Читать книгу Fastenzeit - Miguel Peromingo - Страница 10

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Meine Dusche in Brüssel ist größer als bei anderen das ganze Badezimmer. Sie ist komplett aus Glas, das mit einem speziellen Essigreiniger behandelt werden muss, damit das harte Brüsseler Wasser keine hässlichen Flecken darauf hinterlässt. Ich dusche in der Regel lang, wir sind ja hier nicht in Afrika. Die Sonne hat sich jetzt doch noch entschieden zu scheinen und hellt meine Morgenwäsche auf. Die Strahlen lassen die Wassertropfen glitzern, als wären sie selber aus Glas. Während ich die Haarspülung auftrage, gehe ich meine nächsten Dienstreisen durch. Als Erstes ist Kroatien an der Reihe.

***

Aus den Fenstern des Flures im 10. Stock meines Bürogebäudes kann man den Place Schuman überblicken. Wenn man die gegenüberliegenden Fenster nimmt, sieht man das europäische Parlament. Alle Gebäude keine Schönheiten, wenn man davor steht und herein will. Aber von hier oben betrachtet, kein schlechter Anblick.

„Guten Morgen, wie geht’s? Einen schönen Abend gehabt gestern?“, quatscht mich mein österreichischer Mitarbeiter voll. Er hat etwas Übereifriges und gleichzeitig Angepasstes an sich, das ich nicht mag. Man könnte meinen, er würde durch seinen Aktionismus und die ganze proaktive Kacke, die er verzapft und die häufig erstaunlich gut bei unseren Partnern ankommt, darauf abzielen, meinen Job zu bekommen. Außerdem hat er in den Jahren, die wir zusammen arbeiten, nicht gelernt, dass ich nicht gleich angesprochen werden möchte, wenn ich morgens aus dem Fahrstuhl steige. Ich will meine Mails sichten und selbst den Augenblick wählen, in dem ich das Wort an mein Team richte, oder besser gesagt an die Gruppe, die sich Team nennt. Fünf Leute, einer bekloppter als der andere. Aber immerhin halten sie mir den Rücken frei.

„Alles prima“, sage ich und gehe in mein Büro. Die Tür bleibt angelehnt. Ein Zugeständnis an die Open-Door-Policy des progressiven Managements, zu dem ich mich natürlich zähle. Obwohl ich wie jeder Chef weiß, was für eine Zumutung es ist, sich ständig für weinerliche Mitarbeiter bereit zu halten. Der Österreicher schleicht sich. Ich mache mir einen doppelten Espresso mit viel Zucker. Espressoundzucker.

Die Liste meiner ungelesenen E-Mails ist lang. Wie immer. Auf dem BlackBerry habe ich die Push-and-Pull-Funktion meistens ausgeschaltet, sonst komme ich ja gar nicht mehr zur Ruhe. Nur Unbedeutende sind ständig erreichbar. Mir reicht es, wenn ich sie im Büro abrufe. Ich gehe als Erstes auf die E-Mail aus Südkorea. Das Gesundheitsministerium fragt mich sehr höflich und mit weniger Verben als notwendig, warum unser Beitrag für die Ausschreibung noch nicht eingegangen ist. Klirrend stelle ich den Espresso ab und gehe ins Teambüro.

***

„Maria!“, rufe ich mit deutlicher Stimme. Sie dreht sich nervös zu mir um. Maria ist sowieso ständig nervös und schreibt in ihrer Freizeit Gedichte, wie sie mir mal auf einem Langstreckenflug nach zwei Gläsern Wein erzählt hat. Ich könnte Spanisch mit ihr reden, wenn ich wollte, mache ich aber nicht. Englisch ist distanzierter.

„Sie sind sich der Wichtigkeit des RLE-Projektes bewusst?“, frage ich.

„Ja, warum?“

Ich mag das Wort warum nicht, wenn ich es nicht selbst benutze.

„Weil wir unser Programm für das Training noch nicht abgegeben haben.“

„Die Deadline ist doch erst in zwei Wochen“, wimmert sie. Die Kollegen schauen uns verstohlen an. Der Österreicher tut so, als würde es sich ständig verwählen.

„Das Ministerium hat mir geschrieben ...“

„Das machen die immer, sie wollen alles gern früher als abgesprochen, damit sie jedes Wort umdrehen und es an alle Hierarchiestufen schicken können, bevor es eigentlich fertig sein muss.“

„Das sind Asiaten!“, setzt sie selbstbewusst hinzu.

„Und das passt mit ihrer südländischen Arbeitseinstellung nicht gut zusammen“, breche ich ihre haltlosen Argumentationsversuche sogleich ab.

„Wie bitte?“, sie schaut mich gekränkt an. Der Österreicher legt leise auf.

Das RLE in dem Projekt steht für „Real Life for Ever“ und ist, wenn man so will, eine Verballhornung der Marke EverChase. EverChase ist ein Computerspiel, ein Fantasy, das man im Internet mit, wenn man das will, global vernetzten Geräten spielen kann, bis der Arzt kommt. Das tut er dann auch und manchmal zu spät. Es ist ein sogenanntes „Massively Multiplayer Online Role-Playing Game“, kurz MMORPG. Diese wortmalerische Abkürzung, die für den Sound stehen könnte, den die spielsüchtigen Jugendlichen erzeugen, wenn sie 36 Stunden am Stück durch EverChase wandeln und beginnen zu dehydrieren, steht synonym für das Phänomen, sich komplett aus seiner wirklichen Existenz in eine virtuelle Welt zurückzuziehen. Die Süchtigen gehen nicht zur Arbeit, pflegen keinerlei soziale Kontakte in der Realität, waschen sich nicht, pinkeln in einen Eimer, der in der Nähe des PCs steht und vergessen im Extremfall Essen und Trinken.

Ich habe mir den Arsch aufgerissen, damit die Koreaner uns als Partner für ein neues Rehabilitationscamp akzeptieren. Dort werden die MMPORG-Junkies offline gehalten und mit Extremsportarten konfrontiert. Meine Idee ist, sie nicht nur halbnackt im Schnee robben zu lassen, sondern an den Abenden in der Hütte moderierte Fantasiespiele durchführen zu lassen. Ohne PC versteht sich, mit direktem Kontakt zu den anderen Freaks und mit der Supervision von europäischen Psychologen, die aus unserem Expertenpool stammen. Renommiert. Eine Art 3,2,1-Klick für Reisfresser sozusagen. Die anfänglichen Zweifel der koreanischen Betonköpfe habe in langen, nervenzehrenden Gesprächen ich ausgeräumt und das angesetzte Budget war kein Pappenstiel. Kurz: Ich hatte keinen Bock mir dieses Achievement von einer faulen Latino-Schnepfe versauen zu lassen.

„Wie dem auch sei, Maria“, sage ich beschwichtigend und ignoriere ihr entrüstetes Schnaufen. „Setzen Sie dieses Projekt auf Prio 1. Es ist die Zukunft. Die Koreaner brauchen unsere Hilfe.“

„Sie meinen, ich soll es vor das Zimbabwe-Projekt setzen? Und ...“, fährt sie kurzatmig fort, „vor die Initiative für zirkuläre Migration?“ Sie spricht die letzten zwei Wörter sehr deutlich aus.

„Zirkuläre Migration ist Ausbeute“, werfe ich locker ein. Früher hieß das Saisonarbeit, und mehr Sozialabgaben zahlen die Arbeitgeber heute auch nicht. „Konzentrieren Sie sich bitte vor allem auf Korea, Maria. Danke.“

***

Ich mache mir einen weiteren Espresso. Maria stampft an meinem Büro vorbei. Geht wahrscheinlich unten rauchen. Das tut sie immer, wenn sie schlecht drauf ist. Und das ist nicht selten. Wenn sie nicht so ein fettes Hinterteil hätte, wäre ihr Leben vermutlich leichter.

Alle weiteren E-Mails scheinen uninteressant zu sein: Nervige Detailanfragen der Kroaten mit unzähligen Leuten in CC. Irgendeine Person mit sehr langem Namen aus Indien, die irgendwas über Mikrokredite wissen will, meinen Namen aber falsch schreibt. Die Studienreise nach Zimbabwe. Scheißidee. Wer fährt freiwillig in so ein Land? Und dann auch noch, um den Crooks dort zu zeigen, wie man mit dem Dollar als Ersatzwährung richtig umgeht. Als ob die mit irgendeiner Währung umgehen können – mit über einer Million Prozent Inflation. Dagegen war die Hyperinflation vor dem Zweiten Weltkrieg ja noch komfortabel. Die nächste Meldung wird dann wohl die Todesanzeige unserer Partner sein. Wie dem auch sei. War nicht meine Idee.

Ich finde noch einen älteren E-Mail-Austausch mit einer Beraterin aus Deutschland, in der wir uns haarklein erzählen, wie wir ein gemeinsames Erotikpicknick gestalten würden. Ich war mal abends länger im Büro geblieben, weil ich wusste, dass sie immer spät arbeitete. Da ich beim Schreiben der E-Mails ausnahmsweise betrunken war, ging es wirklich hoch her. Ich muss demnächst einen USB-Stick mitnehmen und diesen denkwürdigen Mailverkehr darauf speichern. Ihn in der Inbox zu lassen, ist auf Dauer keine gute Idee. Man sollte diese privaten und beruflichen Sachen trennen.

In einem Soziologiebuch habe ich kürzlich gelesen – das tue ich am liebsten auf Reisen, weil das so schön intellektuell aussieht –, dass Berater in unserer heutigen Gesellschaft postmoderne Künstler sind. Sie können über einen begrenzten Zeitraum ganze Lebensräume, wie Unternehmen oder Regionen, mit ihrem Bullshit-Bingo orchestrieren und den ständigen Wandel ohne Sinn und Verstand, den Change, als die einzig wahre Lebensform ausrufen. Die Beratungsleistung selbst sei dabei nicht greifbar, sondern durch den daran anschließenden Gewöhnungsprozess krass vergänglich, ähnlich den Eisbildhauern, die in Moskau ihre Skulpturen ausstellen und sie dann, ohne mit der Wimper zu zucken, schmelzen lassen. Der nächste Change-Prozess steht dann schon vor der Tür und sichert dem agilen Berater seine geile Existenz. Zugegebenermaßen war das in dem Buch ein wenig förmlicher formuliert, aber was ich damit letztendlich sagen will, ist, dass sich das Prinzip des Change auch auf meinen über Wochen gehenden erotischen Austausch mit dieser Beraterin anwenden lässt. Wir haben Vollgas gegeben, alle uns zur Verfügung stehenden Medien für gute Ideen genutzt und sie dann der Vergänglichkeit übereignet. Perfekt. In meinem Herzen bin ich auch ein Berater. Obwohl ich deutlich weniger arbeite.

***

Das Telefon klingelt. Kommt von der Assistentin, ein interner Anruf. Garantiert stellt sie kommentarlos durch, wenn ich abhebe. Von internen Kunden versteht sie nichts. Von Kaffeekochen leider auch nicht so viel. Deswegen habe ich meine eigene Maschine.

„Hallo?“ Meine Stimme klingt warm und ein wenig verwegen. Man weiß nie, wen sie durchgestellt hat.

„Hi, na, wer ist am Apparat?“, fragt Brunos nervige Stimme. Auf ihn habe ich wirklich absolut keine Lust. Ich überlege, ob ich auflegen soll.

„Hallo Bruno, was kann ich für dich tun“, frage ich professionell. Bruno ist ein ehemaliger Mitarbeiter von mir, der es trotz seiner dauernden Minderleistung geschafft hat, diese Organisation zu verlassen und sich selbstständig zu machen. Da er in meinem Job eine Menge Leute kennengelernt hat, er drückte sich auf jedem Empfang rum und sprach auch mit den größten Langweilern, verfügte er jetzt über eine große Zahl von Geschäftspartnern, denen er seine überteuerten Dienste als Einzel-Loser anbietet. Und die es erschreckenderweise annehmen. Er fährt überall hin. In die entlegensten Ecken. Das mag ein Grund für seinen Erfolg sein. Er faselt etwas, das glaube ich als Gleitmittel fürs Gespräch dienen soll. Er will nicht gleich zur Sache kommen. Dabei braucht er wahrscheinlich etwas von mir.

„Wie bitte?“, frage ich leise in seinen Wortschwall hinein. Ich hoffe, er hört es nicht.

„Wie geht es dem Team?“, wiederholt er.

„Gut. Gut.“ Ich betone beide „Guts“ stark und überschlage, wohin ich zum Mittagessen gehen könnte. Ich bin ziemlich hungrig. Es ist schon nach zwölf.

„Ich habe das Projekt für Moldawien nicht bekommen“, steigt er jetzt doch voll ein.

„Ach?“, werfe ich ein. Ich habe keine Ahnung, um welches Projekt es sich dreht. Aber ich weiß, was es für ihn bedeutet, es nicht gewonnen zu haben.

„Erst haben sie mir die Pistole auf die Brust gesetzt, sollte ja meine Verfügbarkeit für ein Jahr nachweisen. Sogar so einen blöden Wisch musste ich unterschreiben. Mit Blut.“ Er macht eine kurze Pause, wartet bis der Witz seine volle Wirkung entfaltet. Ich gebe ein undefinierbares Schnauben von mir. Er lacht bekräftigend.

„Und dann habe ich mich tatsächlich von allen kleineren Projekten losgesagt, waren sowieso nicht so lukrativ. Ich saß schon auf gepackten Koffern.“ Wieder ein Scherz.

„Und gestern kam der Brief, das Projekt müsse verschoben werden. Probleme mit dem Finanztopf und der Umschichtung. Blabla. Keine Entschuldigung. Keine Entschädigung. Nichts. Arschlöcher. Ich bin arbeitslos.“

„Ja“, sage ich knapp. „Und wie kann ich dir helfen?“ Ich möchte das Gespräch zum Ende führen. Weiß schon, wo die Reise hingehen wird.

„Kannst du sie anrufen? Du hast bei der Kommission doch ein super Standing. Vielleicht kannst du eine Empfehlung für mich aussprechen und sie geben mir was anderes, was zur Überbrückung.“

Er schmiert mir Honig um den Bart. Die Kommission schaut mich mit dem Arsch nicht an. Für die ist ein beweglicher und erfolgsorientierter Projektleiter wie ich ein Graus. Ich bin jetzt sehr hungrig.

„Hör zu, Bruno. Ich komme auf den Punkt. Ich kann dir keine Empfehlung ausstellen, weil wir lange nicht mehr zusammen gearbeitet haben. Das wirkt nicht glaubwürdig. Außerdem lassen sich die Bürokraten von so etwas nicht leiten. Die haben ihr eigenes Referenzsystem.“ Ich mache eine kurze Pause. Atme hörbar ein, so als würde mir das alles nicht leicht fallen.

„Aber ich kann dir einen ähnlichen Deal wie beim letzten Mal anbieten.“

„Das mache ich Verluste, Chef“, entgegnet er.

„Du zahlst mir die Zinsen zurück, wenn du deinen nächsten größeren Job hast. Und für die Zeit, in der du wartest, schmuggle ich dich in ein Kroatien-Projekt ein, das jetzt beginnt. Ich kann jemand brauchen, der den Papierkram erledigt und vielleicht kannst du mal mitfahren. Warst du schon mal in Kroatien an der Küste?“, versuche ich ihn aufzuheitern.

„Ich denk drüber nach. Aber beim letzten Mal hat es sich wirklich nicht sehr gelohnt“, sagt er matt. Das Gespräch geht dem Ende zu.

„Ja, denk drüber nach, Bruno. Besser als arbeitslos. Und ich drück die Daumen.“ Wir verabschieden uns. Bruno klingt, als würde er am liebsten weinen. Ich lege auf.

***

Für meine Reise nach Zagreb habe ich noch nichts Richtiges vorbereitet, fällt mir jetzt ein. Aber ich weiß genau, dass das auch nicht nötig ist. Das Schwierigste an einem solchen Projekt ist das Verfassen des Antrages, der das Geld sicherstellen soll. Da müssen so viele Fachbegriffe rein, dass selbst dem hartgesottensten Bearbeiter im Tempel der Geldgeber die Tränen in die Augen schießen. Der Inhalt eines solchen Antrages darf niemals nur auf einen Satz reduzierbar sein. Tausende Phrasen benebeln den Kern.

Im Fall von Kroatien planen wir ein Kommunikationsprogramm für die Regierung oder so was Ähnliches. Damit das Land in Zukunft mit mehr auftrumpfen kann, als mit Cevapcici-Essen in Dubrovnik. Wie genau, ist nicht klar und völlig scheißegal. Wenn man das Projekt gewonnen hat, geht es eh nicht mehr um Inhalte. Es dreht sich dann nur noch um wortgewandtes Auftreten in den zahlreichen Meetings und um Berichte, wieder mit Träneneffekt. Letzteres überlasse ich gern den anderen, Ersteres lässt sich nutzen, um an noch mehr gut aussehende Frauen zu geraten.

Jetzt gehe ich wirklich essen und danach gleich nach Hause.

Fastenzeit

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