Читать книгу Raus aus dem Rummel! - Michil Costa - Страница 7

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In unseren Familienbetrieb, das Hotel La Perla in Corvara, stieg ich Anfang der 1980er-Jahre ein. Damals interessierte sich kein Mensch dafür, was Tourismus war und welche Werte er verkörpern sollte. Auch Marketing war kein Thema. Es ging nur darum, die Arbeit zu tun, und zwar so, wie man sie immer schon getan hatte: indem man die Ärmel hochkrempelte und sich richtig reinhängte. Anni und Ernesto, meine Eltern, waren Tag und Nacht im Hotel präsent; das Gastgewerbe lag ihnen im Blut. Von ihrem leuchtenden Vorbild habe ich in all den Jahren am meisten gelernt für meinen Beruf. Um zu begreifen, was echte Gastfreundschaft bedeutete, brauchte ich nur ihrem Beispiel zu folgen. Doch die Zeiten ändern sich. Die 1980er-Jahre liegen lange zurück, und heute stehen wir an einem konkreten Scheideweg. Angesichts eines Tourismus, der zu einem gewaltigen, bedrohlichen Moloch herangewachsen ist, müssen wir eine klare, eindeutige Richtungsentscheidung treffen. Das vorliegende Buch möchte einerseits ein paar Gedanken zu diesem Thema formulieren, andererseits aber auch zum Nachdenken anregen: Welche Route führt uns am ehesten auf einen Gipfel (die Metapher muss erlaubt sein, wir sind Bergbewohner!), der nicht nur aus ungehemmtem Flächenfraß, skrupelloser Raumplanung und reiner Profitgier besteht?

Der Tourismus im Gadertal, einem Südtiroler Dolomitental, das vom Pustertal zum Sellastock und in Richtung Veneto führt, begann Anfang der 1950er-Jahre. Davor lebten die Menschen hier hauptsächlich von der Landwirtschaft. Der Fremdenverkehr bot die große Gelegenheit zu einer wirtschaftlichen Entwicklung, die den harten Gebirgsalltag leichter machte. Es gab damals keine Vorbilder, denen man hätte folgen, auch keine Hotelschulen, die man hätte besuchen können, und schon gar keine Leitideen zum Thema Tourismus, an denen man seinen Betrieb ausrichten konnte. Man war einfach fleißig darum bemüht, den Gast so gut wie möglich zu beherbergen und zu bewirten. Diese Gastgeber der ersten Stunde probierten aus, was funktionieren könnte und was zu ihrem persönlichen Wertesystem passte – Rücksicht, Freundlichkeit, Demut. Nach dem Wirtschaftsboom sorgte in den 1970er-Jahren der aufkommende Wintertourismus dafür, dass Wirtschaft und Bautätigkeit im ganzen Tal aufblühten. Seither macht der Tourismus den Großteil unseres Lebens aus. Ich habe in diesem Buch daher allgemeine Überlegungen zum Thema mit persönlichen Erfahrungen aus meinem Leben verknüpft, von denen ich glaube, dass sie die Tourismuswelt in ihrer Gesamtheit deutlicher und greifbarer machen können.

Heute stehen wir auf dem Gipfelpunkt dieser Entwicklung. Und zugleich vor einem Paradoxon: Die extreme Optimierung innerhalb der Hotelbranche hat den Tourismus so stark industrialisiert, dass bei vielen Akteuren – darunter auch Hoteliers – das Bedürfnis wächst, die touristische Arbeit wieder mit tieferem Sinn zu füllen. Ich selbst bin der Sohn zweier echter Pioniere des Südtiroler Tourismus und der älteste von drei Brüdern. Auch Mathias und Maximilian, meine wunderbaren Brüder, hatten entscheidenden Anteil an der Entwicklung unseres Hotelbetriebs. Nachdem ich selbst die Entwicklung des Tourismus von den heroischen Anfängen in den 1970er- und 80er-Jahren bis heute miterlebt habe, müsste ich eigentlich stolz darauf sein, was wir in einem so abgelegenen Tal wie dem unseren mit harter Arbeit geschaffen haben. Stattdessen kriege ich Bauchweh, wenn von der Tourismusindustrie die Rede ist. Damit wir uns richtig verstehen: Die Industrialisierung des Tourismus kann, wie andere Branchen auch, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht zu positiven Ergebnissen führen, wenn sie richtig angepackt wird. Doch die große Frage, die zu stellen wir nie die Zeit hatten, als der Tourismus in unserem Tal durchstartete, ist bis heute unbeantwortet geblieben: Welchen Sinn, welche Bedeutung soll der Tourismus bei uns haben? Wollen wir eine Industrie, die einzig und allein die Gewinnmaximierung verfolgt? Oder streben wir eine hochwertige Gastfreundschaft an, die auf tieferen Werten wie Solidarität, Gemeinwohl, Nachhaltigkeit und Humanität beruht? Es steht wohl außer Frage, wofür sich die Leute eher entscheiden würden. Doch wenn wir das Thema vertiefen, werden wir feststellen, dass es für uns nur einen Weg aus der touristischen Identitätskrise geben kann, in der wir feststecken: Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Extremen finden und damit zugleich ein harmonisches Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Nur wenn wir Zukunftsperspektiven entwickeln, die einen echten Sinn haben, wenn wir in Gemeinwohl-Zusammenhängen denken, können wir eine konkrete Alternative zum grassierenden Rummelplatz-Tourismus in den Alpen entwickeln. Denn dieser Tourismus verschleißt nicht nur die grandiose Natur, mit der wir beschenkt wurden, sondern bedroht auch unsere Identität. Wir haben keine Wahl – wir müssen handeln. Es liegt in unser aller Interesse.

Alpiner Rummelplatz-Tourismus

Wenn in unseren Bergen die Natur nur noch als Kapital betrachtet wird und Profit das einzige Unternehmensziel ist, wenn touristische Monokultur herrscht statt einer Kultur der Gastfreundschaft, wenn Massentourismus den Platz eines bekömmlichen Miteinanders einnimmt, dann nenne ich das „alpinen Rummelplatz-Tourismus“. Was ich damit meine, ist eine bestimmte Form der Kommerzialisierung. Die Schaffung einer falschen, auf Klischees und vermeintlichen Erwartungen basierenden Vorstellungswelt, der jedes Gefühl und jede Wahrhaftigkeit fehlt. Dieser Tourismus hat für mich fast schon pornografischen Charakter, denn er ist eine obszöne Zurschaustellung ungleicher Kräfteverhältnisse: auf der einen Seite Beton und Spekulation als Faktoren maskuliner Unterwerfung, auf der anderen Seite die Natur, reizvoll und attraktiv, aber unterdrückt und mit all ihrer Schönheit und ihren Reizen zur Prostitution gezwungen. Es geht mir gar nicht um den moralischen Aspekt eines solchen touristischen Betriebs, es ist nur eine Feststellung: Diese Form des Tourismus bedeutet das Ende des Tourismus. Ich bin aber überzeugt, dass der Tourismus eine Zukunft haben kann. Dass er sich neu erfinden kann. Dazu muss er den großen Rummel, den er selbst geschaffen hat, hinter sich lassen. Das funktioniert nur, wenn der Tourismus in eine neue Dimension übergeht. Eine Dimension, in der das Prinzip der Gastfreundschaft die verdiente Wertschätzung erfährt.

Raus aus dem Rummel!

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