestimmte den Alltag der Leute weiterhin die Natur in Form des Ablaufs von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Was sollte schlecht daran sein, den überlieferten Kräften Respekt zu erweisen?
Durchschnittlich wurde der Mensch des Mittelalters 30 bis 35 Jahre alt. Frauen starben aufgrund der Risiken von Schwangerschaft und Geburt noch früher. Ein 45-Jähriger war ein seltener Anblick und galt als Ehrfurcht gebietender Greis. Segenssprüche, Beschwörungen und Flüche gehörten zum täglichen Leben, konnten jedoch gefährlich werden. Ein achtlos ausgestoßenes Wort wurde rasch als Anrufung eines Dämons interpretiert. Dies galt als Teufelsanbetung und damit als Apostasie – als Absage an den einzig wahren christlichen Gott.
Althergebrachte Traditionen wie das Tragen oder Auflegen von Talismanen und Amuletten wurden mit medizinischem Wissen gemeinsam angewandt. Die Grenzen zwischen Gebeten und Zauberformeln, zwischen Naturgeistern und den neu eingeführten Heiligen waren fließend. Gegen Wetterkapriolen setzten die einen Schreien, Rasseln und Hornblasen ein, schossen mit Steinen und Pfeilen gegen die Wolken. Andere praktizierten das christliche Wetterläuten und schossen geweihte Hostien gen Himmel. Die meisten versuchten alles zusammen. Weltliche und geistliche Obrigkeit lehnten die »Volksmedizin« wegen ihrer »heidnischen« Ursprünge ab. Solange magische Praktiken noch als unverbesserliche Verirrungen einfacher Leute belächelt wurden, konnten sie weiter ausgeübt werden. Am Ende des Mittelalters allerdings setzte die Definition »heidnischen Zaubers« als diabolischer Kult ein. Doch erst die Verfolgungen der Neuzeit machten den Massenmord an »Hexen und Zauberern« möglich.
Diesen hatte man am Beispiel der Ausrottung von »Häretikern« wie Katharern und Waldensern im 14. Jahrhundert eingeübt. Der Glaube der Katharer fußte auf einem dualistischen Weltbild, in dem der Teufel als Schöpfergott auftrat. Lichtbringer Luzifer, der gefallene Engel, war in der katharischen Theologie von großer Bedeutung. Nächtliche Zusammenkünfte hielten beide »Häretiker«gruppen, Katharer wie Waldenser, ab. Die Waldenser empfingen ihre Wanderprediger häufig mitten in der Nacht. Besonders gefährlich wurde die Situation, wenn ein sterbender Katharer mit dem »Consolamentum« versehen werden sollte, ein Vorgang, der ihm den direkten Eingang in den Himmel ermöglichen sollte. Ein »Consolamentum« konnte nur ein Perfekter erteilen, also ein hochgestellter katharischer Geistlicher, der im Trauerfall mitten in der Nacht gesucht werden musste. Untertags konnte sich ein Perfekter nicht öffentlich blicken lassen. Die »Parfaits«, wie sie genannt wurden, führten ein Vagabundenleben. Sie übernachteten bei Gläubigen, die in Privathäusern den Predigten beiwohnten. Gut möglich, dass Uneingeweihte gelegentlich Begegnungen mitbekamen, von denen sie nichts wissen sollten. So kamen Bilder von nächtlichen Orgien und »Unzucht« in Umlauf, die viel über die Vorstellungswelt des Mittelalters verraten, aber mit der Lebensrealität der Katharer oder anderer »Häretiker« nichts gemein hatten. Für die Verfolgung und Ermordung der Waldenser und Katharer war die Inquisition zuständig. Als die »Ketzer« tot waren, suchte man sich ein neues Betätigungsfeld. Wie die Hexenprozesse zeigen, fand im Lauf des 14. Jahrhunderts eine Weiterentwicklung der »Ketzerverfolgung« statt: die Verbindung von Häresie und Magie.
Der berüchtigte Malleus Maleficarum (1487) des Dominikaners Heinrich Kramer war einer der ersten Bestseller der Geschichte. Johannes Gutenberg hatte gerade erst den Buchdruck erfunden und damit eine Medienrevolution sondergleichen ausgelöst. Flugblätter und Bücher erreichten nun in Windeseile ihre Adressaten. Die Ausbreitung der Hexenidee wäre ohne die neuen beweglichen Lettern überhaupt nicht möglich gewesen.
Der Malleus griff eine, vorwiegend weiblich besetzte, Berufsgruppe gezielt heraus: die Hebammen. Ihre rechtliche und ökonomische Stellung hatte sich innerhalb der spätmittelalterlichen Gesellschaft voller Neid, Konkurrenzkampf und Überlebensangst verschlechtert und machte sie zu perfekten Opfern. Selbst bei Heilkundigen, die früher unter dem Schutz der Gesellschaft gestanden und Privilegien genossen hatten, konnte sich das Blatt rasch wenden. Dann drohten Ausgrenzung, Stigmatisierung und Verfolgung: »Die Hebammen-Hexen übertreffen die anderen Hexen mit ihren Verbrechen! Niemand fügt dem katholischen Glauben mehr Schaden zu!« – so steht es im Malleus. Kurz nach der Geburt würden die »weisen Frauen« die Babys dem Teufel übergeben, hetzte der Inquisitor Kramer. Nach dem Feuertod einer Hebamme habe man in einem Topf aus ihrem Besitz »eine Vielzahl von Kinderköpfen« vorgefunden. Doch sogar die Inquisition fand für die Hebammen Verwendung: Sie mussten bei angeklagten Frauen deren Jungfräulichkeit überprüfen. Johanna von Orléans, die französische Nationalheilige, wurde von so einer »geeigneten Frau« – wie es hieß – untersucht. Und dann bekanntlich verbrannt. Mit ihrer Verbrennung sollten Häretiker, Zauberer und viele andere durch eine irdische Variante des Fegefeuers gehen. Jegliche Erinnerung an sie sollte ausgelöscht werden.