Читать книгу Eine Prise Magie (Bd. 1) - Michelle Harrison - Страница 12
Die drei Gaben
ОглавлениеHopp, hopp, weiter geht’s!«, sagte Granny. Sie spähte von dem dunklen Hauseingang hinaus auf den verlassenen Park. »Gut – niemand hat uns gesehen.«
Starr vor Schreck rappelte Betty sich auf und zog Charlie neben sich hoch. Beide starrten ihre Großmutter an. Auch wenn Betty noch zu benommen war, um zu sprechen, quoll ihr Kopf doch über vor Fragen. Was zum Raben war da gerade passiert … wie war so etwas überhaupt möglich? Und wie konnte Granny so tun, als wäre das alles ganz selbstverständlich? Charlie hatte aufgehört zu weinen, aber auf ihrem dreckverschmierten Gesicht waren noch Tränenspuren zu sehen. Ihr kleiner Körper zitterte.
»Kommt schon.« Granny schob sie auf die Tür zu. »Rein mit euch, raus aus der Kälte.«
Warme Luft, fröhliches Stimmengewirr und Musik strömten aus der Gaststätte. Betty trat ein, den Arm fest um Charlies Schultern gelegt. Drinnen war es schummrig, und der Schein der Kürbislaternen tauchte alles und jeden in ein goldenes Licht. Es war schwierig, sich zwischen all den Leuten zu bewegen, aber Granny schubste und drängelte, um sich einen Weg zur Bar zu bahnen, wo Fliss und ein anderes Mädchen, Gladys, einen Drink nach dem anderen ausschenkten.
Granny drückte Betty die Reisetasche in die Hand. »Nimm die mit hoch in die Küche. Und setzt schon mal Teewasser auf.«
Betty hielt die Tasche auf Armeslänge von sich. Sie hatte Angst, von dem Ding verschluckt und an irgendeinem unbekannten Ort wieder ausgespuckt zu werden.
»Heiliger Krähenfuß!« Granny riss die Reisetasche wieder an sich und klemmte sie sich unter den Arm. Sie nahm ein Glas von der Theke und schenkte sich einen großen Whisky ein. »Fliss!«, rief sie. »Nach oben.«
»Jetzt?«, platzte Fliss überrascht heraus.
»Jetzt.«
Die beiden sahen sich an, und Fliss machte auf einmal ein ganz ernstes Gesicht. Sie nickte, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und warf Betty einen Blick zu. Betty starrte zurück, und da entdeckte sie etwas, was aus der Schürzentasche ihrer Schwester ragte. Fliss versuchte hastig, es zurückzustopfen, aber Betty hatte es sofort erkannt: Es war eine Ecke des Jahrmarkt-Flugblatts, die da herauslugte. Fliss hatte sie also tatsächlich verraten. Doch all das, was gerade passiert war, hatte Bettys Wut abkühlen lassen und dafür nur noch mehr Fragen aufgeworfen. Wusste Fliss, was Grannys alte Reisetasche wirklich konnte und was für ein großes Geheimnis ihre Großmutter ihnen erzählen wollte? Ungewohnte Gefühle von Eifersucht versponnen sich wie feine Fäden zu einem fremdartigen Muster. Früher waren es immer Betty und Fliss gewesen, die Geheimnisse geteilt hatten; jetzt war sie diejenige, die ausgeschlossen war.
»Wo wollt ihr denn hin?«, kreischte Gladys. »Ich stehe hier knöcheltief im Bier! Das schaffe ich nicht allein!«
»Wir brauchen nicht lang, und ich zahl dir heute Abend doppelten Lohn.« Granny trank den Whisky in einem einzigen Schluck und schenkte sich dann gleich einen zweiten ein.
»Das wird nicht helfen«, sagte Fliss.
»Du warst ja noch nie betrunken, woher willst du das also wissen?«, sagte Granny ärgerlich und drehte sich dann zu Betty um. »Hatte ich euch beiden nicht gesagt, ihr sollt nach oben gehen?«
Wie betäubt legte Betty ihre Hände auf Charlies Schultern und schob sie in Richtung Treppe. Als sie die Stufen hinaufstiegen, versuchte Betty, sich auf normale, alltägliche Dinge zu konzentrieren, betrachtete die abgeblätterte Tapete und den ramponierten Teppich. Das hier war ihre Welt, nicht eine, in der muffige alte Reisetaschen Leute von einem Ort zum anderen beförderten. Vielleicht war ja Schnupftabak in der Tasche gewesen, überlegte sie. Etwas, was sie vorübergehend benebelt hatte. Das war die einzige vernünftige Erklärung.
Sobald sie in der Küche waren, setzten sich Betty und Charlie an den Tisch. Charlie zog ihre Knie an und lugte über sie hinweg wie eine verängstigte kleine Maus, die Augen weit aufgerissen. Granny zog einen Stuhl hervor und verscheuchte schimpfend eine zerzauste schwarze Katze, die darauf gesessen hatte.
»Verschwinde!«, blaffte sie das fauchende Tier an. Die Katze hasste jeden, nur Charlie versuchte immer wieder, sich mit ihr anzufreunden. Sie war eines Tages einfach ins Haus spaziert (auch wenn Betty vermutete, dass Charlie sie mit Essensresten angelockt hatte), und jetzt wurden sie die Katze nicht mehr los. Granny hatte strenge Anweisung erteilt, ihr keinen Namen zu geben, und jedes Mal, wenn die Katze Anstalten machte, Charlie zu kratzen, rief sie »Pfui!« und fuchtelte mit dem Besen, aber die Katze kam immer wieder zurück und machte, was sie wollte. Und dank Charlie hatte sie nun doch einen Namen.
»Arme Pfui«, murmelte sie, als die Katze die Treppe hinunterschlich.
Fliss füllte die Teekanne. Granny setzte sich an den Kopf des Tisches, nahm ihre Pfeife hervor und stopfte sie mit Tabak.
Eine Minute später stellte Fliss jedem eine Tasse Tee auf den Tisch und rührte haufenweise Zucker hinein. »Das hilft, wenn man unter Schock steht.«
»Nicht so gut wie Whisky«, brummte Granny und griff wieder nach ihrem Glas.
Fliss schnaubte missbilligend. Dann fing Charlie an zu schluchzen.
»Na, na.« Granny tätschelte ihren Arm. »Ich weiß, du bist jetzt ein bisschen durcheinander. Weine ruhig und lass alles raus.«
Ein bisschen durcheinander? Und dabei war das wohl noch nicht alles, Granny wollte doch noch mit etwas anderem herausrücken, mit irgendeiner Erklärung, warum sie in Krähenstein gefangen waren. Das muss aber schon eine gute Erklärung sein, dachte Betty. Eine echte, solide Begründung, um ihre Träume zu zerschlagen, und nicht nur fadenscheinige Befürchtungen.
Charlie weinte noch immer. Ihr Körper wurde jetzt von heftigem Schluchzen geschüttelt. »Granny? Ich verstehe nicht, was da gerade passiert ist. Bist du eine … eine Hexe?«
»Eine Hexe? Du liebe Zeit, nein!«, rief Granny.
»A-aber deine T-tasche …«
»Ja, ja, ich weiß. Erst waren wir an einem Ort, dann landeten wir an einem anderen. Es ist eine Reisetasche, kein Hexenbesen. Und weißt du was? Eines Tages wird sie dir gehören!«
Da wimmerte Charlie nur noch lauter.
»Aber wie …?«, begann Betty. Denn auch wenn Granny es abstritt, Betty konnte nicht anders, als weiter darüber nachzugrübeln. Hexen gab es in der Wirklichkeit nicht, oder etwa doch?
»Ich weiß es nicht.« Granny zündete ihre Pfeife an und nahm einen tiefen Zug. Dichter Rauch hüllte sie ein, der stark nach Nelken und anderen Gewürzen roch. »Ich weiß nicht, wie es funktioniert, ich weiß nur, dass es funktioniert.«
»Musst du unbedingt rauchen?«, schimpfte Fliss und rückte ihren Stuhl weg. »Du weißt, was für ein Gestank das ist und dass wir den Rauch nicht gerne einatmen.«
»Ich will auch nicht, dass ihr ihn einatmet«, sagte Granny. »Das ist mein Rauch. Ich habe viel Geld dafür bezahlt.«
Das vertraute Gezänk schien Charlie etwas zu beruhigen. Ihr Schluchzen wurde zu einem leisen Schniefen. Schließlich streckte sie den Arm aus und griff nach ihrer Tasse wie eine Maus, die sich ein Stück Käse schnappt und damit zurück in ihr Loch flitzt.
Betty nahm einen großen Schluck Tee und verzog das Gesicht. Er war schwach und zu süß, genauso miserabel wie alles, woran sich Fliss in der Küche versuchte. »Wie lange weißt du schon davon, Fliss? Du scheinst von all dem ja nicht gerade überrascht zu sein.«
»Seit ein paar Monaten.« Fliss spielte mit einem kleinen Zopf, den sie in ihr Haar geflochten hatte. »Granny hat es mir an meinem Geburtstag erzählt.«
Dann hatte sich Betty die Veränderung ihrer Schwester also doch nicht eingebildet. Die ganze Zeit über hatte Fliss ihr Dinge verheimlicht. Grannys Geheimnisse gehütet. Die Fäden der Eifersucht verknüpften sich immer fester und mischten sich mit dem Gefühl eines Vertrauensbruchs. Warum hatten Fliss und Granny ihr beide nicht vertraut?
Granny paffte eine weitere Wolke süßlichen Rauchs in die Luft. »Das ist noch nicht alles.«
Betty schwieg. Das hatte sie sich schon gedacht.
»Dieser … dieser Spiegel, den Granny mir zum Geburtstag geschenkt hat«, fuhr Fliss fort. »Der kann auch etwas.«
Charlie lugte über den Rand ihrer Teetasse. »Der Meerjungfrau-Spiegel?«
Betty taten die Finger weh, weil sie ihre Tasse so fest umklammert hielt. Sie stellte die Tasse auf den Tisch. »Und was kann der Spiegel?«
Fliss warf einen Blick zu Granny und wurde ganz rot im Gesicht. »Er … er lässt mich mit Leuten reden, die … nicht da sind.«
»Die nicht da sind?«, wiederholte Betty. Vor diesem Abend hätte sie darüber gespottet – vor dem ganzen Hokuspokus mit Grannys Reisetasche. Sie hätte gern geglaubt, das alles wäre ein raffinierter Trick, um sie dafür zu bestrafen, dass sie ausgerissen war, aber sie wusste, Granny würde normalerweise nie eine Gaststätte voller durstiger Gäste im Stich lassen – und Fliss war genauso schlecht darin, zu lügen, wie zu kochen. »So was wie … Geister?«
Charlie stieß ein erschrockenes Krächzen aus.
»Nein!«, sagte Fliss eilig. »Nicht so etwas. Leute, die woanders sind. Auf der anderen Seite der Insel vielleicht oder einfach im Zimmer nebenan. Auf einer der Inseln des Jammers – oder weiter weg.«
Die Inseln des Jammers. Sofort musste Betty an ihren Vater denken. Hatte Fliss den Spiegel benutzt, um mit ihm zu sprechen? Sie öffnete den Mund, um zu fragen, aber dann überlegte sie es sich anders. Barney Widdershins konnte warten. Zu viele andere Fragen zu diesen merkwürdigen Gegenständen drängten sich in ihrem Kopf nach vorn und verlangten Antworten.
Betty nippte noch einmal an ihrem Tee. Der Schock wich allmählich von ihr, und sie fing an zu zittern. So etwas wie magische Gegenstände gab es doch gar nicht, höchstens in Träumen und Geschichten … Aber so vernünftig Betty auch war, sie konnte nicht leugnen, was sie da vorhin erlebt hatte – und sie wusste, dass sie nicht träumte. Wie war es möglich, in Sekundenschnelle von einem Ort zu einem anderen zu reisen, einfach indem man eine alte Tasche umstülpte? Und wie konnte jemand durch Spiegelglas mit Leuten an anderen Orten sprechen? Es gab nur eine Möglichkeit, so etwas zu beschreiben: Magie. Sie erinnerte sich an andere Momente, als sie mit Fliss und Charlie versucht hatte auszureißen und Granny sie in letzter Minute aufgespürt hatte … und dass Granny nie zu spät kam – egal, wohin. Jetzt ergab das alles einen Sinn.
»Woher kommen sie überhaupt?«, fragte Betty schließlich. »Die Tasche und der Spiegel?«
Granny zog noch einmal an ihrer Pfeife, hustete und zögerte. »Das weiß ich nicht so genau. Niemand weiß das. Aber sie sind seit Jahrzehnten in der Familie. Wurden durch Generationen von Widdershins-Mädchen weitergereicht. Das war schon immer so – zumindest, solange ich mich erinnern kann.«
»Und wie lange ist das?«, fragte Betty.
Granny schürzte die Lippen, während sie nachdachte. »Ungefähr hundertfünfzig Jahre.«
»Und wann wolltest du Charlie und mir davon erzählen?«, fragte Betty weiter. »Falls du es uns überhaupt erzählen wolltest?«
»Das wollte ich«, antwortete Granny. »An eurem sechzehnten Geburtstag. So, wie ich das bei Fliss gemacht habe.«
»Und du?«, fragte Charlie. »Warst du auch sechzehn, als du die Tasche bekommen hast?«
»Nein«, sagte Granny. »Ich hab die Tasche am Tag meiner Hochzeit bekommen.«
Natürlich, dachte Betty. Granny war keine geborene Widdershins. Sie hatte in die Familie eingeheiratet, genau wie Bettys Mutter. »Ein Hochzeitsgeschenk, das es in sich hatte«, bemerkte sie.
Granny lächelte matt. »Ich schätze, es war ein kleiner Ausgleich für den Rest des –« Sie verstummte, als wäre ihr etwas herausgerutscht, das sie nicht hätte sagen sollen, aber Betty sprang sofort darauf an.
»Der Rest wovon?«
»Dazu komme ich gleich.«
Betty warf einen Blick zu Fliss, und es schnürte ihr die Brust zu. Worum auch immer es sich handelte, sie konnte am Gesichtsausdruck ihrer Schwester ablesen, dass sie Bescheid wusste und es nichts Gutes war.
Granny nahm die Pfeife in die andere Hand, um an ihrem Whisky zu nippen. »Es gibt drei Gegenstände … drei Gaben, wenn du so willst. Jedes ist ein alltäglicher Gegenstand. Mit jedem ist eine andere Fähigkeit verbunden. Ich nenne es eine Prise Magie.«
Angst oder Aufregung – oder eine Mischung aus beidem – begann in Bettys Bauch zu kribbeln. Granny das Wort »Magie« aussprechen zu hören hatte etwas Fantastisches. Und doch … Grannys unvollendeter Satz schwelte noch immer beunruhigend in ihren Gedanken. Was hatte das alles damit zu tun, dass die Widdershins in Krähenstein gefangen waren? Sollten die magischen Gaben ihnen nur etwas Unheilvolleres versüßen? Sie lehnte sich über den Tisch. »Du meinst … wenn Charlie und ich sechzehn werden, bekommen wir auch eine von diesen … diesen Gaben?«
»So war es geplant, ja.«
Betty runzelte die Stirn. »War?«
»Nach dem, was heute Abend passiert ist … als ihr euch einfach so davongemacht habt, ist mir klar geworden, dass manche Pläne geändert werden müssen.«
»Oh, Granny, bitte …«, sagte Betty. »Ich weiß, es war falsch, deine Regeln zu brechen, und egal, welchen magischen Gegenstand du für mich aufgehoben hast – ich habe ihn nicht verdient. Aber bitte bestrafe Charlie nicht dafür.« Sie sackte betrübt auf ihrem Stuhl zusammen. »Es ist nicht ihre Schuld. Es war alles meine Idee.«
»Ich weiß«, sagte Granny mit sanfter Stimme. »Ich habe aber nicht vor, irgendeine von euch zu bestrafen. Darum ging es nie, sondern einzig darum, euch zu beschützen. Aber heute Abend habe ich begriffen, dass es euch nur noch mehr in Gefahr gebracht hat, euch die Dinge zu verheimlichen. Und deshalb habe ich mich entschlossen, ab jetzt mit offenen Karten zu spielen.« Sie legte ihre Pfeife in den Aschenbecher und stand auf. »Wartet hier.«
Granny verschwand im Flur. Betty griff nach Charlies Hand. Sie war eiskalt. »Du musst keine Angst haben«, sagte sie zu ihr, auch wenn sie sich insgeheim fragte, ob Charlie das alles verkraften würde. Schuldgefühle nagten an ihr, aber jetzt war es zu spät für Reue. Was auch immer nun passieren würde, Betty allein hatte es heraufbeschworen. Trotzdem konnte sie sich noch immer nicht vorstellen, wie Granny sie überzeugen wollte, Krähenstein nicht zu verlassen – oder sie dazu bringen könnte, ihre Träume aufzugeben.
Da kam Granny zurück, mit einer kleinen Kiste in der Hand. Sie war aus dunklem Holz, mit einem gewölbten Deckel und verschlungenen Eisenverzierungen. Vorn hing ein großes Schloss, und auf beiden Seiten war ein großes, schnörkeliges W in das Holz geschnitzt. Die Kiste sah aus wie etwas, das Geheimnisse barg und Spannung, oder einen Schatz. Und doch durchlief Betty ein angstvolles Zittern, als Granny den Schlüsselring von ihrem Gürtel löste. Bedeutete ein Schloss zu öffnen, dass jetzt ein anderes um sie zuschnappen würde? War der Preis für diese magischen Gegenstände ihre Freiheit?
Trotz dieser Gedanken beugte Betty sich neugierig vor, als Granny das Schloss abnahm und den Deckel der Kiste hob. Ein muffiger Geruch strömte ihnen entgegen. Betty spähte hinein. In der Kiste lag ein kleines Paket, eingewickelt in schlichtem braunem Papier und zusammengehalten von einer Schnur.
»Wie ich schon sagte«, erklärte Granny. »Als Jüngste wird Charlie die Letzte sein, die etwas erbt, also steht fest, dass sie die Reisetasche von mir bekommt. Das hier, Betty, gehört dir. Aber bevor du es auspackst, lasst mich klarstellen, dass jeder der Gegenstände speziell nur für eine von euch bestimmt ist. Es gibt kein Tauschen untereinander.«
Zögernd streckte Betty die Hand nach dem Bündel aus. Ich muss das nicht annehmen, sagte sie sich. Nicht, wenn es bedeutet, dass ich für immer in Krähenstein bleiben muss. Nicht einmal Magie war diesen Preis wert. Und trotzdem durchfuhr sie ein Schauer von Nervenkitzel. Der Gegenstand war leichter als erwartet. Sie zog an der Schnur und löste den Knoten.
»Warte«, sagte Granny. »Erst müsst ihr alle versprechen, dass ihr diese Dinge geheim halten werdet. Habt ihr das verstanden? Ihr dürft niemandem außerhalb der Familie von diesen Gegenständen und ihren magischen Kräften erzählen.«
»Du meinst … Vater weiß davon?«, fragte Betty.
Grannys Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Ja. Und soweit ich weiß, ist es das einzige Geheimnis, das er für sich behalten hat.«
»Das wundert mich«, sagte Fliss scharf. »Ich hätte gedacht, so eine große Sache wäre das Erste, was er ausplaudern würde.« Es fiel ihr schwer, über ihren Vater zu sprechen. Als er damals ins Gefängnis gekommen war, hatte Fliss am längsten gebraucht, sich damit abzufinden.
Betty würde den Tag seiner Verhaftung nie vergessen: Fliss, die unter Tränen beteuerte, dass alles ein Irrtum sei; Granny, die Vater mit furchtbaren Schimpfwörtern überhäufte und dann den Kopf in den Händen vergrub und sich fragte, wie sie drei Mädchen alleine großziehen sollte. Auch auf Charlie, die eigentlich noch zu klein war, das alles zu verstehen, hatte sich die Stimmung übertragen, und sie hatte doppelt so viel geweint wie sonst. Betty selbst hatte sich verraten gefühlt. Das Gefühl hätte nicht stärker sein können, wenn er sie aufs Meer hinausgerudert und dort ausgesetzt hätte. Wie konnte er sie nur so im Stich lassen, nach dem, was mit Mutter passiert war?
Granny seufzte. »Ja, das habe ich auch gedacht. Aber er hat mir bewiesen, dass ich unrecht hatte, und darüber bin ich heilfroh. Euer Vater ist ein Prahler und ein Narr, und das wird sich auch nicht ändern. Aber trotz all seiner Fehler hat er dieses eine Geheimnis bewahrt, und das hat er aus Liebe getan. Das dürft ihr Mädchen nicht vergessen.«
»War es nicht schwierig, es zu verbergen?«, fragte Betty. »Die Magie, meine ich?«
Granny zuckte die Achseln. »Die Magie der Reisetasche hab ich schließlich all die Jahre vor euch dreien geheim gehalten, oder etwa nicht?« Sie verstummte und deutete mit einem Kopfnicken auf das ungeöffnete Päckchen.
Endlich riss Betty das Papier auf.
Darin war eine hölzerne Matroschka, eine hohle Puppe, in der sich mehrere, immer kleiner werdende Puppen verbergen, bis zur letzten winzigen, die sich nicht öffnen lässt. Vorsichtig drehte Betty die erste Puppe auf und nahm die nächste heraus und dann die nächste. Sie stellte sie in einer Reihe auf. Die Puppen waren wunderschön bemalt, jede ähnlich wie die nächste und doch anders. Vier waren es insgesamt, jede mit welligem, rotbraunem Haar und kastanienbraunen Augen, so fein gezeichnet, dass ihre Wangen sogar mit winzigen Sommersprossen gesprenkelt waren.
Jede Puppe hatte in der Mitte eine kreisförmige Fläche, auf der das gleiche kleine Häuschen, eine Wiese und ein Fluss gemalt waren. Mit jeder Puppe änderte sich die Jahreszeit: Auf der größten Puppe sah man blühende Bäume und ein Gelege von Eiern in einem Nest. Auf der nächsten waren Entenküken im Wasser zu sehen, und auf der dritten die ausgewachsenen Vögel, die Richtung Süden flogen, während rotbraune Blätter von den Bäumen fielen. Auf der letzten Puppe war eine verschneite Winterlandschaft dargestellt, gemalt in blassen Blautönen. Jede Puppe hielt einen kunstvoll verzierten Schlüssel in der Hand, der so auf die Oberfläche graviert und gemalt worden war, dass jede Hälfte einen Teil des Schlüssels hatte, wenn man die Puppe auseinandernahm.
»Sie sind wunderschön.« Betty strich mit dem Daumen über den Schlüssel auf der äußersten Puppe.
»Ich will die Puppen«, beschwerte sich Charlie. »Die Tasche ist hässlich!«
»Pech gehabt«, sagte Granny mit einem Achselzucken. »Außerdem geht es nicht darum, wie sie aussehen, sondern was sie können.«
»Was können sie denn?«, fragte Betty.
Grannys Gesichtsausdruck hellte sich auf. »Etwas ziemlich Grandioses«, sagte sie, rieb sich die Hände und schmunzelte. »Nimm irgendetwas von dir, etwas, das klein genug ist, um in die zweite Puppe zu passen.«
Betty lief ein erwartungsvoller Schauer über den Rücken. Sie warf einen Blick zu Fliss, doch ihre Schwester sah genauso verwirrt aus, wie sie selbst sich fühlte. Offensichtlich hatte Granny ihr nicht von der Magie der Puppen erzählt. »Etwas Kleines, so was wie … wie eine Münze?«
»Nein, nein.« Granny fuchtelte mit ihrer Hand durch die Luft wie eine aufgeregte Wespe, die um ein Marmeladenglas schwirrt. »Etwas Persönliches … ein kleines Schmuckstück vielleicht?«
»Ich hab gar kein – autsch!«
Granny hatte sich vorgebeugt und Betty ein krauses braunes Haar ausgerissen. »Damit wird’s gehen.«
Betty rieb sich die Kopfhaut und stopfte das Haar in die untere Hälfte der zweiten Puppe.
»Jetzt schraub den Deckel zu«, sagte Granny. »Das ist wichtig, sonst funktioniert es nicht: Du musst so weit drehen, bis die zwei Hälften des Schlüssels wieder genau zusammenpassen, dann steckst du diese Puppe in die größte und machst es genauso.«
Betty tat es und fragte sich, was um Himmels willen jetzt wohl passieren würde. Als sie die zwei Hälften der äußeren Puppe zusammenschraubte, schnappte Fliss laut nach Luft, und Charlie stieß einen schrillen Schrei aus.
Betty runzelte die Stirn. »Was ist denn?«
Charlie sprang von ihrem Stuhl auf. »Betty? Wo bist du?«
»Na hier«, sagte Betty verwirrt. »Wo soll ich denn sein?« Aber weder ihre Schwestern noch Granny sahen sie an. »Granny? Was ist passiert?«
»Du bist unsichtbar«, sagte Granny kichernd. »Niemand von uns kann dich mehr sehen.«
»Unsichtbar? Jetzt erzähl keinen Marschdreck …«
»Guck doch in den Spiegel, wenn du mir nicht glaubst.«
Betty ging zu dem kleinen Spiegel an der Wand. Wie gewöhnlich prangten darauf etliche Fingerabdrücke von Fliss. Aber eines war ganz und gar nicht gewöhnlich: Im Spiegel war nur die Küche hinter Betty zu erkennen. Betty selbst war nirgendwo zu sehen. Sie war verschwunden.