Читать книгу Das Dorf des Willkommens - Mimmo Lucano - Страница 9
ОглавлениеAm Anfang kamen immer dieselben Fragen: Und wenn sie am Ende mehr werden als die Einheimischen? Und wenn Kriminelle dabei sind? In der öffentlichen Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen in Riace waren das die üblichen Probleme. Dabei müsste eigentlich etwas ganz anderes im Mittelpunkt stehen: Politik kann sich nicht reduzieren auf die Selektion, wer hereindarf und wer nicht, oder sie verzichtet auf das, was sie eigentlich sein will. Sie verzichtet auf die Sache der Freiheit, die sie einst instituiert hat. Eines hat mich die Erfahrung gelehrt: Eine Politik, die sich in reiner Machtausübung erschöpft, vergisst den Traum von der kollektiven Emanzipation, zu dem unser Recht auf Freiheit uns anspornt.
Die Corona-Pandemie hat die ganze Welt erschüttert und Gesundheitswesen und Wirtschaft in eine beispiellose Krise gestürzt. Sie hat uns in die Grenzen unserer nächsten Umgebung gezwungen. Wir sitzen in unseren Häusern und stellen fest, dass wir uns dort nicht so sicher fühlen, wie wir gedacht haben. Ohne die Gemeinschaft um uns herum sind wir uns selber fremd.
Krankheit und Tod lassen wenig Raum für allgemeine Betrachtungen, doch wir haben die Pflicht zu einer tieferen Reflexion. Wir müssen einen Blick in die Vergangenheit werfen, um die jüngste Geschichte nicht zu vergessen. Über Jahre hinweg wiederholt, sind uns die Worte des Egoismus vertraut und überzeugend geworden. Langsam und stetig, Stück für Stück, haben sie von unseren Gedanken Besitz ergriffen. In einer Welle der Populismen wurden sie in die Welt posaunt, und sie haben ihre vollständige Umsetzung im Staat der geschlossenen Grenzen gefunden. Der Rassismus hat sich breitgemacht, ohne große Empörung zu erregen. Das Wort »Migrant« wurde missbraucht und seiner Bedeutung entleert: Wir haben ein Ghetto gebaut, in dem wir unser Gewissen begraben können.
Und nun, da unser eigenes Leben vor einer unberechenbaren Bedrohung steht, und wir nicht wissen, ob ihre Eindämmung gelingt, offenbart dieser Egoismus sein feiges Gesicht. Die Konsequenzen, die er geschaffen hat, zeigen sich in ihrer ganzen Dramatik: die Lager, in die man die Unerwünschten gesteckt hat, die Obdachlosen in den Straßen der Großstädte, die vielen Menschen in prekärer Arbeit, die afrikanischen Erntehelfer in den Barackensiedlungen, das Geschäftemachen mit Gesundheitswesen und Bildung, die Zerstörung der Umwelt durch unser Wirtschaftssystem, die grenzenlose Profitgier, der zügellose Konsumwahn.
Der Profit zählt mehr als das Leben. Das Interesse des Kapitals wird geschützt, zum Nachteil der öffentlichen Gesundheit. Wo liegt jetzt die Grenze? Woher kann Rettung kommen? Eine schwere Ungewissheit lastet auf der Gegenwart.
Warum scheint die Sicherheit des Menschen heute mehr wert zu sein als der Mensch an sich? Ist der Imperativ »Alle, zu jeder Zeit!« wirklich eine Utopie? Wenn unsere Antwort auf diese Fragen lautet: »Wir nehmen nur den, der es verdient, aufgenommen zu werden!«, oder: »Wir sollten erst sehen, ob es sich für uns lohnt!«, dann fällen wir die wenig mutige Entscheidung, uns vor der Verantwortung für andere zu drücken. Wir kompromittieren damit auch unsere eigenen Beziehungen, ob eng oder lose, ob die zu unserem Nachbarn oder die zu einem Fremden. Frei sind wir nur, wenn wir in der Lage sind, individuelle und kollektive Verantwortung miteinander zu vereinen. Ich jedenfalls kenne auf diese Fragen nur eine Antwort. Immer wenn ich am Strand stand, die Füße im Wasser, und hinausschaute aufs Meer, dann hatte ich eine Gewissheit: Wer immer an unsere Tür klopft, ob es ein Elender ist, ein Flüchtling oder ein Reisender, er bedeutet die einzige Rettung für die ganze Welt, die einzige Hoffnung gegen die Gewalt der Geschichte.
Schon bevor ich Bürgermeister wurde, und lange bevor die »globale Migrationskrise« sich als entscheidendstes Ereignis unserer Epoche erwies, habe ich den Traum von einer Erlösung übernommen, der ein Vermächtnis meiner Heimat ist. Ich zähle die Fehler nicht mehr, die ich gemacht habe, aber ich weiß, dass ich nicht anders handeln konnte. Ich war nie fähig zu einem Blick, der andere ausschließt. Privilegien und Diskriminierung ertrage ich nicht.
Das Meer und der »Borgo«, wie wir das alte, auf einem Hügel gelegene Dorf nennen, waren die Pole meiner Existenz. Der Lehmhügel, der die kleinen Häuser des Ortskerns umfängt, war die glückliche Grenze meiner Kindheit. Die Olivenbäume, die hingestreckten Wiesen, der Duft nach Jasmin und Birnenbaum, die warmen Farben von Ginster und Kaktusfeige. Wenn ich an meine Wurzeln denke, dann sehe ich eine ewige Sommerlandschaft vor mir. Im Riace meiner Kindheit lernte ich, dass Menschsein etwas Schönes ist: die Weberinnen und die Schäfer, die von früh bis spät ihre Arbeit taten, wie eine tiefe Reflexion, die man mit den Händen macht. Von den Roma mit ihren Tänzen, die unsere religiösen Prozessionen begleiteten, erfuhr ich die Bedeutung des Wortes »Freiheit«: keine enge Bindung zu einem bestimmten Territorium zu haben und doch tief verbunden zu sein mit der Geschichte der Völker.
Meine Mutter hat mich immer ermutigt, neugierig auf andere Menschen zu sein, niemals misstrauisch, und großzügig auch, weil wir alle bedürftig sind. In den Bildern meiner Erinnerung bewahre ich den bitterarmen, entlegenen italienischen Süden wie ein großes Wunder. Es ist dieses Gefühl, das mich später veranlasste, Reisende aufzunehmen, keine Migranten oder Flüchtlinge: In unserer Kultur sind es schon immer die Fremden gewesen, die uns lehrten, den Wert der Gastfreundschaft hochzuhalten. Die Geschichte hat sie an unsere Küste gespült, wie eine Welle, die sich am Ufer bricht, an genau die Schwelle, wo auch ich schon in den Gesichtern meiner Freunde von der Vergangenheit Abschied genommen, wo ich Melancholie und Verlust kennengelernt hatte. Die ganze Welt traf an diesem Punkt zusammen, ein Durchgang, der geprägt ist von ununterbrochenen Passagen.
Aus Argentinien bekamen wir Nachrichten von meinen Tanten: Ich erinnere mich gut an die bunten Luftpostbriefe, die damals Sinnbild waren für Abwanderung, für Grenzen, für eine neu zu erfindende Identität, für ein unbekanntes Land, aber auch für eine Verbindung, die jede Entfernung überwinden kann. Auch hier war es der Süden, in den es die Menschen verschlagen hatte, wenn auch auf einem fernen Kontinent. Ich selbst hingegen würde in den Norden gehen, nach Turin, und das Arbeiterleben in der Großstadt kennenlernen. Obwohl man dort meine Sprache sprach und ich meine Landsleute frequentierte, Auswanderer wie ich, fühlte ich mich entwurzelt. Die Verlorenheit, die ich empfand, hatte etwas von einer Ohnmacht.
Die Migration ist Teil der Geschichte unseres Landes. Die inneritalienischen Wanderungsflüsse sind eine Folge der schwierigen Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie. Unsere Politik hat regionale Realitäten immer vernachlässigt, und sie hat zugelassen, dass der Süden verarmt. So hat sie genau die Bewegung geschaffen, die sie eigentlich beschränken wollte: vom Süden in den Norden, von der Peripherie ins Zentrum.
Auch heute noch ist die Emigration in Kalabrien die einzige Alternative. Um ein Modell für die Zukunft zu entwickeln, muss man sich eine bestimmte Art von Gesellschaft vorstellen, aber wie ist das möglich, an einem Ort, an dem keine Menschen mehr sind? Riace als Ort des Willkommens ist zum Vorreiter geworden, weil es in den Widersprüchen eines ungerechten Systems eine historische Gelegenheit für die eigene Wiedergeburt erkannte. Wir haben nicht »Migrationsströme verwaltet« – ein inakzeptabler Begriff –, wir haben keine Reformmodelle ausgearbeitet –, dazu hatten wir nicht die Mittel –, wir haben nicht mal unsere eigenen Probleme gelöst. Wir haben nur den Glauben an ein Ideal eingefordert, Seite an Seite mit den Fremden, den Neubürgern, weil diese Herausforderung uns alle betrifft und das gar nicht anders sein kann. Die Globalisierung der Migration ist ein nicht aufzuhaltendes Phänomen, und die Politik der Internierungslager, der Pushbacks und Abschiebungen, der immer weiteren Gesetzesverschärfungen kann kein positives Ergebnis bringen. Durch ein absurdes Zusammentreffen, durch eine Laune des Windes, ist die Geschichte auf ein Dorf gestoßen, das mit dem »Virus der Menschlichkeit« infiziert war, einen Ort, an dem es möglich war, sich vorzustellen, dass wir alle Menschen sind. Das hat eine tiefe Spur hinterlassen, das ist das Erbe, das wir weitergeben, der Traum, dessen Verwirklichung noch aussteht.