Читать книгу Fastenzeit - Miguel Peromingo - Страница 9

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An Sonntagen aktivierte 3,2,1-Klick meine Show bereits sehr früh. Ich löste das Gummiband in meinem Bett, das mich nachts vorm Herausfallen bewahren sollte, sprang auf und ging zum Zimmerspiegel. Ich schaute aufreizend hinein und stellte mir vor, wie mich eine große Gruppe von Zuschauern hübsch und interessant finden würde. Wenn ich meinen Kopf schräg legte und meine Lippen ganz leicht öffnete, sah ich unwiderstehlich aus und das entging natürlich der wachsenden Fangemeinde meiner Show, insbesondere der weiblichen, nicht.

„3,2,1... klick“, sagte ich dann zu mir selbst, wenn mein Blick im Spiegel perfekt war. Das gelang an Sonntagen besonders gut und ganz besonders gut an denen, wo Kai-Uwe und Reinhard ganz gehörig die Fresse poliert bekommen würden.

Sonntags gingen meine Mutter und ich immer in die Kirche. Das war in Wirklichkeit so langweilig, dass man es ohne Fantasiespiele sowieso nicht ausgehalten hätte. Die wenigen Male, die ich über den Gottesdienst, so wie er wirklich war, mit seinen Schäfchengedichten, den klimpernden, unterwürfigen Messdienern und schließlich dem Höhepunkt, dem schwerfälligen Gang zum Altar, um die heilige, selbstklebende Hostie in Empfang zu nehmen, nachdachte, senkte sich eine kalte Schwermut auf mich, die ich nicht eine Minute zu tolerieren bereit war.

Noch schlimmer als der von Pfarrer Kaiser lethargisch vorgetragene Singsang, war die Zeit nach der Messe. Wenn der greise, nach süßem Parfüm riechende Gottesdiener an den Ausgang ging und jedem, der das wollte, die Hand schüttelte.

Da meine Mutter ein sogenanntes unmoralisches Leben führte, weil sie sehr viele Männer verschliss, und auch sonst nicht dem Bild einer katholischen Frau entsprach, trieb ihr schlechtes Gewissen sie am Sonntag immer in die Nähe dieses Langweilers. Nach dem Händeschütteln ging es dann meistens noch ins Pfarrhaus zu einem vormittäglichen Umtrunk. Da dort ausschließlich Männer Bier tranken, deren Frauen zu Hause den Sonntagsbraten zubereiteten, fand sich meine Mutter schnell wieder in einer Gesellschaft, für die sie sich eben noch mit bekräftigendem Händedruck beim gleichgültigen Pfarrer Kaiser hatte entschuldigen wollen. Ich hasste es, meiner Mutter dabei zuzusehen, wie sie im Pfarrhaus rote Flecken im Gesicht bekam und sich nicht dagegen wehrte, wenn Männer ihren Namen in ihr Ohr lallten. „Margarita. Margarita.“ Oder wenn ihre Händen an ihr auf und ab rutschten.

***

3,2,1 – klick

(Intro-Musik wird langsam heruntergefahren und spielt leise im Hintergrund weiter)

„Sehr verehrte Damen und Herren. Ich heiße Sie herzlich willkommen zu einem neuen Tag in meinem Leben. Zu meiner ganz persönlichen Show.

Heute ist Sonntag und wir werden zusammen in die Kirche gehen. Bis dahin wünsche ich Ihnen viel Spaß mit einem Zusammenschnitt der besten Musik. Ich habe sie extra für Sie ausgesucht. Bis gleich.“

(Intro-Musik wird abrupt wieder hochgefahren und geht dann in den ersten Song des Zusammenschnitts über)

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Das Frühstück mit meiner morgens mundfaulen Mutter, die meistens an Kopfweh litt und wenig frühstückte, überbrückte ich durch ein imaginäres Medley aus Liedern, die ich zur damaligen Zeit mochte. Die Musik wurde durch Bilder von mir illustriert, auf denen ich meine besonders ausgeprägten Talente wie zum Beispiel Fahrradfahren und Schwimmen zeigen konnte. In der Schule hatte ich die Chance beides zu lernen verpasst, weil ich an den Tagen, in denen es unterrichtet wurde, konsequent krank wurde. In meiner Vorstellung war ich aber bereits in jungen Jahren Rettungsschwimmer und konnte freihändig und auf dem Hinterrad den Drahtesel steuern.

***

(Stimmengewirr der Kirchengemeinde und leise Orgeltöne)

„Meine Damen und Herren, ich hoffe die Musik hat Ihnen gefallen. Wir sind jetzt in der Kirche Sankt Nikolaus und der Gottesdienst wird bald beginnen. Die Bänke sind gut gefüllt. Vor mir sehen Sie Frau Schillmann. Sie ist schon sehr alt und kann kaum gehen. Sie kann aber sehr schnell sprechen und weiß eine Menge über alle anderen, die hier in dieser Kirche sind. Sie erzählt gern, wer gestorben ist, wer schwanger ist, wer schwanger war und das Baby verloren hat, wem sie eine Brust amputiert haben, wer welche Tabletten zu sich nehmen muss und wer diesen Sonntag nicht in der Kirche ist. Frau Schillmann hat einen Gatten, der viel kleiner ist als sie und nicht so schnell redet. Er hatte einen Anfall und kann seitdem genaugenommen fast gar nicht reden. Er nickt immer viel und riecht nach Mundwasser.“

„Weiter vorne ist Meite, sie ist Spanierin und die einzige Tochter der Familie Fernandez-Palomero. Meite hat mal versucht mich zu küssen. Wahrscheinlich weil ich einen spanischen Vornamen habe. Wenn Sie möchten, blende ich die Szene für Sie ein.“

(Hintergrund wird unscharf, dann milchig. Die anfangs unscharfen Bildränder zu Beginn der nächsten Szene vermitteln dem Auditorium, dass es sich um eine Rückblende handelt)

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Dann wurden die Zuschauer Zeuge davon, wie mir Meite in den vergangenen Monaten angeblich nachgestellt hatte. Ihr Gesicht war in dieser Einblendung viel schöner als in Wirklichkeit. Sie hatte keine Pickel und ihr Haar war länger und nicht so fettig. Die Augen allerdings waren genauso groß und braun und frech wie in der Realität. Ihr Gesicht befand sich die ganze Zeit im Bild. Sie lief auf dem Schulhof hinter mir her, während ihr frisches, dunkles Haar in Zeitlupe hin und her schwang. Sie roch gut, das musste jedem der Zuschauer klar sein. Ihre Augen drückten Verlangen nach mir aus.

In der nächsten Szene saß sie auf einer der zahlreichen Geburtstagsfeiern von Schulkameraden, auf die ich unaufhörlich eingeladen wurde, nahe bei mir und versuchte, mein Bein zu berühren, während ich nur unbeteiligt nach vorne schaute und mein Kuchenstück aß.

Meite und ich waren im Schwimmbad. Sie trug einen roten Bikini und der Bademeister hatte ihr erlaubt, ihre Badekappe abzuziehen. Auch ich hatte keine an, weil ich als Rettungsschwimmer gut mit dem Personal des Hallenbads bekannt war und mir solche Extrawürste erlauben konnte. Außer uns badeten noch sehr viele andere Jungen. Dem aufmerksamen Beobachter entging nicht, dass die Penisse aller Umstehenden unter den Badehosen steif waren, weil der Anblick von Meite sie so erregte. Verstohlen versuchten sie Blicke auf ihre großen Brüste und auf ihren Hintern zu erheischen. Meite beachtete keinen von ihnen. Sie bedeutete mir mit ihren Augen, ihr in die Umkleidekabine zu folgen. Mein Penis blieb als einziger im ganzen Hallenbad ruhig und weich.

***

Wenn ich heute, wo der Zuspruch von Frauen so groß ist, darüber nachdenke, hat sich Meite möglicherweise wirklich eine Zeit lang für mich interessiert. Ich erinnere mich, dass sie an einem Wandertag mal ihre Hand nach mir ausgestreckt hat und dabei neckisch schaute, um mich aufzufordern, sie zu nehmen. Wir liefen gerade durch ein modriges Waldgebiet mit Nadelbäumen und in der dunklen Luft hatten sich viele meiner Mitschüler an den Händen angefasst. Damals fiel mir nichts Besseres ein, als ihr zu sagen, sie solle mich in Ruhe lassen, was ihr mögliches Interesse für mich für immer im Keim erstickte.

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(Schnelle Überblende)

„Zurück zur Kirche, meine Damen und Herren. Die Kamera bringt sie weiter nach vorn zu Jaroslaw. Er ist ein paar Jahre älter als ich und kommt aus Oberschlesien. Er ist einer meiner besten Freunde.“ (Beginn plötzlicher Unruhe im Kirchenraum)

„Aber was passiert hier. Was hat dieser Lärm zu bedeuten?“

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Die Kamera verfiel in hektische Bewegung. Heutzutage verwenden ja einige Filmemacher für ihre Horrorproduktionen die Technik der „Wackelkamera“. Ich hatte sie bereits damals im Repertoire, um abrupte Wandel im dramaturgischen Ablauf meines Tages gebührend einzuführen.

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„Bleiben Sie ruhig, werte Zuschauer, wir werden angegriffen, aber Sie kennen mich. Ich bin wie immer cool und ich werde das Problem lösen.“

***

(Dramatisch klingende Musik mit Streichinstrumenten setzt ein)

Im Bild erschien jetzt das Kirchentor, durch das eine große Zahl dunkel gekleideter Gestalten strömte. Sie trugen erleuchtete afrikanische Holzmasken, deren Anblick so schrecklich war, dass einige der Kirchenbesucher sich wimmernd abwenden mussten oder sich hinter den Kirchenbänken zu verstecken versuchten. Ich lief die Reihen ab, um allen ruhig zuzuflüstern, dass sie sich keine Sorgen machen und sich still verhalten sollten. Die Maskierten bewegten sich geschickt und hatten mittlerweile den Altar erreicht. Ihr Anführer trat zu Pfarrer Kaiser und nahm ihn in den Schwitzkasten, während seine maskierte Armee sich um die Messdiener und sonstiges Kirchenpersonal kümmerte und sie mit dem Gesicht zu Boden warfen. Während Meites verängstigtes, aber trotzdem noch schönes Gesicht eingeblendet wurde, sprang ich langsam in die Luft und erhob mich bis zum Kreuz, das über dem Altar hing. Dann gab es einen kurzen Schnitt und man sah mich blitzschnell auf den Anführer hinabstürzen und mit einem gezielten Karatetritt seine Maske vom Gesicht fegen. Es war Reinhard. Sein aufgeschwemmtes Gesicht sah so lächerlich aus und bildete einen solchen Kontrast zu der Furcht erregenden Holzmaske, dass die Menge in der Kirche auflachte. Auch Meite lachte erleichtert und man konnte ihr dabei in den Ausschnitt schauen.

***

(Kurzer Wechsel der Musik zu einem beschwingten Intermezzo)

„Meine Damen und Herren, das ist Reinhard. Er verkleidet sich gern als fieses Monster, ist aber eigentlich ganz harmlos. Seine Bande ist noch lächerlicher als er und wird jetzt so schnell wie möglich die Kirche verlassen ... doch was ist das, erneut ein solcher Lärm. Jetzt reicht es mir aber.“

(Die dramatische Musik von eben setzt wieder ein, diesmal lauter)

Ich schleuderte Reinhard achtlos von mir und rannte durch den Mittelgang nach hinten, einem ohrenbetäubenden Motorenlärm entgegen. Ein kurzer Blick zum muskulösen Jaroslaw genügte und er stimmte in meinen Sprint mit ein. Kai-Uwe und seine Motorradgang drängten mit ihren stinkenden Lederjacken in das Kirchenschiff. Sie ließen die schweren Motoren aufheulen und die Reifen nach vorne bocken. Die Kirchengemeinde schrie erneut entsetzt.

Ohne mit der Wimper zu zucken, schlugen Jaroslaw und ich in die Gesichter der helmlosen Spitze des Angriffs. Kai-Uwe befand sich weiter hinten, der feige Hund, sodass wir ihn uns nicht direkt vorknöpfen konnten. Jaroslaw war nicht so kampferfahren und gewandt wie ich, konnte aber sehr gut und hart boxen. Ein Gangmitglied nach dem anderen fiel aus dem Sattel und krachte heulend auf den Boden. Die Gemeinde begann in die Hände zu klatschen.

Meite sprang aufgeregt auf und ab und schrie meinen Namen. Motorräder fielen um, bevor sie wegfahren konnten. Statt Motorengeräuschen hörte man nur noch die satten und endgültigen Schläge, die mein Partner Jaroslaw und ich verteilten. Kai-Uwe hatte bereits den Rückzug angetreten, aber er würde sein Fett noch wegbekommen. Der Kirchenboden war gepflastert mit Leder, Metall und gesplittertem Holz.

(Kraftvolle, hymnenartige Musik ertönt. Das Licht in der Kirche wird heller)

„Meine Damen und Herren, es tut mir sehr leid, dass der heutige Gottesdienst nicht das war, was Sie erwartet hatten. Beim nächsten Mal ist bestimmt wieder alles normal. Jetzt begleiten Sie mich bitte aus der Kirche heraus. Wir gehen nun gemeinsam mit meiner Mutter nach Hause, um zu Mittag zu essen.“

***

Jaroslaw war in der Schule immer nett zu mir. Einmal hatte er tatsächlich Kai-Uwe in seine Schranken gewiesen, als dieser mich nach einer Mathematikstunde nicht aus dem Klassenraum gehen lassen wollte.

„Lass ihn durch, der kann sich doch gar nicht wehren“, hatte er ihm zugerufen und seinen Brustkorb so aufgebläht, dass er selbst Kai-Uwe zu beeindrucken schien.

Neulich habe ich ihn auf Facebook entdeckt. Er hat ein unvorteilhaftes Foto dort platziert, auf dem er seine Glatze voll ins Bild hält. Soll vermutlich witzig wirken. Meite habe ich nicht gefunden. Vielleicht hat sie jetzt einen anderen Nachnamen.

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