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Kapitel 4: Hunger

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Tschechoslowakei, Dezember 20 Jahre zuvor

Die Tage wurden immer kürzer, das Essen immer weniger. Den letzten Winter im Bauernhaus hatten Tante und Onkel Nemec auf die bei der Flucht mitgebrachten Reserven zurückgreifen können und die zusammengewürfelte Familie so versorgt. Allerdings waren diese Reserven bereits im Spätsommer aufgebraucht gewesen. Ein Weg in die Stadt schien unausweichlich. Bisher hatten sie sich von Räucherfleisch, eingewecktem Gemüse und den Resten ihres Anbaus ernährt, doch alles hatte ein Ende und zehn Menschen waren nur schwer satt zu kriegen. Krystof begriff diesen Zusammenhang recht schnell.

Keiner wollte in die Stadt, weder Onkel und Tante Nemec noch er selbst. Zu groß war die Gefahr, dass diese Leute in der Nähe waren. Es reichte nur eine unkluge Entscheidung und all die Vorteile, die sie nun besaßen, waren dahin.

Als sie jedoch eines Morgens nichts mehr zu Essen hatten und sich fünf Jungen, Jiri war ausgenommen, denn er begriff durchaus, warum sie hungern mussten, lautstark beklagten, gab es keine Alternative mehr.

Onkel Nemec gab jedem Jungen eine Aufgabe, dann setzte er sich mit Tante Nemec an einen Tisch und besprach das Vorgehen genau. Krystof beobachtete sie dabei. Die Tante legte den Kopf zwischen die Hände, der Onkel fuhr sich nachdenklich durch die Haare.

»Ich hab Hunger«, sagte Emil. Mit seinen sechs Jahren war er der Jüngste und litt unter den Entbehrungen am meisten. Er hatte Tränen in den Augen und konnte einen Weinanfall nur schwer zurückhalten.

»Wir werden etwas holen«, sagte Krystof, obwohl er sich dessen nicht sicher war, »aber das geht nicht so schnell.«

Emil senkte den Kopf und flocht weiter seinen Korb. Es tat Krystof im Herzen weh, seinen Cousin so leiden zu sehen. Am liebsten hätte er ihn in den Arm genommen und beruhigt, aber die Angst vor dem Hunger saß auch ihm zu tief in den Knochen.

Nachdem Tante und Onkel Nemec beraten hatten, was zu tun war, riefen sie Krystof heran. Er setzte sich zu ihnen an den Tisch und wusste, was kommen würde.

»Wir müssen in die Stadt gehen, Krystof«, sagte Tante Nemec. Ihr Gesicht war ausgezehrt und dünn, um die Augen hatte sie kräftige Augenringe. Er wusste, dass sie und ihr Mann seit einigen Tagen noch weniger gegessen hatten, um den Kindern genug geben zu können.

»Ich komme mit«, sagte er prompt, doch Tante Nemec schüttelte nur den Kopf.

»Nein, ihr Kinder müsst hier bleiben. Nur dein Onkel wird in die Stadt gehen. Er nimmt das alte Auto. Du und ich, wir müssen auf die Kinder aufpassen.«

Krystof verzog das Gesicht. Ganz allein konnte Onkel Nemec niemals genügend Essen kaufen, damit sie über den ganzen Winter kamen. Er war ein starker Mann, aber die schwerwiegenden Entscheidungen der letzten Jahre hatten auch ihm zugesetzt.

»Ich komme trotzdem mit«, sagte Krystof lauter. Beide Nemecs sahen einander an.

»Krystof, du weißt doch, besonders deine Familie haben sie …«, die Tante verschluckte die Worte, als sie Krystofs eisernes Gesicht sah. Gewöhnlich war er ein gehorsamer Junge, aber heute war ihm das egal.

»Lass ihn mitgehen«, sagte Onkel Nemec beschwichtigend und legte eine Hand auf den Arm seiner Frau. »Es wird schon gut gehen. Keiner weiß, dass wir hier sind und ich denke nicht, dass sie uns so dicht bei der Grenze vermuten. Ich hingegen brauche eine helfende Hand. Du wirst sehen, nichts wird passieren.« Er lächelte zuversichtlich, doch Tante Nemec zog ihren Arm aus der Berührung. Sie strafte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick, den Krystof nicht deuten konnte.

Nicht viel später hatten sie alle Sachen zusammengepackt. Tante Nemec reichte ihnen eine Einkaufsliste und einen Teil ihrer gemeinsamen Ersparnisse in einem Geldsäckchen mit goldenem Band gelegt. Zum Abschied sagte sie mit Schwermut in der Stimme, sie mögen auf sich Acht geben und stets die dunklen Ecken im Auge behalten.

***

Die Landstraße war schlecht befestigt und nur schwer befahrbar, weshalb Krystof vor und zurückgeworfen wurde. Onkel Nemec fuhr mit gleichmäßigem Tempo. Krystof blickte aus dem Fenster und saugte alles in sich auf, was er zu sehen bekam. Die Bäume, die Häuser, die Dorfstraße mit Bushaltestelle und Telefonzelle, sogar die wenigen Schneereste bargen eine ungewöhnliche Faszination. Seit Monaten hatte er sich nicht mehr als ein paar Meter vom Bauernhaus weggewagt. Nur der Wald hinter dem Haus hatte ihm Möglichkeit zur Erkundung geboten.

Immer wieder ermutigte sich Krystof mit dem Gedanken, dass sie nur in irgendeine unbedeutende Stadt fuhren. Dort waren Menschen, aber nicht diese Leute. Die waren im Norden und nahmen ihre alten Besitztümer in Beschlag. Keiner von ihnen würde in der Nähe sein.

Onkel Nemec starrte nur geradewegs auf die Straße, auch dann noch, als sie das Ortseingangsschild passierten. Seine Finger waren um das Lenkrad gekrallt.

Sie parkten im Zentrum. Die Umgebung war reichlich belebt. Im Gewimmel konnten sie gut verschwinden, das war besser, als außerhalb der Stadt im Nirgendwo zu sein und von allen beobachtet zu werden.

Einen Moment saßen sie schweigend im Auto. Onkel Nemec legte seine Hände auf die Oberschenkel und rieb sie kräftig. Krystof hingegen spürte sein Herz deutlich gegen die Rippen schlagen. Nur eine Stadt, sagte er sich im Kopf. Du hast jahrelang in einer Stadt gewohnt. Jahrelang. Doch dieser Gedanke beruhigte ihn nicht. Die Sicherheit, die er als Kind erfahren hatte, war eine trügerische gewesen.

»Krystof«, sagte Onkel Nemec neben ihm. »Unsere Vorfahren, es war nicht ihre Absicht gewesen, dass so etwas geschieht. Sie hatten sich auf unser Vorankommen konzentriert und viele Fehler gemacht.« Noch immer sah Krystof nach draußen. Ein Wohnblock ragte vor ihnen auf. Ein quadratischer Kasten mit kleinen Fenstern. Tristes Grau in einer verschneiten Welt. Nicht bedrohlich, nicht beängstigend und trotzdem fröstelte Krystof.

»Warum verfolgen uns diese Leute immer noch?«, fragte Krystof. Auf diese Frage hatte er nie eine Antwort bekommen und auch heute seufzte Onkel Nemec nur und schüttelte den Kopf.

»Deine Tante sagt, unsere Großeltern hätten ihnen viel Leid zugefügt. Sie sind getrieben von blankem Hass, aber ich weiß nicht, ob es so einfach ist.«

»Aber wir haben doch nichts getan.«

Onkel Nemec schüttelte nur den Kopf.

»Nein, wir selbst haben nichts getan.«

Krystof drückte die eisigen Hände in die Taschen und schluckte die Erinnerungen herunter, die erneut versuchten, wie sterbende Fische an die Oberfläche zu gelangen.

»Nur eine Stadt«, murmelte er und Onkel Nemec nickte zur Bestätigung.

Sieben Raben

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