Читать книгу Eine Prise Magie (Bd. 1) - Michelle Harrison - Страница 8
Süßes oder Saures
ОглавлениеDer Tag, an dem Betty Widdershins von dem Familienfluch erfuhr, war ihr Geburtstag. Es war ihr dreizehnter, für manche eine Unglückszahl, aber Betty war zu vernünftig veranlagt, um an solchen abergläubischen Unsinn zu glauben, auch wenn sie damit aufgewachsen war.
Es war ein Samstagabend; da war immer viel los in der Gaststätte, die Bettys Zuhause war. Im Wildschütz trafen sich die Raufbolde der Insel Krähenstein. Die Gaststätte war schon seit Generationen im Besitz der Familie Widdershins. Jetzt gehörte sie ihrer Großmutter, die auch Betty hieß, aber von allen Granny oder Bunny genannt wurde, um Verwechslungen zu vermeiden. Sie wohnten dort mit Bettys Schwestern, Felicity (genannt Fliss), dem ältesten der Mädchen, und der sechsjährigen Charlotte, die nur auf »Charlie« reagierte.
Wie es der Zufall gewollt hatte, fiel Bettys Geburtstag außerdem auf Halloween. Als sie und Charlie in ihren wehenden Kostümen die Treppe hinunterstürmten, kamen sie sich ganz verwegen vor. Tatsächlich fühlte sich Betty in ihrer Verkleidung richtig wagemutig, und das war auch gut so, denn sie und Charlie waren kurz davor, das wichtigste Verbot ihrer Großmutter zu brechen. Nur, dass Charlie davon noch nichts wusste.
Als sie die Tür zur Bar aufrissen, drang warme, bierdunstige Luft durch die Löcher in Bettys Totenkopfmaske. Sie hob Grannys Lieblingshufeisen auf, das scheppernd auf den Boden gefallen war, und hängte es wieder über den Türrahmen. Charlie stieß zur Begrüßung ihr bestes Hexengekicher aus und schwang ihren Umhang. Sie schnappte sich Grannys Besen aus der Ecke und begann, um die verschrammten Tische und zusammengewürfelten Stühle herumzutanzen und zu singen, während ihre Augen aus ihrem grün geschminkten Gesicht hervorblitzten.
»Süßes oder Saures … das Moor ist neblig, der Zucker ist klebrig!« Sie drehte sich und hopste wie ein Kobold, während die Stammgäste sie amüsiert beobachteten.
»Pass auf, Charlie!«, rief Betty und sah den herumwirbelnden Umhang ihrer Schwester schon im Kamin Feuer fangen. Sie selbst hatte vorhin das Feuer angezündet, nachdem sie und Charlie Kürbislaternen geschnitzt hatten. Sie zupfte ihren langen schwarzen Mantel zurecht und winkte ungeduldig zur Bar hinüber, wo Granny gerade den Tresen abwischte.
»Wir gehen jetzt los, Granny«, sagte sie und war froh, dass ihr Gesicht unter der Maske verborgen war. Sie hatte diesen Abend seit Wochen geplant und dabei nichts als Aufregung empfunden, aber jetzt, wo es so weit war, den Plan in die Tat umzusetzen, konnte sie ihre eigene Ungehorsamkeit kaum fassen. Sie hoffte, ihre Großmutter würde das Zittern in ihrer Stimme der Aufregung zuschreiben und nicht dem Muffensausen, das in ihrem Innern herumschwirrte wie ein Schwarm Sumpffliegen.
Granny stampfte mit schwerem Schritt auf sie zu. Sie stampfte überall hin, statt zu gehen, knallte Türen, statt sie zu schließen, und brüllte meistens, statt zu sprechen.
»Schnorren gehen wollt ihr?«, rief sie und pustete sich das graue Haar aus der Stirn.
»Das ist kein Schnorren«, korrigierte Betty sie. »An Halloween machen das doch alle.«
»Pah!«, machte Granny. »Ich weiß sehr gut, was alle machen, vielen Dank. Und für mich ist das Schnorren, wenn ihr euch doch hier nützlich machen könntet.«
»Ich hab mich den ganzen Tag nützlich gemacht«, murmelte Betty schnippisch. Ihr wurde heiß unter der Maske, und ihre struppigen Haare kitzelten sie am Hals. »So viel zum Thema Geburtstag.«
Granny schnaubte. Geburtstag hin oder her, alle Widdershins mussten in der Gaststätte mit anpacken, sogar Charlie.
»Ihr geht nur einmal um den Park herum«, befahl Granny. »Weiter nicht, hört ihr? Und spätestens zum Abendbrot –«
»Sind wir zurück«, beendete Betty den Satz. »Ich weiß.«
»Nun, dann haltet euch auch daran – vergesst nicht, was letztes Jahr passiert ist.« Grannys Stimme wurde sanfter. »Und nachher gibt es Geburtstagskuchen.«
»Oooh!«, rief Charlie und unterbrach bei der Erwähnung von Essen ihren Koboldtanz.
Als Granny an die Bar gerufen wurde, um einen Gast zu bedienen, warf Betty einen Blick zu Fliss.
»Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, fragte Betty mit einem flehenden Tonfall in der Stimme. Es hatte immer so viel Spaß gemacht, wenn sie sich alle drei an Halloween verkleidet hatten. »Ohne dich ist es nicht das Gleiche.«
Fliss schüttelte den Kopf und warf ihr dunkles, glänzendes Haar über die Schultern. Auf ihrer perfekten Stupsnase war ein kleiner Klecks grüner Farbe zu erkennen, mit der sie Charlies Gesicht geschminkt hatte. »Ich bin zu alt für so was. Außerdem werde ich hier gebraucht.«
»Vielleicht willst du es ja nur nicht verpassen, wenn Will Turner vorbeikommt?«, witzelte Betty. »Oder ist es diese Woche Jack Humble? Wer bekommt den nächsten Fliss-Kuss? Ich komm nicht mehr hinterher, Flissy-Kissy.«
Fliss funkelte sie wütend an. »Ich hab dir doch gesagt, dass du mich nicht so nennen sollst!«
Betty verdrehte die Augen und beschloss, den Farbklecks auf der Nase ihrer Schwester nicht zu erwähnen. Seit ihrem Geburtstag war Fliss nicht mehr sie selbst. Sie war schweigsam, manchmal auch launisch und verschloss sich, sobald Betty fragte, was sie bedrückte.
»Betty?«, sagte Fliss mit einem wachsamen Blick zu Granny. »Ihr bleibt wirklich beim Park, nicht wahr?«
Betty verzog unter ihrer Maske das Gesicht. Sie kreuzte unter den Falten ihres Mantels die Finger und flunkerte: »Ja, wir bleiben beim Park.«
Fliss blickte mit undurchdringlicher Miene an Betty vorbei zum Fenster. »Es ist ohnehin besser, wenn ihr in der Nähe bleibt. Sieht etwas neblig aus da draußen. Eine Fähre über die Marsch zu nehmen könnte gefährlich sein.« Sie wandte sich ab, als ein hochnäsiger Stammgast namens Queenie ungeduldig auf den Tresen klopfte.
Betty sah ihrer Schwester nach und verdrehte die Augen. »Dies dürft ihr nicht, das könnt ihr nicht«, murmelte sie. Was war nur seit ihrem Geburtstag mit Fliss passiert? Sicher, sie war so eitel wie immer und starrte oft gedankenverloren in einen alten Meerjungfrau-Spiegel, den Granny ihr geschenkt hatte, aber all ihre Heiterkeit war mit den Kerzen auf ihrem Kuchen weggepustet worden. Im Grunde klang sie allmählich genau wie Granny.
Betty hatte das Gefühl, dass ihr Leben im Wildschütz ein Korsett war, das sie mehr und mehr einzwängte. An der einen Schnur zog Granny, und an der anderen zerrte jetzt Fliss, sodass sie kaum noch Luft bekam. Heute Abend war Betty entschlossen, diese Schnüre zu kappen, wenn auch nur für eine kurze Weile.
Sie rief nach Charlie, die ein paar Gäste beim Domino-Spiel unterbrochen hatte, um ihnen stolz die Lücke zu zeigen, wo ihr Schneidezahn herausgefallen war. Gemeinsam bahnten sich die beiden ihren Weg zur Tür, vorbei an Tischen mit Gesichtern, die Betty so vertraut waren wie ihr eigenes. Sie waren schon fast an der Tür, als sich Charlies Fuß in Bettys Mantel verfing. Sie stolperte und fiel gegen einen Tisch, an dem ein griesgrämiger Kerl namens Fingerty saß. Er stieß einen unfreundlichen Laut aus, irgendetwas zwischen einem Grunzen und einem Knurren, und machte ein mürrisches Gesicht, als das Bier in seinem Glas schwappte.
»’tschuldigung«, murmelte Betty und hastete an ihm vorbei.
Eiskalte Luft strich um ihre Knöchel, als sie sich an weiteren Gästen vorbeidrängten, die in die Gaststätte strömten. Dann waren sie draußen in der frostigen Nacht. Aber, ach – was für eine Nacht … Freiheit! Zumindest, sobald sie in ein paar Minuten auf der Fähre sitzen würden. Betty jubelte innerlich. Sie zitterte vor Erwartung ebenso wie vor Kälte. Aber sie spürte auch einen Anflug von Angst. Fliss hatte recht: Es sah tatsächlich etwas neblig aus hier draußen. Soweit Betty wusste (denn das hatte sie überprüft), war kein Nebel vorhergesagt. Doch sie wusste auch, dass die Marsch unberechenbar war und dass die Vorhersagen manchmal falsch waren.
Charlie störte die Kälte nicht. Sie stieß weiße Atemwölkchen aus, während sie vorausrannte und mit ihrem kleinen Hexenkessel schlenkerte, in dem sie Süßigkeiten sammeln wollte. Betty eilte ihr nach und ließ ihren Blick die Straße entlangschweifen. Ein paar weitere kostümierte Kinder gingen von Haus zu Haus, und sie zählte fünf Kürbisse, die auf den Türschwellen leuchteten. Die meisten Häuser am Nestleinpark jedoch lagen im Dunkeln. Viele Leute hatten keinerlei Bedürfnis, sich von maskierten Fremden stören zu lassen – aus gutem Grund.
Im letzten Jahr hatte der Halloween-Spaß ein plötzliches Ende gefunden, als die Glocke von Krähenstein zu läuten begann. Es war ein Warnsignal und bedeutete, dass auf der anderen Seite der Marsch der Alarm im Gefängnis ausgelöst worden war. Die »Süßes oder Saures«-Rufe waren verstummt, und stattdessen schrien alle »Gefangene auf freiem Fuß! Geht alle ins Haus und schließt eure Türen!«. Betty und ihre Schwestern waren zurück zur Gaststätte gerannt und hatten oben in Bettys Zimmer ihre Nasen am Fenster platt gedrückt. Während Fliss nervös an den Nägeln kaute und Charlie den entgangenen Süßigkeiten nachtrauerte, war Betty ganz zappelig vor Aufregung gewesen und hatte im Stillen gehofft, dass die Gefangenen erst in ein paar Tagen gefasst würden, nur damit auf Krähenstein einmal etwas los wäre. Ausbrüche waren selten, und wenn man wie sie im Schatten des Gefängnisses aufwuchs, konnte man fast vergessen, wie nah es war – und wie gefährlich es sein konnte. Die Mädchen hatten aus dem Fenster geguckt und gewartet, aber abgesehen von zwei Gefängniswärtern, die mit Laternen die Straßen absuchten, sahen sie niemanden. Beim Frühstück war die Aufregung bereits vorbei, denn sie hatten gehört, dass die Verbrecher in der Marsch gefasst worden waren. Betty hatte solche Fluchtgeschichten schon immer mit Interesse verfolgt, manchmal fühlte sie sich nämlich selbst wie eine Gefangene. Unglücklicherweise hatte der Vorfall der ausgebrochenen Häftlinge Granny nur einen weiteren Vorwand geliefert, den Mädchen jedes Herumstromern zu verbieten.
Betty riss sich aus ihren Erinnerungen und warf einen Blick zurück zum Wildschütz. Fliss hatte das Gebäude einmal als müde alte Brieftaube beschrieben, mit losen Dachziegeln und klappernden Fensterläden, die herunterhingen wie zerrupfte Federn. So hockte das Haus am Rande des Parks, seine verwitterten Ziegelsteine ein Flickwerk der vielen Jahre. Es war, als hätte die Zeit dem Haus einen Ellbogenstoß versetzt, und jetzt neigte sich das ganze Gebäude wie betrunken zur Seite. Aus den Fenstern leuchtete bernsteinfarben das Licht, unterbrochen von Gestalten, die drinnen umherhuschten, und ein paar Hühnergöttern und anderen Glücksbringern, die Granny aufgehängt hatte. Niemand war draußen, niemand ahnte etwas.
Gut. Die Möglichkeit, von einer wutentbrannten Granny zurück nach Hause gezerrt zu werden, war beängstigend und erniedrigend zugleich. Sicher, Granny hatte ein übellauniges Temperament, aber es waren die Konsequenzen, vor denen Betty am meisten Angst hatte. Wenn Granny herausfände, was sie geplant hatte, würde sie Betty nie wieder allein mit Charlie aus dem Haus lassen … und jede Chance auf ein Abenteuer wäre dahin. Die Riemen des Korsetts würden nur noch fester gezurrt werden und ihr die Luft endgültig abschnüren.
Schon hatte Charlie an der ersten Haustür geklopft und trällerte »Süßes oder Saures!«. Die ersten Gaben wurden in ihren Hexenkessel geworfen. Charlie hüpfte zurück zu Betty, während sie eine klebrige Karamellkrähe von Hubbard auspackte, dem Süßigkeitenladen. »Hast du denn gar nichts mitgebracht, wo du deine Süßigkeiten reintun kannst?«
»Nee, ich schnapp mir einfach ein paar von dir«, sagte Betty und fingerte in Charlies Hexenkessel herum, bis sie ihr Lieblingskonfekt fand: eine Marschwaffel. Eine Wolke von Puderzucker stieg auf, während sie sich die Waffel in den Mund stopfte und durch die knusprige Hülle in das schaumige Innere biss. Sie warf einen Blick auf die Turmuhr, als sie sich der alten Feldsteinkirche näherten. Noch sieben Minuten. Unter der Maske prickelte der Schweiß auf ihren Schläfen, und ihr Puls begann zu rasen. Wir dürfen nicht erwischt werden … nicht jetzt, wo wir so nah dran sind. Mit einem weiteren Blick zurück zur Gaststätte griff sie nach Charlies Ärmel und zog sie ungeduldig die Gasse hinunter. »Hier entlang. Ich hab eine Überraschung für dich.«
»Eine Überraschung?« Charlie sah mit großen Augen zu ihr auf. »Aber du hast Granny doch gesagt, dass wir in der Nähe bleiben. Du hast gesagt –«
»Ich weiß, was ich gesagt hab.« Betty lotste Charlie die Straße hinunter. »Aber du und ich gehen jetzt gleich auf ein kleines Abenteuer. Es ist ein Geheimnis, das du für dich behalten musst. Kannst du das?«
Charlie hörte auf zu kauen und nickte ihr mit einem schelmischen, zahnlückigen Grinsen zu. Ihre Zöpfe hüpften auf und ab. »Was denn für ein Abenteuer?«
»Wir wollen nach Marschweiler.«
»Heiliger Krähenfuß!« Charlies große grüne Augen wirkten auf einmal noch riesiger. »Marschweiler? Aber da … da muss man doch auf die Fähre!«
»Ganz genau.« Betty befühlte ihre Jackentasche. Sie spürte das Gewicht der drei Münzen. Wochen hatte sie gebraucht, um das Geld für die Hin- und Rückfahrt zusammenzukratzen, zum Preis von einem silbernen Raben für jeden. Dazu hatte sie die kleine Summe Taschengeld gespart, die Granny ihnen zugestand, und alles zur Seite gelegt, was sie fand, wenn sie in der Gaststätte den Fußboden kehrte. Sie hatte heimlich jede Münze gesammelt: ob nun Krähen oder Federn. Schließlich hatte sie den Fahrpreis zusammengehabt, und jetzt, da Fliss nicht mitkam, war sogar noch Geld übrig.
»Aber Betty, wir werden bestimmt erwischt!«
»Diesmal nicht.«
»Das sagst du immer, bevor etwas schiefgeht.«
Da hatte Charlie nicht ganz unrecht, aber Betty ließ sich nicht von ihrem Plan abbringen.
»Ich habe das alles durchdacht.« Sie war sich ihrer Sache so sicher, dass sie sogar ein neues Motto erfunden hatte, aber das behielt sie noch für sich.
»Was, wenn Granny das rausfindet?«, flüsterte Charlie, halb freudig und halb ängstlich. »Dann können wir aber was erleben!«
»Sie wird es nicht rausfinden«, sagte Betty. »Warum, meinst du, habe ich mir den heutigen Abend ausgesucht? Alle werden verkleidet sein oder Masken tragen. Das ist doch perfekt! Wenn uns niemand erkennt, kann uns auch niemand bei Granny verpfeifen.«
»Und was gibt es in Marschweiler?«, fragte Charlie. »Größere Häuser? Mehr Süßigkeiten?«
»Besser als das.« Betty scheuchte Charlie weiter die dunkle Gasse hinunter. »Da ist ein Jahrmarkt. Spiele wie Apfeltauchen, Seelenbrot und andere Leckereien und ein Preis für das beste Kostüm … und Zuckerwatte!« Und ein Abenteuer, fügte sie in Gedanken trotzig hinzu. Es war ihr egal, wohin sie sich davonmachten – Hauptsache, sie kamen raus aus Krähenstein. Marschweiler war weit genug entfernt, um ihre Lust auf Neues und Abenteuer zu befriedigen, und gleichzeitig nah genug, um ungeschoren davonzukommen. Sich jetzt heimlich ins Unbekannte aufzumachen fühlte sich an, als hätte sie ihr Leben lang einen Juckreiz gehabt und dürfte endlich kratzen.
»Zuckerwatte!«, sagte Charlie atemlos. Seit sie ihren Schneidezahn verloren hatte, klang ihre süße Stimme leicht lispelnd. Sie schob ihre heiße, klebrige Hand in Bettys. »Aber es ist so weit weg. Was, wenn wir es nicht rechtzeitig zum Kuchenessen zurückschaffen?«
»Bis dahin sind wir allemal zurück«, sagte Betty. »Ich hab alles durchgeplant. Und meinen Geburtstagskuchen werden sie bestimmt nicht ohne mich essen! Aber jetzt beeil dich – wir haben nur noch ein paar Minuten, bis die Fähre ablegt.«
Sie huschten weiter die Gasse hinunter und bogen um die Ecke. Unter ihrer Maske grinste Betty triumphierend. Ihr Herz schlug wild. Sie würden es wirklich tun! Sie würden endlich zu sehen bekommen, wie das Leben außerhalb Krähensteins aussah, und das war alles ihr zu verdanken.
Betty lockerte ihren Mantelkragen, und sie fingen an zu rennen. Neben ihr zählte Charlie die Kürbisse und Laternen in den Fenstern und zeigte auf einen Kürbis vor der Schule, den sie gestern geschnitzt hatte. Die Lichter begleiteten sie durch die kopfsteingepflasterten Straßen wie Geister, die sie zur Marsch führten.
Hier gab es immer weniger Häuser, und bald kam die Wegkreuzung in Sicht, wo gar keine Häuser mehr standen. Stattdessen waren in einiger Entfernung auf der anderen Seite der Marsch mehrere Reihen winziger Kerkerfenster zu sehen, die wie wachsame Augen in der Dunkelheit leuchteten. Noch weiter oben flackerte ein anderes Licht in einem allein stehenden Turm, der den Rest des Gebäudes überragte.
Charlie verlangsamte ihren Schritt, und sie traten zur Seite, um ein paar Leute vorbeizulassen, die zur Fähre eilten. »Wie lange ist Vater jetzt schon da drinnen?«, fragte sie.
»Charlie!«, schimpfte Betty und hoffte, dass die Leute vor ihnen nichts gehört hatten. Sie senkte die Stimme. »Zwei Jahre und acht Monate.« Sie ging in Gedanken die Daten durch und sagte nach einer Pause: »Und vier Tage.«
»Und wie lange noch, bis er rauskommt?«
Betty seufzte. Wie immer löste der Gedanke an ihren Vater eine Mischung von Gefühlen in ihr aus: Traurigkeit, Wut, Enttäuschung. Ähnlich wie der Tod ihrer Mutter hatte seine Abwesenheit Betty und Fliss härter getroffen als Charlie. Auch wenn Barney Widdershins ein – um mit Grannys Worten zu sprechen – armseliger Nichtsnutz war, konnte Betty nicht anders, als eine gewisse Loyalität ihm gegenüber zu empfinden, obwohl er kein guter Vater war. »Zwei Jahre, drei Monate und sechsundzwanzig Tage«, antwortete Betty schließlich.
»Warum flüsterst du?«, fragte Charlie. Sie war erst drei gewesen, als sie ihren Vater festnahmen, und da sie seitdem keinen Kontakt zu ihm gehabt hatte, empfand sie keine besondere Bindung, sondern einfach nur Neugier. »Du sagst doch immer zu Fliss, es gibt keinen Grund, sich zu scharnieren, weil er im Gefängnis sitzt.«
»Genieren«, korrigierte Betty sie. Wenn sie irgendwo anders wohnten, würde sie sich dafür schämen, aber nicht hier. Schließlich war nahezu jeder, der in der Nähe des Gefängnisses wohnte, mit jemandem dort drinnen verwandt. »Das stimmt schon. Aber hör auf, über persönliches Zeug zu plappern, wenn wir nicht erkannt werden wollen. Man weiß nie, wer zuhört. Und jetzt nimm die Beine in die Hand, die Fähre wartet schon.«
»Oh!« Charlie grinste und zog ihren Hexenhut tiefer ins Gesicht. Es machte ihr sichtlich Spaß, etwas auszuhecken.
Betty rannte voraus, die hüpfende Charlie im Schlepptau, den Blick auf das Gefängnis geheftet. Welche Zelle wohl die ihres Vaters war? Es war unmöglich, das von hier zu erkennen. Häftlinge wurden oft verlegt. Er war vielleicht nicht einmal mehr in derselben Zelle, woher sollte Betty das wissen. Es war sechs Monate her, dass Granny Fliss und Betty zuletzt zu einem Besuch mitgenommen hatte. Angeblich hatte ihr Vater behauptet, er fühle sich zu elend und schäme sich zu sehr, um seinen Töchtern unter die Augen zu treten oder wenigstens auf ihre Briefe zu antworten.
Bettys Blick verfinsterte sich. Das hätte er sich mal überlegen sollen, bevor er sich einbuchten ließ. Sie warf dem Gefängnis einen letzten zornigen Blick zu und wandte sich entschlossen ab. Sie würde es nicht zulassen, dass ihr Vater ihr diesen Abend verdarb, so, wie er alles andere verdorben hatte. Sie rannten die letzten Schritte bis zum Anleger. Offensichtlich gab es keine Nebelwarnung, denn der Fährmann schien sich nicht an den feinen Schwaden zu stören, die um das Boot waberten. An Bord saßen schon eine Handvoll kostümierter Leute, die offenbar auch zum Halloween-Jahrmarkt wollten. Betty bezahlte das Fahrgeld und quetschte sich dann auf den schmalen Sitz neben Charlie.
Glücklich blickte sie den Weg zurück. Waren sie wirklich unbemerkt und ohne weitere Schwierigkeiten davongekommen? Trotzdem wippte sie ungeduldig mit dem Fuß, bis der Fährmann das Boot abstieß, und dann glitten sie auch schon über das Wasser.
»Dem Wagemutigen winkt das Abenteuer!«, flüsterte Betty aufgeregt. Sie hatte sich schon den ganzen Tag darauf gefreut, ihr neues Motto laut auszusprechen.
Charlie beeindruckte das wenig. »Was meinst du, welche Farbe hat die Zuckerwatte?«
»Grün vielleicht, oder orange …«, antwortete Betty gedankenverloren. Sie starrte zurück zum Ufer. Ein Stück vom Fähranleger entfernt war der Hafen. Irgendwo zwischen den anderen Booten lag ihr eigenes, ein zusammengezimmertes Gebilde aus morschem Holz. Ihr Vater hatte es bei einer Wette gewonnen und seitdem immer wieder vorgehabt, es auszubessern und wieder seetauglich zu machen – ohne Erfolg. Vielleicht würde er das nie auf die Reihe bekommen. Doch in diesem Moment war es Betty egal. Sie brauchte ihren Vater oder sein Boot nicht, um Abenteuer zu erleben. Hier, auf dem Wasser, in der Nacht, war sie nicht mehr nur die mittlere Widdershins-Schwester: plump und unattraktiv gegenüber Fliss mit ihrer Schönheit und ihrem Charme, und zu vernünftig im Vergleich zur niedlichen, verschmitzten Charlie. Hier war sie Betty, die Kühne; Betty, die Abenteurerin! Sie konnte machen, was sie wollte, sie konnte gehen, wohin sie wollte!
Alles sah jetzt anders aus, gruseliger und geheimnisvoller, und in der Ferne konnte sie seltsame flackernde Lichter sehen, wie magische Leuchtkugeln, die über der Wasseroberfläche schwebten. Die Leute nannten sie Irrwische. Manche sagten, es wären die Seelen derer, die in der Marsch umgekommen waren, andere hielten sie für boshafte Wassergeister, die versuchten, Reisende auf Irrwege zu führen.
Sie starrte hinüber zum Gefängnis. Die Festung befand sich auf der Insel der Sühne, einer der drei nahe gelegenen Inseln in der Marsch; dort würden sie zuerst vorbeikommen. Die zweite, kleinere Insel war bekannt als Insel der Klagen, wo alle Toten Krähensteins begraben waren. Betty war nur zweimal dort gewesen, zuletzt als ihre Mutter kurz nach Charlies Geburt gestorben war. Eine tiefe Traurigkeit überkam sie, als sie daran zurückdachte. Eine Wunde, die noch immer nicht verheilt war.
Die letzte der Inseln hieß Insel der Qualen. Sie war unzugänglich für jene, die auf der Hauptinsel lebten. Die Bewohner dieser Insel waren Verbannte: Menschen, die aus dem Gefängnis entlassen worden waren, aber noch ihre Strafe verbüßten, indem man sie nicht auf das Festland zurückkehren ließ. Oder jene, deren Verbrechen nicht schwerwiegend genug waren, um eine Haftstrafe zu fordern, aber ernst genug, um eine Verbannung zu rechtfertigen. Zusammen wurden die drei kleineren Inseln als Inseln des Jammers bezeichnet und gehörten zu Krähenstein. Neben der Hauptinsel waren diese Inseln alles, was die Mädchen je kennengelernt hatten – niemals war eine von ihnen weiter gereist.
Heute Abend, nach all der Zeit der Sehnsucht, würde sich das ändern. Es war ihr Geburtstagsgeschenk an sich selbst, hatte Betty beschlossen. Ein Schritt in die Richtung des Lebens, das sie wollte, ein Leben voller Möglichkeiten und Abenteuer; eines, in dem sie keinen Kohlestaub mehr unter den Fingernägeln hätte, sondern goldenen Sand.
Das Boot war noch nicht weit gefahren, als Betty merkte, dass etwas vor sich ging. Der berüchtigte Nebel der Marsch machte seinem Ruf alle Ehre: Die Gefängnislichter waren verschwunden. Stattdessen konnte man nur noch dichten grauen Dunst sehen. Der wabernde Nebel strich um sie herum und fuhr ihnen in die Knochen. Bettys Kopfhaut fing vor Angst an zu kribbeln. Eine Mutter, die ihnen gegenübersaß, zog ihren kleinen Sohn näher an sich heran und murmelte beunruhigt vor sich hin.
»Betty?« Charlie zupfte sie am Ärmel. »Was, wenn das Boot sich verirrt oder wir nachher den Weg zurück nicht finden können …«
Betty schluckte. Granny hatte über die Jahre viele Ausreden gehabt, sich mit den Mädchen nicht weit von zu Hause wegzubewegen, und jetzt schossen ihr all diese Ermahnungen wieder in den Kopf. »Wir könnten die Fähre zurück verpassen … in der Marsch sind schon viele Boote auf Felsen gelaufen und gesunken … man munkelt, dass es in dieser Gegend noch Sklavenhändler gibt, die nur darauf warten, Menschen zu entführen und zu verkaufen …« Plötzlich fühlte sich Betty gar nicht mehr so scharfsinnig oder mutig, sondern ziemlich töricht und ängstlich.
»Man sieht ja kaum noch was!«, rief die Frau mit dem kleinen Jungen dem Fährmann zu.
»Stimmt«, grunzte er. »Is’ vielleicht nur ein kleines Nebelfeld. Doch wenn’s nicht gleich aufklart, müssen wir umkehren.«
Charlies Unterlippe begann zu zittern. »A-aber meine Zuckerwatte …«
Betty antwortete nicht. Sie versuchte krampfhaft, ruhig zu bleiben, ihrer Schwester zuliebe. Vielleicht war Granny gar nicht übervorsichtig gewesen. Vielleicht hatte sie recht gehabt, sich zu fürchten …
Beängstigend schnell wurde das Boot von dichtem Nebel eingehüllt, und die Temperatur fiel nun merklich. Das war kein kleines Nebelfeld. Sie waren vollkommen von undurchsichtigem Dunst umgeben. Der Fährmann hörte auf zu rudern und hob seine Laterne. Betty spürte, wie Charlies kleine Hände nach ihr griffen. Sie legte ihrer Schwester einen Arm um die Schultern und hob die andere Hand vor ihr Gesicht. Ihre Finger berührten schon fast ihre Nase, als sie die Hand endlich sehen konnte.
Da erschütterte ein dumpfer Schlag das Boot. Die Leute hielten vor Angst den Atem an, und einige schrien, als das Boot gefährlich ins Wanken geriet.
»Was war das?« Charlies Stimme klang schrill vor Angst. Ihre Finger gruben sich schmerzhaft in Bettys Arm.
»Ich weiß nicht!«, stieß Betty aus und klammerte sich am Bootsrand fest. Eiskaltes Wasser schwappte bis zu ihrem Ellbogen. »Vielleicht sind wir gegen einen Felsen gestoßen?«
»Ich will nach Hause!«, jammerte Charlie. Kein Gedanke mehr an Zuckerwatte.
Das Boot schwankte noch einmal, und plötzlich baute sich eine vertraute Gestalt über den Mädchen auf. Betty stieß einen überraschten Laut aus, als ein Gesicht dicht vor ihrem auftauchte und sie fast mit der Nase anstieß.
»Gut!«, sagte Granny. »Denn genau dort geht es jetzt hin: nach Hause!«