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Kapitel 4

Bei Sonnenuntergang

Fassungslos hob Betty ihre Hände vors Gesicht. Sie konnte sie sehen, aber der Spiegel zeigte nichts – und es war klar, dass auch niemand anders Betty sehen konnte. Um ganz sicherzugehen, machte sie eine unanständige Geste in Richtung ihrer Großmutter, doch Granny sah nur weiter starr durch sie hindurch.

Eine prickelnde Freude stieg in ihr auf. Sie schnappte sich ein Geschirrtuch, das über einem Stuhl lag, und schüttelte es. Im Spiegel sah sie es durch die Luft fliegen, als hätte es ein Eigenleben. »Huuuuuuuuu!«, heulte sie mit tiefer Stimme.

»Oooh!«, rief Charlie, sichtlich begeistert.

Fliss schauderte. »Betty, hör auf damit! Das ist gruselig!«

»Ach, jetzt sei kein Spielverderber«, sagte Betty. »Es wird Zeit, dass hier mal richtig was los ist und wir unseren Spaß haben!«

»Das hier ist kein Spaß«, sagte Granny. »Das sind keine Spielzeuge.«

Das Geschirrtuch glitt Betty aus der Hand und landete auf dem Boden. »Und wozu sollen sie dann gut sein?«

»Sie sind zum Schutz gedacht. Um uns zu helfen, wenn wir mal so richtig angeschmiert sind.«

»Dann werden sie wohl nicht oft benutzt werden«, sagte Betty mürrisch. »Das Einzige, was hier schmierig ist, sind die Teller, die Fliss nicht richtig abgewaschen hat.«

»Hey!«, rief Fliss empört.

»Oder der Fußboden, wenn Pfui nachts im Haus eingesperrt war«, fügte Charlie hinzu.

»Wie mache ich mich denn jetzt wieder sichtbar?«, fragte Betty. »Nehme ich einfach das Haar wieder aus der Puppe?«

»Nicht ganz«, sagte Granny. »Du drehst die obere Hälfte gegen den Uhrzeigersinn einmal ganz herum, dann ziehst du die Hälften auseinander und nimmst das Haar heraus.«

Betty tat es und beobachtete ihr Spiegelbild. Und wirklich – es kehrte zurück!

»Nun«, sagte Granny. »Du kannst auch andere Menschen verschwinden lassen. Du machst genau das Gleiche, nur dass du diesmal die dritte Puppe nimmst. Daran musst du denken. Die zweite Puppe ist für dich, und zwar nur für dich.«

»Mich!«, bettelte Charlie. »Mach mich unsichtbar!« Sie griff in ihre Tasche, holte etwas winziges Weißes hervor und warf es über den Tisch. »Hier, nimm Stummel.«

»Bei der diebischen Elster!«, rief Fliss überrascht. »Trägst du immer noch diesen Zahn mit dir herum? Und seit wann hat der einen Namen

Charlie grinste und zeigte stolz ihre Zahnlücke. Seit sie ihren ersten Zahn verloren und beim Aufwachen am nächsten Morgen einen glänzenden Kupferraben unter ihrem Kopfkissen gefunden hatte, hatte sie beschlossen, ihre zweite Opfergabe die ganze Zeit in ihrer Tasche zu tragen, in der Hoffnung, die Zahnfee zu erwischen. Das war nun schon drei Wochen her, und weder Granny noch Fliss hatten es geschafft, den Zahn aus ihrer Tasche zu fischen, ohne Verdacht zu erregen. Charlie war allmählich enttäuscht über die offensichtlich doch geringe Einsatzbereitschaft der Zahnfee und war deswegen sogar dazu übergegangen, ihr erboste kleine Zettelbotschaften zu hinterlassen.

Betty nahm den Zahn und legte ihn in die dritte Puppe, drehte sie zu und steckte sie in die äußeren Puppen. Sofort war Charlie nicht mehr zu sehen.

»Bin ich schon unsichtbar? Bin ich?«, fragte Charlie ungeduldig.

»Ganz und gar.« Betty streckte die Hand aus und erwartete, auf nichts als Luft zu stoßen, aber ihre Finger berührten warme Haut.

»Ach ja«, sagte Granny. »Man kann euch zwar nicht sehen, aber man kann euch fühlen

Sehr zu Charlies Enttäuschung entfernte Betty den Zahn und steckte die Puppen wieder ineinander.

Charlie zog einen eifersüchtigen Schmollmund. »Warum bekommt Betty die Puppen? Sie ist doch diejenige, die auf Abenteuersuche gehen will! Die Tasche wäre viel besser für sie!«

»Die Tasche ist genauso gut, Charlie«, redete Betty ihr zu. »Besser als die Puppen eigentlich.« Die Reisetasche wäre wirklich perfekt für sie gewesen, das wurde ihr wehmütig klar. Wie einfach könnte sie sich damit blitzschnell an einen anderen Ort bringen lassen, wo auch immer sie hinwollte … und wieder zurück, bevor Granny sie aufhalten konnte. Allerdings könnten die Puppen genauso nützlich dabei sein, sich unbemerkt aus dem Staub zu machen. Der Gedanke war ebenso verwerflich wie verlockend. Sie hatte immer noch das Gefühl, Granny versuchte, mit den magischen Gaben ihren Gehorsam zu erkaufen, während Betty schon wieder alles andere im Sinn hatte als das.

»Ist mir egal«, fuhr Charlie schmollend fort. »Ich will die Puppen, weil sie so sind wie wir.« Sie zeigte auf die größte Puppe. »Seht ihr? Diese hier ist Granny, die auf die drei kleineren aufpasst.«

»Ja«, sagte Fliss mit einem matten Lächeln. »Stimmt, sie sind wirklich wie wir.«

»Die Puppen gehen an Betty«, sagte Granny. »Für Fliss war der Spiegel bestimmt, und bis du alt genug bist, Charlie, bleibt die Reisetasche bei mir. Jeder Gegenstand geht am sechzehnten Geburtstag an ein Widdershins-Mädchen oder, wie bei mir und eurer Mutter, am Tag der Hochzeit mit einem Widdershins.« Sie fuhr mit dem Finger um den Rand ihres Glases. »Sobald ein Gegenstand euch gehört oder euch zugesprochen wird, ist er der Einzige, den ihr benutzen könnt.«

Charlie sah auf. »Heißt das, ich könnte die Tasche benutzen … schon jetzt?«, fragte sie, auf einmal gar nicht mehr so mürrisch.

Alle drei Mädchen sahen Granny erwartungsvoll an. So wie ihre Großmutter den Mund verzog, hatte Betty den Eindruck, dass sie die Frage am liebsten nicht beantworten wollte.

»Ja«, sagte Granny schließlich. »Das könntest du. Aber das heißt nicht, dass du es versuchen sollst – nicht, bevor du sechzehn bist!«

»Sechzehn?«, stieß Charlie hervor. »Das ist nicht fair! Betty ist erst dreizehn, und sie kriegt die Puppen schon jetzt!«

Granny schloss gequält die Augen. »Also gut, dreizehn. Dann kannst du sie haben.«

»Ja!«, rief Charlie. Sie zählte die Jahre an ihren Fingern ab und machte wieder ein mürrisches Gesicht. »Das ist immer noch furchtbar lange hin.«

»Nicht so lange, wie es hätte sein können, deshalb gib dich besser damit zufrieden.«

»Also«, begann Betty. Während Charlie versucht hatte, mit Granny zu feilschen, hatte sie nachgedacht. »Die ganze Zeit über hat nur die Reisetasche eine Besitzerin gehabt? Was ist mit dem Spiegel und den Puppen? Wie lange haben die auf ein weiteres Widdershins-Mädchen gewartet?«

»Eine ganze Weile.« Granny nahm ein Streichholz und zündete ihre Pfeife wieder an. »Ich hatte nie eine Tochter, nur euren Vater, wie ihr wisst. Aber er hatte eine Cousine, Clarissa. Der Spiegel ging an sie. Sie starb kurz nachdem eure Eltern geheiratet haben, als ihr alle noch nicht geboren wart.« Granny deutete auf die alte Holzkiste. Ihre Augen wirkten dunkel und abwesend. »Und so kam der Spiegel wieder hier hinein, um auf seine nächste Besitzerin zu warten.«

»Und Mutter?«, fragte Betty. »Du hast doch gesagt, sie hätte an ihrem Hochzeitstag einen dieser Gegenstände bekommen?«

Granny nickte. »Die Matroschka. Aber soweit ich weiß, hat sie die Puppen nie benutzt.«

»Warum nicht?«, fragte Fliss.

»Sie hatte nie Grund dazu«, antwortete Granny. »Wie all die Frauen vor ihr wurde eure Mutter gewarnt, sie nicht leichtfertig zu benutzen. Und sie mochte sie nicht – zumal sie nicht wusste, woher sie kamen und wie wir sie bekommen hatten.«

»Weiß das denn niemand?«, fragte Betty zaghaft.

Ein gequälter Ausdruck huschte über Grannys Gesicht. Wieder hatte Betty das Gefühl, dass die alte Frau ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählte. »Wenn es jemanden gibt, der es weiß, dann hat er beschlossen, es nicht zu sagen.«

In der Küche wurde es still, so still, dass man das Ticken der alten Wanduhr mit dem Raben hören konnte. Betty beäugte die Holzpuppen jetzt mit einem unbehaglichen Gefühl. Es war etwas Unheimliches an verzauberten Familienerbstücken, die weitergereicht wurden, ohne dass jemand wirklich über sie Bescheid wusste. Aber ihre Verlockungen waren einfach zu groß, um ihnen zu widerstehen.

»All diese Magie«, meinte Betty wehmütig, »und du sagst, wir sollen sie nicht benutzen?«

»Ich sage«, erklärte Granny, »dass sie für Zeiten der Not gedacht ist – nicht dafür, euch mit banalen Zaubertricks zu unterhalten.«

»Warum sollten wir sie aber brauchen?«, fragte Betty.

»Man weiß nie«, murmelte Granny und unterdrückte einen Schluckauf. »Es könnte ja einmal sein, dass ihr Mädchen euch verstecken oder schnell flüchten müsst. Wie ich eines Abends, bevor ihr drei hier gewohnt habt. Es gab einen Einbruch nach Feierabend, als ich allein war. Da habe ich die Reisetasche benutzt, um mit den Einkünften des Abends sicher aus dem Haus zu kommen und Alarm zu schlagen. Ohne die Tasche wäre ich nie entkommen.« Sie griff nach ihrem Glas, stellte fest, dass es leer war, und schob es verärgert zur Seite. »Ich sage nicht, dass ihr sie unbedingt brauchen werdet. Aber ihr dürft diese Gegenstände nie unbedacht verwenden, besonders in einem Ort wie Krähenstein. Die meisten Leute hier haben Verbindungen zu den Häftlingen im Gefängnis. Gefährliche Leute, die vor nichts zurückschrecken würden, um solche Dinge in die Hände zu bekommen. Stellt euch vor, sie wüssten von einer Tasche, die sie auf die andere Seite der Gefängnismauern transportieren könnte … oder von einer Matroschka-Puppe, die sie unbemerkt an den Wärtern vorbeischmuggeln könnte. Deshalb hört mir gut zu: Eure Magie darf nur benutzt werden, wenn sie wirklich benötigt wird. Alles andere ist ein zu großes Risiko.«

»Aber du hast es doch auch getan«, wandte Betty ein. »Du hast heute Abend deine Reisetasche benutzt, um uns zu finden und direkt auf unserem Boot zu landen, wenn du doch einfach auf das nächste hättest warten können.«

»Das ist der springende Punkt – ich konnte nicht warten. Ich hätte euch nie rechtzeitig gefunden.«

»Rechtzeitig wozu?«, fragte Betty. »Um uns den Spaß zu verderben, bevor er überhaupt begonnen hatte?« Sie wartete auf den sicheren Kommentar zu ihrem frechen Mundwerk, aber er kam nicht. In ihrem Bauch breitete sich Angst aus. Das ganze Gerede über die Puppen und die Magie hatte sie von ihrer wichtigsten Frage abgelenkt. »All das ist noch keine Antwort auf das, was du vorhin versprochen hast zu erzählen … warum wir Krähenstein nicht verlassen können.«

Granny griff nach ihrem Tabaksbeutel. »Ich dachte, ihr solltet die gute Nachricht zuerst hören.« Sie zündete ihre Pfeife an und nahm einen tiefen Zug, als wollte sie noch etwas Mut in sich aufsaugen. »Die Wahrheit ist: Wir sind verflucht … jede von uns. Kein Widdershins-Mädchen hat Krähenstein je verlassen können. Wenn wir es tun, werden wir beim nächsten Sonnenuntergang sterben.«

Eine Prise Magie (Bd. 1)

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