Читать книгу Das Dorf des Willkommens - Mimmo Lucano - Страница 17

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Als kleiner Junge und weit bis ins Jugendlichenalter hinein ließ ich keine Gelegenheit zum Fußballspielen ungenutzt. Jeden Tag landeten meine Freunde und ich auf der Straße und widmeten uns dem geliebten Ballsport. Um den Sport etwas ernsthafter zu betreiben, trat ich der Mannschaft des sozialistischen Vereins der »Unità Proletaria« bei.

Um die Wahrheit zu sagen, fühlte ich mich in unserer Mannschaft oft fehl am Platz, weil ich der einzige Junge war, der aus einer »bürgerlichen« Familie stammte: Mein Vater war Lehrer und Christdemokrat, und bei mir zu Hause litt man keinen Hunger. Wir waren eine typische Mittelstandsfamilie der frühen 1970er-Jahre. In unserem Verein hingegen spielten viele Kinder von Arbeitern und vor allem Tagelöhnern, die als Erntehelfer auf den Feldern schufteten; Jungen in meinem Alter, die sich von den Idealen der libertären Linken eine realistische Möglichkeit erhofften, um ihrem Elend zu entfliehen.

Zu unseren sommerlichen Fußballturnieren kamen also schon bald politische Debatten und Veranstaltungen hinzu. Unsere Mannschaft gehörte zum Circolo Pier Paolo Pasolini (einer der vielen Namen, den der Verein über die Jahre hinweg getragen hat) und nannte sich »Stella Rossa« (Roter Stern), und selbstverständlich trugen wir einen feuerroten Dress. Eine der besten gegnerischen Mannschaften wiederum, gegen die wir damals regelmäßig spielten, hieß »Armata Rossa« (Rote Armee). Je älter wir wurden, desto mehr trat der Sport in den Hintergrund, während unsere »politische Mission« immer wichtiger wurde. Wir führten intensive Diskussionen über Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit, was notgedrungen auch dazu führte, dass ich nicht auf die Idee kam, meine im Vergleich zu den anderen privilegierte Situation zu vergessen. Auf dem Spielfeld aber war ich bestens integriert. Alles gelang mir leicht, viele sagten mir echtes Talent nach. Vielleicht hätte ich mich an einer Karriere als Profifußballer versuchen können, aber daran hatte ich kein Interesse.

Wie in vielen anderen Bereichen zeigte sich auch auf dem Fußballplatz, in den Wettkämpfen von zahllosen Kleinstvereinen, die damals allein in Kalabrien existierten, die gespaltene Seele der politischen Linken. Es gab die Sozialisten, es gab die Sympathisanten von »Lotta Continua«14 oder »Democrazia Proletaria«,15 zu denen auch ich gehörte, und schließlich gab es die Mitglieder der FGCI (Federazione giovanile del Partito Comunista), der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. Ich selbst wollte keiner Partei angehören, und die endlosen Diskussionen darüber, welche Ideologie nun die bessere sei, der Marxismus, der Stalinismus oder der Leninismus, fand ich nutzlos und aufreibend.

Zu Hause waren mein Bruder und mein Vater beide Fans von Juventus Turin, nur ich konnte, vielleicht auch aus Trotz, diesem Verein nichts abgewinnen. Ich war der Ansicht, dass mein Vater immer auf der Seite des Stärkeren stand, während ich es von jeher eher mit den Schwächeren hielt. Trotzdem haben wir über das Thema Fußball nie gestritten: Es wäre mir dumm vorgekommen, wegen einer Fußballmannschaft Streit anzuzetteln.

Es gibt noch einen anderen Aspekt, der mir am Fußball immer gefallen hat: die Tatsache, dass er eine sehr menschliche Seite hat. Es gibt bei diesem Sport unendlich viele, kleine und große Geschichten, die meist von ganz normalen Menschen handeln, nicht nur von Champions und Supermännern. Besonders häufig sind die von Spielern, die sich durch ihre Kunst aus einem Leben in Not und Elend befreit haben, wie etwa auch ein damaliger Gefährte von mir, Trionfo, der aus sehr armen Verhältnissen kam und später in mehreren sizilianischen Mannschaften auf Profiniveau spielte. Ich hatte seinen Vater bei einer Studentendemonstration kennengelernt, die sich mit dem Protest der Waldarbeiter verband, und Trionfo kam sofort zu uns, als wir »Stella Rossa« gründeten. Obwohl er später im Profifußball spielte, ist ihm der Erfolg nie zu Kopf gestiegen.


Eine Geschichte, die mich ganz besonders beeindruckt hat, ist die des brasilianischen Fußballhelden Garrincha. Ein bedeutender Journalist, Gianni Minà, hat sie mir einmal erzählt, als ich ihn in seiner Wohnung in Rom besuchte, die mit den vielen Büchern und Fotografien, die ihn meist zusammen mit irgendwelchen legendären Persönlichkeiten bei der Arbeit zeigten, eh- er etwas von einem Museum hatte. Er hatte in seiner langen Karriere zahllose Regisseure, Schauspieler, Sportler und Diven interviewt, aber eben auch Mythen des Sports wie Diego Maradona und Muhammad Ali.

Er erzählte mir damals viele Geschichten über den brasilianischen Straßenfußball, aber die von Garrincha hat mich besonders berührt. Als Sohn eines Indios und einer Mulattin ist er in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen, ein Kind der Straße, das sich durch seine Kunst ganz nach oben in den Fußballhimmel spielte. Er litt an schweren Knochenverformungen, vielleicht infolge einer Kinderlähmung, und mit einem Bein, das sechs Zentimeter kürzer als das andere war, hatte er einen ganz eigenwilligen Spielstil. Vielleicht war dieses Handicap sogar ein Grund, dass seine unmöglich zu stoppenden Dribblings zu seinem Markenzeichen wurden.

Garrinchas märchenhafte Karriere war jedoch auch begleitet von Eskapaden und Skandalen, und bald machte er nicht mehr nur durch sein Spiel von sich reden, sondern durch Alkoholexzesse, Affären, Depressionen und Gewalt gegenüber seiner Ehefrau. Am Ende landete er wieder dort, wo er hergekommen war: in bitterer Armut. Einst König des brasilianischen Fußballs und einer der größten Spieler aller Zeiten, fand er sich in den letzten Jahren seines Lebens um Almosen bettelnd vor dem Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro wieder.

Wenn man solche Geschichten hört, dann kommt es einem vor, als gäbe es in der Welt keinen Platz für Märchen. Als wäre die Wirklichkeit ein Ort, in dem Träume nicht dauerhaft wahr werden können. Garrincha war es zwar durch sein Talent gelungen, sich aus den engen Fesseln seiner Herkunft zu befreien. Doch als Mensch erwies er sich letztendlich als zu zerbrechlich, um dieses Glück auch zu halten.

Im Fußball gibt es viele solche Geschichten von unerwarteten Siegen und bitteren Niederlagen, genau wie im richtigen Leben.


Jedes Jahr, wenn die Schule wieder anfing, musste ich auf den Fußball verzichten. Von meinem kleinen Dorf im Landesinneren musste ich den Bus nehmen, um Training und Schule zu besuchen, und mich daher für das eine oder andere entscheiden. Es waren aber nicht nur praktische Gründe, die mich bewogen, meine Nagelschuhe irgendwann endgültig zur Seite zu räumen. Der Hauptgrund war vielmehr, dass mein politisches Engagement in jener Zeit immer stärker wurde und kaum mehr Raum ließ für Sport und Vergnügen.

Das Dorf des Willkommens

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