Читать книгу Ich richte dich! - Mika Benthe - Страница 8

Kapitel 6

Оглавление

Mein Job war mir heilig, ich war wie schon erwähnt einer der Besten auf meinem Gebiet. In meiner Funktion entschied ich über die Zukunft der Kandidaten, die kriminelle Taten begangen hatten. Jeder einzelne von ihnen war zumindest eine Zeit lang in meiner Hand und ich war mir meiner Verantwortung voll bewusst.

Die Gerichte legten sehr viel Wert auf meine Meinung und entschieden oft nach meinen Expertisen. Mir konnte keiner etwas vormachen und ich handelte schlussendlich danach.

Mein Gerechtigkeitssinn ist ebenfalls absolut erste Klasse.. Einige wenige entkamen ihrer gerechten Strafe und das war der Unfähigkeit der einzelnen zu gnädigen Richter geschuldet, doch auch die würde ich über kurz oder lang auf den rechten Weg führen – lediglich eine Frage der Zeit.

Früher neidete ich den Richtern ihren Job – die höchste Instanz zu sein, über ein Leben richten zu können. Ein Traum. Aber meine Berufung – und als das sah ich meinen Job – war ebenfalls hochkarätig, denn ich konnte die höchste Instanz beeinflussen in ihrer Entscheidung.

So sah ich folgerichtig die Richter lediglich als meine Helfer, meine Untergebenen, die nach meinem Wunsch ihr Urteil sprachen.

Oh ja, ich habe einen ausgezeichneten Gerechtigkeitssinn. Er ist besser und viel präziser als der eines Richters. Ich treffe meine eigenen Urteile.

Und ich richte.

Beides geht oft nicht mit den Ansichten eines verweichlichten Richters konform, aber ich hatte meine Möglichkeiten, um diese Schwächen zu korrigieren.

Besser hätte mein Leben nicht laufen können.

Claire Nolan empfand ich als erste wesentliche Herausforderung seit langem. Einerseits hatte ich meine Prinzipien, einen Verbrecher niemals davonkommen zu lassen. Das war meine Berufung. Nur in Fällen, in denen jemand aus Krankheitsgründen eine Tat begangen hatte oder sich in einem Schockzustand oder einer Gefahrensituation befunden hatte, konnte ich nichts tun. Denn auch das Gericht wusste ja von den Umständen und urteilte danach. Da hatte ich also mit den Wölfen zu heulen. Und gegebenenfalls später und ohne Justiz eine Strafe zu verhängen und auszuführen.

Wie auch immer, ich brauchte so oder so möglichst viele Informationen über ihre wunden Punkte, psychischen Schwachstellen und wahren Bedürfnisse.

Welche Strafe auch immer sie erwartete – und mir diese vermutlich zum allerersten mal in meiner Laufbahn zu hoch vorkommen würde -, es schadete nie, genauestens Bescheid zu wissen.

Möglicherweise konnte ich ihr später helfen, wenn auch aus ganz anderen Motiven heraus. Aber eigentlich ging es um mich. Ich hasste es, wenn sich mir jemand nicht komplett offenbarte.

Natürlich erzählte sie mir alles mögliche. Benutzte die richtigen Wörter für die intelligente Beschreibung ihrer Emotionen. Aber niemals zeigte sich das jeweilige Gefühl in ihren Augen oder ihrem Gesicht. Sie weinte nie. Schrie nie. Die Tonlage ihrer Stimme war tatsächlich so als würde sie von den Geschehnissen anderer berichten – ohne jedes Mitgefühl.

Sie schien sich mir zu öffnen, schlug aber in letzter Konsequenz die Tür zu. Sie berichtete alles, ohne irgendetwas wesentliches – nämlich ihre Emotionen – im Detail zu beschreiben. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Hund, der einen Hasen jagt und der ihm im letzten Moment mit einem Haken entwischt.

Es war zum verrückt werden.

Bei meinem nächsten Besuch übergab sie mir ein einzelnes Blatt Papier, beidseitig geschrieben.

„Nur so wenig“, stellte ich fest.

„Ja.“

Und ich nahm mir die Zeit, den Text jetzt schon zu lesen.

Ich lernte meinen ersten Mann mit 17 kennen. Er war psychisch krank. Leider habe ich das zu spät erkannt. Er drohte mir mit Suizid, sollte ich ihn verlassen und ich glaubte ihm und wagte erst nach 8 Jahren den Absprung. Aus dieser Verbindung stammt mein einziges Kind.

Sein Nachfolger war 25 Jahre älter als ich. Wir hatten eine ON/Off-Beziehung. Er erkrankte an Krebs und ich pflegte ihn bis zum Schluss. Erst danach erfuhr ich von seiner anderen Frau, die im Ausland gelebt hatte. Mit ihr war er eine Fernbeziehung eingegangen und lebte diese 20 Jahre lang. Ohne mein Wissen. Ich lernte sie auf seiner Beerdigung kennen.

Meinen letzten Mann habe ich bereits beschrieben. Ich habe viele Berufe angefangen zu lernen und brach die Ausbildungen immer wieder ab oder wurde entlassen. Die Vergangenheit holte mich immer wieder ein, auch war ich ein Mensch, der keine Kritik ertrug. Ich hatte privat mehr als genug zu kämpfen.Von meinem zweiten Mann hatte ich einiges geerbt. Ich war gut im Aktienhandel und lebte davon. Doch es ging alles schief.Das Erbe hat mein Leben letztlich komplett zerstört. Mein letzter Mann hätte mich nicht eines Blickes gewürdigt, wäre das Geld nicht gewesen. Wir hätten einander nie kennengelernt. Vielleicht wäre ich heute zufrieden.

Vielleicht hätte ich nie getötet.

Aber wer weiß das schon.

Ich sah sie an. „Kurz, aber prägnant. Ganz anders geschrieben als Ihr erster Bericht. Ich hatte Ihnen eine besondere Aufgabe gestellt – Sie sollten Ihre Gefühle beschreiben. Doch ich finde hier nichts davon.“

Aus mir unbekannten Gründen war ich plötzlich sehr verärgert, nein, sogar wütend.

Sie schien das zu spüren. In ihrem Blick lag Erstaunen. Sie antwortete nicht.

„Was ist mit Ihrem Kind? Sie erwähnen es zum ersten Mal. Sie nennen nicht einmal seinen Namen! Wie ist Ihre Beziehung zu ihm?“

„Es ist mein Sohn. Sein Name ist Michael. Wir haben keinen Kontakt, schon seit Jahren. Er ist inzwischen erwachsen.“

„Davon gehe ich aus“, blaffte ich sie an.

„Wie soll ich Ihnen helfen, wenn Sie einfach nicht mitziehen? Sie müssen sich mir öffnen!“

Ich verlor endgültig die Geduld.

Und endlich reagierte sie ebenfalls.

Sie wurde rot. Ihre Augen flackerten.

Dann brach es aus ihr heraus.

„Ich habe Sie nicht um Hilfe gebeten! Ich will nicht über Gefühle reden, an die ich mich kaum erinnere! Ich werde meine Strafe akzeptieren und fertig. Schreiben Sie halt irgendwas in Ihr Gutachten. Irgendwas! So dumm können Sie doch gar nicht sein!“

Pure Aggression. Verweigerung – diesmal ganz offen gezeigt.

Jetzt verstand ich. Glaubte zu verstehen.

Diese Frau spielte mit mir. Sie belog mich, hielt ihre Gefühle, die sie sehr wohl spürte, unter Verschluss. Ganz bewusst. Oder?

Wie auch immer.

Ich kam nicht an sie heran.

„Also gut, heute kommen wir nicht weiter“, sagte ich und stand auf. „Vielleicht kommen Sie aber in den nächsten Wochen zur Vernunft. Ich werde Ihnen etwas zukommen lassen, einfache Denkanstöße und Fragen, die Sie bitte schriftlich beantworten.“

„Dann kommen Sie also nicht mehr her?“

„Wenn Sie mir die Fragen ausreichend beantworten, wird das vielleicht schon reichen“, antwortete ich. Damit belog ich sie, ich war noch lange nicht fertig mit ihr. Aber ich wollte ihr diesen Ansporn geben.

„Na schön, wenn ich dann endlich meine Ruhe habe, werde ich mein bestes geben.“

„Nun, das ist gut. Auf Wiedersehen.“ Sie ignorierte meine Hand und ging mit der Wärterin fort, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Zuhause angekommen machte ich mich direkt ans Werk. Unzählige Fragen schwirrten mir im Kopf herum. Sie hatte sich mir deutlich widersetzt. Eine starke Gegnerin.

Ich wollte sie knacken und offenlegen wie eine Nuss, wie schaffte ich das?

Welche Fragen würden sie endlich brechen?

Ich wollte Claire Nolan leiden sehen, Tränen, Wut, Verzweiflung, Reue, Hoffnung in ihren Augen sehen. Liebe zu irgendwas oder irgend jemanden. Selbst ihr Sohn war ihr scheinbar egal.

Selbst Schwerverbrecher hatten einen wunden Punkt. Meistens die Mütter. Oder eben die Kinder. Andere Bezugspersonen.

Claire Nolan aber reagierte darauf nicht. Jeder Mensch hat irgendetwas für ihn wichtiges, das ihn geistig am Leben erhält. Ihm Kraft gibt. Mochten diese Typen auch noch so abgestumpft wirken, früher oder später hatte ich sie.

Claire Nolan. Sie bot mir einen riesigen Strauß an Erlebnissen und Traumata. Schien dabei völlig unberührt. Dennoch klar und bewusst. Ein nahezu unmöglicher Kraftakt.

Ich wollte sie endlich an ihr Limit bringen. Sie sollte zusammenbrechen. Dann würde ich ihr Vertrauen gewinnen und aufrichten. Und dann vielleicht bestrafen.

Ich spürte, ich entwickelte eine Besessenheit, die mir im Wege stand. Mein professionelles Denken behinderte. Ich brauchte Hilfe bei dieser Aufgabe. Sie hatte mir von Narzissmus berichtet, offenbar hatte jede ihrer Beziehung darunter gelitten.

Der rote Faden in ihrer Geschichte. Das war der Schlüssel, dessen war ich mir sicher.Es gab jemanden, der sich dieser Persönlichkeitsstörung verschrieben hatte, eine Expertin auf diesem noch recht jungem Gebiet der Psychiatrie.

Meine Kollegin und Exfreundin Angela.

Ich rief sie an und nach einigem Hin und Her vereinbarten wir ein Treffen bei ihr.

Bis dahin arbeitete ich an meinen anderen Fällen und brachte den Studenten in der Uni die vielen Facetten der forensischen Psychiatrie bei – oder versuchte es zumindest.

Aber in jeder freien Minuten brachte ich neue Fragen aufs Papier, die ich Claire Nolan stellen wollte. Stichpunkte zu Themen. Angela sollte mir helfen, das alles zu sortieren und daraus höchstens zwanzig Fragen zu konstruieren. Das würde schwierig werden, ich hatte inzwischen schon über vierzig Fragen am Start.

Entsprechend war ich angespannt und aufgeregt, als ich endlich bei Angela vor der Tür stand und läutete.

Wir hatten uns ungefähr zwei Jahre nicht mehr gesehen. Unsere Trennung war zumindest für sie nicht leicht gewesen.

Ich erschrak, als sie mir öffnete. Sie hatte sich verändert, früher war sie einmal sehr attraktiv gewesen.

Jetzt ließ sie sich eindeutig gehen. Kein Makeup, ein weiter, schwarzer Pullover und Leggings, die ihr erworbenes Übergewicht nur betonten. Ihr Haar war strähnig und hing schlaff herunter. Und das mit Anfang Vierzig!

Wir waren drei Jahre liiert gewesen. Ich muss gestehen, bei ihr waren mehr Gefühle im Spiel gewesen als bei mir.

An Heirat, Kinder und so weiter hatte ich nie gedacht. So etwas wollte ich nicht, ich war ein Freigeist, unabhängig – und das sollte auch so bleiben. Es war nicht meine Schuld, dass sie plötzlich mehr wollte.

Ich mochte sie immerhin genug, um mit ihr Spaß zu haben und meine knappe Zeit mit ihr zu teilen. Ich fand, das war wirklich viel. Sie hatte das anders gesehen und wir trennten uns. In Gedanken schlug ich drei Kreuze, dass wir nicht mehr zusammen waren. So, wie sie jetzt wirkte, nun ja, irgendwie kaputt... zum Glück blieb mir dieser Anblick tagtäglich erspart.Und ich musste mich nicht öffentlich mit ihr zeigen.

Kein schöner Gedanke, aber nun einmal die Wahrheit.

Ich begann zu zweifeln, ob sie wirklich der richtige Ansprechpartner war. Diese Frau eine Expertin?

Ich richte dich!

Подняться наверх