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Kapitel 5: Hradec Králové
ОглавлениеTschechien, Herbst
Bis nach Hradec Králové brauchte Frana etwa drei Stunden. Während sie unsicher immer wieder auf ihr Navi blickte, vor lauter Angst, sich trotz genauer Richtungsangabe zu verfahren, packte sie Nervosität. Die ausgeschilderten Städtenamen waren ihr vollkommen unbekannt. Sie waren wie aus einer anderen Welt und weckten in Frana ein beklemmendes Gefühl von Fremde. Tschechien war nur ein dunkler Fleck auf der Landkarte. Sie war mit ihren Eltern nach Spanien oder Italien geflogen, aber den direkten Nachbarn hatte sie nie besucht. Weder Prag noch irgendein Dorf in der Nähe der Grenze.
Zwischen Dresden und Tschechien lagen die sächsische und die böhmische Schweiz, die als touristische Highlights bekannt waren und unter dem Begriff Elbsandsteingebirge zusammengefasst wurden. Die naturbelassene Landschaft entlang der Elbe, die von zerklüfteten Bergen aus Sandstein umgeben war, übte eine Faszination auf Wanderer und Bergsteiger in ganz Europa aus.
Frana war als Kind mit ihren Eltern einige Wanderrouten gelaufen. Sie liebte das bis hoch in die Berge schallende Geräusch der Elbefluten, die sich an Felsen brachen. Dennoch war der Gebirgszug für sie ein unüberwindbares Bollwerk zwischen Deutschland und Tschechien.
Während sie auf der Autobahn dahinfuhr, fragte sie sich, ob ihre Eltern absichtlich nie mit ihr nach Tschechien gereist waren. Es war gut möglich, dass sie sich vor Franas Reaktion fürchteten. Sie nahmen vielleicht an, dass ihr in Tschechien etwas bekannt vorkam. Ein Geruch, ein Eindruck, etwas, was die Lüge verriet, die sie lange Zeit aufrecht gehalten hatten.
Tatsache war jedoch, dass Frana sich nur an ihre Zeit in Deutschland erinnerte. Es gab Fotos von ihr, als sie vielleicht zwei Jahre alt gewesen war. Sie mit Kostüm im Kindergarten oder am Strand beim Sandburgenbauen. Ihre Mutter hortete mehrere Alben, die alle Momente in Franas Leben für die Ewigkeit festhalten sollten. Wenn sie überhaupt jemals in Tschechien gelebt hatte, dann nur für eine verschwindend kurze Zeit.
Und trotzdem, da war dieses Gefühl, das sie nie hatte in Worte fassen können. Dieser bittere Gedanke, dass sie nicht hundertprozentig in das kleine Örtchen hinter Dresden passte.
In angetrunkenem Zustand hatte sie Joshua einmal von diesem Gefühl erzählt. Sie war fest davon ausgegangen, er würde es als Einbildung abtun, aber entgegen ihren Erwartungen, hatte er sie verstanden. »Du bist nicht komplett«, hatte er ihr erklärt, und das traf den Nagel auf den Kopf. Sie war schlicht und ergreifend unvollständig.
Ihre Mutter war eine vorsichtige Frau. Sie plante akribisch und mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Ihr Vater war ähnlich verbissen, wenn es um Geschäftliches ging.
Zwar war sie in die Rolle der anständigen Tochter hineingewachsen und hatte viel von ihrer Abenteuerlust verloren, doch eine Stimme tief in ihr wollte stets, dass sie nach Neuem suchte.
Warum also konnte sie sich nicht von Lichtenthal lösen? Darauf gab es keine eindeutige Antwort, aber nachts, wenn die Raben vor ihrem Fenster bereits mit dem Krächzen aufgehört hatten, übermannte sie von Zeit zu Zeit eine Angst, die ihr unerklärlich war. Sie fürchtete sich vor den Schatten. Nein, vor jemandem, der sie packen und wegreißen könnte.
Es gab einen Traum, der sie seit ihrer Kindheit verfolgte. Darin war sie in einem alten Haus. Der Geruch von brennendem Holz lag in der Luft. Sie war unweit von ihren Eltern entfernt, aber trotzdem schienen sie unerreichbar zu sein. Frana schrie nach ihnen, streckte die Hände aus, doch egal, wie sehr sie sich streckte, ihre Eltern konnte sie nicht erreichen. Stattdessen überfiel sie etwas und riss sie fort von ihrer Heimat.
Auch jetzt, wo sie sicher im Auto saß und sich vereinzelte Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke drängten, war der Gedanke an diesen Traum verunsichernd. Ja, es war wohl diese Angst, wegen der sie ihr Zuhause einfach nicht verlassen konnte und sich selbst und ihre Neugierde einkerkerte.
Vor ihr tauchte wie aus dem Nichts das Ortsschild von Hradec Králové auf. Sie warf einen raschen Blick auf die Uhr. Zehn Uhr in der Früh am Mittwochmorgen. Sie folgte dem Navi bis ins Zentrum der Stadt, parkte ihr Auto auf einem ausgewiesenen Parkplatz und sah sich um.
So wenig Zeit und schon war sie in einem anderen Land mit fremden Menschen, die sie nicht verstehen konnte. Ein Katzensprung und doch würde sie auf tschechischem Boden stehen, wenn sie das Auto verließ und die Füße auf den Bürgersteig stellte. Ihre Finger wurden kalt. Dies war etwas vollkommen Neues und es machte ihr Spaß.
Frana sah nach draußen. Menschen in warmer Kleidung wanderten durch die Straßen. Herbstlaub bedeckte die Gehwege, wurde vom Wind nach oben gewirbelt, um sich dann andernorts niederzulegen.
Es war nicht viel anders als in Deutschland. Altbauten beherrschten das Straßenbild, ab und an standen Plattenbauten dazwischen und sie entdeckte einige Souvenirgeschäfte. Hochgewachsene Bäume standen in Reih und Glied auf dem Bürgersteig, Graffitis bedeckten einige Häuserfassaden und der Putz an alten Villen blätterte durch die Witterung ab. Ein gewöhnliches Stadtbild.
Vielleicht war Hradec Králové nicht ganz so pompös wie Dresden mit seinen Prunkbauten aus der Zeit von August dem Starken, aber diese unaufdringliche Schönheit gefiel ihr sogar besser.
»Gut«, sagte Frana, »auf geht’s.«
Sie stieg aus und erst da wurde ihr klar, dass sie nicht recht wusste, wohin. Zuerst einmal wollte sie nach ihren biologischen Eltern suchen. Vielleicht konnte sie mit ihnen reden und etwas über ihr Leben in Tschechien erfahren. Ein Bürgerbüro musste her.
Für einen kurzen Augenblick zweifelte Frana daran, dass es so etwas in Tschechien überhaupt gab. Vielleicht wurden Bürgerbelange hier anders geregelt.
Egal, sagte sie sich, Hauptsache, du bist erst einmal in Bewegung. Sie schloss ihren Wagen ab, bemerkte dann das Radio, öffnete die Tür erneut und verstaute es unter dem Sitz. Musste nicht sein, dass ihr jemand die Scheibe einschlug.
Dann lief sie ziellos durch die Stadt. Marktplatz, Touristeninformation, hierhin, dorthin. Erst nach mehrmaligem Passieren etlicher Geschäfte und Sehenswürdigkeiten, wagte sie einen Schritt nach vorn und stellte sich bei der Touristeninformation an.
Die Zeit des Wartens verbrachte sie damit, sich einige Sätze auf Englisch zurechtzulegen, die ihr irgendwie weiterhelfen konnten. Das war ein unmögliches Unterfangen, denn ihr Englischunterricht lag mehrere Jahre zurück.
Als sie an der Reihe war, brachte sie einige klägliche Brocken hervor und stammelte etwas von einem bureau for family service. Ganz sicher eine Fehlentscheidung, denn ihr Gegenüber sah sie mit gerunzelter Stirn fragend an. Sprachen, die waren nie Franas Ding gewesen.
Es nutzte nichts, es mussten Fakten her. Frana holte die Geburtsurkunde hervor, deutete auf die beiden Namen ihrer Eltern und versuchte, der Frau klarzumachen, dass sie diese Personen suchte. Unsicher murmelte sie ein, zwei gebrochene Sätzchen und erntete ein verwundertes Gesicht, doch dann kam die Erkenntnis auf der anderen Seite. Frana war erleichtert, denn binnen kurzer Zeit beschrieb ihr die Frau den Weg zum Bürgerbüro.
***
In der Empfangshalle des Bürgerbüros herrschte reges Treiben. Bewohner von Hradec Králové liefen auf und ab. Absätze klackerten auf Stein und Frana saß wie deplatziert neben einer Kübelpflanze in einer Ecke. Sie hatte ihre Handtasche auf den Schoß gelegt und spielte mit den Henkeln. Sie betrachtete ein Ölgemälde an der Wand. Es war golden gerahmt und zeigte Hradec Králové. Über der Stadt lag eine diesige Morgenluft, die in rötliches Sonnenlicht getaucht war. Wenig vom Licht erhellt, erstreckte sich die Stadt in einem dunklen Tal, wobei in der Mitte der Stadtkern emporragte wie ein besonders wertvolles Ausstellungsstück. Das Bild wirkte melancholisch, sogar ein wenig romantisch und es erinnerte sie an den gestrigen Herbstmorgen in Lichtenthal. Nur fehlten hier die Raben. Doch als Frana genau hinsah, glaubte sie plötzlich unten im Schatten die geduckte Gestalt eines Löwen mit glutroter Zunge sehen zu können.
Gerade wollte sie noch näher an das Bild herantreten, um sicher zu gehen, dass es keine Einbildung war, als jemand ihren Namen rief.
Frana sah zur Seite. Eine Frau mittleren Alters in Hosenanzug kam mit hastigen Schritten auf sie zugelaufen. Ihre Haare waren zu einem Dutt nach oben gebunden, weshalb sie sofort einen strengen Eindruck machte. Sie trug roten Lippenstift, hatte das Gesicht gepudert, in den Händen hielt sie einen kleinen Memoblock.
»Frau Huss«, wiederholte sie und rollte das R dabei etwas zu sehr. »Ich habe gehört, Sie sind wegen einer Angelegenheit Ihrer Eltern hier.« Sehr gutes Deutsch, Frana war erleichtert, dass sie sich nicht erneut mit Englisch durchkämpfen musste. Ganz automatisch lächelte sie, dabei wanderte ihr Blick auf das Namensschild am Blazer der Frau.
»Richtig, ich wollte den Wohnort meiner Eltern herausfinden, Frau Melnichkowa«, sagte Frana, woraufhin ihre Ansprechpartnerin sie skeptisch betrachtete. Die Frau war nicht sonderlich groß, auch nicht außergewöhnlich hübsch oder schlank, aber etwas an ihr war bemerkenswert. Stolz war es vielleicht.
»Folgen Sie mir«, sagte die Frau und lief los. Es ging über einige Flure in die zweite Etage. Frana konnte Warteräume sehen und erhaschte einen flüchtigen Blick in die Geschäftszimmer.
In einem geräumigen Büro schienen sie dann ihr Ziel erreicht zu haben. Frau Melnichkowa teilte es sich mit einer jüngeren Frau, die über ihre Brille hinweg Frana musterte. Es sah nicht so aus, als würden hier gewöhnlich Leute empfangen werden, deshalb musste ihre Ansprechpartnerin zuerst einen Stuhl für sie freiräumen.
Als sie endlich beide saßen, ergriff Frau Melnichkowa die Initiative: »Ich bin die Einzige hier, die gutes Deutsch spricht, darum soll ich mit Ihnen reden. Wir haben nicht oft Deutsche im Haus.«
Frana nickte. »Verstehe und danke für die Zeit. Wissen Sie, ich habe meine Eltern seit Jahren nicht gesehen und würde gerne mit ihnen Kontakt aufnehmen. Gestern habe ich meine Geburtsurkunde gefunden und dort steht, dass ich hier geboren worden bin. Vielleicht haben meine Eltern auch hier gelebt.« Frana gab der Frau Zeit zu reagieren, doch diese wirkte wie eingefroren. Ihre Mundwinkel zeigten gen Boden, die Lippen waren fest aufeinandergepresst. »Ich … äh …, ich dachte, vielleicht können Sie mir sagen, wo meine Eltern sind. Wissen Sie, ich wusste überhaupt nicht, dass ich in Tschechien geboren worden bin. Können Sie mir da überhaupt helfen?«
»Nun«, begann Frau Melnichkowa und faltete die Hände, »ich kann nur helfen, wenn Ihre Eltern in Hradec Králové gelebt haben. Dann sind sie im Verzeichnis. Kann ich die Urkunde sehen?«
Frana zog sie hervor und reichte sie herüber. Vom Schreibtisch nahm ihre Ansprechpartnerin eine Brille und setzte sie auf, dann las sie einen Moment die Informationen. Noch immer regte sich ihre Miene nicht. Sie war offensichtlich darauf trainiert, keine Emotionen zu zeigen.
»Hier steht Frana Nemec, haben Sie Namen geändert?« Die Frau sah Frana ernst an.
»Ich bin adoptiert«, sagte Frana und zum ersten Mal gab sie dieser Vermutung eine konkrete Form, sprach sie aus und machte sie so zur Wahrheit. Es schmerzte in ihrer Brust, fühlte sich schwer an, so als habe jemand ein bleiernes Gewicht an ihr Herz gehängt.
»Ich brauche Ihren deutschen Pass«, sagte die Frau und streckte Frana die Hand entgegen.
»Sie meinen den Personalausweis?« Anstatt zu antworten, winkte Frau Melnichkowa nur mit der Hand, als würde sie langsam die Geduld verlieren. Daher dachte Frana nicht darüber nach, wieso der Ausweis überhaupt wichtig war, wenn es doch eigentlich um ihre biologischen Eltern ging und eine Geburtsurkunde als Beweis für ihre Herkunft reichen musste.
Kaum hatte Frau Melnichkowa auch den Ausweis bei sich, wandte sie sich an den Computer und tippte eilig.
Auf dem Tisch entdeckte Frana eine Holzuhr mit filigranen Verzierungen. Am oberen Rand war ein Relief in das Holz geschnitzt. Es zeigte das Stadtwappen mit dem Löwen in der Mitte. Es war vermutlich ein antiquarisches Stück, denn der Sockel war vergoldet. Aber eigentlich war Frana nur auf den Löwen fixiert. Sie dachte an die Augen des Raben, an das Bild, an den Reiseführer. War es denn wirklich möglich, dass dieser Löwe sie überallhin begleitete, wie es auch die Raben taten? Hatte er das eventuell schon viel länger getan?
»Nehmen Sie Ihre Papiere. Ich kann nicht viel sagen«, meinte Frau Melnichkowa. »Aber ich kann Ihnen den letzten Wohnort nennen. Ich muss nur kurz mit Chef telefonieren.« Sie drehte sich zur Seite, schnappte sich das Telefon, ohne Franas Zustimmung abzuwarten und tauschte ein paar kurze Sätze auf Tschechisch aus. Beim Sprechen hielt sie eine Hand vor den Mund, um nicht gehört zu werden. Frana fragte sich, ob diese Geheimnistuerei wegen ihr war oder aber der Kollegin.
»Es geht okay«, meinte sie dann, nachdem sie aufgelegt hatte. »Zuerst einmal Frau Huss, Anna und Petrov Nemec sind bereits kurz nach Ihrer Geburt gestorben.«
»Gestorben?«, fragte Frana und umklammerte ihre Hände.
»Richtig, aber sie haben in Hradec Králové gelebt. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen das auf der Karte.«
Aus einer Schublade holte Frau Melnichkowa einen Stadtplan hervor und zeichnete rasch einen Weg bis zum ehemaligen Wohnsitz der Nemecs ein. Es war ein Viertel außerhalb des Zentrums, zehn Minuten Fahrt entfernt. Dort könne Frana sich das ehemalige Haus ihrer Eltern ansehen, mehr war nicht möglich, sagte ihr Frau Melnichkowa.
Als sie geendet hatte und Frana den Stadtplan zuschob, fasste Frana einen eher spontanen Entschluss. Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem tschechischen Zeitungsartikel und legte ihn zwischen sich und ihre Gesprächspartnerin.
»Wissen Sie, was das ist?«, fragte sie auf gut Glück. Frau Melnichkowa schob ihre Brille nach oben und las einen Augenblick. Nach einer Weile sah sie auf und räusperte sich.
»Ich weiß nicht. Es ist ein alter Zeitungsartikel.«
»Wissen Sie etwas darüber?« Ein Moment des Schweigens trat ein und Frau Melnichkowa musterte Frana erneut.
»Frau Huss«, sagte ihre Gesprächspartnerin, »ich bin Beamte, keine Polizistin.« Als würde dieser Satz alles erklären. »Ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Meinen Sie die Polizei könnte mir helfen?«
»Nein, die haben anderes zu tun, als alte Fall betrachten. Am besten, Sie gehen nach Hause und kümmern sich um Probleme in Deutschland.« Das war eindeutig. Frana bedankte sich, versuchte höflich zu sein, aber Frau Melnichkowa wies ihr nur den Weg aus ihrem Büro.
Kurz darauf war Frana die Treppen des Bürgerbüros nach unten gegangen und trat auf den Platz davor. In der Hand hielt sie die Karte mit der Wegbeschreibung. Ihre tschechischen Eltern waren also tot.