Читать книгу Das Dorf des Willkommens - Mimmo Lucano - Страница 15
ОглавлениеAuf dem Hauptplatz von Riace Superiore hatte man eine kleine Bühne aufgestellt. Das ist der Vorplatz, der alle in Empfang nimmt, die vom Meer herauf ins alte Dorf kommen, und auf ihn schaut auch das Rathaus hinaus, in dem ich schon seit zehn Jahren als Bürgermeister regierte. Es war das Jahr 2014, und die Wahlkampagne für mein drittes Mandat neigte sich dem Ende zu. Im Publikum befanden sich viele Freunde, und auch ein paar Journalisten und Unterstützer, die von außerhalb kamen, aus Rom, Catanzaro, Reggio Calabria, Palermo.
Wir würden die Wahl gewinnen, aber das wussten wir noch nicht. Ich war überrascht über die Welle der Sympathie, die mir entgegenschlug, jedenfalls bis ich das Gesicht meines Sohnes in der Menge entdeckte. Es erstaunte mich, ihn zu sehen, denn Roberto kam normalerweise nicht zu meinen Wahlkundgebungen, auch weil solche Kundgebungen für viele junge Menschen wie ihn inzwischen eine »altmodische« Art waren, Politik zu machen. Doch der Hauptgrund, warum er nicht kam, war ein anderer: Mein Sohn ist ganz einfach anderer Meinung als ich. Er war nicht da, um mich zu unterstützen, sondern um mich anzugreifen.
Roberto hat einen starken, unabhängigen Charakter. Ich habe ihm immer geraten, mit seinem eigenen Kopf zu denken, und ihn ganz sicher nie gezwungen, meine Überzeugungen zu teilen. Meinen drei Kindern habe ich oft gesagt: Es stimmt, wir sind eine schwierige Familie, aber wir müssen ehrlich zueinander sein. Immer. Die Generation meiner Kinder weiß – wie im Übrigen auch die meine schon –, dass ihre Heimat im Begriff ist auszubluten. Für die Jüngeren spielt sich die Zukunft anderswo ab. Auch mein Sohn ist sich dessen bewusst und hat mir gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht.
Damals bei der Wahlkundgebung waren Carabinieri in meiner Nähe. Roberto stand vor der kleinen Bühne, es war früher Abend, und wollte wissen, ob er Fragen stellen könne. Der Carabiniere, der mir am nächsten stand, sah mich verblüfft an und fragte: »Was sollen wir tun? Das ist doch eine Kundgebung, keine Debatte.« Ich aber war neugierig, was mein Sohn mir zu sagen hatte, und ließ zu, dass der Carabiniere ihn auf die Bühne holte.
Es war eine unangenehme Situation, denn ich wusste nicht, was ich zu erwarten hatte.
»Ich möchte dir eine Frage stellen, und zwar nicht als Sohn dem Vater, sondern als Bürger dem Bürgermeister.«
Im Publikum wurde getuschelt und gekichert, doch nun verstummten die Leute.
»Geht in Ordnung«, antwortete ich.
»Nach welchen Kriterien werden eigentlich die Leute ausgewählt, die in der Flüchtlingsaufnahme arbeiten?«
Wieder erhob sich aufgeregtes Gemurmel. Zum damaligen Zeitpunkt waren in Riace von 1600 Einwohnern etwa 100 Menschen in der Aufnahme und Integration von Geflüchteten beschäftigt, davon 80 Italiener und 20 Ausländer, Letztere vor allem als Sprach- und Kulturvermittler. Dank der CAS- und SPRAR-Projekte, die in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium und der Präfektur errichtet worden waren, konnten diese Menschen, die zum Teil aus Riace direkt und zum Teil aus der Umgebung kamen, die inzwischen wichtigste »Branche« im Dorf mit Leben füllen. Es war die einzige Arbeit, die noch eine Zukunft hatte, denn Landwirtschaft war in der Provinz Locride kaum mehr vorhanden, auch die Viehzucht stand kurz vor dem Ende, und Fabriken hatte es praktisch nie gegeben. Wenig erstaunlich also, dass es keine Arbeit gab. Es war fast so etwas wie ein Wunder, dass wir durch die Konzentration auf den Nonprofit-Sektor, Leistungen im Dienst der Menschlichkeit, relativ viele Arbeitsplätze geschaffen hatten.
Ich antwortete Roberto: »Es ist jedenfalls nicht der Bürgermeister, der die Leute auswählt, sondern das übernehmen die Wohlfahrtsverbände, denen die Gemeinde die Abwicklung solcher Dienstleistungen anvertraut. Sie kümmern sich dann um die Stellenausschreibungen.«
Er gab zurück: »Das ist eine diplomatische Antwort, denn in Wirklichkeit hängen diese Stellen ja doch von der Gemeinde ab.«
Ich wollte verhindern, dass man sich später über diese Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn die Mäuler zerriss, daher adressierte ich meine Antwort auch an das Publikum. Ich erklärte, dass der Bürgermeister natürlich in der Verantwortung steht und dafür zu sorgen hat, dass Arbeitsplätze für junge Menschen geschaffen werden, dass das Dorf nicht einfach von der Landkarte verschwindet, dass auf den Plätzen weiterhin Leben herrscht, dass die Rollläden der Geschäfte nicht für immer heruntergelassen werden.
Die Replik meines Sohnes war kurz und bündig, und sie brachte mich völlig aus dem Konzept: »Ich weiß sowieso, dass meine Zukunft woanders ist. Ich fordere alle hier Anwesenden auf, einen leeren Stimmzettel abzugeben.«
Damit stieg er von der Bühne und mischte sich unter die Menge, wobei ihm einige seiner auf dem Platz anwesenden Freunde verhalten Beifall klatschten. Dies war der Moment, in dem die Bewegung entstand, die fortan für »Stimmenthaltung für Riace« werben würde. Ich stand auf dieser Bühne und kämpfte dafür, dass eine neue Erfahrung weiter wachsen, ein Traum sich weiter entfalten konnte, und mein eigener Sohn stellte sich gegen mich und forderte die Gemeinde auf, ungültig zu wählen – eines der größten Protestsignale, die es in einer Demokratie gibt.
Als ich an jenem Abend nach Hause kam, war ich zermürbt und verbittert. Die Bilder von der Piazza gingen mir nicht aus dem Kopf, und Robertos Worte hallten noch in mir nach. In seiner Stimme hatten Wut und Trauer gelegen, sicherlich Ausdruck seiner Enttäuschung über unsere gespaltene Familie, aber vielleicht auch der Verzweiflung einer ganzen Generation über ihr auswegloses Schicksal.
Viel später erst ist mir klar geworden, dass sich mit diesem Ereignis an jenem Abend auch ein Kreis geschlossen hat. 20 Jahre zuvor war es nämlich ein anderer Roberto Lucano gewesen, der mir eröffnete, dass er mich nicht wählen würde: mein Vater.
Man schrieb das Jahr 1995, und ich kandidierte mit einer Bürgerliste, die wir mit einigen alten Freunden zusammen aufgestellt hatten, für den Gemeinderat. Wir wollten unsere alte Heimat neu entdecken, und mit ihr die Traditionen und Werte eines Kalabrien, das sich der Identifikation mit Mafiosi und anderen Potentaten verweigerte. Es würde noch ein paar Jahre dauern, bis die kurdischen Flüchtlinge an unserer Küste stranden und damit mein Leben und auch das von Riace grundlegend verändern würden. Bis vor wenigen Monaten hatte ich zusammen mit meiner Frau und den damals noch kleinen Kindern in Turin gelebt. Die schlechten Nachrichten, die regelmäßig aus meiner kalabrischen Heimat kamen, betrübten mich sehr, bis mir eines Tages klar wurde, dass ich nicht im Norden bleiben konnte, sondern nach Kalabrien zurückkehren und meinen Beitrag für politische Verbesserungen leisten musste.
Mein Vater Roberto war überzeugter Christdemokrat, und wir hatten immer eine konfliktreiche Beziehung gehabt. Als ich ihm von meiner bevorstehenden Kandidatur erzählte, erwiderte er nur: »Du wirst doch nicht glauben, dass ich einen wie dich wählen würde?«
Ich dachte zuerst, er mache Witze, doch kurz nach der Wahl wurde ich zufällig Zeuge, wie meine Mutter ihm bittere Vorwürfe machte, weil er seinem eigenen Sohn die Stimme versagt hatte. Seine Antwort war schlicht: »Ach, das wäre doch Vergeudung gewesen! Die sind doch alle völlig verrückt. Sie wollen einfach nicht einsehen, dass die Welt ist, wie sie ist …«
Mein Vater war vor seiner Pensionierung Lehrer gewesen und hatte sein ganzes Leben im Schuldienst verbracht. Die Antwort war typisch für ihn, doch sie verletzte mich trotzdem sehr. Wir gerieten in Streit, es fielen böse Worte, der Graben zwischen uns vertiefte sich. Kurz darauf endete mein erstes Wahlabenteuer mit einer Niederlage: Unsere Liste erhielt nur sehr wenige Stimmen, ich selbst nur zwei. Mein Vater hatte recht behalten.
Es ist viel geschehen in diesen 20 Jahren zwischen 1995 und 2014, als mir zunächst mein Vater und später dann mein Sohn, die beide den Namen Roberto Lucano tragen, die rote Karte zeigten, weil sie anders dachten als ich. Über familiäre Divergenzen hinaus zeigt es, wie tief die Gräben in der Region Kalabrien sind und wie sich von Generation zu Generation die Überzeugung verfestigt, dass an den Verhältnissen nicht zu rütteln ist, dass dieser zu Mafia-Abhängigkeit, Armut und Arbeitslosigkeit verdammte Landstrich für immer bleiben wird, wie er ist.
Trotzdem habe ich weiter für meine Überzeugungen gekämpft, und viele Menschen sind meinen Weg mitgegangen, darunter Wissenschaftler, Soziologen, Priester, Politiker und Regisseure, Landarbeiter, Schäfer, Gewerkschafter und Prostituierte, alte und junge Menschen, Männer, Frauen und Kinder, die nur mit knapper Not dem Ertrinken entkommen waren. Ich habe mir erlaubt, einen Traum zu verfolgen, die Utopie einer neuen Normalität, inspiriert von Denkern, Philosophen und Lebenskünstlern, bekannten und weniger bekannten, die mein Leben bestimmt haben und es heute noch tun.