Читать книгу Das Dorf des Willkommens - Mimmo Lucano - Страница 13

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Als ich ein Kind war, wurde meine Mutter im Dorf »die Freundin der Roma« genannt, oder manchmal auch mit leicht verächtlichem Unterton »die Zigeunerfreundin«. Sie hat sich nicht groß darum gekümmert. Auch wenn sie nur einen Hauptschulabschluss hatte, war sie eine sehr intelligente und gebildete Frau. Sie war eine große Leserin und praktisch ununterbrochen in Bücher vertieft. Mein Vater hat immer erzählt, wie er Jahre zuvor, als sie jung verheiratet waren, die ganze Provinz Reggio Calabria durchkreuzte, um eine Ausgabe von Ugo Foscolos Klassiker »Die letzten Briefe von Jacopo Ortis« für sie aufzutreiben.

Meine Mutter besaß eine Engelsgeduld, vor allem mir gegenüber. Als Zehnjähriger hatte ich eine Phase, in der ich mich kategorisch weigerte, mir die Schuhe zu binden, bevor ich aus dem Haus ging, und sie erzählte gern, wie sie alle ihre Überredungskünste aufwandte und auch meinen vier Jahre älteren Bruder Giuseppe einspannte, um mir die Notwendigkeit von gebundenen Schnürsenkeln nahezubringen. Doch es war immer dieselbe Leier, meine Antwort stand fest: »Ich will nicht machen, was alle machen, ich binde sie nicht zu.« Meine Mutter gab sich aber nicht geschlagen und malte mir aus, wie ich mit meinen losen Schnürsenkeln im Dorf stolpern und hinfallen würde. Irgendwann gab ich nach.

Die Meinung anderer Leute interessierte meine Mutter nicht, denn sie scherte sich nicht um Etikette, und ich glaube, ich habe in dieser Beziehung viel von ihr übernommen. Gastfreundschaft war für sie etwas ganz Natürliches, kein politischer Akt, sondern eine spontane Geste, und auch eine christliche Verpflichtung, weil sie sich in der sakralen Tradition der Heiligen Cosmas und Damian verortete, die Märtyrer unter Kaiser Diokletian gewesen waren und noch heute die Schutzpatrone von Riace sind.

Der Legende nach lebten die Ärzte Cosmas und Damian etwa 300 nach Christus in Kilikien, einem Landstrich, der im heutigen Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien liegt. Sie waren Brüder, vielleicht sogar Zwillinge, ihre Mutter war die heilige Theodora, und von ihren Brüdern sind die Namen Antimus, Leontius und Euprepius überliefert. Die beiden galten als sehr außergewöhnliche Mediziner, denn bei ihren Reisen durch den Mittelmeerraum behandelten sie viele bedürftige Kranke umsonst, unabhängig von ihrem Glauben oder ihrer Hautfarbe. Ihre Selbstlosigkeit sei so groß gewesen, heißt es, dass Damian sich schämte, weil er von einer Bäuerin, die er geheilt hatte, drei Eier als Geschenk akzeptiert hatte. Er fühlte sich daher unwürdig, später in einem gemeinsamen Grab neben seinem Bruder zu ruhen, und bat darum, ihn an einem anderen Ort zu begraben. Doch als sie dann beide gemeinsam den Märtyrertod starben, stellte sich heraus, dass Damian die Gabe der Bäuerin nur akzeptiert hatte, um ihr kein Missvergnügen zu bereiten. So wurden die Brüder dann doch gemeinsam bestattet. Heute wären Cosmas und Damian wahrscheinlich als Ärzte für eine der Nichtregierungsorganisationen tätig, die überall in der Welt unterwegs sind, um den Opfern der globalen Ungerechtigkeiten, der Kriege, Hungersnöte und Epidemien, in ihrem Leid beizustehen.

Ihr berühmtestes Wunder, und gleichzeitig ihre kurioseste Operation, war die Transplantation des gesunden Beines eines soeben verstorbenen Äthiopiers an den Stumpf eines mit Wundbrand darniederliegenden Weißen. Sie ist in vielen Kirchen dargestellt, in oft blutigen und bizarr anmutenden Versionen. Die viel gereisten Heiligen gelten weltweit als Schutzpatrone von Ärzten, Chirurgen und Apothekern und werden in Italien mit ungewöhnlicher Inbrunst verehrt, vielleicht wegen ihrer Bescheidenheit und Vorbildlichkeit, vielleicht aber auch wegen ihres blutigen Martyriums: Nachdem man zuvor durch vielerlei Folterqualen, durch Steinigung, Pfeile und andere Grausamkeiten vergeblich versucht hatte, sie zu töten, wurden sie schließlich enthauptet.

Auf ihren Pilgerreisen sollen Cosmas und Damian auch nach Riace gekommen sein, und es heißt, sie hätten einem Schäfer, der am Strand seine Schafe hütete, berichtet, dass sie aus Arabien hergeschwommen waren. Auf ihrem Weg zur Küste schwammen sie an einem Felsen vorbei und erklommen ihn, und diesen Felsen gibt es heute noch. Er ist sogar zur Kultstätte geworden, da der Fußabdruck des heiligen Cosmas sich darin eingedrückt haben soll. Später ist in der Gegend auch ein kleiner Hafen entstanden, den wir im Dialekt den »porticchio« nennen.

Vieles an der Legende von Cosmas und Damian erinnert an die Sage von Castor und Pollux aus der griechischen Mythologie, die zu ihrer Zeit ebenfalls über das Meer nach Riace gekommen sein sollen. Und dem Meer entstiegen sind auch die sogenannten »Bronzi«, zwei griechische Männerstatuen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. [ folgende Bilder], die am 16. August 1972 etwa 300 Meter von der Küste Riaces entfernt in sieben Metern Tiefe zufällig von einem Hobbytaucher entdeckt wurden. Die beiden Bronzestatuen haben den Namen dieses Dörfchens der Provinz Locride damals schlagartig berühmt gemacht, sind aber inzwischen nicht mehr in Riace, sondern im Museum von Reggio Calabria zu bewundern.



Die religiöse Verehrung der Heiligen Cosmas und Damian ist in Riace auch heute noch groß, denn in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden ihre Reliquien von Rom in die Wallfahrtskirche von Riace überführt. Sie werden in einem silbernen Schrein aufbewahrt, der die Form eines Arms hat, und dieser wird jeden zweiten Sonntag im Mai in einer feierlichen Prozession von der Mutterkirche im alten Dorf auf dem Hügel hinunter zum Strand und weiter bis zu dem Felsen mit dem Fußabdruck getragen.

Dieses »Maifest« ist eine Feier, die vor allem die Dorfgemeinde vereint. Es gibt aber noch ein größeres »Septemberfest«, das immer vom 25. bis 27. September gefeiert wird, weil am 26. der Jahrestag ihrer Enthauptung ist. Das wichtigste Fest von Riace wird nicht nur von den Einwohnern mit Spannung erwartet, sondern lockt auch viele Besucher ins Dorf. Schon im Vorfeld sorgt es für lebhafte Diskussionen in den Häusern und Bars, schafft neue und erneuert alte Bekanntschaften und soziale Netzwerke, setzt Gerüchte, Ideen und Meinungen in die Welt. Die Pilger kommen aus den nahe gelegenen Provinzen wie Vibo Valentia und Catanzaro, wo der Kult noch ganz besonders tief empfunden wird, aber darüber hinaus strömen auch Menschen aus ganz Italien herbei. Die Einwohner Riaces sind dann angehalten, den Fremden ihre Türen zu öffnen, um dem Vorbild des Willkommens und der Integration zu folgen, das die Heiligen hinterlassen haben. Seit Jahrhunderten schon werden die religiösen Festtage von einem großen Volksfest begleitet, bei dem früher auch mit Vieh und Geflügel gehandelt wurde. Heute hat sich das Septemberfest stark verändert, aber in dem noch ein wenig bäuerlichen Riace, in dem ich aufgewachsen bin, war das Warten auf die Gläubigen, die auf Wallfahrt zu uns kamen, schon Tage zuvor überall greifbar.

Zu den Hunderten von Pilgern, die für das Fest auch heute noch den Weg nach Riace antreten, gehören traditionell auch Mitglieder der Volksgruppen der Roma und Sinti. Bis vor wenigen Jahrzehnten kamen viele von ihnen schon zehn oder zwölf Tage vorher ins Dorf und schlugen in den Wäldern und auf den Feldern in der Umgebung ihre Zelte auf. Meine Mutter lud diese Gläubigen regelmäßig zu uns nach Hause ein, sie hieß sie willkommen, sie bot ihnen Unterkunft, sie unterhielt sich mit ihnen, sie lachte und scherzte mit ihren Kindern und Frauen: Das war der Grund, warum man sie im Dorf »die Freundin der Roma« nannte.

Am 25. September finden zwei parallel ablaufende Prozessionen statt, die die spannungsvolle Erwartung noch weiter erhöhen: Die eine beginnt an der Wallfahrtskirche und die andere in der Mutterkirche im Dorf. Hier werden die Standbilder der Heiligen aus ihrer Altarnische herabgelassen und auf einem Podest hinaus unter die schon wartenden Gläubigen getragen. An der Wallfahrtskirche hingegen versammeln sich Roma und Sinti mit ihren traditionellen Kleidern und Instrumenten unter Tänzen und Gesang. Am Morgen des 26. kommen die Zigeuner ins Dorf, und die beiden Prozessionen vermischen sich miteinander und geleiten die Heiligen gemeinsam ins Zentrum von Riace. Es ist ein großes, buntes Durcheinander: Speisen und Votivgaben werden dargeboten, Kinder sitzen auf den Schultern ihrer Väter und versuchen, die bunten Mäntel der Heiligenstatuen zu haschen, die Luft ist erfüllt von Gebetslitaneien und Gesängen, vom Klang der Tamburine und Akkordeons, von immer wieder aufbrandendem Applaus und von den Fürbitten der Gläubigen. So wird dieses Fest zu einer einzigartigen Gelegenheit, die Völker im Glauben zu versöhnen. Am letzten Tag dann, dem 27. September, nimmt die Prozession den umgekehrten Verlauf, und das Fest geht mit einem Feuerwerk zu Ende. Die Heiligen kehren zu ihrem Platz in der Kirche zurück, und auch die Roma und Sinti reisen wieder nach Hause.

Als Kind konnte ich mitverfolgen, wie sie gerührt und dankbar Abschied von meiner Mutter nahmen, als sie mein Elternhaus verließen. Später dann, als ich Bürgermeister war, waren es die neuen Bewohner Riaces, die aus Afrika oder Asien gekommen waren, die ihnen ihre Häuser öffneten. Ich bin kein gläubiger Mensch, aber von meiner Mutter habe ich gelernt, dass sich vor allem in den »Letzten«, in den Armen, in denen, die man als »Gesindel« beschimpft, etwas verbergen kann, das groß ist, ja gewaltig. Gott kann dir auch in einem bettelarmen Reisenden begegnen.


Im September 2019 hat Antonio Trifoli,12 mein Nachfolger im Bürgermeisteramt, das Schild entfernen lassen, das ich einst auf dem Platz am Dorfeingang anbringen ließ, um Besucher zu begrüßen: »Riace – Dorf des Willkommens«. Er hat es durch ein anderes ersetzt, auf dem Riace sich als »Dorf der heiligen Ärzte und Märtyrer Cosmas und Damian« ausweist. Er hat wohl bei dieser symbolischen Geste nicht bedacht, dass unsere Schutzpatrone ja für genau dasselbe stehen wie die Willkommenskultur, auf die mein Schild verwiesen hatte.

Nicht lange darauf beschloss Trifoli, ein weiteres Schild aus meiner Amtszeit entfernen zu lassen, nämlich das, das Peppino Impastato13 zeigte. Wie kaum ein anderer steht Peppino für den Kampf gegen die Mafia und das organisierte Verbrechen, und er ist eine Ikone für das Recht des Südens auf Selbstbestimmung. Als junger Mann hat er sich seiner eigenen Familie widersetzt, weil sein Vater der Mafia nahestand, in einer schwierigen Umgebung wie Cinisi, einem berüchtigten Mafiadorf in der Provinz Palermo. 1978 wurde er im Alter von nur 40 Jahren durch ein Bombenattentat ermordet.

Viele haben mich nach meiner Meinung gefragt, als die Nachricht von dieser weiteren »Heldentat« meines Nachfolgers in den Zeitungen stand. Ich fand jedoch, dass sich jeder Kommentar darauf erübrigte.

Das Dorf des Willkommens

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