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Kapitel 5

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„Wir haben letztes Mal über die Tat gesprochen, auch ein wenig über Ihre Beziehung zu Ihrem Exmann. Heute möchte ich mehr über den Boden wissen aus dem Sie erwachsen sind. Also Ihre Kinderzeit. Sie wuchsen in einem Dorf auf, ziemlich abgeschieden. Muss toll gewesen sein, mit viel Natur und Wald und sicherlich auch Tieren. Wie war das so?“

Wir saßen auf denselben Stühlen wie bei meinem ersten Besuch. Sie hatte noch mehr an Gewicht verloren und sah wirklich attraktiv und schutzbedürftig aus.

„Doch zunächst möchte ich Sie fragen, wie es Ihnen hier geht. Sie haben sich optisch sehr verändert. Schlafen Sie gut, ist das Essen hier okay?“

Sie blickte mich wieder sehr offen an.

„Es ist wirklich gut hier. Alles. Sie lassen mich in Ruhe, aber manchmal kommen die Ärzte und Psychologen und bieten ein Gespräch an. Schlafen tue ich erstaunlich gut, keine Alpträume. Das zeigt wohl meine Skrupellosigkeit, oder?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Ich müsste schlaflos sein. Nachdenken. Zutiefst bereuen. Aber all das ist nicht da. Ich bin einfach woanders. Alles ist sauber, mein Bett ist weich. Angenehm. So fühlt es sich an.“

„Manchmal dauert es, bis die Gefühle wieder da sind.“

„Wer weiß ob ich überhaupt welche habe.“

„Jeder Mensch hat Gefühle. Auch Sie.“

„Wenn Sie es sagen...“.

Schweigen.

„Nun, kommen wir auf meinen Besuchsgrund heute zurück. Ihre Kindheit.“

„Gut, ich werde mich kurz fassen. Es gibt nicht viel zu berichten. Meine Mutter war schon mit achtzehn Jahren alkoholkrank, wie man heute so nett sagt. Sie wurde mit zwanzig Jahren schwanger, damals galt das noch als minderjährig. Hatte eine Affäre mit einem verheirateten Mann. Verknallte sich in seinen ledigen Bruder, verführte ihn und schob mich ihm als eine Frühgeburt unter. Tatsächlich war ihre Affäre mein leiblicher Vater.

Ich war zum einen also ein Unfall, zum anderen ein Kuckucksei. Mein offizieller Vater hatte schon früh Zweifel, war aber ein Vorbildvater. Meine Mutter hatte es nicht so damit und hat mir so manches mal Medikamente verabreicht, damit ich tagsüber schlief.“

„Sie mochte also die Mutterrolle nicht?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, sie war eine Partymaus und die konservativen Ansichten Ihres Ehemanns passten ihr gar nicht. Hausfrau und Mutter verträgt sich nicht mit Party und Kneipen. Sie hasste es, besonders als ihre Verliebtheit weg war. Sie hätte niemals ein weiteres Kind bekommen, ich blieb ein Einzelkind. Ihr Mann schlug sie, aber sie provozierte es. Sie fing meistens an. Na ja, sie ließ sich scheiden und ich verlor nach und nach den Kontakt zu ihm. Ich wurde von ihrer Mutter großgezogen, die war sehr hart und ich war ohnehin ein schwarzes Schaf. Das Kind eines Schlägers.“

„Das war sicher schlimm für Sie.“

„Typisches Milieu der Alkoholiker .Irgendwann zog sie fort und nahm mich mit. Da war ich elf Jahre alt. Ich verbrachte meine Kindheit in Kneipen und selbst heute noch trage ich Jogginganzüge im Bett, um immer bereit zu sein und fliehen zu können.“

„Es gab Gewalt?“

„Oh ja, sie war eine wirklich bösartige Person. Kam nachts oft ins Zimmer geschossen, nur um mir eine zu knallen. Ich blieb immer so lange wie möglich wach und hörte Radio unter der Decke um nicht einzuschlafen, es war gefährlich zu schlafen. Sie versuchte mich einmal abzustechen.

Sie hasste mich unendlich. Vermutlich habe ich das Böse von ihr.“

„Männerbekanntschaften nach ihrer Ehe?“

„Viele. Sie tat es für Geld, denn das war ihr das wichtigste. Schöne und teure Dinge, Pelze und teure Möbel und Teppiche. Hatte auch Beziehungen zu Typen, einer verheiratet, den brachte sie ins Gefängnis weil er Leute betrog, um ihr Geld zuzuschustern. Das war sein Pech, so sah sie das.“

Kühl und sachlich berichtete sie davon.

„Ich arbeitete um ihre Schulden in den Kneipen zu bezahlen und schaffte immer Alk heran. Eines Tages war ihr Ruf ruiniert und sie zog fort. Angeblich würde sie wiederkommen, aber das tat sie nicht. So habe ich schließlich die Wohnung aufgelöst, nachdem sie ihre Möbel abholen ließ. Ihre Mutter erledigte die Formalitäten und ich fand recht schnell meine erste Ausbildungslehre und zog auch fort. Meine Epilepsie war kurz vor ihrem Weggang diagnostiziert worden und sie hasste es, die Mutter einer Idiotin zu sein. Sagte sie mir auch ganz offen.“

Das war eine unglaublich harte Situation für eine Jugendliche. Wie hatte Claire Nolan das verpackt?

Meine nächste Frage zielte darauf ab.

„Und was machte es mit Ihnen, diese Aussage?“

Sie ´schüttelte leicht den Kopf.

„Ich habe es vergessen. Nur die Tatsache dass sie es mir zum fünfzehnten Geburtstag sagte, weiß ich noch. Das hatte sie drauf, immer solche netten Überraschungen. Zu meinem vierzehnten nahm sie mir den Telefonhörer aus der Hand – ich hatte mit meinem vermeintlichen Vater gesprochen – und sagte, so, wird Zeit für die Wahrheit. Die ist gar nicht von dir. Du hattest recht und hast die ganzen Jahre für einen Bastard bezahlt. Na ja, sie lachte. Danach versuchte ich nochmal mit meinem Vater zu sprechen, aber er brach den Kontakt komplett ab.“

Wir schwiegen ziemlich lange. Ich wollte ihr Zeit geben, dieses Trauma nachzuempfinden und wartete gespannt auf ein Zeichen. Tränen vielleicht. Aber nichts dergleichen kam. Ich sah sie an und bedeutete ihr fortzufahren.

„Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Ich habe die Ausbildung nicht abgeschlossen, weil ich immer wieder Anfälle hatte. Es folgten weitere, aber einiges scheiterte, weil man von meiner Vergangenheit erfuhr. Ich wurde dann schulisch zur Erzieherin ausgebildet.“

„Sie heirateten auch mit einundzwanzig Jahren, also sehr früh.“

„Ja, das war der Familie meines Mannes nicht recht. Mir eigentlich auch nicht, er war nicht normal. Aber er drohte immer mit Suizid, wenn ich mich trennen wollte. Hatte viele Spleens. Aus Neugierde gerieten wir in eine Sekte, ich war schnell wieder raus, er aber lebte die Ideologie weiter und steigerte sich rein. Er glaubte, ich sei von Dämonen besessen. Ich ging schließlich ins Frauenhaus.“

Ich unterbrach sie. Die Jahre davor waren noch nicht ausreichend geklärt.

„Das ist ein anderer Abschnitt Ihres Lebens. Kommen wir noch einmal zu Ihrer Kindheit zurück. Was waren die schlimmsten Erlebnisse, die Sie hatten? Wie haben Sie sich gefühlt?“

Sie lehnte sich zurück. Verschränkte die Arme vor sich.

„Warum sollte ich Ihnen das erzählen? Es ist nicht wichtig, Schnee von gestern. Ich erinnere mich kaum.“

„Aber ein wenig schon“, beharrte ich.

„Nein, wirklich. Ich kann mich nicht mehr an meine Emotionen erinnern, die ich damals hatte. Ich nehme an, ich hatte Angst. Ich liebte meine Mutter sehr, mein Vater war ja fort. Ich versuchte alles um sie zufrieden zu stellen. Es war aber nie genug. Wahrscheinlich war es so. Nichts wildes, es geht vielen Co-Alkoholikern, besonders Kindern von Alkis so.“

„Sie liebten Ihre Mutter also trotz allem. Aber nur, weil Ihr Vater nicht mehr da war. Eine Alternativlösung, die aber nie wirklich gelang. Denn sie erwiderte Ihre Liebe nicht. Sie hatten Angst vor ihr und ihrer Gewaltbereitschaft. Ihrer Kritik, Ihrer Ablehnung. Wie war Ihr üblicher Tagesablauf?“

„Ich ging zur Schule, kam zurück, kaufte ein, machte Hausaufgaben und den Haushalt, kaufte ein, ging zu meinen Freunden, spielen, kaufte ein und ging dann zu Bett.“

„Was kauften Sie denn so oft ein?“ fragte ich überrascht.

„Bier und Zigaretten. Für sie und ihre Lover. Sie brauchte mindestens achtzehn Flaschen am Tag. Und abends die Kneipe.“

Das war ein weiteres aufgedecktes Trauma, das sie offenbar nicht spürte. Ich ging näher darauf ein.

„Und das in einem kleinen Dorf.“

„Ja. Ich war ein typisches Schmuddelkind. Ich spielte mit den Kindern, die entweder behindert waren oder ebenfalls eine kaputte Familie hatten. Allen anderen war es untersagt, Umgang mit mir zu haben.“

Genau daran hatte ich gedacht. Die Ablehnung anderer. Ich hakte nach.

„Das muss Sie ungeheuer verletzt haben.“

„Ich weiß nicht, vielleicht.“

„Wie äußerte sich das, woher wussten Sie von der Kontaktsperre, die die anderen Eltern ihren Kindern auferlegt hatten?“

„Einmal kam eine Mutter wütend zu uns, ich hatte mit einer Schulkameradin gespielt. Sie schrie draußen herum und forderte ihre Tochter auf, sofort aus dem Haus zu kommen. Hier würde nur Abschaum leben. Die anderen mieden mich sowieso.“

„Haben Sie Ihrer Mutter davon erzählt?“

„Gott bewahre, nein. Sie hätte mich geschlagen.“

Sie zuckte nur mit den Schultern.

„Wie waren Sie in der Schule? Wie waren Ihre Noten?“

„Eher schlecht, ich war eine Hauptschülerin im Mittelmaß, später habe ich die anderen Abschlüsse nachgeholt, als ich volljährig war.“

„Ihre Mutter war enttäuscht von Ihren Leistungen?“

„Nein, sie interessierte das nicht. Ich sollte möglichst schnell die Schule verlassen und in die Fabrik gehen. Sie wollte eine gute Altersversorgung. Sagte sie jedenfalls.“

„Sie sollten also Geld verdienen und sie unterstützen.“

„Ja, sie konnte sich keine Ausbildung für mich vorstellen.“

„Aber dann ging sie weg und Sie konnten sich um Ihre Ausbildung kümmern. Glücklicherweise.“

„Viel gebracht hat es mir nicht. Sie sehen ja, was aus mir geworden ist. Es waren verschwendete Jahre und Mühen.“

„Nun gut, Sie sagen, Sie erinnern sich nicht an Ihre Gefühle. Es waren sehr schlechte Situationen, die verdrängt man gern. Aber sicher erinnern Sie sich doch an die schönen Momente. Was können Sie mir dazu sagen?“

Sie überlegte kurz, bevor sie antwortete.

„Wenn wir Besuch bekamen, war das immer toll. Ich hatte einen Lieblingsonkel, der kam öfters mal mitten in der Nacht. Und mit ihm durfte ich mitfahren, er war LKW-Fahrer. Er nannte mich immer seine Prinzessin. Oder auch die Besuche meines Vaters, bevor er den Kontakt abbrach. Die Wochenenden waren immer toll.“

„Beide hatten keinen Einfluss auf Ihre Erziehung, nicht einmal Ihr Onkel. Der Bruder Ihrer Mutter?“

Sie nickte.

„Ja, genau. Er war ihr Bruder. Später war ich auch oft bei ihm. Es entwickelte sich eine Beziehung. Oder besser, wir landeten im Bett. Ich war seine Prinzessin und er liebte mich. Er wollte mit mir durchbrennen und ich glaubte ihm. Immerhin hatten wir Jahrzehnte einen guten Draht zueinander. Aber leider wurde daraus nichts. Er nahm sich eine andere Frau. Und ich war erst 16 Jahre alt. Keine Chance.“

„Wie alt war Ihr Onkel damals?“

„Um die Vierzig glaube ich.“

Ich war wieder einmal überrascht. Inzest, Missbrauch, das ganz große Kino. Und sie sprach völlig unbeteiligt darüber.

„Gab es noch andere – sagen wir – Liebschaften?“

„Ein Saufkumpan meiner Mutter betatschte mich öfters. Meine Mutter schlug mich, als ich ihr davon berichtete. Sie glaubte ihm. Aber danach hörte er wenigstens auf.“

„Wie haben Sie sich damals gefühlt?“

„Keine Ahnung. Ich habe es vergessen.“

Ich schrieb mir einiges auf.

„Ich habe noch eine Frage“, sagte ich.

„Wenn Ihnen ein Kind diese Geschichte erzählen würde, was würden Sie dabei empfinden? Was würden Sie denken?“

„Ich würde sie retten wollen. Ich würde sie nehmen und mit ihr abhauen. Sie in Sicherheit bringen.“

„Kein Mitleid?“

„Das wäre Gift für dieses Mädchen. Nein, kein Mitleid, sondern vermutlich das Gefühl, sie beschützen zu wollen.“

„Wie weit würden Sie dabei gehen?“

„Ich hätte sie aus diesem Loch befreit, denke ich. Mit ihr geflüchtet.“

„Und wenn Sie gesehen hätten, wie ihre Mutter sie schlug, sogar abstechen wollte, der Onkel sie bestieg, der andere sie betatschte? Was hätten Sie getan?“

„Ich hätte sie wohl weggestoßen, im Zweifel schwer verletzt, unschädlich gemacht. Irgendwie. Ihnen ins Gewissen geredet oder beschimpfen hätte nichts gebracht, das weiß ich.“

Ich hatte von einem Kind gesprochen, sie hatte sich direkt damit identifiziert und direkt in der weiblichen Form geantwortet.

Ein winziger Fortschritt.

Nun gut. Unsere Zeit war diesmal viel zu schnell um. Aber ich hatte über vieles nachzudenken.

„Für heute haben wir es geschafft“, sagte ich ihr. „Beim nächsten Mal hätte ich gern wieder einen Bericht von Ihnen über Ihre Zeit als junge Erwachsene. Kriegen Sie das hin?“

„Ja, natürlich.“

„Bitte versuchen Sie sich zu erinnern, welche Gefühle sie hatten, welche Bilder Ihnen dabei hochkommen. Irgendwas.“

„Ich kann Ihnen nichts versprechen....“

„Aber versuchen werden Sie es, oder? Wenigstens das.“

Sie nickte.

„Ja, das werde ich.“

Damit war das Gespräch beendet. In meinem Kopf drehte sich alles, ich war angeschlagen. Nicht gut, nicht professionell.

Alles hatte ich schon einmal gehört. Auswirkungen gesehen.

Aber alles auf einmal zu erleben, das war heftig. Und die Auswirkungen kaum spürbar.

Genau das verstand ich nicht. Claire Nolan war wie ein Stück glitschiger Seife, sie war nicht zu fassen. Ich brauchte aber einen Ansatzpunkt.

Ich brauchte eine Schwachstelle bei ihr, um sie zu knacken.

Mochte sie auch vieles erlebt haben, traumatisiert sein, im wahrsten Sinne schuldunfähig sein, dennoch hatte sie mich noch nicht restlos überzeugt. Die Frage, die über ihr Wohl und Wehe entscheiden würde, war noch nicht geklärt.

Wie weit ging ihre Lüge?

Ich richte dich!

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