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Über die Begegnung Gemeinschaft, Kultur und Umwelt
ОглавлениеEs war einmal ein Gebirge mit allem, was dazugehört: eisigem Wind, Schneehühnern und blau schimmernden Gletschern im Winter; nickenden Glockenblumen und samtigen Edelweiß im Sommer. Eine Welt im Gleichgewicht. Gämsen kletterten auf der Suche nach dem ersten Frühlingsgrün die Kare hoch, und im Herbst sammelten die Murmeltiere fleißig Futter für die Wintermonate. Dieses Gebirge war weder schön noch hässlich; es war einfach da, seit Jahrmillionen schon. Dann kamen die ersten Menschen des Weges. Sie gingen noch gebeugt, aber schon auf zwei Beinen. Sie hatten sich Tierfelle übergeworfen und trugen Pfeile und rudimentäres Steinwerkzeug mit sich. Die Natur war feindlich, überall drohte Gefahr. Als die Menschen das Gebirge sahen, warfen sie sich vor ihm zu Boden. Die nächsten Jahrtausende bewunderten sie diese Berge immer nur von unten. Ihre Gipfel zu entweihen, wagten sie nicht. Das Gebirge kam ihnen schön vor, großartig, strahlend und majestätisch, weckte aber auch Angst und Beklemmung, wie alles Heilige. So sah die erste Begegnung zwischen den Menschen und den Dolomiten aus. Danach dauerte es nicht mehr allzu lange, bis die ersten Forscher anreisten, Wissenschaftler, Geologen. Auf den Schotterkaren, einst exklusives Revier der Gämsen und Steinböcke, waren nun Menschen unterwegs, die von weit her gekommen waren. Auf deren anfängliche Entdeckerfreude folgte die Lust am Besitz. Die Menschen griffen zu Sprengminen und Dynamit; aus Begegnung wurde Zusammenstoß. Erst brachten die Menschen in diesem Gebirge nur die Tiere um, später auch sich gegenseitig. Am Schluss schlossen sie wieder Frieden, setzen sich an einen Tisch, sprachen miteinander. Und machten sich dann gemeinsam daran, weitere Orte zu erobern, die einst als unzugänglich gegolten hatten. Sie fuhren übers Meer, zu den Polen, gruben sich tief in die Erde hinein. Ihr Eroberungshunger war unersättlich. Selbst auf dem Mond landeten sie.
Jedes Mal, wenn ein Mensch in der Vorzeit einem anderen begegnete, hatte er die Wahl zwischen drei Möglichkeiten: Er konnte dem anderen die Keule über den Kopf ziehen, sich wie ein scheues Reh vor ihm verstecken oder aber mit ihm sprechen. Wenn Menschen miteinander sprachen, konnten sie einander verstehen, und wenn sie einander verstanden, konnten sie gemeinsam die Welt erobern. Jede Eroberung beginnt mit einer Reise. Die ganze Menschheitsgeschichte dreht sich ums Reisen, als wäre das Reisen ihr eigentlicher Wesenskern. Die legendärste Reise überhaupt ist die Odyssee. Odysseus, der Listenreiche, unterscheidet sich von anderen Heldengestalten. Er duelliert sich nicht gern; lieber lockt er den Gegner in einen Hinterhalt. Er verkörpert den Typ Mann, der die Hürden des Lebens mit Fantasie, Neugier und Intelligenz nimmt. Weil er aber permanent betrügt und täuscht, zieht er sich den Zorn der Götter und der Menschen zu. Zur Strafe muss er jahrelang über die Meere irren. Er muss viele furchtbare Prüfungen überstehen, bevor er auf seine Heimatinsel Ithaka zurückkehren darf. Odysseus wird als Held sehr unterschiedlich interpretiert: Homer hebt ihn in den Himmel, in der Vorstellungswelt und Literatur späterer Epochen dagegen gilt er als Negativbeispiel, als die Verkörperung von Hinterlist, Gewalt, Zynismus und Perfidie. Im Theater des antiken Athen etwa fungiert Odysseus oft als negativer Protagonist, als dreister Erdenbürger ohne Respekt für die guten alten Werte. Bei Dante wird Odysseus in die Hölle verdammt; hier steht er für das Aufbegehren des Menschen gegen die von Gott gesetzten Grenzen, zugleich aber auch für die unwiderstehliche Faszination des Wissensdurstes. Erst die Romantik verhilft Odysseus wieder zu Wertschätzung, weil sie in ihm einen dieser Helden erkennt, die tapfer gegen ihre Bestimmung ankämpfen. Im 20. Jahrhundert beschreibt James Joyce in seinem Ulysses den Archetypus des Vagabunden, des modernen Mannes mit all seinen Alltagsqualen. Was das endlose Herumirren – oder Herumreisen – des Odysseus grundsätzlich auszeichnet, ist das mutige, heroische Überschreiten der Grenzen des Bekannten. Eine Reise verwandelt den Reisenden von dem Moment an, in dem er sie antritt. Sie macht ihn zu einem anderen Menschen, projiziert ihn an andere Orte. Als läge das eigentliche Ziel nicht im Besuch unbekannter Orte, sondern im Annehmen einer neuen Sichtweise, im Blick in die Ferne und in sich selbst. Odysseus verkörpert die Gestalt des mutigen Reisenden der Antike. Im Reisen sucht er nicht nur Freiheit und Wissen, sondern irgendwann auch wieder sein Zuhause, was sich in gewisser Weise paradox anhört. Claudio Magris schreibt: „Reisen heißt, sich immer gleichzeitig im Unbekannten und zu Hause zu fühlen, und das im Wissen, kein Zuhause zu haben, kein Haus zu besitzen. Wer reist, ist immer ein Streuner, ein Fremder, ein Gast.“ Wenn einer nach einer Reise nach Hause zurückkehrt, findet er stets einen anderen Ort vor als den, den er verlassen hat – auch wenn er genauso aussieht wie vorher.
Reisen helfen uns dabei, alte Zwänge und Gewohnheiten loszuwerden. Neues kennenzulernen, um sich auf diese Weise selbst zu ergründen, ist ein menschliches Urbedürfnis. Doch eine Reise, die derart in die Tiefe geht, darf nicht oberflächlich verlaufen; sie muss klug, bewusst und ohne Hektik angegangen werden. Sie bedeutet die Rückkehr in uns selbst, in das griechische „Nostos“. Aus diesem „Nostos“ hat sich übrigens der Begriff der Nostalgie entwickelt – Entbehrung und Schmerz sind damit gemeint, zugleich aber auch Wissen und Trauer um Dinge, die wir geliebt haben und die uns verloren gegangen sind. Dieser tief verwurzelte, menschliche Urinstinkt ist immer schon die Quintessenz all unseres Reisens gewesen. Heute versuchen die Menschen meistens, die Mühsal des Reisens durch immer raffinierteren Komfort abzumildern, doch das stumpft leider auch ab. Was bleibt dann noch von unserer Reiseerfahrung? Höchstens, etwas Neues gesehen zu haben. Aber nicht, wirklich gereist zu sein. Zu langsamer Fortbewegung ist der Mensch offenbar nicht fähig. Immer will er noch einen Zahn zulegen. „Citius, altius, fortius“ – „Schneller, höher, stärker“ – lautet das Motto der Olympischen Spiele der Neuzeit. „Lentius, profundius, suavius“ setzte dem Alexander Langer entgegen, der 1995 verstorbene Umwelt- und Friedensaktivist aus Südtirol. Sein viel zitiertes „Langsamer, tiefer, sanfter“ war ein fantastischer Gegenvorschlag. Langer wollte es slow, wie wir heute sagen, wollte bewusst praktizierte Langsamkeit statt des zwanghaften Hyperwachstums unserer jüngeren Vergangenheit. Anfang des 20. Jahrhunderts, als alle glaubten, dass man mit Tempo, Technik und Wissenschaft die Probleme der ganzen Welt in den Griff kriegen könne, bekamen wir den Beweis dafür geliefert, dass das große Wettrennen um den Fortschritt auch gewaltig schiefgehen konnte: Im April 1912 sank die Titanic, der größte und luxuriöseste Dampfer aller Zeiten. Mit ihr ging der große Traum der Belle Époque unter, in die Tiefe gezogen von übertriebenem Hedonismus, heiß gelaufener industrieller Revolution, zu vielen Missverständnissen. Die Titanic sank, weil sie die Schnellste sein wollte. Die Belle Époque selbst läutete mit ihrer Maßlosigkeit die Katastrophe aller Katastrophen ein: Der Krieg, der das Ende aller Kriege hätte bedeuten sollen, entwickelte sich zu einem insgesamt 30 Jahre währenden Konflikt aus zwei Weltkriegen, die nur von einer kurzen Waffenruhe unterbrochen wurden. Die Titanic, die schon mal in eine glänzende technologische Zukunft vorfahren sollte, brachte die Menschheit in Wirklichkeit ganz woandershin.
Wahren Fortschritt bedeutet eine Reise erst dann, wenn sie uns näher an unsere Mitmenschen heranbringt. Wenn sie eine bessere, leichtere, freiere Welt möglich macht. Wohin soll uns unsere Reise führen? Darum soll es in diesem Buch gehen. Zwei Wege sind bereits vorgezeichnet. Es gibt den breiten Highway für den unbewusst Reisenden, den Touristen (einen Typ Mensch, der vermutlich irgendwo in großem Stil vom Fließband läuft), der sich hauptsächlich für oberflächliche Spaß- und Konsumerlebnisse interessiert. Seine Reisen dienen dem Zeitvertreib. Auf der anderen Seite haben wir den Wanderweg für den bewusst Reisenden, der unterwegs alle Sinne einsetzt, der hören, sehen, schmecken und riechen will. Der reist, um den Kopf frei zu bekommen, und der alles Neue und Unbekannte begeistert aufsaugt.
Dieser Reisende traut sich, Bekanntes hinter sich zu lassen; er reist um des Reisens willen. Tourismus ist heute sowohl für die Nachfrage- als auch für die Angebotsseite eine Art kulturelles Nebenprodukt, das den Bewegungsdrang der Menschen instrumentalisiert, um ihn auf einen Konsumartikel reduzieren zu können. Alles basiert auf der Formel des Gebens und Nehmens. Doch die ist angesichts von Tauschgeschäften, die immer gleichförmiger, immer banaler und vorhersehbarer werden, zu einer recht inhaltslosen Gleichung geschrumpft.
Der persische Mathematiker, Philosoph und Dichter Omar Khayyam behauptete, dass Menschen, die reisen, zweimal leben. Reisen macht uns zu aufgeschlossenen, vielleicht sogar zu besseren Menschen. Wir lernen andere Kulturen und Traditionen kennen und schätzen. Jede Reise ist eine Entdeckungsreise, und jede neue Erfahrung lässt uns innerlich wachsen. Denn auch das gehört zum Reisen: der Abschied von vermeintlichen Sicherheiten und Überzeugungen, der Abstand vom Alltagstrott, das Auskommen ohne die vertrauten Gewohnheiten, das mutige Herumstammeln in einer fremden Sprache, die weit aufgesperrten Ohren und Augen, die Lust auf neue Erkenntnisse.
Heute wird als Synonym zum Reisen oft der Begriff Tourismus verwendet (der übrigens vom französischen Verb „tourner“ abstammt, „sich wenden, sich drehen“). Ich fände es schön, wenn wir, die wir im Tourismus arbeiten, uns eine gemeinsame Grundhaltung zu eigen machen würden. Fragen wir uns doch mal, was wir für die anderen tun können. Was kann zum Beispiel ich, Hotelier, für dich tun, ladinischer Bauer, der du in meinem Dorf lebst? Und was kann ich für dich tun, Fischhändler, der du morgens um vier Uhr in Chioggia an der Adria losfährst und all die Serpentinen zu uns in die Dolomiten hochkurvst, um uns mit frischem Fisch zu versorgen? Oder für dich, bosnisches Zimmermädchen, das du deine Familie zurückgelassen hast, um eine ganze Saison lang zu putzen und die Betten zu machen? Was kann ich für dich tun, junger Nigerianer, der du seit sechs Jahren in Italien lebst, die niedrigsten Arbeiten verrichtest und immer noch keine Aufenthaltsgenehmigung besitzt, die wir dir verweigern, weil du ja unseren wirtschaftlichen Interessen schaden könntest? Und was kann ich für euch tun, ihr amerikanischen, russischen und chinesischen Touristen und Touristinnen? Die Antwort darauf lautet immer gleich: Begegnung. In all diesen unterschiedlichen Situationen kann ich (in diesem Fall: der Hotelier) die Bedingungen für echte, authentische Begegnungen schaffen. Echte Begegnungen sind das Salz des Lebens, ein Geschenk des Himmels. Sie lassen uns Verständnis füreinander finden, unabhängig von Kultur, Religion oder Herkunft. Erst wenn wir das Prinzip echter Begegnung verinnerlicht haben, können wir den Tourismus mit neuen Werten füllen und den Touristen mit dem Reisenden wieder in Einklang bringen. Unsere Branche kann diese aussöhnende Dimension besitzen, kann die Wunden heilen, die das Leben geschlagen hat. Dazu muss sie sich allerdings wieder ein solides, wertiges Fundament bauen, das nicht nur aus Klischees und bequemen Marketinglösungen besteht. „Wir“ und „die anderen“, das sind keine zwei voneinander getrennten Einheiten. „Wir“ und „die anderen“ können und sollen zusammenleben und uns gegenseitig beeinflussen, weil davon letztlich beide Seiten profitieren. Gerade in meiner Dolomitenheimat sollte uns diese Erkenntnis leichtfallen, denn als ladinische Minderheit wissen wir genau, wie viel Energie, wie viel Fruchtbares wir aus dem Anderssein schöpfen können. Warum also Angst haben vor dem, der anders ist? Konzentrieren wir uns lieber auf die positiven Kräfte, die aus Diversität entstehen. Der Weg dahin ist mühsam und steinig. Begeisterung allein reicht nicht, um ans Ziel zu kommen; es braucht auch Mut, Demut und Wissen. Und gegenseitigen Respekt.
Gastlichkeit heißt liebevolle Sorge um jedes Detail: die Stuben im Hotel La Perla.
Durch echte Begegnung können wir die Distanzen reduzieren und anderen Menschen wahre Gastfreundschaft entgegenbringen. Idealerweise nähern wir uns dem anderen auf seiner eigenen Ebene. Eine echte Übung in Demokratie. Demokratie bedeutet nämlich keineswegs, dass alle Menschen absolut gleich sind. Sie fordert allerdings, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft aufeinander zugehen, einander begegnen, zusammenleben. Man kann den Beruf des Gastgebers ergriffen haben und es zugleich an wahrer Gastfreundschaft fehlen lassen, und man kann gastfreundlich sein, ohne über luxuriöse Hotelzimmer, eine tolle Küche, ein sensationelles Panorama zu verfügen. Ich habe da mal den Schriftsteller Erri De Luca um seine Meinung gebeten: „Wir sind ungebetene Gäste auf einem uralten Stück Erde“, hat er mir geantwortet. „In den Bergen, in den Dolomiten, die ich zu besteigen gelernt habe, ist das Gefühl besonders stark, ein Fremder zu sein, der nur auf der Durchreise ist, der keine Spuren hinterlassen darf.“
Ein Gastgebertum, das nach außen hin makellos wirkt, kann richtig schlecht ankommen, wenn keine aufrichtige Gastfreundschaft dahintersteckt. Ähnliches gilt für den Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wenn die sich in einem Betrieb wirklich willkommen und herzlich angenommen fühlen, arbeiten sie viel besser, hängen sich rein, wenn Probleme zu lösen sind, nützen sich bietende Gelegenheiten positiv. Wer dagegen nur aufgrund kühlen Kalküls eingestellt wird, fühlt sich im besten Fall irgendwie toleriert, wird sich deshalb auch nicht mit dem Betrieb identifizieren und im Zweifelsfall nur an sich denken und nicht an das große Ganze. Gastgebertum muss stets echte Gastfreundschaft mit einschließen. Und die drückt sich ebenso wenig in unterwürfigem Servilismus den Gästen gegenüber aus wie in selbstherrlichem Auftreten gegenüber den Mitarbeitern. Ein guter Gastgeber beschäftigt sich gerne mit seinem Gegenüber. Wenn er das tut, hilft er nicht nur dem Touristen dabei, ein wahrer Reisender zu sein. Er begibt sich dadurch auch selbst auf Reisen, ohne einen Schritt vor die Tür tun zu müssen. Wichtig ist, dass er echte Liebe in sein Tun steckt. Liebe ist Leben und Leben ist Wahrheit. Hotelier zu sein, ist kein Beruf. Es ist eine Berufung. Hotelier zu sein, heißt nicht nur, Zimmer zu vermieten. Es bedeutet, das Wesen der Menschheit zu ergründen. Die Begriffe Gemeinwohl und Gesamtvermögen passen an dieser Stelle gut. Gesamtvermögen ist die Summe aller individuellen Güter, das Gemeinwohl dagegen ist das Produkt dieser Güter, also das Ergebnis einer Multiplikation. Das Gemeinwohl ist etwas, das sich nicht in seine Bestandteile auflösen lässt, weil es nur in einem gemeinschaftlichen Akt erreicht werden kann. Es ist das Ergebnis der Beziehung des Einzelnen mit der restlichen Gemeinschaft. Ein guter Hotelier hat das Gemeinwohl im Sinn.
In Ovids Metamorphosen, welche die Denkweise der damaligen Zeit hervorragend widerspiegeln, gibt es eine bewegende Geschichte, die gut zu unserem Thema passt. Es geht um das greise Ehepaar Philemon und Baucis. Sie sind die einzigen Bewohner ihrer Stadt, die Jupiter und Merkur gastfreundlich aufnehmen, als diese nach einem Dach über dem Kopf und einer Mahlzeit suchen. Denn natürlich sind die beiden Götter nicht erkennbar als solche unterwegs, sondern in Menschengestalt. „Hunderten nahten sie schon von Häusern und baten um Obdach; Hunderte schlossen sich. Doch eines gewährete Einlass. War’s auch niedrig und klein und gedeckt mit Stoppeln und Schilfrohr. Baucis, das biedere Weib, und ihr gleich an Alter Philemon waren alldort in der Hütte vereint in den Jahren der Jugend. Waren gealtert in ihr, und die Armut offen bekennend, machten sie diese sich leicht und erträglich mit heiterem Gleichmut.“ Offensichtlich war auch Ovid schon der Unterschied zwischen kühlem Gastgebertum und echter Gastfreundschaft geläufig. Und er wusste, dass die herzliche, ehrlich gemeinte Aufnahme eines Gastes ein auf den ersten Blick vielleicht wenig attraktives Heim in einen wunderbaren Ort verwandeln konnte. „Als nunmehr die Bewohner der Höh’ dem bescheidenen Wohnsitz waren genaht und gebückt durch die niedrigen Pforten getreten, hieß sie der Greis ausruhen vom Weg auf gebotenem Sessel […]. Kohl dann, welchen der Mann im gewässerten Garten gesammelt, streifte sie ab. Er nimmt mit der doppelzinkigen Gabel oben vom schwarzen Gebälk den rußigen Rücken des Schweines, schneidet ein mäßiges Stück alsdann von dem lange bewahrten Vorrat ab.“ Wir sehen: Ein wirklich gastfreundlicher Mensch ist bereit, auch mal mit seinen Gewohnheiten zu brechen, und fähig, das Wohl des anderen eine Zeit lang über das eigene zu stellen. Auf einem schlichten Weidengeflecht breiten die beiden Alten schließlich ein Tuch aus und stellen einen wackligen Tisch darauf. Sie bitten die Götter, daran Platz zu nehmen, und bringen von der Feuerstelle das fertige Essen herbei, den Wein, vielerlei Früchte. Ihre Gesichter sind gut, „freundliche Mienen“, schreibt Ovid. Mit „gern hergebendem Willen“ bewirten sie die Götter verschwenderisch und ohne Hintergedanken. Bewegt von so viel aufrichtigem Altruismus geben sich die Götter zu erkennen. In Philemon und Baucis steckt die ganze Schönheit aufrichtiger, von Herzen kommender Gastfreundschaft. Eine Gastfreundschaft, in der sich der Gastgeber wirklich einbringt und ganz selbstverständlich das verlässt, was wir heute unsere „Komfortzone“ nennen. Wenn ich Gastfreundschaft zu meinem Beruf gewählt habe, dann muss ich bereit sein, Opfer zu bringen. Wahre Gastfreundschaft ist eine Kunst.