Читать книгу Eine Prise Magie (Bd. 1) - Michelle Harrison - Страница 15
Der Fluch der Widdershins
ОглавлениеBetty starrte ihre Großmutter an. Für einen Moment regte sich in der Küche nichts, wie in einer Szene, die ein Maler auf Leinwand gebannt hatte. Grannys Gesicht war eine Maske des Kummers. Fliss’ dunkle Augen starrten auf ihren Schoß. Selbst der Rauch aus Grannys Pfeife wirkte bewegungslos, eine benebelnde Wolke, die über ihnen hing.
Ein furchtbarer Laut drang aus Bettys Kehle, halb Stöhnen, halb Schluchzen. Es kam ihr vor, als wäre kein Sauerstoff mehr im Zimmer, als hätte die Wahrheit die ganze Luft herausgesaugt. So wie all ihre Träume und Hoffnungen aus Betty herausgerissen worden waren. Das war es also, das große Geheimnis. Die Antwort, nach der sie gegraben hatte wie nach etwas, das im Dreck verscharrt war. Sie waren hier in Krähenstein gefangen, für immer.
Die vernünftige Seite in ihr wollte lachen, herausplatzen, wie lächerlich die Vorstellung eines Fluchs doch war. Nur fühlte Betty sich im Moment überhaupt nicht vernünftig, nach allem, was gerade passiert war. Wenn sie sich Grannys Ausreden in all den Jahren und ihre Angewohnheit, plötzlich aus dem Nichts irgendwo aufzutauchen, vor Augen führte, dann erschien dieser Fluch erschreckend möglich.
Sie würde niemals hier wegkommen. Niemals davonsegeln und Betty, die Kühne, sein, Betty, die Abenteurerin. Sie war nur ein weiteres Widdershins-Mädchen, verdammt zu einem Sklavenleben in endloser grauer Eintönigkeit. Sie saßen alle genauso fest wie Vaters ramponiertes Boot, das im Hafen vor sich hin rottete: auf den Wellen dümpelnd, doch ohne Aussicht, jemals in See zu stechen.
Sie blinzelte, als Grannys Pfeifenrauch ihre Augen tränen ließ. Neben ihr begann Charlie leise zu weinen. Doch Betty war zu benommen, um sie zu trösten.
»Verflucht …?«, fragte Betty tonlos. »Wie? Warum?«
»Dieselben Fragen habe ich mir auch gestellt, als ich zum ersten Mal davon erfahren habe.« Granny zog an ihrer Pfeife. Ihre Augen waren ganz glasig. »Ich dachte, es wäre nur eine Geschichte, die neugierige Mädchen daran hindern sollte, zu weit umherzustreunen. Aber selbst ich musste zugeben, dass der Tod von acht Widdershins-Mädchen im Laufe der letzten hundertfünfzig Jahre kein Zufall sein konnte. Seltsame, unerklärliche Todesfälle von gesunden Mädchen und Frauen.«
»Wann hast du denn davon erfahren?«, fragte Betty schaudernd. »War das auch an deinem Hochzeitstag?«
»Nein.« Granny lächelte matt. »Davor. Euer Großvater hat mich schon lange vorher gewarnt, als wir noch frisch verliebt waren. Er hat mir reichlich Chancen gegeben, es mir noch einmal anders zu überlegen.«
Betty starrte sie mit offenem Mund an. »Und du hast trotzdem keinen Rückzieher gemacht?«
Granny zuckte die Achseln. »Die Menschen bringen alle möglichen Opfer für …«
»Für die Liebe«, beendete Fliss den Satz. Sie legte ihre Hand auf Grannys alte, faltige.
»Entschuldige«, stotterte Betty. »Aber ich verstehe das alles nicht … es ist einfach zu seltsam.« Und verwirrend und unfair, setzte sie in Gedanken wütend hinzu. All die Möglichkeiten, die Grannys verzauberte Gegenstände zu bieten schienen, waren ihnen wieder entrissen worden, und nachdem sie die Magie selbst erlebt hatte, fiel es ihr schwerer, Grannys weitere Worte in Zweifel zu ziehen. »Bist du sicher?«, fragte sie kraftlos. »Kann es nicht auch einfach … Pech gewesen sein?«
»Ich war damals ganz ähnlich wie du«, fuhr Granny fort. »Erst habe ich mich geweigert, es zu glauben. Doch dann habe ich es mit eigenen Augen gesehen. An dem Tag, als die Anzahl der Todesopfer auf neun anstieg.«
Die Luft im Zimmer schien immer dichter zu werden, nicht nur wegen des Rauchs. Betty hatte plötzlich Schwierigkeiten zu atmen. »Neun … neun Mädchen sind gestorben?«, fragte sie zaghaft. »Ich meine … ich weiß, du hast gesagt, es passiert bei Sonnenuntergang, nachdem die Mädchen Krähenstein verlassen haben, aber was genau passiert da? Fallen sie … fallen wir … dann einfach tot um?« Sie sah Granny forschend an und machte sich auf weitere furchtbare Enthüllungen und Geschichten von tragischen Unfällen gefasst. Eine Vision zog an ihrem inneren Auge vorbei: Sie hatte das Gefühl, aus großer Höhe zu fallen, der Boden raste auf sie zu, der Wind rauschte in ihren Ohren, und eine Welle von Angst und Trauer erfasste sie. Betty kniff die Augen zusammen. Der Adrenalinschub ließ sie zittern. Was war das denn gewesen?
»Es ist immer das Gleiche«, sagte Granny. »Es fängt an mit Vogelgesang. Dem Krächzkonzert der Krähen.«
Betty runzelte die Stirn. »Aber das findet doch immer statt, wenn es abends dunkel wird, oder?«
Granny nickte. »Der Unterschied ist: Egal, wie sehr du deine Augen anstrengst, sehen kannst du die Vögel nicht. Die Geräusche existieren nur in deinem Kopf.«
Aus dem Augenwinkel sah Betty, wie Fliss schauderte.
»Dann wird es immer lauter«, fuhr Granny fort und starrte in die Ferne, als würde sie sich erinnern. »Während der Lärm anschwillt, wird dein Körper kalt und noch kälter. Und auch wenn deine Haut sich wie Eis anfühlt, ist das Letzte, was du vor dem Ende spürst, ein kalter Kuss.«
Betty bekam eine Gänsehaut. »Wie kannst du das denn … wissen?«
Grannys Lippen bebten, und ihre Hand tastete nach dem leeren Whiskyglas. »Weil ich es bei Clarissa, der Cousine deines Vaters, gesehen habe«, sagte sie schließlich. »Ich war dabei.«
»Wusste sie denn von dem Fluch?«, fragte Betty. »Oder war es ein Versehen?«
Grannys Finger umklammerten das Glas und sanken dann wie leblos auf die Tischplatte. »Ja, sie wusste davon. Sie dachte, sie könnte den Fluch aufheben. Sie hatte von einem Ort gehört, wo man der Legende nach Wünsche aussprechen kann. Die Hufeisen-Bucht auf der anderen Seite der Marsch. Sie dachte, ein Wunsch dort könnte uns alle von dem Fluch befreien, aber es funktionierte nicht. Was auch immer für ein Zauber in dieser Bucht existiert – wenn da überhaupt einer ist –, er ist nicht stark genug, um den Fluch der Widdershins aufzuheben. Und als sie zurückkam, wusste sie schon, dass sie gescheitert war. Die Krähen krächzten in ihrem Kopf, ihre Haut war wie Eis. Wir konnten sie überhaupt nicht wärmen …«
»Sie kam zurück nach Krähenstein?«, fragte Betty. »Aber hätte das den Fluch nicht stoppen müssen, wenn sie vor Sonnenuntergang zurückkam?«
»Nichts kann ihn stoppen«, murmelte Granny mit glasigem Blick. Sie hakte ihre Daumen ineinander und fächelte ihre Finger wie Vogelschwingen über ihrem Herzen – das Zeichen der Krähe.
»Erzähl ihnen von den Steinen«, sagte Fliss. Sie sah blass und beinahe wächsern aus.
»Steine?«, hakte Betty nach.
»Jedes Mal, wenn der Fluch ausgelöst wird, fällt ein Stein aus der Turmmauer«, sagte Granny mit ungewöhnlich leiser Stimme.
»Du meinst aus dem Krähensteinturm …? Beim Gefängnis?«
Granny nickte.
»Aber was hat das Gefängnis mit dem Fluch zu tun?«, fragte Betty. Das Bild der frierenden, sterbenden Clarissa ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, und das aschfahle Gesicht ihrer Schwester trug nicht gerade zur Beruhigung bei. Wie mutig war es gewesen, auch nur zu versuchen, den Fluch zu brechen, und dabei alles zu riskieren! Clarissa musste sich genauso sehr gewünscht haben zu fliehen wie Betty, und sie musste geglaubt haben, dass es einen Weg gab … auch wenn sie gescheitert war.
Granny zuckte die Achseln. »Der Turm ist uralt, älter als der Rest des Gefängnisses. Was seine Verbindung mit dem Fluch anbelangt, nun … da gibt es Geschichten. Aber keine, die uns verrät, wie man den Fluch brechen kann.«
Betty schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und versuchte, nicht zu weinen. Tränen würden die Probleme nicht lösen, aber das schien ihre feuchten Augen nicht zu kümmern. Vor heute Abend hatte sie noch davon träumen können, Krähenstein zu verlassen und ein anderes Leben zu leben. Sie hatte nicht geahnt, dass ihr Gefangensein hier noch mit etwas anderem zu tun hatte als mit Grannys Überbehütung; dass wegzugehen wirklich unmöglich war. Sie konnte verstehen, warum Fliss aufgegeben hatte, aber Betty konnte es nicht akzeptieren. Noch nicht. »Es muss doch einen Weg geben, den Fluch zu brechen. Es muss einfach …«
Granny stieß ein hohles Lachen aus. »Tja, das sagen alle. Glaubst du, Mädchen wie du haben nicht seit Generationen denselben Gedanken? Natürlich haben sie das. Clarissa war so entschlossen wie alle anderen! Alles, was du dir vorstellen kannst, ist versucht worden, vom Heiraten, um den Namen Widdershins loszuwerden, bis zu der Idee, etwas aus Krähenstein mitzunehmen oder etwas von sich selbst in Krähenstein zurückzulassen. Nichts hat funktioniert. Jetzt wisst ihr also, warum ich nicht zulassen kann, dass einer von euch das zustößt.« Sie griff unvermittelt nach Bettys Hand und riss sie aus ihren Gedanken. »Bitte, Betty.« Ihre durchdringenden alten Augen wirkten ruhelos. »Ich flehe dich an … versuch es nicht. Ich könnte das nicht noch mal ertragen, nicht mit einer von euch. Das würde ich nicht überleben.«
Betty hatte das Gefühl, als würde sich ihr Herz zusammenziehen. Das letzte Mal, dass sie Granny so verletzlich gesehen hatte, war an dem Tag gewesen, als man ihren Vater abgeführt hatte. Es war leicht, so zu tun, als würde es diese Seite in ihr nicht geben, wenn sie so gut verborgen war.
»Und Vater weiß also von dem Fluch«, stellte Betty fest.
»Ja, wie ich vorhin schon sagte«, meinte Granny mit düsterer Stimme. »Bei so einer Sache … muss die ganze Familie Bescheid wissen, sonst wäre das zu gefährlich. Ich frage mich oft, ob es neben dem Tod eurer Mutter auch Schuldgefühle waren, die ihn auf die schiefe Bahn gebracht haben.«
»Schuldgefühle?«, fragte Fliss. »Du meinst … weil er den Fluch an uns weitergereicht hat?«
Granny nickte. »Er hasst die Ungerechtigkeit dieses Fluchs, durch den keine Widdershins-Frau Krähenstein je verlassen kann. Und doch hat er durch seine eigene Torheit dafür gesorgt, dass er jetzt genauso gefangen ist wie wir.«
»Und Mutter?«, fragte Betty. »War es wirklich ein Unfall, wie du gesagt hast, oder war … war es der Fluch?«
Charlie war gerade erst geboren worden, aber Fliss und Betty erinnerten sich beide an den Morgen, an dem Granny ihnen die Nachricht überbracht hatte, dass ihre Mutter tot war. Granny und Vater waren beide krank gewesen, wobei es Vater besonders schlimm erwischt hatte. Ihre Mutter war in der Nacht losgelaufen, um einen Arzt zu holen. Ein dichter Nebel hatte über der Insel gelegen, und so war sie vom Weg abgekommen, auf einen dünn zugefrorenen Teich geraten und im Eis eingebrochen.
»Nein, da habe ich euch die Wahrheit gesagt.« Granny rieb sich ihre rote Nase. »Ich weiß nicht, ob ihr euch dadurch besser oder schlechter fühlen werdet, aber bei eurer Mutter war es nicht der Fluch. Es war einfach Pech.«
Pech: der unerwünschte Gast, den Granny immer versuchte, mit all ihren Glücksbringern abzuwehren. Doch es nützte alles nichts. Ihre Eltern waren fort. Die Gaststätte brachte nicht mal genug ein, um die Schulden zu tilgen. Fliss hatte ständig einen neuen Freund, und alle Reisepläne, die Betty jemals geschmiedet hatte, waren kläglich gescheitert. Selbst Charlie bekam laufend Läuse. Ja, dachte Betty. Man konnte wohl sagen, dass sie nicht gerade in Fortunas Gunst standen. Vielmehr schien die Glücksgöttin die Straßenseite zu wechseln, wenn sie die Widdershins kommen sah.
Sie wurden von ordinärem Gejohle unterbrochen, begleitet von einem rhythmischen Poltern aus dem Untergeschoss. Einen Augenblick später hörte man, wie eine Tür aufgerissen wurde. »Bier! Bier! Bier!«, grölte es von unten, gefolgt von einer kreischenden Gladys am Fuße der Treppe: »Bunny! Wenn mir hier nicht sofort jemand hilft, bin ich weg!«
»Sie hauen mit den Fäusten auf den Tresen, diese Rüpel!«, rief Granny erbost. Sie sprang mit neuer Energie von ihrem Stuhl auf, dass ihre Kniegelenke knackten. »Jetzt fang dich mal wieder, Fliss«, sagte sie. »Und dann komm mit runter. Wir sind schon viel zu lange weg.« Sie ging aus der Küche, und einen Moment später brandete der Lärm unten noch einmal auf, als Granny durch die Tür in die Bar platzte. Kurz schien der Bann gebrochen zu sein, der über der Küche gelegen hatte, und alles fühlte sich fast schon wieder normal an.
Normal? Wie konnte da unten das Leben weitergehen wie immer, wenn sich für Betty doch alles verändert hatte? Die ganze Zeit hatte sie geglaubt, sie hätte ihr Schicksal selbst in der Hand, aber wenn das, was Granny erzählt hatte, die Wahrheit war, dann war das hier ihr einziges Schicksal. Eines, aus dem es kein Entkommen gab.
Betty warf einen Blick zu ihren Schwestern. Charlie, der es vor Entsetzen die Sprache verschlagen hatte, lutschte an ihrem Daumen, was sie sich eigentlich längst abgewöhnt hatte. Fliss grübelte still vor sich hin.
»Du hättest mir von dem Fluch erzählen sollen«, sagte Betty schließlich. Sie fühlte sich bleiern schwer, als würden die Enthüllungen des Abends sie erdrücken wie Steine, die aus der Mauer des Gefängnisturms gefallen waren.
Fliss sah mit müdem Blick zu ihr auf. »Ich wollte dir die Hoffnung nicht nehmen, dass du diesen Ort eines Tages verlassen kannst.«
Betty spürte, wie die Wut in ihr hochkam. »Und was soll das, wenn es doch nie möglich sein wird? Wäre es da nicht menschlicher gewesen, die Wahrheit zu sagen?«
»Ja, ich meine … nein, ach, ich weiß nicht!« Fliss biss sich auf die Unterlippe. »Ich wollte das ja, aber ich musste Granny versprechen, nichts zu sagen.«
»Das hat dich doch sonst auch nicht davon abgehalten«, sagte Betty mit einem gekränkten Ton in der Stimme. »Wir haben uns immer alles erzählt.«
Fliss’ Wangen färbten sich rot. »Weißt du noch, als du klein warst?« Sie warf einen bedeutungsvollen Blick zu Charlie. »Die Sache, die ich dir erzählt hab?«
Betty nickte mürrisch. Als Fliss acht gewesen war und Betty erst fünf, hatte Fliss herausgefunden, dass die Zahnfee nicht echt war, sondern dass es Granny gewesen war, die einen Kupferraben unter das Kopfkissen gelegt hatte. Sie hatte sofort Betty davon erzählt. Granny war furchtbar wütend gewesen und hatte Fliss das lange nachgetragen.
»Ich hab mir das nie verziehen«, sagte Fliss leise. »Dass ich dir den Zauber verdorben hab. Dabei hättest du ihn noch eine Weile länger haben können.«
»Das ist aber nicht das Gleiche«, sagte Betty. »Das war ein alberner Kinderglaube. Ein Familienfluch ist etwas ganz anderes!«
»Das finde ich nicht. Letzten Endes geht es um das Gleiche, nämlich Unschuld.« Fliss lächelte verkrampft. »Und die wollte ich dir gerne noch eine kleine Weile erhalten. Dass diese Sache nicht das Erste ist, woran du am Morgen denkst, und das Letzte am Abend. Denn wenn es erst einmal raus ist, dann war’s das.« Ihre Augen glänzten auf einmal. »Für den Rest unseres Lebens.«
Den Rest unseres Lebens. Betty sah ihrer Schwester in die Augen, in denen sich ihre eigene Verzweiflung widerspiegelte. Sie hatte sich schon vorher eingeengt gefühlt, aber das war nichts gewesen gegen das, was sie jetzt empfand. Der Fluch hatte sich ihr wie eine unsichtbare Schlingpflanze um den Hals gelegt und jede Hoffnung aus ihr herausgepresst. Und selbst Magie konnte keine Entschädigung dafür sein.
Stunden später lag Betty hellwach in ihrem Bett, die leise schnarchende Charlie neben sich. Nach ewigem Hin- und Herwälzen und Daumenlutschen war sie endlich in einen ruhelosen Schlaf gefallen. Um sie zu beruhigen, hatte Betty ihr jede Geschichte erzählt, die ihr einfiel – doch keine war so merkwürdig und düster wie jene, die sie heute gehört hatten.
Von unten war das Plappern von Stimmen zu hören. Was führten sie doch für ein seltsames Leben, dachte Betty. Auch wenn die Gaststätte ihnen gehörte, kam es ihr doch nie so vor. Immer war das Raunen fremder Stimmen zu hören, immer das Knarzen fremder Schritte.
Selbst ihr Zimmer musste Betty teilen, ein Durcheinander von Charlies Kuscheltieren, Stoffpuppen, Muscheln und Kieselsteinen. Dazwischen Bettys Bücher, Marmeladengläser voller Knöpfe und anderer nützlicher Dinge und ihr Nähzeug. Am meisten hing sie an ihrem Briefmarkenalbum und ihrer Landkartensammlung. So manch ruhigen Nachmittag hatte sie damit verbracht und sich all die Orte notiert, die sie entdecken wollte.
Ihre Leidenschaft für Landkarten hatte damit begonnen, dass ihr Vater eines Morgens mit ihr auf den Markt am Hafen gegangen war. Betty war mit der Tochter eines Kartenmachers von einem der Schiffe herumgestromert. Sie hieß Roma, und sie hatte glatte braune Haut und geflochtenes Haar sowie tausend Erinnerungen an klare türkisfarbene Meere, ausgedörrte Wüsten und schneebedeckte Berge. Betty hatte wie gebannt zugehört und sich nichts sehnlicher gewünscht, als das alles auch einmal zu sehen. Später, als Roma geholfen hatte, die Karten zu verstauen, hatte Betty so lange gebettelt, bis ihr Vater nachgegeben und ihr eine gekauft hatte: ihre erste Landkarte. Sie hatte sie gehütet wie einen Schatz, als das Schiff des Kartenmachers wieder die Segel setzte und bald nur noch ein winziger Fleck am Horizont war. Sie sahen Roma nie wieder, aber das Fernweh und die Liebe zu Karten, die sie in Betty geweckt hatte, blieben bestehen.
Sie betrachtete die Kartenrollen. In ihnen verbarg sich eine ganze Welt, die sie so gerne entdeckt hätte. Jetzt hatte der Fluch sie ihr verdorben, wie eine verlockende, aber vergiftete Schachtel Pralinen. Sie konnte sie ansehen, doch ein einziger Bissen davon würde sie das Leben kosten. Ihr Blick glitt von den Karten zum flimmernden Mondlicht, das auf die rissige Zimmerdecke fiel, und eine Träne lief ihr die Wange hinunter. Eine Welt, die sie nicht entdecken durfte, konnte sie sich nicht vorstellen, genauso wenig, wie sie sich vorstellen konnte, dass es nicht irgendwo da draußen eine Lösung gab, um das möglich zu machen.
Dann setzte sie sich ruckartig auf. Ihr war gerade etwas klar geworden. Granny hatte nicht gesagt, dass es nicht möglich war. Sie hatte gesagt, nichts, was die anderen Mädchen vor ihnen versucht hatten, war erfolgreich gewesen. Was bedeutete, dass Granny noch immer glaubte, dass es eine Möglichkeit gab, den Fluch aufzuheben, auch wenn sie selbst zu viel Angst hatte, es zu versuchen.
»Es tut mir leid, Granny«, flüsterte Betty in der Dunkelheit entschlossen vor sich hin, »aber wenn es eine Möglichkeit gibt, den Fluch zu brechen, dann muss ich es versuchen.«