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Kapitel 2: Ein Märchen
ОглавлениеTschechoslowakei, Dezember 20 Jahre zuvor
Sie saßen am knisternden Feuer eines Kachelofens, wärmten sich ihre Finger und der Schein von Flammen tanzte auf ihren Gesichtern wie eine Ballerina in leuchtend roten Kleidern, eine Ballerina gefangen in einer endlosen Pirouette. Sie waren Zeugen einer düsteren Vergangenheit: sieben Jungen von ganz unterschiedlichem Alter, mit ganz unterschiedlichem Aussehen, ganz unterschiedlichem Charakter und doch waren sie im Geiste gleich. Sie froren nicht, denn sie drängten sich dicht aneinander, sodass sich ihre Körper unter der Wolldecke berührten. Zusammen trotzten sie der Winterkälte, die durch die Ritzen des alten Bauernhauses zog.
Ein Junge stach besonders hervor. Mit gedämpfter Stimme erzählte er das Märchen von den Sieben Raben. Es war sein Lieblingsmärchen, denn es handelte von Geschwistern, die zusammenhielten. Ein schauriges Abenteuer voller Mystik und einem ungewissen Ausgang.
Der Junge hielt in seinen Armen das achte Kind, ein Mädchen mit hellblondem Haar und wachen Augen. Es war noch sehr klein und brauchte von allen Kindern die meiste Aufmerksamkeit. Schwierig war es deshalb jedoch nicht. Still, aufmerksam und selten laut. Ein Sonnenscheinkind, was oft lachte und jeden im Herzen wärmte, der es sah.
Das Mädchen hatte die Augen auf ihren Bruder gerichtet und zog mit den kleinen Fingern an einer Schlaufe seines Oberteils. Es konnte seine Gefühle nicht eindeutig formulieren, noch konnte es bewusst begreifen, wie wichtig dieser Mensch für es war und trotzdem war zwischen den beiden Geschwistern eine stille Übereinkunft. Sie brauchten einander wie Pflanzen Wasser brauchten, um kräftig zu gedeihen.
Es ging den Kindern gut. Keiner sprach mehr über die Flucht vor einem Jahr und den Verlust, den sie alle erlitten hatten. Für sie gehörte dies zu einem Spuk, der nun vorbei war. In diesem Bauernhaus waren sie sicher. Es bot ihnen Schutz und Geborgenheit. Nun lebten sie zwar weit außerhalb der Stadt, hatten oft wenig zu Essen und noch weniger Geld, aber es war besser, als die ständige Angst im Nacken zu spüren.
Krystof brachte die Erzählung seinem Höhepunkt entgegen. Er war der Älteste und für die anderen daher ein Vorbild. Wenn er erzählte, klebten die Kinder an seinen Lippen und verschlangen jedes Wort.
Keiner von ihnen ahnte jedoch, dass Krystof der Einzige war, der den wahren Grund für ihre Flucht kannte. Ihm war jedes unglaubliche Detail bekannt und nur dadurch wirkte der 14-jährige Junge auf alle anderen wie der leuchtende Stern am Firmament.
Er war einfach erwachsen geworden. Im Gegensatz zu den anderen half er Tante Nemec ohne Murren beim Essenkochen, unterstütze Onkel Nemec beim Anbau von Gemüse im Frühling und kümmerte sich außerdem um die anderen Kinder. Waren sie betrübt, tröstete er sie und war der Anker, der sie sicher im Hafen hielt. Er half ihnen beim Anziehen und warnte sie vor der Gefahr, die weit im Norden lauerte. Nach allem, was er gesehen hatte, wollte er nur noch sein Bestes tun, damit es ihnen auf ewig gut ging.
Das Wichtigste war dabei, dass sie die Städte oder Dörfer in der Nähe mieden. Kein Junge durfte aus Neugierde den Hof verlassen oder gar in die Stadt gehen. Wenn jemand sie entdeckte, wäre alles umsonst gewesen. Es war unabdingbar, dass sie in den sicheren Wänden des Bauernhauses ausharrten und die Zeit einfach voranschritt. Denn, daran glaubte Krystof fest, die Zeit ließ kläffende Hunde irgendwann müde werden.
Während Krystof das Märchen nacherzählte, flüsterte er ab und an oder schlug in einem spannenden Moment stark auf den Boden. Alle Kinder erschraken dann. Nur Krystofs kleine Schwester blieb ruhig. Sie lachte stets ihr herzliches Kinderlachen.
Es machte Krystof Spaß, die überraschten Gesichter seiner Cousins zu sehen. Sprachen unterschiedliche Figuren, ahmte er deren Stimme nach. Das Märchenerzählen lag ihm. Früher hatte sich seine Mutter täglich an sein Bett gesetzt und ihm in den späten Abendstunden ein Märchen vorgelesen. Erst dadurch war seine Liebe zu den Geschichten entflammt.
Seine Mutter. Krystof hielt plötzlich inne, blickte sein Schwesterchen an und spürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Mehr als dieses Kind war von seiner Familie nicht geblieben. Da war niemand mehr, der auf ihn aufpassen konnte, nur noch Tante und Onkel Nemec, die gemeinsam mit den Kindern geflohen waren. Wenn er konnte, würde er seine Schwester bis zum Tod verteidigen.
»Krystof, wie geht’s weiter, erzähl!«, rief Domek. Er war der aufgeweckteste unter den Jungen. Mit seinen zehn Jahren konnte er kaum stillhalten. Immer ergriff er das Wort oder heckte Pläne aus, wie er andere ärgern oder ein Abenteuer erleben konnte. Einmal hatte Krystof ihn im Wald erwischt, wie er mit einem Stock im Bau eines Dachses herumstocherte. Sofort hatte ihn Krystof zurück ins Bauernhaus gezogen und mit ihm geschimpft. Domek war ein Einzelgänger, rang jedoch stets und ständig um Aufmerksamkeit.
»Sei nicht so aufgeregt Domek. Es geht gleich weiter«, meinte Krystof. Doch ehe er fortfuhr, drängte sich die Erinnerung an das Gesicht seines Cousins kurz vor der Flucht in den Vordergrund. Krystof hatte eilig Domeks Sachen in einen Koffer gestopft und ihn aus seinem Elternhaus gezerrt. Domek war außer sich gewesen, hatte geschrien, um sich getreten und sogar gebissen. Die Narbe trug Krystof noch immer am Arm.
Geduldig warteten die Kinder darauf, dass Krystof weitererzählte. Sie wollten von dem Mädchen hören, das mit den Sternen sprach und sich auf die Suche nach ihren Brüdern machte. Ein Kind, das einen Finger opferte und am Ende erfolgreich war. Selbst Krystof war erleichtert darüber, dass Märchen stets ein gutes Ende nahmen.
Als er fertig war, wollten die Jungen noch eine Geschichte hören, doch Tante Nemec klatschte in die Hände, erhob sich mühselig aus ihrem Sessel und wies sie an, ins Bett zu gehen. Die Frau mit dem zögerlichen Lächeln war der gute Geist im Bauernhaus.
Krystof sah ihrem Gesicht jedoch den Schmerz an, den sie beim Aufstehen verspürte. Seit sie in das Bauernhaus gezogen waren, hatte sie große Probleme mit dem Rücken. Krystof schob es auf die Feldarbeit, aber eigentlich wusste er längst, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Mehr als zwei Monate lang war seine Tante bei diesen Leuten gewesen. Die Schrecken dieser Tage zeichneten ihr ganzes Wesen.
Nicht daran denken, ermahnte sich Krystof. Es sind schlechte Gedanken.
Gemeinsam mit Tante Nemec brachte er die Jungen zu Bett. Sie hatten ein eigenes kleines Zimmer mit drei Betten, die sie sich teilten. Das winzige Fenster am Ende des Raumes spendete wenig Licht. Abends war es eisig kalt, aber keiner beschwerte sich über die Temperaturen. Sie hatten mehr verloren als die Wärme eines Hauses. Diese Zuflucht war ihre letzte Chance und das war selbst dem störrischen Domek klar.
Für einen Augenblick stand Krystof am Fenster und blickte auf den eingeschneiten Hof. Im Hintergrund konnte er die Berge erkennen. Dort irgendwo war die deutsche Grenze. Von hier bis dahin war es nicht weit. Vielleicht brauchte man weniger als einen Tagesmarsch, wenn man schnell war.
Bei der Flucht hatten Tante und Onkel Nemec darüber nachgedacht, ins Ausland zu gehen. Es wäre ein verzweifelter Versuch gewesen, ohne viel Hoffnung, denn Bekannte hatten sie im Ausland kaum. Noch dazu hätte wohl niemand zwei Erwachsene mit so vielen Kindern auswandern lassen. Man hätte sie einfach zurückgeschickt, ihrem Schicksal überlassen.
Aber es gefiel Krystof hier sowieso besser. Das Bauernhaus war ein alter Steinbau mit einer überschaubaren Landwirtschaft, die im Sommer genügend abwarf, damit sie alle gut davon leben konnten. Es war von einem Wald umrahmt und völlig vom Trubel abgeschnitten. Stille und Frieden, das hatten sie hier gefunden.
Im Haus gab es zwar nur begrenzt Strom, kein warmes Wasser und nur ein einfaches Plumpsklo, aber auch das genügte zum Überleben. Es war ein Paradies für eine abenteuerlustige Gruppe von Kindern. Solange sie vorsichtig waren, standen ihnen alle Möglichkeiten offen. Vielleicht fragte deshalb niemand nach ihrem alten Zuhause.
Es dauerte eine Weile, ehe die Jungen Ruhe fanden. Als Erstes schliefen die beiden Söhne von Tante und Onkel Nemec, Emil und Milan. Sie waren noch sehr jung und vom Tag so erschöpft, dass sie sofort in einen tiefen Schlaf fielen. Obwohl die beiden Brüder einige Jahre auseinander waren, war ihre Ähnlichkeit verblüffend. Die Haare in krausen Locken, darunter runde Augen, die Zuversicht ausstrahlten. Die beiden Jungen waren unzertrennlich, stritten nie miteinander und hatten vieles mit ihrem Vater Onkel Nemec gemeinsam.
Domek stritt sich derweil mit dem vernünftigen Jiri um den Platz auf der Matratze und die Decke. Sie waren beides Einzelkinder und es auch nach einem Jahr nicht gewohnt, ihren Schlafplatz teilen zu müssen. Krystof musste Domek mehrmals zur Ruhe ermahnen, bis sich dieser endgültig abwandte und nach kurzer Zeit zu dösen begann.
Jiri war nicht so leicht ruhig zu kriegen. Er war ein neugieriger Junge mit einem nicht zu stillenden Wissensdurst. Es ging um das Märchen. Wieso musste sich das Mädchen den Finger abschneiden? Wieso können Sterne sprechen? Wieso wurden die Brüder überhaupt bestraft? Krystof konnte ihm diese Fragen nur schwer beantworten, aber er beruhigte ihn mit einem einfachen: »Es ist Fantasie, Jiri«, und wandte sich dann den Zwillingen zu.
Leise flüsterten sie einander noch Geschichten zu und redeten sich so selbst in den Schlaf. Von den sieben Jungen waren sie die unauffälligsten. Vorsichtig und zurückhaltend widersprachen sie selten und fanden miteinander immer Beschäftigung. Krystof war dankbar für diese zwei ruhigen Charaktere. Er selbst würde sich später zu ihnen legen, denn obwohl er der Älteste war, gab es auch für ihn kein eigenes Bett.
Wenig später stand Krystof im Schlafzimmer von Onkel und Tante Nemec am Bett seiner Schwester und beobachtete sie still. Mit ihren Händen umklammerte sie ein Stofftier, das sie bei der Flucht bei sich getragen hatte. Wie sie in dem Kinderbettchen lag, wirkte sie ganz friedlich und dafür war Krystof dankbar. Irgendwann steckte er ihre Decke fest um den Körper und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Schlaf gut, Frana«, flüsterte er leise und verließ das Zimmer. Einzig wichtig war, dass sie hier und jetzt glücklich waren. Es spielte keine Rolle mehr, was in der Vergangenheit passiert war, denn was im Verborgenen lag, konnte ihnen keinen Schaden zufügen.