Читать книгу Die Hauptstadt des Sex - Michaela Lindinger - Страница 15
»FRAU UND FREI«
ОглавлениеBeruflich selbstständige Frauen des Mittelalters suchten sich die in ihrem Leben oft hart erkämpfte Autonomie zu bewahren, eine Autonomie, die sie mit den sogenannten »freien Frauen« oder »freien Töchtern« teilten. Die euphemistisch so bezeichneten Frauen standen jedoch am unteren Rand der mittelalterlichen Gesellschaft und waren nicht wirklich »frei«. Sie arbeiteten als Prostituierte, gingen der Sexarbeit nach. »Frei« waren sie in dem Sinn, als sie in bestimmten privaten Bordellen tätig waren und sich somit ihre Freier bis zu einem gewissen Grad selbst aussuchen konnten. Verheiratet waren sie im Allgemeinen nicht, somit also »frei« von der Herrschaft eines Vaters oder Ehemannes. Manche Sexarbeiterinnen empfanden ihr Leben wohl tatsächlich als »frei«, auch wenn es nicht als selbstbestimmt angesehen werden konnte.
Eine der berühmtesten Kurtisanen des Second Empire, die Engländerin Cora Pearl, schrieb in ihren Memoiren, sie habe niemanden enttäuscht, denn sie habe nie jemandem gehört. Selbst im Alter, als ihre große Zeit längst vorüber war und sie ein relativ einfaches Dasein führte, bezeichnete sie ihre Freiheit und Unabhängigkeit als ihr tägliches Lebenselixier. Doch auch auf ihr lasteten ökonomische Zwänge, die sie den zahlenden Männern in die Arme trieben.
»Huer« war im Mittelalter bereits als Schimpfwort bekannt, wie das Verbot des Wortes »Hurensohn« im Jahr 1192 zeigt.
Mittellose Frauen wurden mit gewerbsmäßigen Sexarbeiterinnen häufig auf eine Stufe gestellt. Sex ohne Ehe kam in den Unterschichten dauernd vor, denn für Personen ohne Vermögen und Besitz war eine Heirat nicht möglich. Junge Paare lebten zusammen, Mädchen suchten sich Beschützer. Die von Kirche und Klerus eingeforderte Keuschheit stand in grellem Widerspruch zur Wirklichkeit. Bordelle und Badestuben boomten im Mittelalter.
Professionelle Sexarbeiterinnen erkannte man in Wien im Allgemeinen an einem auffällig gelben Kleidungsstück, etwa einem Tüchlein an der Schulter. In der Nähe von Kirchen durften sich diese Frauen nicht aufhalten, in der Fastenzeit warf man sie gelegentlich zu den Stadttoren hinaus. Dies war einer der Gründe, dass viele »Frauenhäuser«, wie die Bordelle früher hießen, in der Vorstadt angesiedelt waren. Immer wieder kam es vor, dass »herumstehende« Frauen oder Wirtshausprostituierte zusammengetrieben und in ein Bordell abgeschoben wurden. Wer sich weigerte, wurde sogleich »abgeschafft«, wie es hieß, also aus der Stadt vertrieben. Im Bordell konnte die Stadt die Sexarbeiterinnen besser kontrollieren und überdies Steuern einnehmen. Verantwortlich für die Vorgänge in einem solchen Haus war der »Frauenwirt« (es soll auch Frauen in diesem als unehrenhaft angesehenen »Amt« gegeben haben), der das Gebäude an Sonn- und Feiertagen sowie in der Fastenzeit zu schließen hatte. Die Abgaben waren rechtzeitig an die Stadtkasse abzuführen, am Gewinn war der Bordellbesitzer beteiligt. Jeden hineinlassen durfte er allerdings nicht: Knaben, Juden, Geistliche und Ehemänner (!) waren ausgeschlossen. Wurden sie erwischt, kassierte die Kommune das Bußgeld.
Dass »Hübschlerinnen«, also professionelle Sexarbeiterinnen, zu aufwendigen Festivitäten wie etwa den Veranstaltungen des erwähnten Herrn Menschein in den Wiener Tuchlauben geladen wurden, gehörte zum guten Ton. Ritterturniere lobten als Siegespreis häufig eine Liebesnacht mit einer besonders schönen und kundigen Prostituierten aus. Auch auf Hochzeiten waren »Professionelle« häufig anzutreffen, nicht zuletzt, um der Braut nützliche Ratschläge für die Hochzeitsnacht zu erteilen. Der Ausdruck »Fensterschwalben« geht auf jene Prostituierten zurück, die ihre Reize in den engen Gassen mittelalterlicher Städte wie in Auslagen vorführten.
Viele Wiener Sexarbeiterinnen bevölkerten die bis heute unter dem Namen Stubenviertel bekannte Gegend im 1. Bezirk. In die Heimat zurückkehrende Kreuzfahrer hatten nämlich im »Orient« eine neue Sitte kennengelernt: das wohltuend warme, angenehm duftende Bad. In den Häusern der Wiener gab es kein Wasser, aber die öffentlichen Badestuben lockten mit Speisen und Getränken, Spielleuten und ruhigen Alkoven das männliche Publikum. »Offiziell« gehörte nur das Abschrubben, Haarewaschen und Rasieren zu den Aufgaben der Bademägde. In vornehmen Badehäusern soll es aber Usus gewesen sein, dass im herrlich riechenden Wasser schon eine Dame auf den Badegast wartete. Auch waren die Inhaber der Badestuben bereit, die gewünschte Badegesellschaft zu organisieren. Das angenehme Wiener Leben könne einen schon zugrunde richten, so eine Quelle aus der Zeit der Zwei- (oder Mehr-)samkeit im Badebottich: es gäbe in der Stadt Wien »schöne Weiber, Leckerbissen und zweimal in der Woche baden!«.
In der isländischen Sprache heißt das Schwimmbad, das noch im kleinsten Ort zu finden ist, bis heute »sundlaug« (gesprochen: sündlög). Auf der recht frostigen Insel gehört die »sündige Lauge« zum Alltag der Bewohner und zu den »Musts« für Touristen.
Eigene Frauenbäder gab es im Mittelalter ebenso beziehungsweise reservierten einige Bäder bestimmte Öffnungszeiten nur für Frauen. Darstellungen zeigen Damen mit aufwendigen Kopfputzen – andere Badekleidung war nicht gestattet. Die Kopfbedeckung zeigte als Distinktionsmerkmal den sozialen Stand der Trägerin an und wurde daher nicht abgenommen. Welche Besitzerin von Chanel-Badeanzügen ginge schon ins FKK-Bad …
Am meisten zu tun hatten Sexarbeiterinnen jeglicher Art bei Staatsbesuchen oder anderen großen politischen Ereignissen wie etwa einem Reichstag oder Konzil. Das fremde Hofgesinde, die Begleitung der hohen Geistlichkeit, die vielen Köche, Schreiber, Soldaten und Söldner wollten unterhalten sein. Es war der dringende Wunsch der gastgebenden Stadt, dass sich die Gäste auf Kosten des Gastgebers so gut als möglich amüsierten, auch und gerade mit den Sexarbeiterinnen. Als bekränzte »Ehrenjungfrauen« gingen sie den Gästen oder dem Herzog bei der Ankunft entgegen, wurden fürstlich bezahlt und bewirtet. Protokolle und Stadtrechnungen aus der Zeit von König Albrecht II. und seinem Sohn Ladislaus Postumus (15. Jahrhundert) geben darüber detailreich Auskunft. Eine »Konferenzstadt« musste schließlich auf ihren Ruf bedacht sein. Berichteten die Kongressteilnehmer wohlwollend über die ausgezeichnete Befriedigung ihrer Bedürfnisse, kam dies auch dem König zu Ohren und konnte somit für den Austragungsort positive Auswirkungen nach sich ziehen.
Die Trivialromane von Iny Lorentz, die in Wirklichkeit von einem Ehepaar verfasst werden, haben keinen herausragenden Ruf, beschreiben aber die mittelalterliche Lebensrealität und gerade die von Frauen durchaus auf der Höhe des heutigen Forschungsstandes. Im Mittelalter gab es eine Kultur des Herumziehens. Ob Bettler, Gauner, Sexarbeiterinnen – die Menschen zogen in großen Gruppen oder in Sippen herum, auf der Suche nach einem besseren Leben. Frauen waren genauso aktiv wie Männer. Sie waren aufeinander angewiesen, und Frauen waren den Männern wohl auch nicht immer unterlegen. Die Erlebnisse der »Wanderhure« Marie Schärerin auf dem Konzil von Konstanz (1414 bis 1418) beruhen auf zeitgenössischen Wahrnehmungen des Dichters und Politikers Oswald von Wolkenstein, der sinngemäß schrieb: »Als wir in die Stadt hineinritten, gab es drei Hurenhäuser. Als wir sie verließen, gab es nur noch eines, das reichte vom Rathaus bis zu den Stadtmauern.« Jahrhunderte später beobachteten Journalisten bei der Pariser Weltausstellung von 1867 mit ihren Millionen von Besuchern dasselbe Phänomen: Es habe einen enormen Ansturm von Sexarbeiterinnen »aus allen vier Himmelsrichtungen« gegeben. Zusätzlich noch seien viele Frauen gekommen, um genau diesen Beruf zu ergreifen und von den vielen allein reisenden Männern in der Stadt zu profitieren.
Elf Jahre später, 1878, wird in Wien ein österreichischer Salonmaler den Einzug Karls V. in Antwerpen, der 1520 stattfand, als perfekt kalkuliertes Skandalbild präsentieren. Die nackten »Jungfrauen« im Vordergrund zeigen die Züge allgemein bekannter Damen der feinen Wiener Gesellschaft. Der Künstler war mit einem Schlag berühmt. Er wird uns später wieder begegnen.