Читать книгу Sonderlinge, Außenseiter, Femmes Fatales - Michaela Lindinger - Страница 10
Die Favoritin
ОглавлениеObwohl eine Zeitlang schlichte, unauffällige Kleidung für Volkssänger und Volkssängerinnen vorgeschrieben war, um sie von den Schauspielern an den Theatern, die in Kostümen auftraten, unterscheiden zu können, hielt sich eine nicht daran. Die Unterhaltungsprogramme durften nicht länger als bis 23 Uhr dauern. Dies war Emilie Turecek egal, denn um diese Zeit ging es für sie erst richtig los. Als Frau war es ihr nicht gestattet, in langen oder gar kurzen Hosen aufzutreten. Sie besorgte sich sogar eine polizeiliche Bewilligung für ein enganliegendes Reitkostüm. Die Gerte in der Hand, gestiefelt und gespornt, enterte sie die »Brettln« von Wien. Ihre Namen: unehelich geboren als Emilie Turecek, nach der Hochzeit ihrer Mutter Anna Turecek mit dem Vater Michael Pem(m)er: Emilie Pemmer, als verheiratete Frau: Emilie Demel. Bis heute kennt man sie als »Fiaker-Milli«, Sängerin und Kurtisane.
»Milli« war die Abkürzung für Emilie und der »Fiaker« kam von ihrem Ehemann. Er hieß Ludwig Demel, Kutschenunternehmer. Auch nach ihrer Heirat fand keiner der berühmten Fiakerbälle ohne sie statt. Dieses besondere Tanzvergnügen wurde alljährlich am Aschermittwoch abgehalten – Blasphemie – mit der Milli in roten Strumpfbändern und interessanten Dessous. Auch fand kaum ein Wäschermädelball ohne ihren Auftritt statt. In Lerchenfeld sprengte sie bei einem solchen die Quadrille und begann einen freizügigen Cancan in der Mitte des Saales.
Bis heute gibt es ein Parfum des traditionsreichen französischen Hauses Caron mit dem Namen »French Cancan«. Der Cancan kam aus Paris und war der skandalöseste Tanz der Epoche. Er wurde in den Varietés, Kabaretts und Revuetheatern aufgeführt und erfreute sich besonderer Beliebtheit, da die Zuseher bei den typischen hohen Beinwürfen und Spagatsprüngen den Tänzerinnen unter die Röcke schauen konnten. Die Unterhosen für Frauen waren damals zwischen den Beinen offen … Es soll Etablissements gegeben haben, in denen die Cancan-Tänzerinnen unter den Kleidern lediglich Strumpfbänder trugen. Der Tanz wurde polizeilich verboten, was seiner Popularität keinen Abbruch tat, sondern seinen fragwürdigen Ruf eher noch steigerte. Die bürgerliche Gesellschaft verachtete – zumindest nach außen hin – die in den frühen Strip-Lokalen auftretenden Frauen und fand deren Darbietungen »leichtlebig« und »unanständig«, doch gab es in den Zuschauerräumen der »Moulin Rouges« nicht wenige biedere Familienväter mit leuchtenden Augen und Schweißperlen auf der Stirn: »Es ist interessant, welche unglaubliche Wirkung ein nacktes oder auch bestrumpftes Bein einer Cancan-Tänzerin beim männlichen Publikum hervorrufen konnte«, so ein Chronist. In einer zeitgenössischen Beschreibung hieß es: »Sorglosigkeit und Ungeniertheit herrschen hier ununterbrochen.«
In Wien gab es also wieder einen Skandal und somit stand die »Fiaker-Milli« im Rampenlicht. Sie war überall dort anzutreffen, »wo es a Hetz und a Gaudi« (Josef Koller) gab. Fesch und übermütig wie sie war, stellte sie alles auf den Kopf. Die Turecek war die am meisten begehrte, angebetete und bewunderte, von den braven Leuten am meisten geschmähte Frau von Wien. In manchen Darstellungen zu Wiens Volkssängern fehlt ihr Name gänzlich, obwohl sie sich, im Unterschied zu einigen anderen, gern Volkssängerin nannte oder als solche bezeichnen ließ. Hans Hauerstein schreibt in seiner Chronik des Wienerliedes, dass diese Bezeichnung bei ihr »mit Vorsicht zu gebrauchen« sei, da sie »nichts anderes war als die schönste Halbweltsdame von Wien«. Es stimmt, dass »alle Lebemänner und alle Lebegreise« ihr zujubelten. Man ging eben nicht »zum Sperl«, sondern »zur Turecek«. Das »Sperl« (richtig: Sperlbauer) lag im 2. Bezirk in der heutigen, nach diesem Lokal benannten, Sperlgasse. Die dort auftretenden Damen, wenig vornehm als »Sperlfetz’n« tituliert, machten das Etablissement zu einem Treffpunkt der Halbwelt. Es war vor 1850 ein Vergnügungslokal mit Musikunterhaltung gewesen, dem Johann Strauß Vater die Sperl-Polka widmete. Später büßte das Haus zwar an Ansehen ein, der Zuspruch blieb jedoch aufrecht. Das Publikum hatte sich allerdings verändert. Die »bessere Gesellschaft« glänzte durch Abwesenheit, die Lebewelt bezog ihr neues Revier. Emilie Turecek hatte weibliche und männliche Anhänger zuhauf und ganze Kolonnen von Zeugln oder Fiakern standen vor den Etablissements, in denen sie sich die Ehre gab. Wo immer sie abstieg, gab es einen Riesenwirbel, verursacht durch ihr überschäumendes Temperament und ihren blindwütigen und oft mehr als lockeren Anhang: »Da flimmerte es vor den Augen«, schrieb ein Augenzeuge in einem zeitgenössischen Bericht. Sie verfügte über schöne sprechende Beinamen wie »Gipfelpunkt der Verruchtheit« oder »Frau Venus von Wien«. Das Lieblingslied der »Milli«-Gefolgschaft hieß treffsicher Ich bin halt noch so unerfahr’n! und eine Strophe lautet:
Wie i am Maskenball bin g’west,
sagt einer: obs’d zu mir hergehst?
Was i nur will, soll i begehr’n,
Champagner und Fasan verzehr’n.
Er lasst mei Hand gar nimmer aus,
und sagt, er führt mi später z’Haus.
Der Antrag macht mi ganz verleg’n,
(…)
Ich bin halt noch so unerfahr’n.
Als Milli 1874 im Hafen der Ehe landete, berichtete die Wiener Zeitung erstaunt: »Alles im Leben ist vergänglich. Heute heiratet sie, die Königin der lärmenden Feste (…). Sie übernimmt ein gutes Fiakergeschäft. Sehr lobenswert!« Der Redakteur fragte hoffnungsvoll: »Sie legt das Jockeykostüm doch wohl für immer ab?« Davon konnte keine Rede sein. Sie und ihre »wilde Jagd« suchten weiterhin zielsicher zwielichtige Schuppen in den Vorstädten heim, wussten, wie man harmlos erscheinende Tanzveranstaltungen in »nächtliche Orgien« umfunktionierte und »durch zügelloses Treiben eine Ulkstimmung hervorrief«, so die Kritiker. Das Ende war absehbar. Die »viel umworbene Bringerin der Lust« wurde knapp vierzig Jahre alt. »Das wüste Leben rächte sich« in Form einer Leberzirrhose. »Leberentartung« sagte man, als Emilie Demel am 18. Mai 1889 auf dem Dornbacher Friedhof beigesetzt wurde.
Die »Fiaker-Milli« ganz seriös, um 1874
Viel später, 1933, sollte die »Fiaker-Milli« wieder im Rampenlicht stehen, als Opernfigur im letzten gemeinsamen Werk von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Die Oper Arabella geht auf die 1910 erschienene Novelle Lucidor zurück, doch spielt die Geschichte im Wien das Jahres 1860. Es geht darum, die Scheinwelt der Reichen, Schönen und Eingebildeten zu entlarven. Beim Fiakerball tritt Milli gewissermaßen als Ballmaskottchen auf und krönt die Hauptfigur Arabella zur Ballkönigin. Um ihrem Ruf gerecht zu werden, flirtet sie anschließend hemmungslos mit dem Angebeteten von Arabella. Am Ende löst sich alles in Wohlgefallen auf.