Читать книгу Eine Prise Magie (Bd. 1) - Michelle Harrison - Страница 16
ОглавлениеKapitel 6
Blutegel-Bastion
Betty lauschte noch eine halbe Stunde, bis sie die Stufen knarren hörte, als Granny und Fliss die Treppe heraufkamen. Es folgten das Geräusch fließenden Wassers, das Klicken der Schlafzimmertüren, die geschlossen wurden, und das Ächzen der Betten, als Granny und Fliss sich hinlegten. Dann Stille.
Betty wartete, bis Grannys grunzendes Schnarchen durch die Wand drang. Dann kroch sie aus dem Bett und fröstelte, als sie die kalte Luft an ihren nackten Füßen spürte. Schnell schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und schlich hinaus auf den Flur. Eine prickelnde Gänsehaut lief ihr über die Arme, als sie an der unheimlichen, feuchten Besenkammer auf dem Flur vorbeikam. Sie war voller Putzsachen und Gerümpel und der Teil des Hauses, den alle drei Mädchen nicht mochten. Ganz besonders Charlie hasste die Besenkammer, nachdem sie sich einmal beim Versteckenspielen darin eingeschlossen hatte. Betty schauderte und ging schnell weiter. Das Schnarchen klang jetzt ganz gleichmäßig und tief. Sie stieß Grannys Tür ein Stück auf und schlüpfte in das dunkle Zimmer.
Der Geruch von Grannys Pfeifenrauch lag in der Luft, vermischt mit dem unverkennbaren Dunst ihres Whiskyatems. Gut, Granny schien außer Gefecht zu sein. Betty erinnerte sich an Grannys Bitte und spürte einen Anflug schlechten Gewissens.
Bitte, Betty … versuch es nicht. Ich könnte das nicht noch mal ertragen … Das würde ich nicht überleben.
Der Gedanke, Granny zu verletzten, war schlimmer als der Gedanke, sie zu verärgern. Aber ich muss es tun, erinnerte sich Betty. Für Granny genauso wie für uns.
Sie ging zum Schrank, öffnete ihn und nahm die alte Keksdose heraus. Dann schlich sie auf Zehenspitzen in die Küche. Sie wollte nicht, dass Charlie aufwachte und Fragen stellte. Falls Granny aufwachte, könnte sie die Dose schnell verstecken und sagen, dass sie sich nur etwas zu trinken holen wollte.
Sie setzte sich an den Tisch und hob vorsichtig den Deckel an. Sie tat an sich nichts Verbotenes, denn alle drei Mädchen hatten diese Dose schon viele Male gesehen. Granny hatte ihnen oft zum Spaß all die Kleinode und die Familienandenken darin gezeigt: die Karten und Zeichnungen der Mädchen, ein paar alte Fotografien und ein Paar Babyschuhe, die sie alle drei getragen hatten. Da war auch ein Bündel Papiere, die Granny immer gleich hatte verschwinden lassen, »damit nichts verloren« ginge, aber heute Abend war dieses Bündel genau das, was Betty suchte. Sie nahm es hervor und breitete die Papiere auf dem Tisch aus.
Als Erstes fand sie einen Stoß Briefe, die ihr Großvater Granny während des Krieges geschickt hatte, allesamt wellig und vergilbt. Die Briefe waren alles, was Granny von ihm geblieben war. Betty legte sie zur Seite. Sie gingen sie nichts an.
Sie überflog die Geburtsurkunden der Mädchen und die Sterbeurkunde ihrer Mutter. Ein flüchtiger Blick bestätigte, was Granny gesagt hatte: Ihre Mutter war ertrunken. Sie schob die Papiere zurück in den Stapel – und erstarrte, als plötzlich ein leises Knarren aus dem Flur zu hören war. Grannys polterndes Schnarchen hatte aufgehört! Verzweifelt raffte Betty die Papiere zusammen, aber der Stoß Briefe geriet ins Wanken und flatterte zu Boden, genau in dem Moment, als jemand die Küche betrat. Das Licht einer Kerze flackerte über ein herzförmiges Gesicht und einen großen Schopf dunkler, glänzender Haare.
»Zum Donner-Raben!«, zischte Betty mit klopfendem Herzen.
»Betty?«, wisperte Fliss und rieb sich die Augen. »Was machst du hier?«
»Ich hab nur nach etwas gesucht … irgendetwas, das uns helfen könnte, mehr über den Fluch herauszufinden«, sagte Betty. »Etwas, das Granny übersehen haben könnte.«
»Aber Betty«, begann Fliss besorgt. »Granny hat doch gesagt –«
»Ich weiß, was sie gesagt hat.« Betty warf ihr einen warnenden Blick zu. »Gucken schadet doch nicht.« Sie raffte noch eine Handvoll Briefe zusammen. »Ich hoffe, die waren nicht irgendwie sortiert.« Sie runzelte die Stirn und hielt einen Briefumschlag ins Licht.
»Was ist?«, flüsterte Fliss.
»Diese Briefe … ich dachte, das wären alles Grannys, aber darunter war noch ein anderer Stapel. Schau.« Sie hielt ihrer Schwester den Briefumschlag vors Gesicht und zeigte auf das vertraute Gekrakel auf der Vorderseite. »Er ist noch verschlossen.«
Fliss griff verblüfft nach einem anderen Briefumschlag. »Aber … Granny hat doch gesagt, Vater hätte aufgehört zu schreiben, weil er sich zu elend fühle und zu sehr schäme. Warum sollte sie uns anlügen? Es sei denn … was, wenn er krank ist? Sterbenskrank?« Sie schob ihren Daumennagel unter das Siegel. »Wir müssen die Briefe öffnen!«
»Nein!« Betty riss ihr den Brief aus der Hand. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, das spürte sie so deutlich wie Fliss. Granny war meistens schonungslos ehrlich, besonders, wenn es um ihre Eltern ging, warum also sollte sie diese Briefe vor ihnen verbergen? Die einzigen Dinge, die sie versteckt hatte, hingen mit dem Fluch zusammen …
»Aber es sind doch unsere!«, beharrte Fliss. »Es ist unser Recht, zu sehen, was in den Briefen steht!«
»Ich weiß«, antwortete Betty. »Doch es muss einen Grund geben, warum Granny sie uns vorenthalten hat. Wir müssen geschickt vorgehen – sie hat bestimmt geplant, uns die Briefe irgendwann zu geben. Sonst hätte Granny sie doch nicht aufgehoben, oder?«
»Aber wann? Schau … der Poststempel ist schon drei Monate alt!«
Betty musterte den Briefumschlag mit zusammengekniffenen Augen und versuchte herauszufinden, was daran anders war. Dann sah sie es. »Da!« Sie drückte ihren Zeigefinger auf das Papier, wo ein leicht verschmiertes Emblem auf den Umschlag gestempelt worden war. »Siehst du das? Ich kann nicht glauben, dass ich das nicht sofort bemerkt habe!«
Fliss nahm den Umschlag genauer in Augenschein. »Warte … das ist ja gar nicht das Wappen des Krähenstein-Gefängnisses! Das sieht anders aus.«
»Na klar sieht das anders aus.« Betty konnte sich genau an das Krähenstein-Emblem erinnern: ein kunstvoller Kupferstich des Gefängnisturms, umkreist von einem Schwarm Krähen. Dieses Wappen hingegen war ihr unbekannt: ein schweres Vorhängeschloss, umschlungen von sich windenden Aalen.
»Er hat also nie aufgehört, uns zu schreiben«, murmelte Betty und schämte sich auf einmal, wie bereitwillig sie den Gedanken akzeptiert hatte, dass ihr Vater den Kontakt abgebrochen hatte. Dass er sie wieder einmal im Stich gelassen hatte. Dabei hatte er das gar nicht. Eine plötzliche Woge der Zuneigung lockerte den Groll in ihrem Inneren. »Er ist in ein anderes Gefängnis außerhalb Krähensteins verlegt worden, und Granny wollte nicht, dass wir das erfahren.«
Fliss entzifferte die winzigen Wörter unter dem Stempel. »Blutegel-Bastion?«
»Klingt nicht gerade nett.« Betty beäugte voller Abscheu das Wappen. Also keine Aale, sondern Blutegel. Sie blätterte durch die anderen Briefumschläge. Auf manchen war der Poststempel deutlicher zu erkennen.
»Nimmermoor …«, las Betty. Das kam ihr bekannt vor. »Warte hier.« Sie verließ die Küche und schlich zurück in ihr Zimmer. Charlie atmete tief, eingerollt unter der Decke wie ein Siebenschläfer. Betty durchwühlte ihre Karten und zog schließlich die hervor, die sie gesucht hatte.
Sie nahm die Karte mit in die Küche und legte sie auf dem Tisch aus. Das wächserne Papier war durch Zeit und Gebrauch schon ganz knitterig, aber die mit Tinte geschriebenen Ortsnamen und winzigen handgezeichneten Details waren so schön wie immer. Es gelang Betty schnell, Nimmermoor fast in der Mitte auf der Karte auszumachen. Der Ort war umgeben von Bergen, Tälern und sonst kaum etwas. Betty spürte einen Kloß in ihrem Hals. Wie weit weg war ihr Vater nur? Ihr Finger glitt das Papier hinunter bis zu vier felsigen Landmassen am unteren Kartenrand: Krähenstein und seine drei Inseln des Jammers in der Nebelmarsch. Rund um die Insel der Klagen krümmte sich ein Halbmond aus tödlichen Felsen, die als Teufelszähne bekannt waren. Und dort, auf der Insel der Sühne, war mit Tinte der Krähensteinturm eingezeichnet worden, der älteste Teil des Gefängnisses.
Betty nickte. »Granny wollte uns beschützen. Sie konnte nicht riskieren, dass wir versuchen würden, Krähenstein zu verlassen, um Vater zu besuchen. Es war einfacher, die Briefe zu verstecken und so zu tun, als wäre er immer noch hier, aber …« Sie brach ab, als ein Gedanke ihr einen Stich versetzte wie eine Distel.
Fliss runzelte die Stirn. »Mir hätte sie es aber erzählen können … ich wusste doch, dass keine von uns Krähenstein verlassen durfte. Und warum sollte man ihn überhaupt verlegt haben?«
»Vielleicht war es einfacher, dass keine von uns Bescheid wusste«, sagte Betty hastig, denn der Stachel des anderen Gedankens saß jetzt schon fest. »Es gibt wahrscheinlich viele Gründe, warum Häftlinge verlegt werden, aber warum hat Granny weiter Gefängnisbesuche gemacht, obwohl Vater gar nicht mehr hier ist? Es sei denn, sie hat nur so getan, als ob …«
Fliss schüttelte den Kopf. »Sie war dort.«
»Warum bist du da so sicher?«
»Weil ich die Wäsche mache«, antwortete Fliss, »und Granny meistens vergisst, ihre Taschen auszuleeren. Warte hier.« Sie ließ Betty allein in der dunklen Küche zurück und verschwand in ihr Zimmer. Kurz darauf kam sie mit einem Blatt Papier zurück, auf dem das Krähenstein-Emblem prangte. »Siehst du? Ein Besuchsschein von letzter Woche.«
»Warum hast du den aufgehoben?«, fragte Betty. »Du konntest doch noch nicht ahnen … oh.« Als sie das Blatt umdrehte, entdeckte sie ein kitschiges Liebesgedicht in Fliss’ schnörkeliger Handschrift, verziert mit gekritzelten Herzen und Blumen. »Igitt!«
»Nicht lesen!«, fauchte Fliss und riss mit hochrotem Gesicht das Papier an sich. »Entscheidend ist: Das hier ist der Beweis, dass Granny tatsächlich in letzter Zeit im Gefängnis war.«
Betty beschlich erneut ein ungutes Gefühl. »Aber wenn sie nicht Vater besucht hat, wen dann?«