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Flucht vor der Vernunft?
ОглавлениеAlles, was Erzsi im Lauf ihrer okkulten Sitzungen sah oder erlebte, suchte sie mithilfe der Vernunft zu erklären. Sie war eine ausgesprochen moderne Frau und in dieser Hinsicht ganz die Tochter ihres Vaters. Parapsychologie interessierte sie, aber sie wollte den Phänomenen, die sich in ihrer Gegenwart abspielten, präzise auf den Grund gehen und deren Ursachen erforschen. Thomas Mann formulierte es so: Es ginge darum, dass die Vernunft anerkennen soll, was die Vernunft ablehnt. So sah es auch Schrenck-Notzing. Was er hasste, waren Amateure, „Laienpublikum“, wie er es nannte. „Laienhafte Nekromanten“ mochte er genauso wenig, „Gesindestuben-Metaphysik“ oder gar „Köchinnensonntagnachmittagausgehvergnügen“ (Thomas Mann) war rundheraus abzulehnen. Man benötige, so der Parapsychologe, eine klare und strenge Methodik. Versuchsanordnungen mussten wiederholbar sein. Überhaupt half einzig und allein das Experiment, genauso wie in der Physik oder der Chemie. Schrenck-Notzing versicherte, das Okkulte könne anhand naturwissenschaftlicher Vorgehensweisen aufgehellt, wissenschaftlich erfasst und publiziert werden. Man müsse es so lange freilegen, bis es ganz ins Offensichtliche, Erklärbare übergegangen sei.
In den von Schrenck-Notzing vermittelten Sitzungszirkeln in Wien lernte Erzsi Dr. Hans Thirring kennen, der mit dem Münchner Arzt gut bekannt war. Jemanden wie Thirring würde man in Okkultismus-Kreisen nicht auf den ersten Blick vermuten, denn er war theoretischer Physiker und Vorstand des Instituts für Theoretische Physik an der Universität Wien bis 1938. Tatsächlich jedoch existierte im ersten Wiener Gemeindebezirk schon in den 1870er-Jahren ein vegetarisches Restaurant, in dem nicht nur Esoteriker verschiedenster Art verkehrten, sondern auch „Sozialisten, die die Weltrevolution planten“, so der Theosoph und Freud-Berater Friedrich Eckstein in seinen Memoiren. Zu Thirrings Umfeld gehörten demnach Persönlichkeiten wie Albert Einstein und Sigmund Freud, was dazu führte, dass er nach dem „Anschluss“ 1938 „beurlaubt“ wurde. Schon in den 1920er-Jahren, als Thirring mit Erzsi an Sitzungen teilnahm, setzte er sich gegen den rechtsnationalen Terror ein, der sich auf den Universitäten breitmachte. Seine Vorlesungen begannen immer erst, wenn alle jüdischen Studenten, die bei ihm lernen wollten, Platz genommen hatten. Es kam damals nicht selten vor, dass rechte Studenten jüdische Hörer am Betreten der Hörsäle hindern wollten.
Erzsi kannte Thirring als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, und er meinte einmal, als er auf seine „merkwürdigen“ Forschungen im Bereich der Grenzwissenschaften angesprochen wurde: „Wer nicht den Mut hat, sich auslachen zu lassen, ist keine echte Forschernatur!“ Wenn ein paar Professoren von Schwindlern gefoppt würden, sei das kein Unglück, denn es könne ebenso passieren, dass ein bisher unbekanntes Naturphänomen unentdeckt bleibe. Und davor wollte er die Wissenschaft bewahren. Diese Herangehensweise deckte sich mit Erzsis Vorstellungen. Beide begannen in den 1920er-Jahren mit ihren Untersuchungen auf dem Gebiet der Parapsychologie. 1927 wurde Thirring zum (Gründungs-)Präsidenten der „Österreichischen Gesellschaft für Psychische Forschung“ (heute: „Österreichische Gesellschaft für Parapsychologie und Grenzbereiche der Wissenschaften“) gewählt.
Die meisten Experimente, die Schrenck-Notzing, Erzsi, Thirring und ihr Kreis mit verschiedenen Medien durchführten, befassten sich mit die Grenzen des Organismus überschreitenden, teleplastischen Charakteren. Das bedeutet, dass man außerhalb des Körpers des Mediums Formen wie Körperglieder, vor allem Hände, wahrnehmen kann, die biologisch lebendig sind. Die Erscheinung geht im Allgemeinen sehr schnell vorüber. Schrenck-Notzing war der Ansicht, es handle sich um eine „Verstofflichung“ des Geistes, um „fleischgewordene“ Traumbilder, hervorgerufen durch eine zu erforschende psychische Kraft des Mediums. Die sichtbar werdende Materie nennt man „Ektoplasma“: ein dem Körper entbundenes, sich verdichtendes Fluidum.
Wie gesagt ist es aber sehr selten, dass eine ganze Person, also ein „Geist“, sich materialisieren kann. Was Thirring und Erzsi, aber auch Schrenck-Notzing im Lauf des Lebens immer mehr als wissenschaftliches Experiment in einer Art Laborsituation wahrgenommen haben wollten, hatte in den Augen von Skeptikern bestenfalls theatralischen Show-Charakter – es wurde als spektakulärer Spuk bezeichnet, als nichts anderes als die Auftritte des Magnetiseurs Hansen. Schon der Modearzt Franz Anton Mesmer war als Scharlatan verschrien gewesen und zu Freuds Lehrer, dem französischen Nervenarzt Jean-Martin Charcot, waren nicht wenige sensationsgierige Schaulustige gepilgert, um zu sehen, wie er halbnackte „Hysterikerinnen“ in der Salpêtrière in Paris mit Elektroschocks und anderen in den Anfängen der Psychiatrie üblichen „Heilmitteln“ malträtierte.
Doch wie eine überzeugende Erklärung für das Unerklärliche finden? Immer unter der Voraussetzung, dass kein Betrug vorlag und dass es sich um seriöse Forscher handelte, die die Versuche mit den Medien – teilweise im Beisein von halb München, wie im Fall von Schrenck-Notzing – präsentierten? Man konnte sich schon vorkommen wie im Zirkus, mit Szenenapplaus, Anfeuerungsrufen und lähmender Enttäuschung, wenn nichts passierte. Denn es musste damit gerechnet werden, dass die Medien nicht in der entsprechenden Verfassung waren, die Umgebung dem Zweck nicht förderlich war, dass der Versuchsleiter einen Fehler gemacht hatte etc. Parapsychologische Experimente konnten nur von Menschen mit viel Geduld ausgeführt werden. Warten und Langeweile, stundenlanges Starren ins Dunkel, Ermüdung, Versuchsabbruch, Neustart, wieder warten – das gehörte zum Forscheralltag. Schrenck-Notzing war imstande, beinahe unendlich zu repetieren, wenn er grundsätzlich von der „Qualität“ eines Mediums überzeugt war.
Der „Wasservorhang“ im Tempel der Nacht auf Schloss Schönau, um 1800
Blick auf Schloss Schönau, 2019