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Kapitel 7: Anna und Petrov Nemec

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Tschechien, Herbst

Das ehemalige Familienhaus der Nemecs lag in einem gut betuchten Gebiet der Innenstadt von Hradec Králové. Frana hatte ein leerstehendes, verfallenes Gebäude erwartet, doch als sie die von Frau Melnichkowa notierte Hausnummer erreichte, tat sich vor ihr ein gepflegtes Traumobjekt auf. Die Außenfassade schien neu gestrichen, an den Fenstern hingen Gardinen in strahlendem Weiß und der Garten sah aus, als kümmere sich jemand sorgfältig darum.

Frana parkte den Wagen in einiger Entfernung und spähte durch die Seitenscheiben hinaus. Inzwischen hatte sich die Sonne wieder hinter die Wolken verzogen und ein leichter Nieselregen lag über der Umgebung.

Ihre Eltern waren tot, aber sie hatten vor zwanzig Jahren hier gewohnt. Dies war vielleicht der Ort, wo sie ihre ersten Lebensjahre verbracht hatte. Kurz fragte sie sich, ob sie etwas empfand, wenn sie auf das Einfamilienhaus blickte, doch da war weder die Spur einer Erinnerung noch ein Gefühl von Vertrautheit. Das war nur irgendein beliebiges Haus in der Tschechei.

Seufzend lehnte sie sich im Wagen zurück und betrachtete das Straßenbild. Dicht nebeneinander gereiht standen die Villen hier wie selbstverständlich beieinander. Ein Haus war schöner als das andere. In ihrer naiven Vorstellung hatte sie sich Tschechien immer alt und hässlich vorgestellt. Kaum Essen, abgewrackte Häuser, Probleme und Kriminalität. Sicher, das gab es womöglich auch, aber an diesem Ort spürte sie nichts von alldem.

Sie wartete noch einen Augenblick im Wagen, bevor sie den Vorstoß in unbekanntes Gebiet wagte. Still ließ sie ihre Gedanken schweifen, hörte in der Ferne den Schrei eines Vogels und musste an Krystof-Rabenvogel denken. Ob es ihm gut ging? Am Morgen hatte sie ihm die letzten Insekten auf den Teller gelegt und sich schlecht gefühlt, als sie erneut bemerkte, dass er nur mit viel Überredung fraß. Frana glaubte, einen Schmerz in ihrem Herzen zu verspüren. Krystof, kam ihr in den Sinn, das ist ein tschechischer Name. Wieder nur ein Zufall, wie der Löwe? Vielleicht, vielleicht auch nicht.

Frana seufzte. »Okay, du kannst jetzt zu diesem Haus gehen und vielleicht klären, wer deine richtigen Eltern waren, oder zurück nach Deutschland fahren«, sagte sie zu sich. Dann öffnete sie die Fahrertür. Wenn sie schon hier war, würde sie es auch versuchen.

Wenig später drückte sie auf den Klingelknopf der pompösen Villa. Nichts passierte. Sie klingelte erneut. Immer noch nichts. Dann drückte sie ein letztes Mal und tatsächlich, die Eingangstür wurde geöffnet.

Eine Frau mit dunklen Haaren stand auf der Schwelle. Sie trug einen Pelzmantel. Auf Tschechisch rief sie Frana etwas zu und erst da wurde ihr klar, dass sie die Sprachbarriere vollkommen vergessen hatte.

»Ich spreche nur Deutsch und Englisch. Can you speak English?«, rief Frana ihr zu. Die Frau sah sie verdutzt an, murmelte etwas und verschwand wieder im Haus, ohne die Tür schließen.

Kurze Zeit später tauchte ein älterer Herr mit grauem Haar und weißem Polo-Shirt in der Tür auf. Über seine Stirn zogen sich tiefe Falten. Seine Erscheinung war vornehm und trotzdem wirkte er nicht sehr sympathisch, wenn man so etwas in wenigen Sekunden überhaupt feststellen konnte. Er ging die Stufen des Hauseingangs hinunter, überbrückte den steinernen Gartenweg bis zum Zaun und fragte stockend: »Sie sind Deutsch?«

»Ja, sprechen Sie Deutsch? «

»Bisschen«, meinte er.

»Ich hab nur eine Frage, es dauert auch nicht lange.« Der Mann musterte sie eindringlich von oben bis unten und nickte stumm.

»Ich heiße Frana Huss. Ich suche meine Eltern. Sie sollen hier gewohnt haben.«

»Eltern?«, fragte er und redete ein paar Sätze auf Tschechisch.

»Richtig, Petrov und Anna Nemec. Kennen Sie die beiden?« Aber anstatt zu antworten, wiederholte der Mann nur langsam die beiden Namen, als habe er sie nicht verstanden. Frana konnte ihm in die Augen sehen. Eisblaue Augen, unnahbar und fest wie Stein. Hatte sie nur das Gefühl oder hatte sich seine Mimik verändert?

»Kennen, nein! Gehen Sie weg.«

Sie hatte sich also nicht getäuscht, er war wütend.

»Bitte, wenn Sie irgendetwas wissen, dann sagen Sie es mir. Beide haben vor etwa zwanzig Jahren hier gewohnt und sind dann verstorben. Vielleicht haben Sie mal davon …«

»Ich bin nicht Nemec und ich kenne keine Nemec. Gehen Sie. Ich mag keine Deutschen.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging zurück ins Haus. Frana konnte deutlich hören, wie die Tür ins Schloss fiel.

Ihr Herz raste. Da war sie den ganzen Weg hergekommen, um … was zu bekommen? Rassismus? Worum ging es hier eigentlich? Sofort übermannte sie das Verlangen, noch einmal klingeln zu wollen, um dem Mann zu sagen, dass er ein Arschloch war, der in seiner kleinkarierten Welt zu viel reiche Luft geschnuppert hatte. Stattdessen zählte sie bis zehn und spürte, wie der Frust abebbte.

***

Wieder im Auto blickte Frana eine Zeitlang durch die Windschutzscheibe. Der Nieselregen hatte ihre Haare befeuchtet und so schaltete sie die Heizung ein. Mit den Händen richtete sie ihre Frisur, indem sie in den Rückspiegel schaute.

Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Das Gefühl war so stark, dass sie sofort begann, nach einem Anhaltspunkt zu suchen, und dann sah sie am Fenster des dritten Stocks den Mann mit dem Polo-Shirt stehen. Obwohl sie einige Meter entfernt war, sah sie, wie sich seine Lippen bewegten. Mit der Hand hatte er die Gardine zur Seite geschoben und blickte zu ihr hinunter. Er telefonierte, das war klar. Ihre Blicke trafen sich.

Rasch startete sie den Wagen und fuhr davon. Ziellos durchstreifte sie Hradec Králové, passierte die Neustadt, verlor sich in Wohnvierteln am Stadtrand und ließ ihre Gedanken schweifen. Sie wollte nicht gehen, aber sie hatte auch keinen anderen Plan. Irgendwann parkte sie. Ihre Gedanken waren zu einem Knäuel geworden, das sie nicht entwirren konnte. In ihrer Brust hämmerte ihr Herz, als ob sie einen Marathon gelaufen wäre. Umsonst. Alles war umsonst.

Du kannst jetzt nicht aufgeben, dachte sie, sprich mit Joshua, vielleicht weiß er etwas über die Artikel oder über Anna und Petrov Nemec. Das war eine vernünftige Idee. Joshua war Polizist und hatte sicher seine ganz eigene Theorie zu der Sache.

»Also, zurück nach Deutschland«, sagte sie zu sich selbst.

***

Der Rückweg dehnte sich. Auch deshalb, weil Frana eine andere Route wählte. Sie wollte nicht über die Schnellstraße zurück nach Deutschland fahren, sondern die Landschaft des Elbsandsteingebirges genießen. Daher fuhr sie nun mit mäßiger Geschwindigkeit auf der Landstraße Richtung Decin.

Es fiel ihr schwer, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Irgendwie hatte sie ja geahnt, dass ihr Ausflug sinnlos war, aber dass ihre richtigen Eltern tot waren, stimmte sie nachdenklich. Tatsächlich machte es keinen Unterschied, woher sie kam oder wer sie war, aber sie hätte gern mit ihrer Mutter und ihrem Vater gesprochen. Sie gefragt, warum sie sie weggeben hatten.

Einige Kilometer vor der deutschen Grenze wurde der Regen stärker. Der Wind fegte um das Auto und Frana war gezwungen, ihre Geschwindigkeit zu drosseln.

Frana kroch förmlich über den Asphalt und konzentrierte sich auf die Straße, die einem endlosen Meer aus Regentropfen glich. Mit vorgebeugtem Körper und zu Schlitzen verengten Augen, starrte sie auf die Fahrbahn. Der Regen war inzwischen so heftig, dass sie nicht wagte, schneller als dreißig zu fahren.

An einer Kreuzung musste sie wegen einer roten Ampel stehen bleiben und blickte in der Wartezeit auf eine Ausschilderung, die auf eine Ortschaft mit dem Namen Bynovec verwies. Kein Name, der ihr auch nur entfernt bekannt vorkam. Frana warf einen Blick rechts an die Seite und sah nur Bäume und Regen. Neben ihr hatte sich ein Auto auf den Abbiegerstreifen eingeordnet.

Franas Fingerspitzen begannen nervös zu kribbeln. Der Regen prasselte auf das Autodach. Klopfte im gleichmäßigen Takt und erinnerte sie an den Raben, der in der gestrigen Nacht ihren Namen gerufen hatte. Es war Irrsinn, dass sie den Blinker einschaltete, die Spur wechselte und beim Grün der Ampel in Richtung Bynovec fuhr. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie nun diese Straße hinunterfuhr, doch etwas an diesem Namen schien sie anzulocken. Diese Etwas schien zu sagen, dass sie genau hier, in der tschechischen Pampa abbiegen sollte, und sie folgte blind.

Als hinge der Regen auf der Landstraße nach Deutschland fest, nahm er in Richtung Bynovec ab. Die Sicht wurde besser.

Die Landschaft war von Hügeln geprägt. Den Straßenrand säumten Nadelbäume. Im Hintergrund war das Elbsandsteingebirge mit seinen zahlreichen Gebirgsformen zu sehen. Ein nebeliger Streifen zog sich über die Bergspitzen. Es sah aus wie ein seidenes Band, das in schwebender Geduld über die Szenerie glitt. Ein bisschen kam sich Frana vor, wie der Wanderer über dem Nebelmeer, den schon Caspar David Friedrich gemalt hatte.

Nur ab und an kam Frana ein Auto entgegen, von Häusern oder menschlicher Zivilisation gab es kaum eine Spur, bis sie das Ortseingangsschild von Bynovec passierte und die ersten Häuser hinter den Nadelbäumen auftauchten.

Sie hielt an einer Dorfkirche aus dunklem Stein und wanderte kurz darauf ziellos durch die Straßen des verschlafenen Ortes. Dabei wollte ihr ein Kinderlied nicht mehr aus dem Kopf gehen, das sie seit dem Verlassen ihrer eigentlichen Route im Kopf hatte.

An einem Supermarkt machte sie Halt, kaufte sich Oblaten, weil sie glaubte, das wäre typisch Tschechisch und aß sie auf einer Bank. Während sie aß, entdeckte sie eine Wanderkarte und dachte, es könne ja nicht schaden, mal einen Blick darauf zu werfen. Sie las die unterschiedlichen Namen von den Ortschaften und fuhr mit dem Finger darüber. Lauter unbekannte Wörter, nichts als gleichgültige Fremde und dann hatte sie eine Eingebung. Ihre Fingerspitze verharrte auf einem Tal inmitten der bergigen Landschaft. Es war nur ein kleiner Fleck, der in das Gebirge eingelassen schien. Dort war keine Ortschaft verzeichnet, nur eine schmale Linie, womöglich ein Forstweg, ließ erahnen, dass man auch mit dem Auto in das Tal gelangen konnte.

Urplötzlich hatte sie das Verlangen dorthin zu fahren. Es war so stark, dass ihre Hände zu zittern begannen und sie die Zähne aufeinander pressen musste. Hinter sich glaubte sie einen Raben schreien zu hören und wandte sich erschrocken um. Doch weder in den Bäumen noch am Wegesrand entdeckte sie die ihr so vertrauten Gesellen.

Sie sind hinter der Grenze, dachte sie und bekam eine Gänsehaut.

Sieben Raben

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