Читать книгу Raus aus dem Rummel! - Michil Costa - Страница 9
ОглавлениеEs war irgendwann Anfang der 1980er-Jahre – die touristische Entwicklung der Alpen war in vollem Gange und der ganz große Boom gerade vorüber – als allmählich das alte, tradierte Bewusstsein von Gastfreundschaft verloren ging und sich stattdessen das künstliche Inszenieren alpiner Kultur breitmachte. Man begann, nostalgisch eine heile Märchenwelt zu stilisieren, à la Heidi auf der Alm, die es in dieser Form wahrscheinlich nie wirklich gegeben hatte: urige Holzhütten und Herzchen, Dirndl und Strudel, heitere Volksmusik, warme Kachelöfen und eine Oberflächlichkeit, die hart an primitivste Heuchelei grenzte. Diese pseudoalpine Soße wurde über die ganze touristisch Bergwelt ausgegossen – die Disneyfizierung des Alpentourismus nahm ihren Lauf. Ohne Halt und ohne jeden Respekt für das, was echte einheimische Kultur ist, echte Geschichte, echte Traditionen. Diese waren allenfalls noch für Marketingkonzept gut. Richtig erfolgreiche übrigens. Die Botschaft für die Massen lautet bis heute: „Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd.“
Der pornografische Charakter dieser Form des Tourismus liegt für mich auch darin, dass er dem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft. Nach außen hat er eine glänzende Oberfläche, doch in Wahrheit ist er entstellt und sinnentleert. Er soll die Menschen erregen und Fetisch-Bedürfnisse befriedigen. Es ist ihm gelungen, die über Jahrtausende hinweg in der Bevölkerung fest verwurzelte Heiligkeit der Berge zu entweihen; er hat mentale und territoriale Grenzen überschritten, Gipfel erobert, sie den Massen zugänglich gemacht und zu banalsten Konsumartikeln herabgewürdigt.
Im Supermarkt der Menschheit wird ein vorübergehender Zustand von Landschaft als zeitlose Originallandschaft gesehen. Auf diese Weise schafft jede Generation ihre eigene, scheinbar zeitlose Vergangenheit und zerstört dabei die Vergangenheit ihrer Väter – so der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt. Was ich anprangere, ist ein Tourismuskonzept, das auf einer verfälschten, verzerrten Darstellung der Wirklichkeit beruht und zu diesem Zwecke jeden Tag aufs Neue die Natur zerstört, weil völlig das Verständnis fehlt, dass in dieser Natur in Wirklichkeit unsere Erlösung liegt. Diesem Konzept des rücksichtslosen Rummelplatz-Tourismus stelle ich eine Kultur der Gastfreundschaft gegenüber.
Der große Unterschied zwischen den beiden Ansätzen liegt darin, wie wir Gastfreundschaft interpretieren, wie wir sie leben. Es geht um den Gegensatz zwischen Echtem und Falschem, zwischen Aufrichtigkeit und Inszenierung, zwischen dem einzelnen Menschen und einer unpersönlichen Tourismusmaschinerie, zwischen Tiefe und schnelllebiger Euphorie, zwischen Authentizität und Fiktion. Im Rummelplatz-Tourismus bemisst sich der Wert eines Touristen hauptsächlich nach seinem Beitrag zum Business. In der Kultur der Gastfreundschaft wird Natur weder zerstört noch ausgebeutet. Sie schärft vielmehr das Bewusstsein dafür, dass die ökologische Auslaugung unserer Welt Hand in Hand geht mit der Verödung der Menschen selbst.
Die folgenden Seiten sind die Frucht meiner persönlichen Erfahrungen als Hotelier und Hotelierssohn. Mein Privatleben hat ebenso Eingang gefunden wie allgemeine Fakten. Manche Empfindungen haben sich zu Feststellungen verdichtet. Dabei vergeht die Zeit und Tag für Tag nimmt sie immer deutlicher die Form eines Berges an, dessen Gipfel wir unbedingt ersteigen möchten. Auf Zehenspitzen und ohne Lärm zu machen.
Anmerkung: In diesem Buch verwende ich viele Zitate aus der griechisch-römischen Antike. Dies geschieht einerseits aus großer Begeisterung für die hellenische Kultur und andererseits, weil diese sich meiner Meinung nach hervorragend eignet, um eine Verbindung zwischen den verschiedenen historischen Epochen und Gesellschaftsformen herzustellen. Die Klassiker helfen uns, die Welt besser zu verstehen, und sie helfen auch uns selbst. Weisheit ist der rote Faden, der die Menschheit – und zwar die ganze Menschheit – zusammenhält.
Wer die Gegenwart zu verstehen sucht, indem er über die Vergangenheit nachdenkt, wird leichter erkennen, wie die Zukunft aussehen könnte.