Читать книгу Sweetland - Michael Crummey - Страница 14
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ОглавлениеBob-Sam Lavallee kam vom Leuchtturm herüber, um sich die Überlebenden aus dem Rettungsboot anzusehen. Sie litten alle an Unterkühlung und waren dehydriert, obwohl keiner von ihnen ernsthaft in Lebensgefahr zu sein schien. Kein festes Essen, sagte Bob-Sam, nur Brühe und Wasser und klaren Tee.
Irgendwas von der Küstenwache?, fragte Sweetland.
Sie werden erst morgen irgendwann ein Schiff rausschicken können, sagte Bob-Sam. Sie wollen wissen, von welchem Schiff diese Burschen kommen.
Da war ein Name am Rettungsboot, sagte er, aber jemand hat ihn abgekratzt.
Die Männer wurden auf die Häuser in der Bucht verteilt, wo sie sich ihrer verdreckten Kleidung entledigen konnten und anschließend gebadet und ins Bett gesteckt.
Zu dem Zeitpunkt war Sweetlands Mutter erst seit neun Monaten tot und er war noch dabei, sich an das Haus ohne sie zu gewöhnen. In den kleinen Räumen hallte es wie in einem Gewölbe. Den Großteil seiner Freizeit verbrachte er mit seiner Schwester und Pilgrim, nahm bei ihnen seine Mahlzeiten ein und schlief manchmal auf der Couch in der Küche, wenn er für den zweiminütigen Weg den Hügel hinauf zu viel getrunken hatte.
Er hatte sich nicht gemeldet, um Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, außerdem hätte ohnehin niemand zugelassen, dass sie in ein Haus ohne Frau gekommen wären, die sich um sie kümmern konnte. An jenem Abend ging er runter zu Pilgrims Haus, um nach ihnen zu sehen und zu hören, welche Gerüchte über das Martyrium der Flüchtlinge die Runde machten. Pilgrim saß in der Küche auf dem Schaukelstuhl neben dem Herd, eine Zigarette brannte in einem Aschenbecher auf dem Tisch.
Wo ist die Dame des Hauses?, fragte Sweetland.
Ist gegangen, um beim Toten in der Kirche zu sitzen.
Sie hat dich mit den beiden oben alleingelassen?
Die schlafen jetzt oben, sagte Pilgrim. Diese Nacht werden sie sich nicht mehr rühren, denke ich mir.
Na ja, unten in der Kirche der wird sich nicht rühren, das kann ich dir garantieren.
Du weißt ja, wie sie ist, Moses. Nimm dir was zu trinken, sagte er. Ich habe eine frische Ladung Shine fertig.
Pilgrim war auf einem Boot zu nichts zu gebrauchen und hatte nie eine richtige Arbeit gemacht, doch beim Brauen war er ein richtiger Fachmann. Verkaufte Flaschen seines Moonshine in den Häusern der Bucht und an die Mannschaft der Fähre. Bei Bingoabenden und Tänzen in der Fisherman’s Hall kümmerte er sich um die Bar, und die Jüngeren machten sich einen Spaß daraus, ihm Einer und Zweier als Zehner oder Zwanziger hinzulegen.
Er war ein » Mängelexemplar «, wie die Frauen es zu nennen pflegten, seine Mutter hatte bereits große Kinder und nahm an, dass sie die Wechseljahre längst überschritten hatte, als sie unerwartet schwanger wurde. Pilgrims Augen waren von Geburt an blind. Sie führte ihn an der Leine, bis er alt genug war, um die Knoten selbst zu lösen. Er wurde zum Schützling der ganzen Gemeinde, zog von Haus zu Haus. Jede sehende Person übernahm es, ihn von den Trockengestellen, den Anlegeplätzen, dem Wasser fernzuhalten. Durch seine Blindheit wirkte selbst die kleinste Errungenschaft wie ein Zaubertrick – eine Scheibe Brot zu buttern, Bibelverse aus dem Gedächtnis wiederzugeben, Kabeljauzungen zu schneiden. Die Frauen klatschten in die Hände und fütterten ihn mit Rosinen und süßem Tee und küssten seinen Kopf, wenn er sein entzückendes neues Kunststück gezeigt hatte. Es gab keinen Platz in der Bucht, wo er nicht wie ein Sohn willkommen war. Pilgrim behandelte Sweetlands Haus als sein eigenes, blieb dort zum Essen und schlief halbe Nächte mit dem Kopf am Fußende zwischen Sweetland und Hollis.
Die einzige Berufung, die man für blinde Kinder kannte, war die Musik, und die Kirchengemeinde sammelte Pennies und Nickel, um Pilgrim eine Violine zu kaufen. Die Kindergeige war aus Presspappe und Lack, mit Plastiksaiten bespannt. Der Pfarrer gab ihm eine Handvoll nutzloser Unterrichtsstunden und Pilgrim verbrachte Stunden auf einem Stuhl am Küchenfenster und sägte seine Annäherungen an » Turkey in the Straw «, » The Lark in the Clear Air «, dazu ein paar lokale Tanzlieder. Er hatte so wenig Begabung für die Musik, dass er nicht einmal merkte, wie schlecht er war. Er machte weiter, bis seine Mutter eines Abends frustriert in Tränen ausbrach und sein Vater das Instrument in den Ofen warf.
Das war aber nicht das Ende seiner musikalischen Karriere. Pilgrim hatte ein erstaunliches Gedächtnis für die alten verschlungenen Balladen über Mord und Schiffbruch und unerfüllte Liebe. Er hatte zwar keine besondere Stimme, wurde aber trotzdem zu Hochzeiten, Leichenschmaus und Weihnachtskonzerten gerufen, um sich seinen unmelodischen, unerbittlichen Weg durch diese oder jene Katastrophe zu bahnen.
Ruthie arbeitete als Hausmeisterin an der Schule und Pilgrim trug mit seiner Behindertenrente zur Haushaltskasse bei, dazu kam, was er beim Verkauf seines Gebräus an der Haustür verdiente. Und so wurstelten sie sich durch, wie alle auf der Insel.
Er und Sweetland saßen mit ihren Gläsern voll Shine und ihren Zigaretten am Tisch und das Gemunkel über die schlafenden Männer in den Betten der Gemeinde machte bereits die Runde. Mongolisch, wie manche sagten. Trinidader. Tibetaner. Sri-Lanker, laut Reverend. Sweetland war schockiert, als er erfuhr, dass die von ihnen gesprochene Sprache Englisch war. Er hatte kein Wort von dem verstanden, was aus ihren Mündern kam.
Wo dachten sie eigentlich, dass sie hinfahren würden, frage ich mich.
Irgendwo in die Staaten, hat man ihnen gesagt, sagte Pilgrim.
Das gelobte Land.
Genau das.
Sie saßen eine Weile schweigend da, bis ein Geräusch über ihnen sie aufschreckte – eine Stimme durch die Decke.
Klingt, als würden sie sich rühren, sagte Sweetland.
Sie konnten hören, dass sich jemand übergab, und Pilgrim erhob sich aus seinem Sitz und ging zur Treppe. Vielleicht kannst du mal Ruthie holen gehen, sagte er.
Sweetland ging zur Tür hinaus und zügig den Pfad hinunter. Allein der Gedanke an die schlafenden Fremden in den Häusern und an den toten Jungen, der in der Kirche lag, hielt ihn davon ab, Ruths Namen zu rufen, während er vorwärts eilte.
Der Haupteingang der Kirche war offen und er musste sich zusammenreißen, als er sie erreichte. Vorne in der Kirche waren Kerzen neben dem Leichnam angezündet, das schwache Licht reichte gerade, um das dunkle Innere ein wenig zu erhellen. Er flüsterte Ruths Namen, als er nach vorn ging, doch sie war nicht da. Er blieb ein ganzes Stück vor dem toten Jungen unter dem Laken beim Altar stehen. Er nahm an, dass sie hinten im Priesterraum war, doch er konnte sich nicht dazu überwinden, am Leichnam vorbei zur Tür zu gehen oder laut genug zu rufen, damit sie ihn hörte. » Ruthie «, sagte er, indem er den Namen zischte.
Er ging wieder zurück, bis nach draußen. Wandte sich zur Seite und ging zum Nebeneingang, den sie zuvor benutzt hatten, um den Leichnam hineinzutragen. Als er sich der Tür näherte, schwang sie auf und der Reverend kam heraus. Sweetland wollte ihn gerade ansprechen, doch etwas im Verhalten des Mannes hielt ihn davon ab. Sein Gang gebeugt, die Augen auf die Füße gerichtet. Eine seltsam überstürzte Stille an dem Mann. Der Reverend verließ den Weg am Fuß der Treppe und schlich durch das hohe Gras zur Rückseite der Kirche.
Sweetland blickte hoch zur Tür. Ruthie war noch drinnen, das wusste er.