Читать книгу Sieben Raben - Mika M. Krüger - Страница 9

Kapitel 6: Die Stadt

Оглавление

Tschechoslowakei, Dezember 20 Jahre zuvor

Der Boden unter Krystofs Füßen war gefroren. Ein weißer Schimmer lag auf den Gehwegen und ließ die Stadt winterlich erscheinen. Krystof sah seinen Atem kondensieren und auf den Wangen fühlte er den schneidenden Wind. Onkel Nemec schritt voran, warf jedoch immer wieder einen prüfenden Blick in seine Richtung.

Es war später Vormittag an einem Werktag und trotzdem waren viele Leute unterwegs. Das beunruhigte Krystof. Hinter den Menschen konnten Onkel Nemec und er sich leicht verstecken, aber was ihnen Schutz bot, das war auch für diese Leute eine gute Chance, unentdeckt zu bleiben.

Als sie vor dem Eingang des Supermarkts ankamen und Onkel Nemec den Einkaufszettel hervorholte, wandte er sich an Krystof: »Wir müssen nachher noch Medizin kaufen. Darum dürfen wir hier nicht so viel Geld ausgeben, also nichts kaufen, was nicht auf der Liste steht, klar?«

»Verstanden«, meinte Krystof und damit betraten sie das Gebäude, in dem ihnen trockene Wärme entgegenschlug.

Der Supermarkt war überfüllt, helles Licht erleuchtete die Auslagen und präsentierte Waren auf die bestmögliche Weise. Krystof erschien das Licht ungewohnt grell, denn im Bauernhaus war es durch die kleinen Fenster oft sehr dunkel. Schon nach wenigen Minuten begannen seine Augen zu brennen und er musste immer öfter blinzeln.

Er war in seinem Leben noch nie in einem Supermarkt gewesen. Früher hatte eine Angestellte die Einkäufe der Familie getätigt. Krystof, als erster Sohn, war nie mitgenommen worden. Seine Aufgabe war es gewesen, zu lernen, gehorsam und fleißig zu sein. Seine Eltern hatten für ihn eine erfolgreiche Zukunft gewollt und er hatte hart gearbeitet, um sie nicht zu enttäuschen.

Onkel Nemec packte so viel einkochbares Gemüse in den Einkaufswagen, wie er konnte, wies Krystof an, Konserven und Seife zu holen. Es war ein elend langes Suchen. Immer wieder musste sich Krystof durch die Menschen zwängen, um an die Sachen zu kommen. Die verschiedenen Gerüche benebelten ihn. Gewürze, Fisch, Fleisch. Alles war neu, unbekannt und aufregend. Er ließ sich treiben, reagierte automatisch und versank in der Geschäftigkeit seiner Umgebung. Alles war neutral und ungewohnt alltäglich. Das Stimmengewirr um ihn herum war nur ein monotones Murmeln, mehr ein Lallen und das Geräusch der rollenden Einkaufswagen hing über ihm wie das Kling-Klong eines Windspiels. Für eine kurze Zeit konnte Krystof seine eigene düstere Welt verlassen, spürte weder Angst noch Unbehagen noch Glückseligkeit.

Irgendwann jedoch fand sich Krystof gemeinsam mit Onkel Nemec vor dem Auto wieder. Er bemerkte, dass sie inzwischen den Einkauf im Wagen verstauten und dachte erst da an ihre ausweglose Situation. Die Hälfte ihres Ausflugs hatten sie hinter sich gebracht. Nur noch ein paar Minuten und sie waren zurück bei Frana, den anderen Jungen und Tante Nemec.

Doch wie Krystof vor dem Wagen stand und Konserven im Kofferraum verstaute, wurde ihm klar, wie unkompliziert alles sein konnte. Arbeiten, Geld verdienen, einkaufen, essen, nach Hause fahren, vielleicht vor dem Fernseher sitzen und einfach entspannen. Es war ein Mit-Dem-Strom-Schwimmen. Einen Arm heben, senken, eintauchen, atmen. Heben, senken, eintauchen, atmen. Wer sich im perfekten Gleichtakt mit allen anderen bewegte, der brauchte sich keine Gedanken darüber zu machen, was im Wasser unter einem lauerte. Das war wohl das, was man ein Leben in Sicherheit nannte.

Sie setzten sich ins Auto und ruhten einen Moment. Onkel Nemec lächelte sanft, als er Krystofs nachdenkliches Gesicht sah. »Ganz schön was los, was?«, fragte er und rieb sich dabei die Hände.

»Hm, es ist eben eine echte Stadt«, meinte Krystof und Onkel Nemec stieß ihm zur Bestätigung gegen die Schulter.

»In ein paar Jahren wirst du wieder hier wohnen können. Dann musst du nicht mehr im Bauernhaus frieren.«

»Wirklich?«

»Es bleibt nicht alles für ewig gleich, Krystof. Daran will ich zumindest glauben.«

Das klang logisch. Immerhin war ihr vorheriges Leben auch endlich gewesen. Sie hatten alle Zelte abgebrochen und waren nun hier an diesem Ort. Warum sollte etwas Ähnliches nicht in einer positiven Art und Weise wieder passieren? Das war ein guter Gedanke und Krystof entspannte sich. Seine Hände kribbelten vom Tragen der schweren Beutel und er fühlte sich lebendiger als zuvor.

Onkel Nemec zählte die verbliebenen Scheine und Münzen im Geldsäckchen. »Wir haben noch genug für die Medizin übrig. Es war wirklich Glück, dass sie heute den Preis für Dosenwaren runter gesetzt hatten«, sagte er und wandte sich an Krystof: »Hast du Hunger, Junge?«

»Wieso? «

Onkel Nemec klopfte ihm erneut auf die Schulter. »Wir sind den ganzen Weg hierher gefahren. Meinst du nicht, wir haben uns etwas richtig Gutes verdient?«

Krystof sah ihn ungläubig an. »Wir sollen doch nicht unnötig viel Geld ausgeben.«

Ein Lächeln huschte über Onkel Nemecs Lippen. »Du bist zu anständig, Junge. Heute machen wir mal eine Ausnahme. Für einen Paladschinki haben wir noch Geld.«

Mit diesen Worten stieg Onkel Nemec aus dem Wagen, doch Krystof blieb einen Moment zögerlich sitzen. Diese Unschlüssigkeit bemerkte sein Onkel sofort, steckte den Kopf zur Tür herein und meinte: »Es sind nur ein paar Minuten. Lass uns diesen Moment genießen.«

Das überzeugte Krystof. Gemeinsam gingen sie zu einem Paladschinki Stand. Es war eine tschechische Süßigkeit, die einem Eierkuchen ähnelte und in einer Papiertüte überreicht wurde. Als Krystof vom Teig abbiss, glaubte er im Leben nicht so etwas Gutes gegessen zu haben. Tränen stiegen ihm in die Augen und Onkel Nemec schmunzelte, während er den Jungen betrachtete.

Es war nicht einfach für die Kinder, doch Krystof hatte es besonders schwer. Er hatte genug Verstand, um hinter die Dinge zu blicken, war jedoch noch längst nicht alt genug, um damit zurechtzukommen. Für das Kind musste dieses Leben Verwirrung stiften. Keine sichere Zukunft und eine noch unsichere Gegenwart. Er trug das Gesicht eines Jugendlichen, doch seine Voraussicht war der eines Erwachsenen ebenbürtig. Das machte Onkel Nemec traurig. Als er ein junger Bengel gewesen war, hatten seine Eltern ihm alles ermöglicht.

Seine Frau liebte jedes der acht Kinder. Auch wenn er sich strikt geweigert hatte, Verantwortung für alle Schützlinge seiner Verwandten zu übernehmen, hatte er sich still gefügt, als seine Frau weinend um sein Verständnis gebeten hatte. Am liebsten wäre er nur mit ihr geflohen und hätte der Tschechoslowakei auf Nimmerwiedersehen gesagt, aber ihr zuliebe war er geblieben. Ihr Wille zählte und insgeheim begriff er ja auch, dass es keine andere Möglichkeit gab. Wo hätten die Kinder denn auch hingehen sollen? Ins Heim? Nein, lieber in Kälte und Hunger leben als verwahrlost und ungeliebt sein. Manchmal jedoch packte auch ihn eine trübe Schwermut, die er nicht verscheuchen konnte. Seine Frau war sein Leben, sie allein war der Grund, warum er all die Entbehrungen ertragen konnte.

Eine Weile hingen Onkel Nemec und Krystof ihren eigenen Gedanken nach. Als sie aufgegessen hatten, warfen sie die Papiertüten weg und machten sich auf den Weg zur Apotheke. Ein Fußmarsch von vielleicht fünf Minuten, doch gerade als sie die erste Kreuzung erreichten, blieb Onkel Nemec wie angewurzelt stehen und hielt Krystof zurück.

»Onkel Nemec?«, fragte Krystof, doch dieser starrte wie besessen in eine Richtung, dann sah er sich um. Rechts, links, rechts, links. Grob packte er Krystof am Arm und zog ihn zur Seite.

»Was ist los?« Doch auf die Frage bekam Krystof keine Antwort. Onkel Nemecs Arm umfasste den seinen so heftig, dass ein Schmerz durch Krystofs Glieder fuhr. Er zog ihn die Straße hinunter, zurück zum Auto.

»Onkel Nemec! Onkel Nemec, was ist denn los?«

»Wir müssen nach Hause.« Seine Stimme klang abgehackt und hart.

»Aber die Medizin.«

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr.« Onkel Nemecs Atem ging schnell, seine Augen wirkten panisch.

Als sie unweit vom Auto entfernt waren, blieb er stehen und blickte hinter sich. Ein paar Stadtbewohner in dicken Mänteln liefen auf der anderen Seite den Gehweg entlang, sie scherzten und wirkten ausgelassen.

»Waren sie da?«, fragte Krystof mit einem Mal und sein Magen verkrampfte sich schlagartig. Sie hätten die Süßigkeit nicht essen sollen, das war ein Fehler gewesen, ein großer Fehler.

»Ich bin nicht sicher. Wahrscheinlich hätte es jeder sein können.«

Krystof blickte zu seinem Onkel. »Dann müssen wir jetzt gehen Onkel Nemec.«

Doch sein Onkel blieb ungerührt stehen, ohne den Blick abzuwenden, und tatsächlich, hinter der Ecke tauchte eine Gestalt auf. Krystof sah nur den langen Mantel, ein Gesicht, das von einem Schal halb verdeckt war, aber er wusste aus dem Bauch heraus, dass es diese Leute waren.

Abrupt drehte sich Onkel Nemec um. »Zum Auto«, befahl er, dabei packte er Krystof noch fester am Arm und riss ihn hinter sich her. Krystof spürte sein Herz wie Feuer brennen. Die Beine wurden schwach und mit jedem Schritt glaubte er, in einer weichen Masse zu versinken. Die Angst hatte ihn eingeholt.

Hastig liefen sie die letzten Meter bis zum Auto. Unter Onkel Nemecs Fingern pulsierte Krystofs Herzschlag unaufhörlich.

»Steig ein!«, schrie er und Krystof tat, was ihm gesagt wurde. Sie starteten, fuhren los. Die Gebäude reihten sich aneinander, wechselten sich ab mit den Bäumen und irgendwann waren sie zurück im Nirgendwo. Krystof wollte schreien, die Beifahrertür aufreißen und einfach davonlaufen, aber das war nicht möglich. Diese Leute waren überall, sie hatten ihre Späher an jedem Ort in der Tschechoslowakei verteilt und nun hatten sie den Beweis: Auch nach einem Jahr waren sie noch immer auf der Suche. Womöglich würden sie erst Ruhe geben, wenn der letzte Nemec ausgelöscht war.

Sieben Raben

Подняться наверх