Читать книгу Eine Prise Magie (Bd. 1) - Michelle Harrison - Страница 10
Gefangene
ОглавлениеFür einen Moment saß Betty vor Schreck und Verwirrung stocksteif da. Auch Charlie neben ihr rührte sich nicht und klammerte sich an Bettys Arm.
Granny war nicht an Bord gewesen, als das Boot abgelegt hatte, davon war Betty überzeugt – aber jetzt bekam sie Zweifel. Konnte es sein, dass Granny sich verkleidet hatte? Sonst hätte sie doch wohl nicht an Bord kommen können, ohne dass die Mädchen sie bemerkt hätten … aber warum hätte sie dann überhaupt zugelassen, dass die Fähre mit ihnen ablegte? Das ergab doch keinen Sinn.
»Granny?«, flüsterte Betty fassungslos. Sie wollte es noch nicht glauben, doch sie wusste schon, was das bedeutete. Jedes Fünkchen Hoffnung auf zukünftige Freiheiten war erloschen und so unmöglich geworden, wie den wabernden Nebel zu erhaschen. »Wie bist du … wo bist du hergekommen?«
»Das lasst mal meine Sache sein!« Granny starrte mit finsterem Blick auf sie herab. Sie sah beinahe wie eine Verrückte aus mit ihrem wirren grauen Haar, das sich aus dem Knoten gelöst hatte, ihrem schäbigen Mantel, dem Schultertuch und den abgetragenen Gummistiefeln. Und zu all dem hatte Granny noch diese hässliche alte Reisetasche mitgebracht, die sie ständig mit sich herumschleppte, auch wenn kein Mensch wusste, warum. Betty war auf einmal dankbar für den Nebel. Immerhin war er eine Schutzwand gegen neugierige Blicke. Kein Zweifel: Das Einzige, was ihrem Wagemut nun winkte, waren Peinlichkeit und Verwirrung, nicht Abenteuer. Sie brauchte ein neues Motto.
»Steuern Sie dieses Boot zurück!«, befahl Granny. »Wir steigen aus!«
»Das versuche ich ja schon«, blaffte der Fährmann, ohne den Blick von der Kompassrose abzuwenden, über die er sich gebeugt hatte.
Die Blicke der anderen Passagiere huschten über Grannys seltsame Erscheinung oder das, was sie davon erkennen konnten. Sie blinzelten, als versuchten sie herauszufinden, welche Art von Halloween-Kostüm es wohl sein sollte. Betty verzog das Gesicht.
»Beeilung, bitte!«, wiederholte Granny laut. »Dies ist kein Ort für Kinder!«
»Na, Sie ha’m se doch selbst hergebracht!«, sagte der Fährmann unmutig. Dann runzelte er die Stirn. »Obwohl, wenn ich’s mir recht überlege, ich hab Sie gar nich’ an Bord kommen seh’n …«
»Unsinn. Ich war die ganze Zeit hier!«
Aber das kann nicht stimmen!, dachte Betty verwirrt. Sonst hätte Granny sicher schon früher etwas gesagt. Sie unterdrückte ein mürrisches Knurren. Der ganze Aufwand, die ganze Heimlichtuerei – für nichts und wieder nichts! Sie fühlte sich überhaupt nicht mehr wie eine große Abenteurerin. Sie fühlte sich wie ein dummes kleines Mädchen. Und das Schlimmste daran war: Sie war sogar ein winziges bisschen erleichtert, denn vor Grannys Auftauchen hatte sie in all dem Nebel richtig Angst gehabt.
»Aber Granny«, wisperte Charlie. »Du warst nicht hier!«
»Still jetzt!«, sagte Granny ganz und gar nicht leise.
Der Fährmann musterte Granny genauer. »Ich hab die Mädels an Bord gehen seh’n, aber Sie nich’. Sie ha’m nich’ bezahlt!«
»Aber sicher habe ich das.« Grannys ohnehin schon kalter Tonfall kühlte sich noch um ein paar Grad ab. »Oder wollen Sie etwa behaupten, dass ich bekleidet hier rübergeschwommen und wundersamerweise ganz und gar trocken an Bord geklettert bin?« Sie kniff die Augen zusammen. »Und werden Sie mir mal nicht frech, junger Mann. Ich kenne Ihren Vater!«
Das schien dem Fährmann einen größeren Schrecken einzujagen als zuvor der Nebel.
»Jetzt ist er aber dran«, sagte Charlie leise.
»Nein«, blaffte Granny. »Ihr zwei seid dran, wenn wir zu Hause sind. Und diesmal könnt ihr euch auf etwas gefasst machen.«
Betty schluckte. Sie hätte wissen müssen, dass es unmöglich war, Granny auszutricksen – schließlich war es ihr noch nie gelungen. Und jetzt stand ihnen ganz offensichtlich eine besonders unliebsame Überraschung bevor, als wäre Bettys Geburtstag nicht schon genug ruiniert. »Was soll denn das jetzt heißen?«
Granny antwortete nicht. Stattdessen wandte sie sich in einem noch strengeren Tonfall an den Fährmann: »Und nun schlage ich vor, Sie hören auf, herumzureden, und bringen diese frierenden nassen Leute zurück in Sicherheit. Ich schätze, viele von ihnen werden wissen wollen, warum die Fähre überhaupt ablegen durfte, wenn Nebel vorhergesagt war.«
»A-aber es war ja gar kein …«, widersprach der Fährmann.
»Dann müssen Sie aber furchtbar unerfahren sein«, sagte Granny. »Oder zu geldgierig.« Sie wandte demonstrativ den Blick ab.
Der Fährmann hörte auf zu protestieren, warf noch einen Blick auf die Windrose und begann gehorsam zu rudern. Auf der ganzen Fahrt zurück ans Ufer sagte niemand mehr ein Wort, aber Betty konnte spüren, wie die Anspannung in ihrer Großmutter wuchs. Im Augenblick mochte sie still sein, aber sobald sie wieder an Land wären, würde sie zweifellos eine Menge zu sagen haben. Betty allerdings auch. Etwas Merkwürdiges war hier passiert, und weder Grannys Zorn noch ihre Strafen würden Betty davon abhalten, Fragen zu stellen.
Wie war Granny bloß auf dieses Boot gekommen? Sicher, sie hatte schon immer eine unheimliche Gabe dafür gehabt, die Mädchen aufzuspüren. Wenn sie für irgendwelche Besorgungen zu lange brauchten oder beim Pilzesuchen zu tief in den Wald liefen, amüsierten sie sich immer darüber, dass Granny plötzlich auftauchte wie ein Spürhund. Aber dieses Mal fand Betty überhaupt nichts Lustiges daran. Stattdessen beschlich sie ein unbehagliches Gefühl – wie hatte Granny das gemacht?
Als sie anlegten, zitterten Betty und Charlie, und das lag nicht nur an der kalten Luft, die um ihre Beine strich. Der Schrecken, erwischt worden zu sein, steckte ihnen in den Gliedern. Granny hingegen kochte regelrecht vor Wut. Mit schnellen Atemstößen blies sie fast wie ein Drache Nebelwölkchen in die Luft. Sie befahl ihnen zu warten, bis alle anderen von Bord gegangen waren, dann kletterten sie an Land und machten sich auf den Rückweg zum Wildschütz. Betty warf einen Blick zurück zur nebelverhangenen Marsch. Manchmal zog der Nebel den ganzen Weg hinauf an Land und schlängelte sich durch die Straßen. Heute Abend jedoch verharrte er an den Uferrändern und schwebte dort wie ein unheimliches Marschwesen, das sein Versteck bewachte. Als die anderen Passagiere weitergegangen waren, begann Betty zu sprechen.
»Wie hast du das gemacht, Granny? Wie bist du auf dieses Boot gekommen, ohne dass wir dich gesehen haben? Das ist doch nicht möglich.«
»Ich war die ganze Zeit an Bord«, antwortete Granny knapp. »Ihr wart nur so mit eurem kleinen Abenteuer beschäftigt, dass ihr mich nicht gesehen habt.«
Betty musterte Grannys Gesicht und versuchte, irgendetwas daraus abzulesen. Alles, was sie darin erkennen konnte, war Wut, und das hielt sie normalerweise davon ab, zu viele Fragen zu stellen oder Granny zu widersprechen – aber heute Abend war nichts normal. All ihre Hoffnungen und Pläne waren zerschlagen worden. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, wenn sie ihre Gedanken offen aussprach, auch auf die Gefahr hin, mit zusätzlicher Hausarbeit bestraft zu werden. »Das glaube ich dir nicht. Dann hättest du schon früher etwas zu uns gesagt.«
»Ich wollte sehen, ob ihr es tatsächlich wagt«, sagte Granny gereizt, aber ganz ehrlich klang sie immer noch nicht. »Oder ob du zur Vernunft kommen und umkehren würdest.«
»Zur Vernunft kommen?« Betty wurde heiß im Gesicht, als der Zorn in ihr aufstieg – oder vielleicht waren es auch Grannys harsche Worte, die sie trafen.
»Charlie hierher mitzunehmen war dumm und unverantwortlich. Da hätte alles Mögliche passieren können!«
»Genau«, zischte Betty. Sie schob das nagende Gefühl der Scham beiseite. Jetzt, wo sie angefangen hatte, musste sie weiterreden. »Womöglich hätten wir sogar Spaß gehabt.«
Granny ignorierte sie und zog ihr Tuch fester um den Körper. Dann bohrte sie einen Finger zwischen Bettys Schultern und schob sie vor sich her die Gasse entlang. »Ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen, Betty Widdershins. Ich dachte, ich könnte dir vertrauen, aber da habe ich mich wohl getäuscht.«
»Das ist nicht fair!« Bettys Stimme klang jetzt laut durch die Nacht. »Gut, ich hätte das nicht hinter deinem Rücken machen sollen. Komm schon, Granny! Ein klein bisschen Freiheit zu wollen – das ist doch kein Verbrechen, und du weißt, ich würde nie zulassen, dass Charlie etwas zustößt …«
»Das denkst du«, warf Granny ein. »Aber du bist dreizehn Jahre alt! Du weißt nichts von der Welt. Es gibt so vieles da draußen, das euch zustoßen könnte – Dinge, von denen du nichts weißt …«
»Ich werde auch nie darüber Bescheid wissen, wenn du mich nicht lässt.« Betty sprach jetzt ganz ruhig, doch mit so viel Trotz, wie sie es wagte. Grannys grimmige Art reichte normalerweise bereits, um sie von frechen Widerworten abzubringen, und dazu kam das Gefühl, nicht noch eine größere Belastung sein zu wollen als ohnehin schon. Und trotzdem: Genug war genug. Sie wartete auf den üblichen Protest ihrer Großmutter, die üblichen Versprechungen, mit den Mädchen Ausflüge oder Urlaubsreisen zu unternehmen – aber diesmal schwieg Granny. Sie sah jetzt furchtbar müde aus und noch älter als sonst.
Das schlechte Gewissen saß wie ein Kloß in Bettys Hals. Granny war immerhin diejenige gewesen, die sich um Betty und ihre Schwestern gekümmert hatte. Wenn sie nicht da gewesen wäre, um sie aufzunehmen, wären die Mädchen im Waisenhaus gelandet oder, schlimmer noch, getrennt worden und bei Fremden untergebracht. Sie schob den Gedanken beiseite. Dankbar zu sein sollte sie nicht davon abhalten, Antworten zu verlangen. »Du sagst, du kannst mir jetzt nicht mehr vertrauen, aber du hast mir noch nie vertraut – zumindest nicht, wenn es darum ging, sich aus Krähenstein wegzubewegen.«
Granny stampfte über das Kopfsteinpflaster. »Hör auf, Betty. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt oder der richtige Ort.« Sie ging schnellen Schrittes weiter. Mit der einen Hand hielt sie ihr Tuch fest, in der anderen trug sie die Reisetasche.
Betty griff nach Charlies Hand und eilte Granny hinterher, entschlossen, sich nicht so schnell abwimmeln zu lassen. »Wie hast du herausgefunden, wo wir sind?«
»Das Flugblatt«, sagte Granny knapp.
Am Nachmittag war Betty das Flugblatt aus der Manteltasche gefallen, und Fliss hatte es stirnrunzelnd aufgehoben.
»Was ist denn das? Ein Halloween-Jahrmarkt in Marschweiler?«
»Oh«, hatte Betty mit klopfendem Herzen gesagt. »Ich hab gefragt, ob wir da hingehen können, aber Granny hat natürlich Nein gesagt.«
»Natürlich«, hatte Fliss wiederholt und das Flugblatt einen Augenblick zu lang in der Hand gehalten.
»Dann hat Fliss uns also verpfiffen?«, fragte Betty, kochend vor Wut. »Oder hat sie das Flugblatt absichtlich rumliegen lassen, damit du es findest?«
Granny wich der Frage aus. Sie beugte sich kurz hinunter, um einen Strumpf hochzuziehen, und sagte nur: »Es ist ein Glück, dass ihr eure Spuren nicht besser verwischt habt.«
»Ein Glück?« Betty blieb mitten auf der Straße stehen. Als Glück empfand sie es nun wirklich nicht, dass Granny ihr Abenteuer durchkreuzt hatte. Wieso wollte Fliss der täglichen Schinderei nicht ebenso entkommen wie sie, und warum schien es sie nicht mehr zu stören, dass Granny sie ständig kontrollierte?
Granny blieb ebenfalls stehen und schimpfte: »Hört auf zu trödeln!«
»Komm schon, Betty«, bettelte Charlie. »Mir ist kalt!«
Betty ließ die Hand ihrer Schwester los und ballte ihre eigene langsam zur Faust. Das Flugblatt für den Halloween-Jahrmarkt mitzunehmen war leichtsinnig gewesen, und jetzt würde es schwieriger werden als je zuvor, irgendwelche geheimen Ausflüge zu planen, denn Granny würde sie von nun an auf Schritt und Tritt bewachen. Aber Pläne würde sie trotzdem schmieden, und nächstes Mal würde sie keinen Fehler machen. Ach was, nächstes Mal würde sie vielleicht gar nicht mehr zurückkommen.
Schritte klangen durch die Stille, als Granny sie überholte und plötzlich vor ihr stand.
»Hör auf zu schmollen. Und ich will keinen Streit, wenn wir zurückkommen. Fliss hat absolut keine Schuld an dieser Sache.«
»Nein.« Betty lockerte ihre Fäuste. »Du hast Schuld.«
»Wie bitte?«, fragte Granny. Ihre gedämpfte Stimme klang unheimlich, doch Betty ließ nicht locker. All ihr aufgestauter Ärger, all ihre Enttäuschung und die vielen Ermahnungen, immer in der Nähe von zu Hause zu bleiben, die Art, wie Fliss sie in letzter Zeit ausgeschlossen hatte – all das brach aus ihr heraus.
»Früher wollte Fliss auch Abenteuer erleben, so wie ich«, sagte Betty. Sie zog sich die Maske vom Gesicht, und die kalte Luft traf auf ihre Wangen. »Sie hat immer von all den Orten gesprochen, die sie sehen wollte … aber jetzt nicht mehr. Dabei ist sie sechzehn! Sie sollte überall hingehen dürfen. Dass sie aufgegeben hat, ist allein deine Schuld.«
Da wich auf einmal die Wut aus Granny, und sie schien in ihrer Kleidung zusammenzuschrumpfen. »Das ist nicht gerecht.«
»Nein, das ist es nicht.« Tränen brannten in Bettys Augen. »All deine Geschichten und das ständige Was-wäre-wenn haben Fliss entmutigt. Du hast ihr die Abenteuerlust ausgetrieben. Ich werde nicht zulassen, dass mir oder Charlie das auch passiert.«
Granny schüttelte den Kopf, und es sah aus, als würde sie selbst auseinanderfallen wie die Haarsträhnen, die sich aus ihrem Knoten lösten. »So ist es nicht.«
»Dann erklär es mir«, sagte Betty und konnte selbst kaum glauben, welche Worte da aus ihr herausplatzten. »Warum all die gebrochenen Versprechen und Ausreden? Du tust immer so knallhart, aber vielleicht bist du ja diejenige, die Angst hat, Krähenstein zu verlassen!«
Granny wich Bettys Blick aus und sah zu Boden. »Wir waren schon oft woanders. Du warst nur zu klein, um dich zu erinnern.«
»Das glaube ich dir nicht«, sagte Betty. Ihre Stimme wurde fester, als sie sich ihrer Sache sicherer wurde. Jetzt, wo sie richtig darüber nachdachte, war schon immer etwas Merkwürdiges daran gewesen, dass Granny sie nie irgendwo hingehen ließ. Und ihr Griff schien nicht lockerer zu werden, je älter die Mädchen wurden – im Gegenteil. Es fühlte sich einfach alles falsch an. »Ich müsste mich doch an etwas erinnern können, zum Beispiel an besondere Ausflüge. Aber da ist nichts!«
Granny schwieg.
»Betty«, wisperte Charlie. »Bitte hör auf. Ich will nach Hause.«
»Warum?«, fragte Betty verbittert. »Wozu die Eile? Zu Hause sind wir doch schließlich immer!« Sie fuchtelte mit dem Finger in Richtung des Gefängnisses. »Wir sind auch nicht besser dran als die Gefangenen da drinnen.« Wütend ließ sie ihren Blick durch die kleinen, verwinkelten Gassen streifen. »Es mag vielleicht nicht heute Abend passieren, aber ich werde diesem Ort entkommen. Es gibt noch mehr im Leben als Krähenstein.«
»Nein, gibt es nicht«, sagte Granny mit gequältem Blick. »Es gibt keinen Weg aus diesem Ort. Nicht für uns.« Ihre Worte waren wie kleine scharfe Nadelspitzen. Charlie begann zu weinen.
»N-nicht für uns?«, wiederholte Betty. Bestimmt versuchte Granny nur wieder, sie einzuschüchtern. Warum sollten sie Krähenstein nicht verlassen können?
»Bist du sicher, dass du bereit für die Wahrheit bist?«, fragte Granny niedergeschlagen.
Betty erwiderte hilflos ihren starren Blick. Sie war nicht sicher – nicht, nachdem Granny im Grunde zugegeben hatte, dass Betty die ganze Zeit über recht gehabt hatte. Aber sie konnte nicht anders, als zu nicken.
»Also gut.« Granny senkte zustimmend den Kopf. »Ich werde es dir erzählen. Schluss mit den Geheimnissen.« Sie trat schwerfällig näher und legte eine Hand auf Bettys Wange. »Aber ich warne dich: Es ist nichts Gutes.«
Charlie schmiegte sich näher an sie und weinte noch heftiger. Bettys Mund wurde ganz trocken. Hatte das alles irgendwie mit ihrem Vater zu tun? Wollte man sie wegen ihm bestrafen und ihnen deshalb wie den Menschen auf der Insel der Qualen verbieten, fortzugehen? Anders konnte sie es sich nicht erklären.
»Was meinst du? Sag schon!«
»Nicht hier.« Granny ließ ihre Hand sinken. Ihre alten Wangen wabbelten, als sie den Kopf bewegte und sich nervös umsah.
»Es wird nur eine kurze Reise, aber ihr müsst jetzt voll bei der Sache sein. Wir dürfen nicht gesehen werden.«
»Nicht gesehen werden? Granny, ich verstehe nicht …«
»Du musst auch nichts verstehen, halt dich einfach fest.« Granny schob ihren Arm unter Bettys. Die Reisetasche baumelte an ihrem Handgelenk. »Hak dich bei Charlie unter. So ist es richtig – haltet euch schön fest. Was auch immer euch geschieht, lasst nicht los.«
Betty fragte sich, ob ihre Großmutter jetzt endgültig verrückt geworden war. Warum sonst würde sie sich so sonderbar verhalten? »Granny, du machst mir Angst …«
»Nun ja, ich kann nicht anders. Und früher oder später hättet ihr es sowieso herausgefunden.« Granny hielt Bettys Arm noch etwas fester. Ihr vertrauter Geruch nach Tabak und Bier wirkte wärmend in der frostigen Luft. »Seid ihr bereit?«
»Für was?«, fragte Betty verwirrt, als Granny ihre Tasche öffnete.
Ihre Großmutter antwortete nicht. Stattdessen griff sie in die riesige Reisetasche, stülpte sie um und sagte mit klarer Stimme: »Wildschütz!«
Betty spürte einen ungeheuren Ruck in ihrem Inneren, als würde sie aus großer Höhe fallen. In ihren Ohren rauschte es, und ein gewaltiger Stoß eiskalter Luft fegte an ihr vorbei, sodass sie die Augen zukneifen musste und mit den Füßen jeden Halt verlor. Sie hörte, wie Granny nach Luft schnappte und Charlie ein seltsames kleines Stöhnen ausstieß, aber sie hielt sich entschlossen an beiden fest. Dann verlor sie ihr Gleichgewicht, und ihre Füße traten ins Leere.
»Granny!«, jammerte sie und riss die Augen auf, während sie stürzte. Unsanft landete sie auf dem Boden, ihre Großmutter und Charlie noch immer untergehakt. Unter ihrem Po spürte sie harte Pflastersteine, und der pfeifende Wind war von lärmenden Stimmen und Lachen abgelöst worden. Betty sah verblüfft auf und erkannte, dass sie alle drei vor der Eingangstür zum Wildschütz saßen.
»Nicht gerade eine meiner besseren Landungen, das gebe ich zu, aber ich bin auch keine Passagiere gewohnt.« Granny ließ Bettys Arm los und stand auf. »Uff, meine Hüften.« Nachdem sie sich den Staub von der Kleidung geklopft hatte, überprüfte sie ihre Reisetasche und ließ dann mit einem Nicken die Schnalle zuschnappen. »Wir sind zu Hause.«