Читать книгу Fastenzeit - Miguel Peromingo - Страница 5
ОглавлениеAls Kind stellte ich mir regelmäßig vor, der Hauptdarsteller in einer Fernsehshow zu sein, die auf einem, eigens dafür eingerichteten Sender mein Leben in Echtzeit zeigte. Anders als bei diesem Penner Jim Carrey, war ich mir dieses Sendeformats aber voll bewusst, und was dort gezeigt wurde folgte einem genauen Plan in meinem Kopf, nicht dem eines verrückten Regisseurs. Der Großteil des Sendematerials entsprach der Realität entweder gar nicht oder wandelte sie zumindest in eine für mich günstige Version um. In allen Szenen stand ich im Rampenlicht. Schwierige Situationen meisterte ich in einer Form, die mich immer als Gewinner oder als moralisch Überlegenen aus ihnen herausgehen ließ. Das war auch nötig, denn mein wirkliches Leben enthielt sehr wenig Glamouröses oder Erhabenes.
Da mir eine ganztägige Ausstrahlung zu anstrengend und unpraktisch erschien, entschied ich, welche Teile meines Tages über den Äther gehen sollten. Immer dann, wenn ich mich in Position brachte, um „on air“ zu gehen, zählte ich in Gedanken „3, 2, 1“ an und ergänzte nach einer kurzen dramatischen Pause „klick“. Dieses „klick“ öffnete mein Leben einer ungezählten Gruppe interessierter Zuschauer und blendete dabei den reizlosen Teil meines Alltags als Heranwachsender aus.
Warum es in meinem Leben am nötigen Glanz und Glamour mangelte, hatte verschiedene Gründe.
Einer war zum Beispiel, dass ich ein gigantischer Angsthase war. Ich habe heute keinerlei Bedenken, das ganz offen auszusprechen. So ziemlich meine erste Erinnerung ist die, als ein Bekannter meiner Mutter mich mit einer afrikanischen Maske dermaßen erschrak, dass ich mich bis in mein Erwachsenenalter nicht mit maskierten Gesichtern habe anfreunden können. Ich war damals fünf Jahre und die garstigen Augenschlitze der vermaledeiten Holzlarve verfolgten mich über viele und lange Jahre. In der Schule konnte ich dadurch an keinem Kostümfest teilnehmen. Karneval war eine indiskutable Veranstaltung für mich und Halloween fühlte sich an wie ein Alptraum, in dem ich die Minuten zählte, bis die schadenfrohen Skelette und hinterlistigen Kürbisköpfe zu Ende getanzt hatten.
Damals waren meine Mutter und ich zu Besuch bei Katja und Kurt, einem freundlichen älteren Paar, das uns ab und zu ihre heiligen Samstagnachmittage widmete. Sie verband sie sogar zu einem Wort, Katjaundkurt; sie tat das mit einer gewissen Ehrfurcht, so als wäre ihr diese Verbundenheit selbst zwar fremd, aber dennoch als eine bemerkenswerte partnerschaftliche Errungenschaft zu goutieren. Sie hatte Katja in der Waschküche kennen gelernt. Da sich meine Mutter vermutlich, wie sie das all die Jahre tat, sehr ungeschickt angestellt hatte, half ihr Katja beim Zusammenlegen der Wäsche.
Wie ich in einer der Geschichten erfuhr, die sich bei meiner Mutter ihr ganzes Leben lang in Erzählrotation befanden, wechselten Katjaundkurt mehrmals in der Woche ihre Bettwäsche und Handtücher, sodass sie trotz ihrer soliden, und aus Sicht meiner Mutter völlig überteuerten Miele-Waschmaschine, auf einen externen Trockner angewiesen waren und aus diesem Grund regelmäßig neben Studierenden und verkrachten Existenzen in der Waschküche auftauchten. Wir wechselten die Bettwäsche nicht besonders regelmäßig. Bereits einige Male habe ich mir überlegt, dass es bei der Menge an Körperflüssigkeiten, die regelmäßig ihren Weg auf Laken und Bezüge fanden, aber durchaus angebracht gewesen wäre. Das ist aber jetzt gar nicht das Thema.
Bei Katja und Kurt gab es immer Kaffee und Kuchen. Auch diese zwei Begriffe hätte man miteinander verbinden können, denn in ihrer unglaublich sauberen Wohnung wurde über Jahre hinweg aus einem geblümten Kaffeeservice, dessen Porzellan angenehm klirrte, ein dünner, wohlriechender Kaffee sowie, auf den dazugehörigen Tellern, selbst gemachter Käsekuchen und Schwarzwälder Kirschtorte serviert. Da ich schon in meiner frühen Kindheit Kaffee trinken durfte, wird meine Erinnerung an Kaffeeundkuchen nicht durch bröseligen Rührkakao oder lauwarme Milch getrübt.
Die Maske trat damals ungebeten zum Kaffeekränzchen hinzu, weil Reinhard, der alkoholkranke Volltrottel von Schwiegersohn im Katjaundkurt-Ensemble, bereits einige Biere getrunken hatte und es lustig fand, mich, das verschüchterte Kind, das auf keine seiner Witze reagiert hatte, aus der Reserve zu locken. Ich fiel damals in Ohnmacht, als sich die afrikanische Fratze plötzlich vor mir aufbaute. Ich will nicht lügen, aber ich glaube ich machte mir auch in die Hose. Ein plötzlicher, beißender Geruch mischt sich da in meine Erinnerung. Thematisiert wurde das später nie wieder. Reinhard hatte sich aber mit jener Aktion einen festen Platz als „Bad Guy“ in meiner späteren Fernsehshow gesichert.
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Ein weiterer Dauerkandidat für diese Rolle war Kai-Uwe, ein Mitschüler aus meiner Grundschulzeit. Als ich ihn neulich abends gegoogelt habe, erfuhr ich, dass er bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist.
Bereits damals, in den ersten Jahren seiner misslungenen Schulkarriere, sah er wie ein Motorradfahrer aus. Er trug eine viel zu große Lederjacke, die irgendwie nach Hundekot roch, und ging grundsätzlich breitbeinig. Bevor sich Kai-Uwe Jahre später den Hals abfuhr, schikanierte er, zumindest in den vier Jahren, die ich ihn kannte, ordentlich seine Umwelt – und insbesondere mich. Was er in seinem jämmerlichen Leben danach tat, weiß ich nicht und es ist mir auch gänzlich egal. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass er nach der verkorksten Schulzeit, in der er bestimmt sein Taschengeld erst durch Mobbing aufbesserte und dann durch den Verkauf verschnittener Drogen, sein Leben damit verbrachte, illegale Motorradrennen in Tiefgaragen oder auf gesperrten Baugeländen zu organisieren. Bei einem solchen Rennen war er nämlich draufgegangen. Viel mehr, so bin ich mir sicher, ist bei ihm nicht passiert. Mit Frauen zum Beispiel kann Kai-Uwe nicht viel zu tun gehabt haben. Neben seiner stinkenden Lederjacke sorgte auch sein brutales und hässliches Gesicht dafür, dass sich ihm kein Mädchen näherte. Die Mädchen in der Grundschule jedenfalls hassten ihn und ermutigten mich dazu, dass ich mir nicht gefallen lassen sollte, was er mit mir machte.
Was das genau war, tut jetzt nichts zur Sache. Um ganz ehrlich zu sein, habe ich das meiste auch vergessen. Eine Szene ist mir in Erinnerung geblieben, weil sie seine späteren Auftritte in meinem 3,2,1-Klick-Setting begleitete. Ich komme noch darauf zurück.
Diese Szene illustriert nämlich noch einen weiteren Grund für die Abwesenheit von Glamour in meinem früheren Leben, nämlich meine bedingungslose Passivität, selbst im Angesicht der Gefahr.