Читать книгу Ich richte dich! - Mika Benthe - Страница 6

Kapitel 4

Оглавление

Ich hatte keine Ahnung was es war, aber diese Frau und ihre Geschichte zogen mich in ihren Bann. Mehr noch als bei allen anderen Klienten wollte ich alles über sie wissen. Sie berichtete zwar, was ich wissen wollte, doch die Gefühlsregungen dazu fehlten.

Kein Selbstmitleid, keine Trauer, kein Entsetzen. Auch ihre geschilderte Wut fand sich nicht in ihrer Körpersprache oder Mimik wieder.

Der Fall schien nicht mehr ganz so glasklar, ihre Epilepsie war ein Manko für die Schuldfähigkeit. Und etwas anderes, aber das war nur ein dumpfes Gefühl, das ich noch nicht zu fassen bekam.

Jedenfalls war ich gespannt auf unser nächstes Treffen. Bei meinem nächsten Besuch übergab sie mir einen handgeschriebenen Zettel:

Meine Gefühlswelt:

Steine. Leere. Dunkelheit.

Es waren alle Narzissten.

Jeder von ihnen hat mich ausgesaugt wie ein Vampir.

Irgendwann konnte ich keine Gefühle mehr nachproduzieren.

Zum Schluss war nichts mehr da.

Ich dachte erst an Müdigkeit, Erschöpfung.

Aber die Gefühle sind tatsächlich tot, ich habe vor nichts mehr Angst.

Vielleicht noch Wut? Aber die ist nun sehr still. Wie die Toten.

Frage mich, wohin sie gegangen ist, all die Energie meiner Gefühle, die ich mal hatte.

Narzissten töten alles ab.

Ich fragte nach.

„Haben Sie die Diagnose „Narzissmus“ bei Ihrem Mann gestellt? Oder ein Psychiater?“

„Nein, ich. Auch wenn ich kein Doktor bin, er war es. Ich habe alles darüber gelesen, was es zu lesen gibt. Er war tatsächlich ein Narzisst. Kalt, keine Empathie, keine Verantwortung. Jedoch ein genaues Gespür dafür, wie er mich packen konnte. Dabei immer den Wunsch gehabt mich möglichst klein zu machen, damit er mir überlegen war. Das war schwierig, denn ich wurde dadurch immer stärker.

Seine Methoden waren subtil, er war ein

absolut negativer Typ. Ein Killer durch und durch, was schöne Erlebnisse und Lebensfreude betraf. Seine erste Frau wurde auch für´s Leben geprägt, rutschte völlig ab. Wurde heroinabhängig. Und wie man sieht, hat er auch mich geknackt. Aber nun lebt er nicht mehr. Ich wüsste gern, wie er das findet.“

Ein Lächeln umspielte ihr Gesicht. Das erste mal sah ich ihren Hass auf ihn. Kalt. Dann huschte ein Hauch Erschrecken über ihr Gesicht, sie wurde rot. Sie schämte sich für ihr Hassgefühl, trotz allem.

„Da“, sagte ich, „habe ich schon eine ganze Menge Gefühl in ihrem Gesicht gelesen. Da ist gar nichts tot und das wissen Sie auch.“

Sie sah zu Boden, schien in sich zu versinken – oder einfach nachzudenken, was sie fühlte. Oder aber sie narrte mich und das wiederum hielt ich für sehr wahrscheinlich.

Ich notierte mir ihre Reaktion.

„Was denken Sie?“ fragte sie mich unvermittelt.

„Oh, typische Frauenfrage“, konterte ich. „Aber gut, ich denke, dass Sie einem unsäglichen Psychoterror ausgesetzt waren.“

„Oh.“ Überraschung spiegelte sich in ihrem Gesicht.

„Glauben Sie das nicht?“ fragte ich.

„Ich glaube, dass nichts so eine Tat rechtfertigt, die ich begangen habe. Ich hätte einfach bloß gehen müssen. Ich habe es nicht geschafft, selbst als ich ihn nicht mehr liebte. Ich hatte Angst vor dem Alleinsein, obwohl ich sehr gut allein leben konnte, wir waren ja getrennt im selben Haus. Mein Fehler also. Ich frage mich selbst aber, ob es nicht auch dazu gekommen wäre, wenn er nicht mehr in meiner Nähe gewesen wäre. Irgendwann hätte ich bestimmt was ähnlich schlimmes angerichtet. Das Leben ist einfach zu schwer und ich zu aggressiv geworden dabei. Ich wurde einfach bösartig und habe es nicht eindämmen können. Ich wurde ein böser Mensch. Ist das nicht nachvollziehbar?“

Wieder die Emotionslosigkeit in ihren Augen.

Ich antwortete:

„Das sehe ich nicht so. Ein brennendes Pferd ist ein gewaltiger Auslöser, etwas vergleichbares hätten Sie wahrscheinlich ohne ihn nicht erlebt.

Solche Sadisten sind eher selten. Nein, ich denke wirklich, es lag zwar auch an Ihrem Werdegang, der war der Boden, aber er hat es einfach potenziert, alle Ihre Erfahrungen und negativen Gefühle bestätigt und immer wieder neu provoziert. Ohne diesen ständigen Trigger wären Sie nicht straffällig geworden.“

Sie konstatierte weiter.

„Ich habe Kinder getötet! Menschen. Tiere. Ich hatte mich zuvor immer unter Kontrolle. Ich habe einfach

versagt. Andere Menschen erleben auch schlimmes, tun aber keinem etwas zuleide.“

„Ja. Aber er hat Ihre miesen Erfahrungen immer wieder bestätigt. Die Ablehnung von Kindesbeinen an, das Anlocken und vor die Wand knallen lassen, lügen, der sexuelle Betrug und die Machtspiele mit Ihren Bedürfnissen. Dabei der stetige Appell an Ihre Werte und Prinzipien, die er missbrauchte und jedes mal erheblich verletzte. Sie hatten nie die Chance zu heilen, sich von den alten Erlebnissen zu befreien. Es kamen immer neue hinzu. Natürlich musste irgendwann das Fass überlaufen. Sie haben es allen gezeigt.“

Ich hatte meinen Köder ausgeworfen. Genug entlastende Umstände aufgezeigt – wie würde sie reagieren? Sie hatte jetzt die Chance, Mitleid zu erregen, auf vermeintlicher Augenhöhe die Karten auf den Tisch zu legen. Jetzt konnte sie das Ruder herum reißen und auf Unschuld plädieren. Ich war gespannt.

Doch sie nahm die Gelegenheit nicht wahr. Sie sah mich nicht an, als sie antwortete.

„Nein, unschuldigen Menschen habe ich es gezeigt. Vielleicht als Stellvertreter, aber es waren völlig unbeteiligte, unschuldige Wesen.“

„Ja, genau. Stellvertreter.“

„Zu dem Zeitpunkt wusste ich genau, das waren nicht meine Eltern oder Schulkameraden oder ähnliches. Bei einigen wusste ich, wer sie waren, doch ihre Taten hatten eine solche Bestrafung nicht verdient.“

„Und die Tiere? Waren sie zu einer Last geworden?“

„Oh nein, ich wusste nur, ich würde sie nicht mehr versorgen können, ich wusste, es war vorbei. Wer hätte sich denn kümmern können? Ich wollte sie nicht einem ungewissen Schicksal überlassen. Ich habe nicht nachgedacht. Heute weiß ich, sie wären in ein Tierheim gekommen, wenn man mich verhaftet hätte. Aber daran dachte ich damals nicht.“

Sie schwieg. Lange.

Ich überlegte kurz, beschloss dann, weiterzugehen.

„Da verschweigen Sie jetzt etwas. Die Verhaftung stand nicht im Fokus zu dem Zeitpunkt. Im Polizeibericht steht drin, man habe Sie inmitten der toten Hunde gefunden. Wie im Schock.

Die Pistole immer wieder am Kopf gehalten und abdrückend, aber das Magazin war leer. Sie wollten sich also umbringen.“

Sie sah zu Boden.

„Sie wollten sich töten und die Tiere mitnehmen.“

Sie antwortete nicht.

„Bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Ist es so gewesen?“

Sie nickte leicht.

„Ich glaubte, die Pistole hätte lediglich eine Ladehemmung. Ich war sicher, das Magazin war nicht leer, aber ich hatte mich wohl verzählt. Ja, ich wollte sterben, wie soll man nach so einer Tat denn weiterleben? Ich hatte so viel angerichtet. Aber wieder einmal stand mir das Schicksal im Weg. Oder mein Versagen, wie Sie wollen. Nicht einmal mein Tod war mir vergönnt. Selbst die Entscheidung wurde mir nicht gewährt.“

Ich schrieb weiter. Sie sah auf die Uhr, seufzte. Es war anstrengend für sie, keine Frage.

Trotzdem sprach ich weiter.

„Sie empfinden Reue.“

„Nein. Nur Wut. Auf dieses Schicksal und mein Versagen.“

„Sie haben heute einiges gesagt, was dem widerspricht. Ich glaube, Sie haben den Zugang zu sich nicht gefunden. Sie wissen gar nicht was Sie empfinden. Kann das sein?“

„Ich will nichts fühlen. Ich will nicht über meine Schuld nachdenken. Aber es ist nun einmal Fakt. Ich habe schreckliche Verbrechen begangen. Ich habe lange vorher dafür bezahlt, mehr als lebenslänglich. Auf die paar Jahre Bonus kommt es nun auch nicht mehr an.“

„Sie haben bezahlt und sich dann gerächt?“

„Ist es so einfach?“, fragte sie zurück. „Das wäre wenigstens logisch.“

Die Hoffnung musste ich ihr nehmen.

„Nein, es war eine Frage. Einfach ist hier gar nichts.“

„Ich weiß es nicht. Sagen Sie es mir. Ich habe keine Gefühle mehr. Ich habe schon lange meine Orientierung verloren.“

Nun wanderte mein Blick wieder einmal zur Uhr. Genug für heute. Ich musste los.

„Ich muss mich jetzt leider verabschieden. Ich habe noch einen Termin“

„Danke, dass Sie sich so viel Zeit genommen haben für mich. Aber jetzt wissen Sie genau Bescheid.“

„Oh, das war es noch nicht. Ich komme wieder.“

„Tatsächlich? Warum?“ Sie sah mich erstaunt an.

„Wir sind noch nicht fertig. Es wird noch ein paar Besuche von mir geben. Ich hoffe, es ist Ihnen recht?“

Sie zögerte. Schien zu denken, dass sie ohnehin nichts dagegen tun könne. Was sollte sie auch dagegen tun können.

Resigniert antwortete sie.

„Ja, sicher.“

Wir verabschiedeten uns.

Bei meinem nächsten Klienten war ich konzentriert wie immer, aber ihre Geschichte ließ mich nicht los und ich sehnte den Feierabend herbei.

Ich durchstöberte daheim vieles an Fachliteratur zum Thema Epilepsie. Vieles deutete darauf hin, dass sie inmitten eines Blackouts gehandelt hatte. Ihre Beschreibung des kleinen Anfalls, die Watte im Kopf, interessierte mich.

Für mich stand fest, dass sie nicht auf eine Vergünstigung ihrer Verurteilung aus war. Sie nahm auch den Psychoterror des Verstorbenen kaum als strafmildernd oder als Entschuldigung an. Sie hatte versagt. Das war wichtig für sie.

Sie bereute es, war fassungslos über ihre Taten. Aber sie spürte nichts davon, es kam nicht an. Sie war völlig blockiert. Vielleicht ein Segen. Auf jeden Fall aber ein Indiz für Schuldunfähigkeit.

Ich schätzte sie als hochsensibel ein. Mein Bauchgefühl hatte mich noch nie getäuscht und ich wusste einfach, dass sie eine zur Tat Getriebene gewesen war. Sie hatte diese Taten nicht freiwillig begangen, sondern aus höchster psychischer Not heraus. Sie hatte einen Schock gehabt, war nicht sie selbst gewesen.

Wenn es tatsächlich so war, wäre dies eine Besonderheit, gerade für mich eine echte Herausforderung.

Mein Ziel war es in erster Linie, Verbrecher dingfest zu machen, mittels eines Gutachtens.

Nur sehr wenige wurden von mir wohlwollend beurteilt. Vielleicht einer von Zweihundert, um einmal eine Zahl zu nennen. Es mussten ganz besondere Kriterien erfüllt sein, bevor ich eine Schuldfähigkeit in Frage stellte.

Es mussten unumstößliche Tatsachen sein. Ich war da knallhart und meine Tests knackten jeden, der log.

Nun, Claire Nolan hatte bisher bestanden. Allerdings nur rein kognitiv. Emotional war sie offenbar blockiert oder aber sie täuschte mich. Verheimlichte einfach, was sie fühlte. Besonders überraschend war es für mich, dass sie die Höchststrafe wollte. So etwas hatte ich noch nie erlebt in meinen nun fast fünfzehn Jahren als Gutachter.

Doch bevor ich meine ersten Eindrücke festigte, musste ich sie wiedersehen. So bald wie möglich. Die Zeit bis zum nächsten Termin nutzte ich, um alles über Auswirkungen einer Epilepsie herauszufinden und auch Vergleichsfälle heranzuziehen, die zudem Erfahrungen mit einer Abhängigkeitsbeziehung und darüber berichtet hatten.

Es fehlten noch viele Mosaiksteine. Ich musste ihr Leben davor beleuchten, ihre Kindheit und den weiteren Verlauf.

Es würde sehr schwer werden für sie, aber ich musste meinen Job ordentlich machen. Das Gericht schreibt genau vor, welche Fragen zu klären sind, es bleibt wenig Spielraum. Umso wichtiger ist es, diesen Fragen eine angemessene Antwort zu geben.

Soweit die offizielle Version eines pflichtschuldigen Gutachters in Sachen Claire Nolan.

Für mich allerdings spielte das eine untergeordnete Rolle. Ich hatte eigene Prioritäten und ganz andere Faktoren zu berücksichtigen.

Ich war nicht nur ein Sachverständiger.

Meine Berufung war es zu richten. Unbestechlich und absolut gerecht. Und nebenbei außerhalb des verweichlichten Rechtssystems.

Ich richte dich!

Подняться наверх